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Dieses ist eine lange und abenteuerliche Geschichte, so wild und verworren wie nur eine von denen, die man in den Büchern lesen kann. Und ich weiß nicht, warum es so ist, aber allemal, wenn ich daran zurückdenke, kommt mir der Vers in den Kopf, den ich einmal gelesen habe. Es ist ein englischer Vers aus Bulwers »König Richard«, und ich gebe ihn hier in schlechtem Deutsch:
»Gekuscht an Deck, die Hälfte wohl der harten Leute
Lag krumm, verwittert unter frost'gen Sternen,
Mit steifen Gliedern, schon des Todes Beute,
Mit stierem Blick in wesenlose Fernen.
Blutleer Gespenst! Des Eismeers Pesthauch kommt gekrochen,
Zersetzt das Blut und nagt durch Mark und Knochen.«
Und die dabei eine Rolle spielten, wo sind sie geblieben? Es ist ihnen ergangen nach den Worten, die Alaska-Jim immer im Munde zu führen pflegte:
»Die Toten erzählen keine Geschichten!«
Wo sind sie alle? Was ist aus ihnen geworden? – Je nun – was wird aus Seeleuten? Da wäre noch Hein Petersen, der etwas darüber zu sagen wüßte, aber der ist nun schon verheiratet. Er hat eine Kellerwirtschaft an der Langen Reihe zu Hamburg. Alle Tage wird er dicker, und die steifen Grogs der Schauerleute, die bei ihm verkehren, nehmen ihn so in Anspruch, daß er kaum zum Schlafen, geschweige denn zum Bücherschreiben kommt. Neulich erst bin ich drüben gewesen, und es war so gut wie ein Theater, wenn man ihm zusah, wie er mit der Kundschaft fertig wurde, die allzutief in seine Groggläser hineingeschaut hatte, und sie mit sanftem Druck an die Luft beförderte mit der Devise, die ihn auf allen seinen Wegen verfolgte, ob das nun in der Langen Reihe oder im Eismeer war:
»Man tau! Wat sin mut, mut sin!«
Ja, er ist ein guter Gastwirt geworden, und mit Recht hat er sich das Prädikat erworben, das unter seefahrenden Menschen an der Wasserkante als höchstes Lob geachtet wird: »'n fixen Kerl!« Jedoch das Bücherschreiben ist eine schwere Kunst für einen seefahrenden Mann. Es wäre indes schade, wenn das Garn ungesponnen bliebe, und also ergreife ich heute die Feder und erzähle von der verwegenen Fahrt der »Bonanza«, von Alaska-Jim, von Kapitän Tilden und seinem Schiffsjungen – der war ich selber –, von Schiffbruch und Meuterei, vom Schatz in der Seekiste und von all den Abenteuern auf der langen Reise im Lande der Mitternachtssonne.
Das ist kein leichtes Geschäft für einen, der allezeit mehr mit dem Teerpott als mit der Feder umgegangen. Jedoch – ich kann nicht anders! Und wenn ich selbst nicht schreiben wollte, so würde es in mir schreiben, und es käme doch auf das Papier, ob ich wollte oder nicht. Und gerade heute, wo draußen der Schnee in dicken Flocken fällt und der Wind durch die leergefegten Gassen heult, da ist es mir, als ob ich wieder das Tosen der Brandung, das Knirschen des Eises an der fernen Felsenküste hörte, als ob eben noch das Heulen der Hundemeute von Mill Watsches Schlitten durch die schweigende Schneewüste hallte. Ich brauchte nur eine Sekunde die Augen zuzumachen, und ich sähe alles vor mir, genau so, wie es damals gewesen ist.
