Kurt Faber
Die Seelenverkäufer
Kurt Faber

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An Bord des »Walroß«

Schon von außen hatte, wie gesagt, das seltsame Fahrzeug einen recht verwahrlosten Eindruck gemacht. Dieser erste Eindruck wurde nur noch verstärkt, als wir an Deck des alten »Walroß« standen. Offenbar war dieses früher auch einmal eingehaust gewesen wie alle Verdecke überwinternder Schiffe im Eismeer, aber das mußte wohl schon eine Weile her sein, denn das alles stand im letzten Zustand des Verfalls. Nur da und dort war noch ein Stück der Bretterwand zu sehen, von der zerrissene Leinwandfetzen herunterhingen. Von Bordwand zu Bordwand war das Verdeck überzogen mit einer Schicht von steinhart gefrorenem Schnee, der alles gleichmäßig anfüllte, von der Back bis zu dem erhöhten Achterdeck, und alle Decksaufbauten unter sich begrub. Von allen Wanten und Pardunen hingen lange Eiszapfen, die wie schimmernde Kristalle in der frühen Sonne funkelten. Noch immer war alles still und tot. Kein Lebenszeichen war zu bemerken. Nur die Eule Tom bewegte mechanisch ihren Kopf mit den großen runden Augen.

»Man tau!« sagte Hein Petersen. »Wat sin mut, mut sin! Wat dem einen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall.«

Unser neuer Freund führte uns über eine in den Schnee gehauene Treppe zu der Tür, die nach der Kajüte führte. Eine dumpfe, muffige Luft schlug uns entgegen beim Eintreten. Langsam tasteten wir unseren Weg durch den Gang, denn es herrschte ägyptische Finsternis für das vom Schnee geblendete Auge. Erst allmählich traten einzelne Formen und Gestalten aus dem Dunkel heraus, aber etwas Richtiges war noch immer nicht zu erkennen, trotz des unsicheren Lichtes einer trüben, qualmenden Petroleumlampe, die wie ein mattes, verlöschendes Auge in der Finsternis baumelte.

Während wir noch dastanden und uns unschlüssig umsahen, kam von irgendwoher der Klang einer Stimme, die sich anhörte wie das Knarren einer rostigen Türangel.

»Hallo! Hallo! An Deck alle Mann! Steht bei den Booten! Los das Bramfall! Ein bißchen fix da, ehe ich euch Beine mache!«

»Etwas langsamer, Admiral!« antwortete Abraham Lincoln Jonas. »Ist das auch eine Art, die Gentlemen zu begrüßen?«

Der »Admiral« ließ sich indes nicht im geringsten stören durch die Ermahnung, sondern fuhr unentwegt fort in seiner Rede, in demselben eintönigen Tonfall.

»Blo–o–ow! Blo–o–ow! Steht bei den Booten! Halte den Schnabel, du Nigger, ehe ich dir die Wolle auf dem schwarzen Kopfe stäube.« Dann folgte eine Serie der grausigsten Flüche und Verwünschungen, die ich je gehört hatte, dann ein Flattern von Flügeln, ein Rascheln von Federn, ein polterndes Schnabelwetzen an einer Eisenstange, und alles war wieder so still wie zuvor.

»'s ist Admiral Dewey, mein zweiter Schiffskamerad«, sagte der Neger. »Er und die Eule machen ein gutes Paar. Zusammen sind sie vielleicht tausend Jahre alt, oder vielleicht noch mehr. Wenn man ihn so anschaut, so sieht er aus wie jeder andere Papagei auch, aber das ist alles nur Schein. So wie er dasitzt, hat er mehr Bosheit gesehen wie wir alle zusammen. Er hat Pulver gerochen und Revolver gehört. Er hat Messer fliegen sehen und das Verdeck rot von Blut. Wenn er erzählen könnte wie die Christenmenschen, anstatt nur zu plappern wie die Heiden, er und Tom dort draußen, die könnten dir wohl ein Garn spinnen, das dein Blut so kalt wie Schellfischblut machen würde. Armer Tom! Armer Admiral Dewey!«

Während er so plapperte, tasteten wir uns immer weiter durch den dunklen Gang. Ich war gespannt, was nun noch weiter kommen würde. Zwei der Schiffskameraden hatten wir nun schon kennengelernt, aber während ich mir überlegte, was es wohl mit dem dritten, Fung Li, auf sich haben mochte, stand auch diese Persönlichkeit in Fleisch und Blut vor uns. Unvermittelt kamen wir in eine kleine Kombüse, wo ein mächtiges Feuer im Herd brannte. Sehr warm und mollig war es in dem kleinen, vom flackernden Schein des Feuers nur unsicher beleuchteten Raum. Alles funkelte von Reinlichkeit. Die Kupferpfannen an der Wand glitzerten wie Spiegel. Vor dem Herd stand Fung Li in blütenweißer Schürze, nicht anders wie der Chefkoch im Savoy-Hotel. Nicht durch eine Bewegung verriet er sein Erstaunen. Nicht eine Miene zuckte in der undurchdringlichen Maske seines Chinesengesichts.

»Allright«, sagte er, »four piecee man chou.«

Er machte sich mit seinen Pfannen zu schaffen, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Er ist gut, so wie er ist«, sagte Abraham Lincoln Jonas im Weitergehen, »er ist nicht etwa das, was man so einen unterhaltsamen Schiffskameraden nennt. Ein sonderbarer Schiffskamerad, in der Tat. Und ein Mensch ist er überhaupt nicht, so wenig wie Tom und Admiral Dewey. Das kommt daher, daß er nicht getauft ist. Nur ein Heide, ein Apparat zum Mittagessenkochen. ›Four piecee man chou chou‹, ›two piecee man chou chou.‹ Etwas anderes habe ich noch nie von ihm gehört in fünf langen Jahren. Aber einen besseren Koch gibt es nicht zwischen hier und Point Barrow.«

Schon standen wir in der Kapitänskajüte, die durch das Scheinlicht an der Decke taghell erleuchtet war und vor Zeiten einmal recht wohnlich gewesen sein mußte. Sie war groß und geräumig und mit so schönen Möbeln ausgestattet, wie man sie in einer Passagierkajüte eines nordatlantischen Schnelldampfers, nimmermehr aber in der Behausung eines Walfischfängerkapitäns vermutet hätte. Um den Tisch, von dessen grünem Überzug nur noch kümmerliche Reste übrig waren, standen an den Boden festgeschraubte bequeme Sessel mit breiten Armlehnen. An der Wand stand auf einem Bücherbrett eine kleine Bibliothek, die offenbar schon eine erhebliche Zeit in verstaubter Vergessenheit ihre Tage verträumte. Die Rückwand der Kajüte, gerade gegenüber dem Eingang, war fast ganz eingenommen von einem mächtigen Spiegel mit einem kreisrunden Loch in der Mitte, von dem die Sprünge strahlenförmig über die Fläche liefen.

»Es ist Charleys Arbeit«, sagte Abraham Lincoln Jonas. »Er und der Kapitän haben immer auf gespanntem Fuß miteinander gelebt, und eines Tages sind sie auf den Gedanken gekommen, es auszutragen, um zu sehen, wer der Bessere von den beiden sei. Charley war immer ein Tölpel und fixer mit der Zunge als mit dem Revolver. Der erste Schuß ging in den Spiegel, und schade um das schöne Stück. Der zweite hat schon besser gesessen. Nun sind sie beide unter der Luke und längst schon bei David Jonas oder wo sonst der Teufel einen Nothafen hat für unsere Sorte.«

Die Wände mochten einmal blütenweiß gewesen sein in den Zeiten, als man noch mit Farbenquast und Sodawasser an Bord des alten »Walroß« hantierte. Nun aber waren sie mit einer gleichmäßig grauen Schmutzschicht überzogen, wo sie nicht verklebt waren mit bunten Bildern von komischen Figuren aus den amerikanischen Sonntagszeitungen und schönen Frauen aus den Modejournalen nach dem phantastischen Geschmack des Mister Abraham Lincoln Jonas. Sonst herrschte überall eine geniale Unordnung. Auf dem Tisch standen offene Konservenbüchsen, deren Inhalt schon halb verschimmelt war. Auf den Stühlen lagen Fuchs- und Marderfelle unordentlich durcheinander. Von der Decke baumelten Seestiefel, Ölzeug, mottenzerfressene Pelzkleider und nasse Strümpfe. Und über allem lag ein dicker widerlicher Geruch von Tran und Schmutz und Verkommenheit.

Noch ehe man Zeit gehabt hatte, das alles in Augenschein zu nehmen, kam der Chinese herein, deckte den Tisch und brachte das Mittagessen. Wieder tat er seine Arbeit mechanisch, wie ein aufgezogener Apparat, und verzog keine Miene und zwinkerte nicht mit den Augen, die leer und doch so vielsagend ins Weite schauten. Aber das Essen, das er brachte, machte in der Tat seiner Kochkunst alle Ehre. Was Büchsen und Konserven und die freie Wildnis des Eismeeres aufbringen konnten, hatte er uns aufgetischt. Ein Diner, wie man sich es nur wünschen konnte. Es begann mit Lachs und Hummer und endete mit konservierten kalifornischen Früchten, die jedoch nicht den Gaumen unseres Eskimofreundes zu kitzeln vermochten. Dafür leerte er eine Zweipfunddose in Öl konservierter Lachse bis zum letzten Atom und schaute sich um nach mehr.

Nach dem Essen holte unser Gastgeber zu unser aller maßlosem Erstaunen ein Grammophon hervor, das er mit beinahe religiöser Andacht mitten auf den Tisch stellte. Nur eine einzige Platte war vorhanden: »Old folks at home.«

Und auch diese schon geborsten . . . Sie war holprig und voller Sprünge, und wenn der ebenfalls schon mehr als abgenutzte Stift darüber ging, so hörte es sich an, wie wenn einer mit einer Feile über ein rostiges Eisen fährt. Gerade an der Stelle, wo in dem Lied vom Swaeneriver die Rede ist, war ein Stückchen aus der Scheibe herausgebrochen, und der Stift machte einen Sprung, wie wenn er eben jenen schönen Fluß im Dixilande überspringen wollte. Wir alle hatten bald genug von den Kakophonien, aber Abraham Lincoln Jonas ließ den Apparat stets von neuem laufen und sank dann immer wieder in seinen Sessel und schloß die Augen in seliger Vergessenheit. »Ah, Musik!« sagte er begeistert. »Es gibt nichts, was ich so liebe wie das! Die ganze Nacht kann ich zuhören!«

So wie er da saß, ein Bild der vollkommensten Zufriedenheit, konnte ich mich bei seinem Anblick doch nicht eines gewissen Schauderns erwehren bei dem Gedanken an das grausame Schicksal, das seine Kameraden befallen haben mochte. Langsam stieg in mir die Erkenntnis auf, daß hinter dieser Maske der Selbstzufriedenheit sich eine Tragödie verbarg. Es war offenbar, daß außer diesen beiden sich kein Mensch mehr an Bord befand. Wo aber waren die anderen? Wo konnten sie sein in dieser Wildnis von Nacht und Eis? Ich machte eine diesbezügliche Bemerkung, auf die der Neger bereitwillig einging.

»Was aus ihnen geworden ist?« sagte er leichthin. »Was wird aus Seeleuten? Sie sind hier verdammt geschäftig gewesen mit den Messern und den Handspeichen, und einige von den Jungens waren ziemlich fix mit dem Revolver. Bill Rilay allein hat vier von ihnen auf dem Gewissen. Was übriggeblieben ist, das hat von einem Tag auf den anderen daran glauben müssen bei der Pest, die voriges Jahr über uns gekommen ist. So hat sie der Teufel alle geholt. Die einen mit dem Messer, die anderen mit dem Revolver, die anderen in der Koje und alle zu David Jonas. Ein paar fixe Jungens waren darunter, aber um die meisten ist's nicht schade. Ich und Fung Li haben die Arbeit davon gehabt mit dem Überbordwerfen. Ich bin nicht empfindlich und nicht abergläubischer, als es sich schickt für einen seefahrenden Mann, aber ich sage mir: Tote Matrosen sind schlechte Schiffskameraden. Denkst du nicht auch so?«

Ich war auch dieser Ansicht, was Abraham Lincoln Jonas mit Befriedigung feststellte.

»Und jetzt bin ich reich«, fuhr er fort mit verschmitztem Blinzeln. »Ich als Kapitän und Fung Li als Proviantmeister. Drunten im Raume liegen dreißigtausend Pfund Fischbein, die Beute von zwanzig Walfischen. Das bringt uns in San Franzisko 150 000 Dollar mit Kußhand ein. Dazu die Fuchsfelle und die Walroßzähne. Und das alles in meine Tasche! Euch alle werde ich dann einladen zu einem Austernessen im Cliffhause. Einen geraden Kurs werde ich steuern, vom Pier bis zu Jessy Bannings Bar. Dort werde ich flugs gehen und in sechs Wochen nicht mehr auftauchen. Nur – wenn wir erst schon wieder dort wären!« setzte er nachdenklich hinzu. »Mein armer Kopf hat mir schon wehgetan durch manche lange Nacht, wenn ich darüber nachgedacht habe. Wie soll ich das Schiff navigieren, ich, ein Kapitän ohne Mannschaft? Da kommt ihr nun über den Weg gelaufen wie eine Ente vor einen Fuchsbau. Und wißt ihr was? Es liegt mir nicht so sehr an meinem Kapitänsposten. Ich mache euch alle zu Teilhabern. Wir werden alle Kapitän sein, und wenn ihr nach San Franzisko kommt oder nach New Bedford, oder wo ihr immer hingehen mögt, so werdet ihr in Autos fahren, und jeder Muttersohn unter euch wird in einer Kutsche fahren wie ein Lord im Parlament.«

Die Aussichten, die er uns da an die Wand malte, hatten etwas Verlockendes an sich, und ich war begierig, die Schätze mit eigenen Augen zu sehen. Unser Gastgeber ließ sich auch nicht zweimal bitten. Bereitwillig hängte er die Petroleumlampe ab und leuchtete uns damit durch dunkle Gänge zu einer Tür in der Zwischenwand, die in die ägyptische Finsternis des eiskalten Zwischendecks führte. Auch die matte, gelbe Lampe warf hier kein irgendwelches Licht. Die Hand vor den Augen konnte man nicht erkennen. Erst nach einer Weile konnte man ausmachen, was es mit den Schätzen auf sich hatte. Sorgfältig verschnürt und gebündelt lagen die langen Barten aus Fischbein in mächtigen Stößen, um die ein ganz feiner, bläulicher Phosphorschein stand. Abraham Lincoln Jonas packte mich unsanft am Arm und schüttelte mich wie einen Staublappen. Das Weiß seiner großen Negeraugen leuchtete im Scheine der trüben Lampe, und seine mächtigen Zähne funkelten förmlich in der Dunkelheit.

»Habe ich recht oder nicht? Hundertfünfzigtausend Dollar! Wir sind alle reich! Reich wie Lords im Parlament, wenn wir erst einmal wieder in Frisco sind. Aber es ist noch ein langer Weg, und man muß bis dahin ein wenig navigieren. Und was ich dir noch sagen wollte: Halte dein Wetterauge offen für die Böen, die vorausliegen. Im Vertrauen sag' ich dir das; zwischen dir und mir und dieser Laterne. Wir steuern hart am Wind. – Ah, wenn du wüßtest, wie sehr! Und was immer du tust und wo immer du gehst, reserviere ein Schwanzende deines Auges für Fung Li. Du denkst, er ist nur ein Apparat zum Mittagessenkochen? Du meinst, er kann nur sagen: ›Four piecee man chou chou‹? Aber ich sage dir, er liegt die langen Nächte wach und sinnt auf Teufelstaten von der Sorte, wie sie sich ein weißer Teufel niemals ausdenken könnte. Und ein schwarzer auch nicht. Er hat lange Messer in seiner Küche und braut ein Teufelszeug in seinen Kesseln, das Tod und Krankheit verbreitet. Habe ich es nicht gesehen in den fünf Jahren? Ich bin keiner von den Ängstlichen, und es liegt mir nichts daran, ob ich ein paar Jahre früher oder später zum Teufel gehe, aber dann soll es wenigstens kein chinesischer sein!«

Plötzlich unterbrach er seine Rede und schaute sich mißtrauisch um in der Dunkelheit. Dann fuhr er zögernd fort mit halblauter Stimme: »Du hast wohl schon gehört vom Kapitän MacKay? Auf allen Schiffen reden sie von ihm, und recht tun sie daran, denn er war ein tapferer Mann, und zwischen Frauen und Teufeln hat's nichts gegeben, das ihn bange machen konnte. Aber selbst er hat sich gefürchtet vor Fung Li!«

Noch eine Weile redete er weiter in diesem Tone, ohne daß seine Worte mir etwas anderes waren als unverständliche Schallwellen an meinem Ohr. Denn meine Gedanken waren ganz bei den hier aufgespeicherten Schätzen. Wie mit Fieberglut brannte es mir in den Adern, wenn ich im Geiste die Inventur von ihnen machte. Mir war zumute wie Hans im Glück mit dem Goldklumpen. Im Augenblick vergaß ich die weite Entfernung und unsere verzweifelte Lage. In meinen Gedanken war ich schon dabei, das alles in bare Dollars umzusetzen, als ob wir schon am Pier der Missionsstraße zu San Franzisko lägen und nicht oben bei den Bären und Wölfen, tausend Meilen von nirgendwo, im Niemandslande. Aus meinen Träumen wurde ich erst wieder aufgeschreckt, als plötzlich eine Deckluke aufgerissen wurde und das Gesicht des Chinesen im hellen Lichtstrahl auftauchte.

»Four piecee man coffee.«

*

Und dieses war nicht die einzige Überraschung, die Abraham Lincoln Jonas für uns in Aussicht hatte.

»Fischbein ist etwas sehr Schönes«, meinte er. »Man kann es umsetzen in bares Gold. Aber besser ist es schon, wenn man den richtigen Stoff hat. – Richtiges Gold! Von dem gibt es genug auf der Insel. Frage Kapitän MacKay, frage Fung Li. Die beiden haben es aus dem Flußsande gewaschen durch all die langen Jahre. Irgendwo ist es aufgestapelt hier an Bord. – Aber wo? Weiß ich's? Ich kümmere mich nicht darum. Nicht ich! Denn ich will wieder nach Hause kommen und nicht am ›Skorbut‹ sterben wie die anderen. – Ah, wenn ich lesen und schreiben könnte!«

»Und dann –?«

»Dann wüßte ich wenigstens, wo das alles zu finden ist, denn alles ist hübsch aufgezeichnet hier im Logbuch.«

Mit scheuem Blick schaute er sich in der Kajüte um. Er legte die Hand auf den Mund, während er aus einer Schublade ein umfangreiches Buch hervorsuchte, das offenbar schon lange nicht mehr benutzt worden war, denn es war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Noch einmal schaute er sich mißtrauisch um, während er das Buch auf den Tisch legte. »Vorsicht! Dies ist ein gefährliches Geschäft, bei dem das Ohr nicht wissen darf, was der Mund gesagt hat. Der ›Skorbut‹ wird dich packen in vierzehn Tagen, wenn Fung Li Wind davon bekommt.«

Neugierig, jedoch ohne große Erwartungen, betrachtete ich das Buch. Es war ein ganz gewöhnliches Schiffsjournal, wie tausend andere. Die Eintragungen waren alle sehr genau, in einer sehr sauberen, beinahe zierlichen Handschrift. »Frische Brise, bewegte See.«

Oder:

»Windstille. Keine Walfische. Kap Parry gesichtet.«

So und ähnlich stand es in jedem Schiffstagebuch. Erst im letzten Viertel des Buches wurde es interessanter. Da stand an einer Stelle: »Drei und ein Viertel Unzen.«

Dann wieder: »Vier Unzen.« »Zwei Unzen« usw.

Eine Weile hörten die Eintragungen auf und begannen wieder mit dem Satze:

»Neue Reise nach dem Bärenriver.«

Dann begann wieder die Reihe der Unzen, bis man auf einmal auf einen Satz stieß, der mit dicker Feder anscheinend unwillig hingeworfen war.

»Zu viel für einen Mann!«

Nun kamen immer wieder Reihen von Unzen und dazwischen allerlei lapidare Sätze, aus denen man den Verlauf einer Geschichte erraten konnte.

»Fung Li ist gut genug.«

»Fung Li ist allright

»Ein feiner Kerl ist Fung Li. Er kann den Mund halten; er ist verschwiegen wie das Grab und unterscheidet ein Goldkorn nicht von einem Kieselstein.«

»Er ist doch schlauer, als ich gedacht hatte!«

»Pest unter der Mannschaft. – Aha! Das sind so von Fung Lis Geschäften!«

»Zu verdammt schlau ist Fung Li, aber nicht schlau genug für Kapitän MacKay.«

»Das Spiel ist aus. Ich hab's so kommen sehen. Es mußte so kommen! Der Hundesohn von einem Chinesen – –«

Dies war der letzte Satz im Tagebuch. Noch immer verstand ich nicht alles, was dort drinnen stand, aber schon bei dem Wenigen, was ich verstanden hatte, war mir eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Ich warf das Buch in den Kasten zurück wie einer, der etwas Unreines aus den Händen wirft, und bemühte mich, fortan nicht mehr an das zu denken, was ich hier gelesen hatte.

Woche um Woche verging. Aus den Wochen wurden Monate. Schon waren wir wieder mitten in dem wunderbar reichen, farbenfreudigen arktischen Sommertag mit seiner niemals untergehenden Sonne. Das Wasser rann von allen Hügelhängen, und überall in den Gründen leuchteten die Blumen. Der Schnee auf dem Eise schmolz zu glitzernden Tümpeln, da und dort in der Bai zeigten sich breite Risse im Eis, an denen die beutelüsternen Möwen in langen Reihen standen. Draußen im Meere kam der dunkelblaue Streifen des offenen Wassers immer näher. Die gewaltigen Schneemassen, die fast das Verdeck des alten »Walroß« einzudrücken drohten, fingen an, lebendig zu werden. Es rieselte in hundert Bächen an der Schiffsseite herunter. Durch die undichten Risse des unverkockten Verdecks drang das Wasser durch die weißgetünchte Decke und tropfte von da auf den teppichbelegten Fußboden, wo es in ekligen, übelriechenden Tümpeln stand. Es war des Bleibens nicht mehr, weder in der Kajüte noch auch in Fung Lis Kombüse, die sonst immer so warm und mollig gewesen war. So machten wir uns aus einer Persenning ein Zelt am Strande zurecht und zogen mit Sack und Pack nach der neuen Behausung um. Abraham Lincoln Jonas, der die glückliche Gabe besaß, allen Dingen eine gute Seite abzugewinnen, freute sich wie ein Kind über das Picknick, und auch Jack, der Eskimo, fand solches Leben mehr nach seinem Geschmack als das Schlafen in Kojen und das Laufen auf Teppichen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war er unterwegs und kam jedesmal wieder reichbeladen zurück mit Gänsen, Enten, Fischen und anderer Beute, nach der man sich nur zu bücken brauchte in diesem Schlaraffenlande.

Soweit war alles schön und gut. Aber der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein, sondern auch von anderen Dingen, die sich immer wieder anmelden, ob man sie auch hundertmal am Tage verscheuchen mag, die sich nicht ausreden lassen mit aller Beredsamkeit. Obwohl uns vorerst gar nichts fehlte und es uns eigentlich besser ging als Millionen von Menschen, die sich mühen und plagen müssen um ein jämmerliches Dasein in der zivilisierten Welt, wollte mir doch das alles je länger je weniger gefallen. Mit dem Fortschreiten des Frühlings erfaßte mich eine unerklärliche Unruhe und eine unstillbare Sehnsucht nach der großen Welt, die doch noch immer vorhanden sein müßte, dort draußen, über dem Meere, irgendwo. Alles das, was mir aus den Augen und aus dem Sinn gekommen war über den Abenteuern der letzten Wanderjahre, begann wieder lebendig zu werden und fing an, mich zu beunruhigen, ob ich wollte oder nicht. Einmal mindestens in vierundzwanzig Stunden schreckte ich aus dem Schlafe auf und sah mich wieder in den stillen Straßen unseres kleinen Städtchens, und sah mich über den alten Geschichten von Fahrten und Abenteuern, von denen ich so viel geträumt und von denen ich inzwischen so viel erlebt hatte, fast noch toller und wilder, als sie jemals in den Büchern standen. Und sah die Mutter, wie sie vor mir stand am letzten Tage vor der Abreise nach Hamburg. »Warte, du Schlingel! Du wirst noch sehen, wo du hinkommst mit deinen Ideen! Wer sich in die Gefahr begibt, der kommt darin um.« Und ich dachte mir, wie es denen zu Hause nun wohl ergehen würde. Ob sich dort viel verändert hätte in der langen, langen Zeit, die wie ein Meer zwischen heute und damals lag.

Nicht anders wie mir erging es Hein. Täglich wurde er tiefsinniger. Stundenlang konnte er vor sich hinstarren und an Plumen und Klüten denken und an ähnliche erfreuliche Dinge, die es einmal in Hamburg gegeben hatte. Eines Tages aber, nachdem er besonders lange und nachdenklich in die tiefstehende Sonne hineingeschaut hatte, bekam er eine seiner sehr seltenen Anwandlungen der Beredsamkeit.

»Nein«, sagte er unvermittelt, »so geit dat nich wider. Ich bin kein Kaptein und werd' es auch nie werden. Es hat nicht jeder einen Kopf dazu, und das Rechnen ist ein bannig böses Geschäft, mit dem ich niemals klar werden kann. Aber Matrose – das bin ich. Ich kann arbeiten und steuern und Segel nähen. Ich kann dir eine Langspleiß machen, die so glatt ist wie ein Aal. – Und das kannst du wohl auch?«

»Ja«, sagte ich.

»Und Abraham hier ist ein Matrose?«

»Gewiß.«

»Und Jack hat auch schon auf Schiffen gefahren.«

»Das hat er wohl.«

»Und da sitzen wir nun schon die lange Zeit auf der Insel und nähren uns von wilden Tieren und schnappen nach Luft wie ein Schellfisch auf dem Trockenen. Und sind Matrosen. Und haben ein Schiff und stehen davor wie eine Katze vor einem Hühnerhof. Das halte aus, wer will; ich mach's nicht länger mit!«

»Und was willst du dagegen tun?«

»Was ich dagegen tun will? – Wozu sind wir Seeleute? Wozu haben wir das Steuern, Reffen und Spleißen gelernt? Ich lass' mir mein Lehrgeld zurückbezahlen, wenn es zu weiter nichts gut ist als zum Essen und Trinken hier am Strande, wie jede erste beste hergelaufene Landratte. Wenn's nach mir ginge, so würden wir den Kasten dort drüben auffixen wie eine Jacht. Wir würden die Segel reparieren, wir würden die Stengen und Rahen wieder an ihre Stelle bringen; wenn das Eis aufgebrochen ist, würden wir damit nach Süden steuern und wenn wir richtige Matrosen sind, so kommen wir auch wieder nach Hause.«

Plötzlich unterbrach er seine Rede und wischte sich den Schweiß ab, der ihm dabei auf die Stirn getreten war. Es war die längste, die er je gehalten hatte in seinem ganzen Leben. Was er gesagt hatte, gefiel mir sehr. Im Grunde genommen war es nichts anderes als das, was ich alle die Zeit schon selber gedacht hatte, ohne daß ich gewagt hätte, das alles zu Ende zu denken. Nun aber kam ein anderer und hatte dieselbe Idee und nahm mir die Worte vom Munde weg. Mit beiden Händen wollte ich zugreifen. In meiner Phantasie sah ich mich schon als Schiffskapitän auf offener See. Schon halbwegs in Deutschland!

Am nächsten Morgen machten wir uns beizeiten an die Arbeit. »Man tau!« sagte Hein. »Wat sin mut, mut sin.« Abraham Lincoln Jonas war auch mit Eifer bei der Sache. Im ersten Augenblick war ihm der Gedanke nicht leicht gefallen, daß er nun so sang- und klanglos die Insel verlassen sollte, auf der er so fette Jahre verlebt hatte, aber gleich darauf war ihm eingefallen, daß dort draußen irgendwo in Texas eine farbige Dame lebte, der er einstmals ewige Liebe und Treue geschworen hatte, und der Gedanke beflügelte seine Phantasie so sehr wie seine Arbeitslust. Jack, der Eskimo, war wie gewöhnlich mit allem einverstanden, und Fung Li sagte nur: »Allright. Four piecee man chou chou.«

Erst nachdem wir uns richtig darangemacht hatten, den »Kasten« zu überholen und auf seine Seetüchtigkeit zu prüfen, mußten wir herausfinden, welche Titanenarbeit wir übernommen hatten. Der Rumpf war zwar aus kräftigem Eichenholz für die Ewigkeit gebaut, und unten im Raume fand sich nicht mehr Kielwasser, als jedes gute Schiff von Rechts wegen führen darf. Aber die Maschine war völlig eingerostet, der kleine Dampfkessel war fast bis obenhin angefüllt mit Staub und Kesselstein. Da und dort schimmerte das Tageslicht durch faustgroße Löcher, die der Rost durch die Wände gefressen hatte. Es war wirklich ein hoffnungsloser Fall, und es war gut, daß dem so war, denn wenn es auch die tadelloseste Dampfmaschine und der fehlerloseste Kessel gewesen wäre, so hätte doch keiner von uns genug Maschinenverstand gehabt, um etwas damit anzufangen.

Mit um so größerem Eifer machten wir uns an die Ausbesserung der Takelage. Schon in früheren Zeiten mochte sie nicht gut besorgt worden sein, denn ein Walfischfänger ist kein Kriegsschiff. Was aber damals noch einigermaßen ordentlich und schiffsgemäß war, das war zuletzt noch vollends verlottert unter dem milden und nachsichtigen Kommando des Kapitäns Abraham Lincoln Jonas. Das ganze Gebäude von Masten und Rahen – soweit es überhaupt noch stand – war mit der Zeit zu einem schwankenden, wankenden Etwas geworden, das ächzte und stöhnte und klapperte bei jedem Windstoß und zuweilen auch aufschrie in einer schaurigen Höllenmusik, wenn ein Südwester die grauen Windwolken heranfegte und Schiffskamerad Tom auf der Rahnock mit dem Sturm um die Wette sang. Die Großrahe, die schon bei unserer Ankunft ziemlich flügellahm heruntergehangen hatte, stand nun fast mit der Steuerbordnock auf dem Verdeck, und es bedurfte einer achttägigen Arbeit mit Schlingen und Taljen, bis wir sie wieder in der richtigen Lage hatten. Am Fockmast fehlte die Bramstenge, am Großmast ein Teil der oberen Bramrahe, und achtern war der Besanbaum während des Winters stückweise als Brennmaterial in Fung Lis Herd gewandert. Das war – wie sich später herausstellte – ein besonders fatales Manko, denn es gibt Schiffe – und dazu gehörte auch das »Walroß« –, die ohne den Besan sich kaum beim Winde steuern lassen. Unmöglich, alles aufzuzählen, was sonst noch fehlte an der Takelage. Glücklicherweise war das Schiff reichlich versehen mit Blöcken, Taljen und feinen Manilatauen, die als Tauleinen in den Walfischbooten dienen sollten und ebensogut als Brassen und Gardings oben im Tauwerk Verwendung finden konnten.

Zwei volle Monate vergingen über diesen Arbeiten. Mit vieler Mühe gelang es uns, die Pardunen steifzuholen, die noch nach der Methode von Anno dazumal aus armdicken, schwarz geteerten Tauen bestanden. Wo es nötig war, brachten wir neue Blöcke an und scherten neue Taue ein, und am Ende konnten wir mit Befriedigung feststellen, daß der alte Kasten beinahe wieder so aussah wie ein Schiff. Am schwierigsten und gefährlichsten war die Arbeit in der Takelage, die in ihrem verlotterten Zustande bei jedem Windstoß wie eine mächtige Luftschaukel hin und her schwankte. Noch mehr als sonst war man dort oben knapp an Mannschaft, da Jack nicht viel anderes tun konnte, als sich festzuhalten, und Fung Li unter Anrufung aller Götter seiner chinesischen Heimat die Gefolgschaft verweigerte. Dafür hielt sie Hein, der durch stillschweigende Übereinstimmung das Amt des Kapitäns übernommen hatte, mit tausend Arbeiten an Deck beschäftigt. Er ließ sie malen und Farbe waschen, und als er sonst keine Arbeit finden konnte, ließ er sie das Verdeck mit Sand und Steinen schrubben.

Es war also mit Einbruch des Sommers alles recht ordentlich an Deck und einigermaßen schiffsgemäß. Auch unter Deck war es wieder etwas menschlicher. In der Kajüte sah es nicht mehr wie in einer Rumpelkammer aus, das Feuer brannte im Herde in Fung Lis Kombüse, und wir beeilten uns, unsere Habseligkeiten wieder an Bord zu bringen, solange das Eis noch standhielt. Denn bei aller sommerlichen Wärme war es dort drüben kein idealer Aufenthaltsort. Große Schmeißfliegen von bösartig stechender Abart machten sich von Tag zu Tag unangenehmer bemerkbar. Wo immer die Sonne hinschien, da krabbelten die Sandflöhe, das Geschrei der Möwen und Lummen ließ einen die halbe Nacht kein Auge zumachen. Die schlimmste Plage aber waren – die Moskitos! Wenn man den »Südländern« von seinen Erlebnissen in den Polarregionen berichtet, so muß man immer vorsichtig sein, wenn man auf das Kapitel Moskitos zu sprechen kommt. Denn so viel sie auch sonst zu glauben geneigt sind, hier schütteln sie mißbilligend die Köpfe und erklären einen für einen Scharlatan oder bestenfalls für einen Münchhausen. Wer aber einmal einen Sommer in Alaska oder nördlich davon zugebracht hat, der weiß es besser. Ich bin in meinem Leben schon in mancher vielberüchtigten Moskitohölle gewesen, angefangen bei den Niederungen des Amazonenstromes, aber in keiner von diesen haben die kleinen Quälgeister sich so aufdringlich bemerkbar gemacht wie dort auf der anderen Seite des Polarkreises. Ich habe Hunde gesehen, deren Augen bis zur Blindheit angeschwollen waren von den Moskitostichen; in anderen Gegenden – ebenfalls innerhalb des Polarkreises –, wie zum Beispiel an der Mündung des mächtigen Mackenzieflusses, ist in den zwei kurzen Sommermonaten alles tierische Leben erstorben aus diesem Grunde. Selbst Bären und Elentiere werden nicht selten zu Tode gequält, wenn sie sich zu weit vorwagen in das Reich dieser kleinen Teufel.

Doch dies nur nebenbei.

Der Juni war gekommen und mit ihm eine wahrhaft sommerliche Hitze. Der dunkelblaue Streifen, der draußen auf dem Meere das offene Wasser anzeigte, kam näher und näher gerückt mit jedem Tage, und in der Bai quoll das Seewasser aus zahllosen Rissen über das brüchige, blauschimmernde Eis. Eines Tages war es vollständig losgebrochen und mit der Flut ins Wasser hinausgetrieben. Über Nacht war die letzte Spur des Winters verschwunden, und es sah aus, als ob man Anker geworfen hätte an irgendeiner solchen Küste, die jahraus, jahrein nichts von Eis und Winternacht wußte. Blau lag das Meer unter dem blauen Himmel. Kein Stück Eis, ja nicht einmal der Widerschein von Eis am Horizonte war zu sehen in der weiten Runde. Eine frische Brise aus Südosten kräuselte das Wasser und ließ überall die Schaumflocken tanzen auf den kurzen Wellenköpfen. Keinen schöneren Anblick konnte ich mir denken als diesen. In der überlaufenden Phantasie der wiedererwachten Hoffnungen, die so lange eingepfercht waren in den Klammern von Eis und Winternacht, wollte es mir scheinen, als ob in diesem Sommer das große Wunder geschehen und das Eis nach anderen Regionen verschwinden würde, weil es das Schicksal besonders gut und freundlich meinte mit uns und unserer Heimreise.

Und wie ich, so dachten und fühlten auch die anderen, während wir am späten Abend den Anker klarmachten zum Hieven am nächsten Morgen. Alle waren bei bester Stimmung. Mister Jonas tobte seine Freude in einem Cakewalk aus, Hein schaute verklärt vor sich hin im Vorgenuß der Plumen und Klüten, die er demnächst wieder in Hamburg essen würde. Nur der Chinese blieb unbewegt wie zuvor und brachte das Nachtessen mit undurchdringlicher Miene und dem immer gleichen Spruche: »Four piecee man chou chou.«

Während der ganzen Nacht waren wir bei der Arbeit und schafften die Vorräte an Bord. Mit der letzten Bootsladung wollten wir die Hunde übersiedeln, die sich einstweilen in fauler Behaglichkeit im Sande sonnten. Plötzlich aber, als wir uns eben zur letzten Fahrt vom Schiff nach dem Strande anschickten, entstand unter ihnen ein furchtbarer Aufruhr. Ein Heulen und Winseln, ein Knurren und Zähnefletschen. Wie auf Kommando sprangen sie alle auf und rannten davon nach einem benachbarten Hügel. Irgend etwas mußten sie dort oben gewittert haben: einen Eisbären, eine Karibuherde, einen marodierenden Fuchs oder was sonst eine Hundeseele in Aufruhr zu bringen vermag. Jedenfalls war es ärgerlich, daß der ungebetene Gast sich gerade in diesem Augenblick einstellen mußte. Mit rasender Schnelligkeit entfernte sich das Heulen, bis es nur noch als leiser Widerhall von den fernen Hügeln kam. Zornig schüttelte ich die Faust vor dieser Tücke des Objekts. Ich dachte an die kostbare Zeit, die uns verlorenging auf diese ärgerliche Weise. Ich holte das Fernrohr aus der Kajüte und durchsuchte damit die ganze Küste, ohne etwas anderes zu entdecken als grüne Moosflächen an den Hügelhängen und da und dort ein übriggebliebenes Schneefeld, das in der Sonne glitzerte. Außer den zahllosen Möwen und Wildgänsen, die wie immer am blauen Himmel flatterten in ihrer lärmenden Lustigkeit, war weit und breit nichts Lebendes zu sehen, es sei denn ein schwarzer Punkt, der langsam näher kam über den Abhang des letzten Hügels. Bei der großen Entfernung von zwei bis drei Seemeilen konnte man das Ding vorerst noch nicht richtig ausmachen. Wahrscheinlich war es ein Meister Petz, der uns einen Abschiedsbesuch machen wollte nach so vielen anderen in diesem Frühjahr. Jack, der Eskimo, aber, der mit seinen scharfen Augen über jedes Fernrohr erhaben war, war anderer Ansicht.

»Innuit«, sagte er ruhig. »Innuit keile.«

Ein Mensch!

Ich wollte es ihm ausreden, aber er bestand auf seiner Meinung. Es sei ein Mann, und zwar ein Kabeluna; ein Weißer. Er sehe es an seinem großen Hute. Noch eine Weile standen wir an Deck und schauten über die Bordwand hinweg nach dem fremden Gegenstand, der nur langsam näher kam. Die Meinungen waren ungefähr gleichmäßig verteilt zwischen Mensch und Eisbär, aber die Hoffnungen gingen alle zu letzterer Annahme, denn wenn es ein Mensch sein sollte, der uns hier einen Besuch abstattete, so bedeutete er sicher nichts Gutes; auf dieser Insel nicht! Auf alle Fälle fanden wir es besser, den fremden Gast auf dem Lande zu erwarten. Eben wollten wir mit dem Boot vom Schiff abstoßen, als Abraham Lincoln Jonas noch einmal kopfüber in die Kajüte untertauchte und gleich darauf wieder an Deck kam mit einer Ladung Winchestergewehre unter beiden Armen.

»Für alle Fälle!« sagte er, indem er die Ladung im Boote verstaute. »Wenn man schon einmal einen Gentleman empfängt, dann gleich ordentlich, sage ich. Und gerade hier auf dieser Teufelsinsel gibt es ein paar Gentlemen, die ziemlich schwerhörig sind, wenn man nicht gerade durch die Mündung von Winchestergewehren mit ihnen spricht.«

Wir kamen glücklich an Land und schürten das Lagerfeuer, so daß es wieder hell aufflackerte in dem weichen Lichte der mitternächtigen Sonne.

Der fremde Besuch, der den ganzen Aufruhr verursacht hatte, war inzwischen schon beträchtlich näher gekommen. Ohne Zweifel war es ein Mann, der sich schwankend und stolpernd wie ein Betrunkener inmitten einer keifenden Hundemeute dem Lager näherte. Er trug lange Gummistiefel und einen mächtigen, weit in die Stirn gedrückten Schlapphut, der das Gesicht vollständig verdeckte. Im Grunde genommen war er nur Hut und Stiefel und alles in allem das schönste Bild eines Seeräubers, das man je gesehen hat außerhalb von den Geschichten. Einige hundert Schritt vom Lager entfernt blieb er stehen, zog seinen Hut und schwenkte ihn in der Luft.

»Schiff ahoi! – oh! ahoi!« rief er mit solcher Donnerstimme, daß alle Hunde den Schwanz einzogen und erschreckt davonliefen. »Schiff in Not! Signal an der Gaffel! Werft mir eine Tauleine!«

Einen Augenblick starrte ich ihn an. Schon vorher war mir etwas bekannt vorgekommen an dem Burschen. Nun wußte ich es. Die Stimme ließ keinen Zweifel. Es war Alaska-Jim. Wäre der Teufel in eigener Person hier aufgetaucht, so hätte er mir keinen größeren Schrecken einjagen können. Von allen Menschen gab es keinen, den ich gerade in jenem Augenblicke mit weniger Freude begrüßt hätte als diesen. Auch die anderen schienen keineswegs erfreut über seinen Anblick und zeigten keine Neigung, in irgendeiner Weise auf seine »Notsignale« zu reagieren. Alaska-Jim wich indes nicht mehr vom Fleck. Krampfhaft hielt er sich mit der einen Hand an einem Felsblock fest, während er mit der anderen über die Stirn fuhr wie einer, der seinen Augen nicht traut.

»Schiff ahoi!« rief er noch einmal mit der gleichen Donnerstimme. »Was für eine Gesellschaft von Landlümmeln seid ihr dort drüben? Seid ihr ein christliches Schiff oder ein gesegnetes Bumboot von der Wasserfront? S. O. S. Schiff in Not! Die Takelage ist über Bord gegangen in einem Taifun, 's ist etwas nicht in Ordnung mit der Steuerung. Drei Meilen Leeweg zu jeder Meile und drei Faden Wasser im Raume. Werft mir eine Tauleine! Ich kann es verlangen nach den Regeln und Verordnungen der hohen See!«

Noch eine Weile schimpfte er so weiter, aber als er merkte, wie wenig Notiz man von seinen Reden nahm, machte er sich mit einem Ruck von seinem Stützpunkt an dem Felsen frei und kam stolpernd und schwankend zu uns herüber. Gleichgültig schaute ich ihm zu, denn ich glaubte nicht anders, als daß er einmal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte nach der Melodie, die er so sehr liebte: »Whisky, Johnny.« Als er aber dicht herangekommen war und der Widerschein des Feuers auf seinem aschfahlen Gesicht spielte, wurde ich eines anderen belehrt. Fast hätte ich es nicht wiedererkannt, so grau und eingefallen war das Gesicht, so tief lagen die Augen. Wie ein lebloses Bündel ließ er sich niederfallen auf einen Haufen Felle und starrte mit weit aufgerissenen Augen in das Feuer, während er mit kurzen, röchelnden Zügen nach Atem rang. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder sprechen konnte. Dann aber war er auch sogleich wieder der alte, glattzüngige Teufel, als den wir ihn alle nur allzugut kannten.

»Da seid ihr ja wieder alle beisammen«, sagte er zwischen keuchenden Atemzügen. »Wie eine einzige glückliche Familie, sozusagen. Jack und Hein und Johnny. – Da bist du ja auch! Das war ein guter Trick, den ihr mir da gespielt habt! Kappt mir das Kabel am hellen Tage und läuft davon mit der Karte, die ich alle die Zeit gehütet habe wie meinen Augapfel. Und ich der Kapitän! Gut genug für einen Kapitän auf meines Vaters Mistwagen auf der Farm in Missouri. Man wird alt und einfältig. Ich kann das sehen. Trotzdem hättet ihr mir nicht den Wind aus den Segeln genommen, wenn nicht alle die Zeit ein Gegenwind geweht hätte an Bord der ›Bonanza‹, wenn nicht alle Mann gegen mich gewesen wären, von Jim Collins angefangen bis zu dem schmierigen Waschlappen von einem Koch.« Ganz erschöpft unterbrach er seine Rede und schaute eine Weile nachdenklich ins Feuer.

»Es war eine gute Karte«, fing er wieder an mit melancholischer Stimme. »So gut wie ein ›volles Haus‹. Ich habe sie gespielt wie ein Mann für alles, was darin ist, und bin doch am Ende hereingefallen auf den armseligen Bluff von ein paar landlümmeligen Grünhörnern. – Well, das Spiel ist aus! Ich bin auf dem Trockenen wie eine ausgemusterte Hulk an einem Leeufer. – Braucht mich nicht so anzusehen! Ich nehm' es euch nicht krumm, was ihr getan habt. Ich hätte auch nichts anderes gemacht an eurem Platze. Da es nun schon einmal so ist, wollen wir von Geschäften reden und miteinander verhandeln.«

»Verhandeln?« fragte ich erstaunt und etwas entrüstet, denn so wenig ich verstanden hatte von der wirren Rede, so konnte ich doch so viel daraus entnehmen, daß es kein ungünstiger Wind war, der uns diesen Alaska-Jim hierhergeweht hatte.

»Gewiß doch! Verhandeln!« fuhr Jim fort in seiner mühseligen, von trockenen Hustenanfällen unterbrochenen Redeweise. »Ich habe immer noch ein paar Trümpfe in meinem Rockärmel. Ich werde sie noch ausspielen, ehe ich sterbe wie ein Gentleman und ein wahrer Seemann.

Dort drüben liegt das alte ›Walroß‹. Sieht ein bißchen verändert aus. Aber sagt mir nicht, daß es ein anderes Schiff ist! Vier Jahre lang bin ich dort der Zweite im Kommando gewesen, und deshalb kenne ich es wieder, wenn immer ich mein Auge darauf stecke. Und wenn ich nicht mehr sehen könnte, so würde ich es riechen. Ein jedes Schiff hat seinen besonderen Geruch, und ich rieche das alte ›Walroß‹ zehn Meilen gegen den Wind. – Ben Bold wird wohl zuletzt meine Stelle bekleidet haben.«

»Er ist tot und längst schon unter der Luke«, fiel ihm Abraham Lincoln Jonas ins Wort.

»Das brauchst du mir nicht erst zu sagen. Ich hab' es längst schon gesehen an den rostigen Lagern, den quietschenden Braßblöcken und der Schiffsseite, die so schmierig ist wie ein Kartoffelkahn auf dem Sakramentofluß. So etwas wäre nicht möglich gewesen, solange Ben Bold im Kommando war. Er war der Mann, der die Jungens springen machte. Alles war da trim- und schiffsgemäß, jedes Tau an seinem Platz wie auf einem Kriegsschiff und das Verdeck so sauber, daß man davon essen konnte. – Und Kapitän MacKay ist wohl auch schon bei David Jonas, sonst hätte er nach dem rechten gesehen.«

»Sie sind alle tot«, sagte ich, »mit Ausnahme von Fung Li und dem Nigger.«

»Um so besser. Die beiden hat sich der Teufel zum Nachtisch aufgespart.«

Wieder wurde seine Rede unterbrochen von einem furchtbaren Hustenanfall, der sein aschfahles Gesicht mit einem dunkelblauen Anflug überzog. Zu meinem Schrecken mußte ich sehen, daß es Blut war, was aus seinem Munde kam.

»Und Johnny«, fuhr er mühsam fort, indem er sich an mich wandte, »du bist immer ein halbwegs anständiger Junge gewesen und noch der Beste von all den Waschlappen an Bord der ›Bonanza‹. Ich weiß, du wirst einen kranken Seemann nicht im Stich lassen, der hart am letzten Hafen ist, von dem es keine Ausfahrt mehr gibt! Johnny – ich werde einen Haufen gut von dir denken, ich werde dich als einen wahren Seemann ansehen, wenn du mir einen Schluck Whisky verschaffst!«

Solcher Bitte konnte man nicht widerstehen. Aus den Vorräten holte ich ein Fläschchen Rum, das er mit einem Zuge halb leer trank.

»Ah!« sagte er mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung. »Das tut gut! Jetzt bin ich wieder ein Mensch! Mein Leben lang habe ich von Whisky gelebt. Es ist gut, wenn er mir nun auch nicht ausgeht auf der letzten Reise zu David Jonas! Und jetzt können wir von Geschäften reden. – Ihr sagt, daß ich an einem Leeufer bin, und da mögt ihr recht haben. Aber gerade so sehr seid ihr's. Ich bin ein alter Seemann und weiß, was ihr vorhabt. Ihr wollt den Kasten nach Hause navigieren. Das wird euch kaum gelingen, so kurz an Händen, wie ihr seid. Außerdem ist die ganze Bai übersät von Klippen und Untiefen, die niemand kennt als ich allein, jetzt, nachdem Ben Bold und Kapitän MacKay zu den Fischen gegangen sind. – Und well, ich bin nicht so. Ich biete mich als Lotse an, und einen besseren könnt ihr nicht finden auf dieser Seite des Eismeeres. Aber auch gleich muß es geschehen, denn ich habe keine Zeit zu verlieren. – Seht her!«

Er zog den Hut vom Kopfe, und was man da zu sehen bekam, ließ mich laut aufschreien vor Entsetzen. Eine klaffende, offenbar von einem Axthieb herrührende Wunde hatte die ganze Kopfhaut bloßgelegt, von einem Ende zum anderen.

»Jim Collins hat das fertiggebracht«, sagte er seelenruhig. »Aber ich habe ihm mit Zinsen herausgegeben, ihm und Schanghai-Bill und Tom Bowers. Nun liegen sie alle schon unter dem Eise; die einen mit einem zerschmetterten Schädel, die anderen mit einer Revolverkugel und alle ein Futter für die Fische. Aber das auf dem Kopf ist doch nichts. Gerade nur ein kleines Andenken, wie es alle Tage vorkommt unter seefahrenden Leuten. Das hier ist schlimmer.«

Er zog das mit Blut angelaufene Hemd beiseite und zeigte die kaum sichtbare Spur eines Messerstichs an der rechten Brustseite.

»Gerade durch die Lunge«, sagte er. »Der Waschlappen von einem Koch hat das getan. Ein sauberes Stück Arbeit. Sieht mächtig aus wie eine Reise zu David Jonas. Ich kann das fühlen in allen Knochen. – Well, ich bin nicht empfindlich. In kurzem werde ich in der Hölle sein, und es ist gut so, denn ich werde dort unten ein paar Gentlemen antreffen, mit denen ich noch eine Rechnung auszugleichen habe, aber immerhin – sicher ist sicher –, man kann nicht wissen, ob doch vielleicht etwas Gutes vom Guten herauskommt, das sich bezahlt macht bei David Jonas. Da ihr hier alle an einem Leeufer seid und nicht ein- und ausfindet aus diesem Loche, will ich Mitleid mit euch haben. Ich werde bei euch anmustern als Lotse ohne Heuer und ohne Anteil. Nur mit Whisky müßt ihr mich versorgen. Etwas anderes werde ich wohl nicht mehr brauchen.«

Mit einem tiefen Seufzer endete die Rede. Sie lief natürlich nicht so schnell und flüssig vom Stapel, wie ich sie hier niederschreiben kann. Oft war sie unterbrochen von Erschöpfungspausen und heiseren Hustenanfällen, und stellenweise war sie reichlich gewürzt mit Kraftausdrücken, die mehr bildhaft als schön waren und vor deren Wiedergabe sich die Feder sträubt. Auf alle Fälle war ihm anzumerken, daß es ihm bitter ernst war mit dem, was er sagte. Wir mußten uns beeilen, wenn wir noch etwas profitieren wollten von der Wissenschaft unseres Lotsen. Wir packten ihn ins Boot und schafften ihn an Bord, wo wir uns sogleich ans Ankerhieven machten, ein Geschäft, das uns lange in Anspruch nahm, denn in den letzten fünf Jahren hatte die rostige Kette sich fest verwachsen mit dem zähen Schlamm auf dem Grunde der Bai. Endlich hing der Anker tropfend unter der Back.

Es war an einem hellen, sonnigen Sommermorgen, den ich so bald nicht vergessen werde. Die Sonne schien hell am klaren blauen Himmel, über den nur vereinzelte weiße Windwolken segelten. Die Luft war weich und warm, gerade mit Wind genug, um die Segel voll zu halten. Ich stand am Steuerrad, das ordentlich knarrte über der ungewohnten Bewegung. Auf dem Vorderteil des Achterdecks lag gegen die Bordwand gelehnt Alaska-Jim und waltete seines Amtes als Lotse. Den hocherhobenen Kopf, der in seiner Leichenblässe etwas Geisterhaftes an sich hatte, hielt er mit starrem Blick auf das Wasser gerichtet, während die lose herunterhängende Linke die Whiskyflasche umklammerte.

»Hart über das Ruder!« kommandierte er mit Donnerstimme. Langsam, ganz langsam folgte das Schiff dem Steuer. Das Großbramsegel, das einzige, das wir noch fahren konnten, begann zu killen, die Klüver standen voll, die Fock fing an, sich zu blähen im Winde, und unversehens konnte man das beobachten, was wir zwar alle immer als selbstverständlich angenommen hatten, an das ich aber trotz allem bisher noch nicht so recht zu glauben vermochte: Nach jahrelanger Gefangenschaft fing das Schiff zum ersten Male wieder an, sich zu bewegen aus eigenen Kräften! Einmal drehte es sich im Kreise. Dann richtete es die Nase resolut nach der Einfahrt der Bai, während wir langsam vorbeiglitten an dem flachen Strande mit allen den Dingen, die uns so bekannt geworden waren in den letzten Monaten.

Es war – wie gesagt – ein wunderschöner Morgen. Der Sonnenschein tanzte lustig auf dem leicht gekräuselten Wasser der Bai, die klaren Bäche hüpften noch übermütiger als sonst über die Steine, die Vögel schwebten wie weiße Wolken um die Felsenriffe, die einsam aus der blauen Meeresflut herausragten. Überall war Leben, überall Freude und Sonnenschein, als ob das wüste Land im letzten Augenblick noch einmal gutmachen wollte für alles, was es uns hatte erleben lassen an Mord und Tod und Meuterei unter den düsteren Schatten der endlosen Winternacht. –

Ich aber sah und hörte nichts von allen diesen Dingen. Ich schaute nur hinauf zu den Segeln, die sich immer voller im Winde blähten, ich blickte wie im Traume hinüber nach dem Strande, der langsam vorüberglitt, und in meiner Seele war nur noch ein einziger Gedanke: Freiheit! Nach Hause!

»Steuerbord!« rief der Lotse. »Hart über! Hart über! – Kannst du nicht sehen? – Hart über das Ruder, wenn du noch einmal mit heiler Haut zu Muttern kommen willst!«

Ich tat, wie mir geheißen, und indem ich so tat, fiel mein Blick über die Schiffsseite hinweg auf ein scharfes, von weißem Schaum umsäumtes Felsenriff, dessen Tücken wir durch das geschickte Manöver soeben um ein Haarbreit entgangen waren. Ich sah auf der anderen Seite ein weiteres Riff in kaum drei Faden Entfernung.

Nun erst waren meine Augen geöffnet für diese Gefahren. Wohin man blickte, war die Fahrrinne verpestet mit Riffen und Klippen, die alle Tod und Verderben drohten. Es war nicht auszudenken, wie man einen Ausweg finden sollte aus diesem Irrgarten. Alaska-Jim aber blieb kaltblütig wie immer. Keine Miene verriet eine Bewegung in seinem bleichen Gesicht.

»Stetig, mein Junge«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Werde mir nicht gegallied wie ein Walfisch an der Leine. Immer ruhig Blut! Verlaß dich auf mich und das gute alte ›Walroß‹.

Stetig das Ruder! – Backbord ein wenig! – Nun Luv! Luv! Warum nicht schneller? – Lee brassen da vorne, ehe ich euch Beine mache! Holt durch die Luvbrassen. – Fockschot, einer von euch! – Gut gemacht, ›Walroß‹! Keine von euren Phantasiejachten hätte es besser tun können. – Ah, wir sind ein schönes Paar, ich und das ›Walroß‹!

Stetig das Ruder, ehe ich dir mit dem Tauende komme! – 's ist nicht viel um Leben und Tod von seefahrenden Menschen. Die besten von ihnen sind nicht wert, daß ihre Mütter sich die Mühe gemacht haben, sie auf die Welt zu setzen; manchem habe ich selbst einen Freiplatz verschafft in David Jonas' Spind. Und es liegt mir nicht daran, ob ich es getan habe oder nicht. Aber ein Schiff zu verlieren ist eine Todsünde für einen seefahrenden Mann!«

Wieder ging es hart vorbei an einem Riff.

»Stetig! Stetig!« rief Alaska-Jim.

So ging es noch eine ganze Weile »zwischen dem Teufel und der tiefen See«, wie die Seeleute sagen. Eintönig hallten die Kommandos über das Verdeck.

»Steuerbord! – Stetig! – Hart Backbord das Ruder!«

Ganz langsam entfernten wir uns von dem gefährlichen Lande. Je weiter wir kamen, je seltener wurden die Riffe. Die Brise summte ordentlich im Tauwerk. Von Osten kam eine lange Dünung mit kurzen Wellenköpfen, die sich polternd an der Schiffsseite brachen.

»Steuerbord noch ein wenig«, sagte Alaska-Jim. »Recht so! Halte voll und bei. Süd-Süd-Ost, halb Ost. Das wird euch heimbringen, wenn ihr nicht zuvor zu den Fischen geht. Was mich anbelangt, so werde ich bei David Jonas sein, noch ehe der Tag vorüber ist.«

Während der letzten Worte, die er nur noch mühsam hervorzustoßen vermochte, hatte er sich gerade aufgerichtet und schaute sich wild im Kreise um, während er seine schwankende Gestalt nur mühsam an der Nagelbank festhielt. Ein heftiger Hustenanfall ließ seinen starken Körper erzittern wie einen Baum, an dessen Wurzel man die Axt gelegt hat. Kraftlos sank er wieder zusammen, während ein dunkler Blutstrahl aus seinem Munde quoll. Das Entsetzen packte mich bei dem Anblick. Ohne zu bedenken, was ich tat, ließ ich das Ruder im Stich und rannte auf ihn zu. Im Augenblick schoß das Schiff in den Wind. Die Segel flappten und schlugen donnernd gegen die Masten. Es war, als ob das ganze Fahrzeug in diesem Augenblick aufschrie vor Schmerz und Wut.

Wohl zehn Minuten lang lag der Sterbende lang ausgestreckt auf dem Verdeck, und ich glaubte, daß schon alles vorüber wäre. Da kam auf einmal wieder Leben in den Körper. Mit brechenden Augen starrte er hinauf in die Takelage. »Nun hast du's fertiggebracht, du Landlümmel«, sagte er mit verlöschender Stimme, die auch jetzt noch einen grollenden Unterton hatte. »Da haben wir die Bescherung! Der Kasten durchgedreht auf offener See! – Geh auf deinen Posten, ehe ich dir Beine mache! – Sterben ist nichts, aber kein Erdbeben könnt' mich vom Ruder treiben. Himmel und Hölle ist gut genug für die Sonntagsschüler, aber nicht für unsereins! Man lebt rauh und stirbt in seinen Stiefeln und kommt unter die Luke zu David Jonas, und dann ist's aus! Aber ein Schiff zu verlieren, ist die größte aller Sünden für einen seefahrenden Mann!«

Nachdem er diese Rede mit Mühe hervorgestammelt hatte, lag er wieder eine Weile regungslos auf dem Verdeck. Er gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. Trotzdem konnte man sehen, wie etwas in seinem Gehirn arbeitete und nach Ausdruck rang.

»Johnny«, sagte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme, »komm näher herbei. Halte dein Ohr an meinen Mund. – So. Du warst noch immer der Beste von all den Waschlappen an Bord, und ich will einen Haufen gut von dir denken, wenn du das ausrichtest, was ich dir auftrage. – Ich bin ein wüster Mann gewesen in meinen Tagen. Mein Leben lang habe ich hart beim Winde gesegelt und habe doch immer gut gelebt als ein echter Glücksritter, und es war keiner unter den Jungens, der ein Glas Whisky lieber getrunken hätte als ich. Ich habe Dollars gemacht, Hand über Faust, aber ich war nicht dumm genug, um sie den Landhaifischen in der Batteriestraße in den Rachen zu werfen. Nicht ich! Jeder Narr kann Geld verdienen, aber das Zusammenhalten, das ist die Kunst! Well, ich bin ein sparsamer Mann gewesen in meinen Tagen. Ich habe einen Dollar zum anderen gelegt in den Banken, da und dort. Mit den Zinsen sind es noch mehr geworden, und heute bin ich einige dreißigtausend Dollars wert, alles in allem. Mit dem, was bei dieser Reise herausgesprungen wäre, wären es vielleicht hunderttausend geworden, und dann hätte ich mich nach der Rückkehr ernsthaft als Gentleman etabliert bei den reichen Leuten in Riverside bei Los Angeles. Damit ist es nun nichts. Um so schlimmer für mich. – Und schau' her. Ich hab' einmal ein Mädchen gekannt auf einer Farm in Missouri. Sie war hübsch wie eine Pfingstrose und hatte dünne, feine Hände wie eine chinesische Puppe und einen Hut wie ein Yankeeklipper vor dem Winde. Du wirst sie finden und ihr das Buch geben in meiner Rocktasche, über dreißigtausend Dollar. Sie wird sie nötig gebrauchen können. – Aber nein! Es ist fünfundzwanzig Jahre her, seit ich sie nicht mehr gesehen. Sie muß nun häßlich sein wie eine Nachteule und zweimal verheiratet und eine Großmutter von schmierigen Rangen. Es ist besser, du läßt das nach! Mögen sich die Erben darüber raufen und die Advokaten den Gewinn einstecken. Der Spaß an dem Spiel ist wert den Einsatz!«

Wieder unterbrach ein heftiger Hustenanfall seine Rede, und er lag eine lange Zeit ganz still, während wir mit vieler Mühe das Schiff langsam wieder auf den Kurs brachten. Von Minute zu Minute ging es sichtlich mit ihm zu Ende. Die Macht der Gewohnheit aber hielt sein brechendes Auge noch bei der Beobachtung und Beaufsichtigung des Schiffsmanövers.

»Recht so!« sagte er, als das Fahrzeug wieder voll und bei am Winde lag. »Nur so weiter! Süd-Süd-Ost. Ich gab dir diesen Tip, weil du es bist und weil ich einen Haufen gut von dir denke. – Well, und so will ich dir noch einen anderen geben, ehe ich Segel mache für die lange Reise. – Nimm dich in acht vor den neuen Schiffskameraden! Der Nigger ist zu dumm, um schlecht zu sein, aber halte dein Wetterauge offen vor diesem Hundesohn von einem Chinesen!«

Nur halb hörte ich auf diese letzten Worte, da eine vorüberbrausende Bö meine ganze Aufmerksamkeit auf die Segel lenkte. Als ich wieder zu ihm hinüberschaute, lag er starr und tot auf dem Verdeck. Ich mußte zweimal hinsehen, um mich davon zu überzeugen. Kalt lief es mir über den Rücken bei dem Anblick. Ich schaute krampfhaft hinauf zu den Segeln und nach dem Kompaß, um nicht mehr hinsehen zu müssen. Langausgestreckt lag der Tote auf dem Verdeck, mit geballten Fäusten, weit aufgerissenen Augen und einem wahrhaft diabolischen Grinsen über den weit aufgeworfenen Lippen, die die gelben Zähne zeigten. Am unheimlichsten war es anzusehen, daß er sich auch jetzt im Tode noch immer hin und her bewegte nach den schlingernden Bewegungen des Schiffes.

Am Abend versenkten wir ihn sang- und klanglos ins Meer, auf dieselbe unheilige Weise, mit der er selbst schon so manchen abgefertigt hatte für die große Reise zu David Jonas im Laufe seines abenteuerlichen Lebens.

Uns allen war, als ob mit ihm ein böser Geist – oder wie man auf dem Schiffe sagt: ein Jonas – von uns gewichen wäre. Voll von neuen Hoffnungen braßten wir die Rahen vierkant vor dem Winde, der inzwischen nach Nordosten umgesprungen war. Das gute Schiff legte sich weit über unter dem Druck der Leinwand. Das Wasser rauschte vor dem Bug. Mit vollen Segeln ging es vorwärts, südwärts, heimwärts! Wenigstens glaubten wir so.

 


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