Und an alledem ist doch schließlich niemand schuld gewesen als Piet Larson, der dicke schwedische Heuerbas von New Bedford. Oder das Schicksal. Oder der blinde, täppische Zufall, wie man es auffassen will. Ich war damals Schiffsjunge gewesen auf der »Alsternixe«, auf meiner allerersten Reise von Hamburg nach Santos und von dort nach dem südlich von Boston in Massachusetts gelegenen Hafen New Bedford. New Bedford war damals der Mittelpunkt der einst blühenden nordamerikanischen Industrie der Walfischfänger, die nun auch schon zum allergrößten Teil verschwunden sind wie so manche andere Romantik der tiefen See. Seit langem war ich zum ersten Male wieder an Land und wanderte durch die Straßen mit einer Miene »was kost' Amerika?« Vier Monate lang hatte ich nur Himmel und Wasser gesehen und nichts unter dem Füßen gehabt als die immer gleichen Decksplanken, die unter der Äquatorsonne brannten und auf denen in der Westwinddrift die wilden, graubärtigen Sturzseen brodelten. Nun aber hatte ich – wie gesagt – seit langer Zeit zum ersten Male wieder festen Boden unter den Füßen, richtiges holperiges Hafenpflaster, über das ich gewichtig weiterschritt mit dem schwerfällig schlingernden Gang, den ich den anderen Matrosen abgeguckt hatte und der einem auch schon ganz von selbst zur zweiten Natur wird, wenn man erst einmal in langen Nachtwachen das Verdeck abgeschritten hat über der rollenden See der tropischen Meere. – Ah, das war das Leben, das ich liebte! Da roch man die See, da stieg einem Teergeruch in die Nase, da kreisten die Möwen über dem glitzernden Wasser. Von überall her kam der Lärm der Rosthämmer, das Heulen der Dampfer, die qualmend vorüberzogen. Vor einem großen Segelschiffe am Pier stand ich ganz versunken in den Anblick der hohen Masten und Rahen und der lärmenden Dampfwinden, die die Mehlsäcke in mächtigen Schlingen in den unersättlichen Bauch des Schiffes beförderten. – Wie schön das alles war! Wie interessant! Und wie würde es sein, wenn ich in einem halben Jahr von heute – das wäre gerade um die Weihnachtszeit – wieder nach Hause käme in meiner ganzen siebzehnjährigen Seemannswürde, womöglich mit einem Papagei, wie einst der Robinson Crusoe. – Die würden wohl Augen machen wie Teetassen, wenn ich ihnen erzählte von Passatwinden und Kap-Hoorn-Stürmen und von dem wilden, fremden Leben, das hier in allen Zungen lärmte!
Und wie ich so im besten Nachdenken war über diese erfreulichen Dinge, da legte sich plötzlich von hinten eine Seebärentatze auf meine Schulter. Ein breiter Mund und ein Paar blanke Augen lachten mir frech ins Gesicht.
»Hallo, Jack«, sagte der Mann nicht eben unfreundlich, »was stehst du hier und schaust in die Gegend wie ein getrockneter Stockfisch? Hast wohl dein Schiff verloren? Ganz blank? Keinen Cent? – Aber das ist doch kein Grund zum Weinen! Es gibt noch mehr Schiffe auf der Welt.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort in seiner plappernden Unterhaltung. Er setzte sich auf einen der umherliegenden Baumwollballen und fing an, mich aufzuklären über die komplizierten Takelagen der Schiffe, die längs den Kais und draußen in der Bai vor Anker lagen.
»Nein«, sagte er traurig, »die christliche Seefahrt ist nicht mehr das, was sie war zu meinen Zeiten, als ich noch jung und dumm war wie du und deine Sorte. Damals hat es noch Schiffe gegeben und Männer, die sie segeln konnten. Ich bin vor dreißig Jahren an Bord der ›Flying Cloud‹ gewesen, wie sie in hundert Tagen das Rennen von Boston nach San Franzisko machte. Und nachher auch auf der ›Glory of the Sea‹ und so vielen anderen stolzen Klipperschiffen. Das war noch Seefahrt in jenen Tagen! Einmal tauchte das Schiff unter in Boston und kam nicht mehr heraus bis zur Ankunft in San Franzisko. Aber das waren auch noch Kapitäne – damals! Da ist Kapitän O'Connor von dem neuschottländischen Totsegler, unter dem ich zwei Jahre gefahren habe. Wenn es je eine harte Nuß gegeben hat, so war er es! Er schlief in einer Teerkoje und rasierte sich mit einer zerbrochenen Flasche, d. h. wenn es ihm überhaupt ums Rasieren zu tun war, und das war nur einmal im Jahre, am Sankt Patrickstage, der Fall. Einmal, als wir vor Port Elisabeth lagen und ein Leichtmatrose oben auf der Bramrah gegen ihn aufzumucken wagte, da holte er ihn mit einer Revolverkugel herunter. – Rede einer von blaunasigen Yankeeschiffern! Aber die Sorte gibt es ja heute gar nicht mehr. Nur noch Farmer, Schreiber, Maurer und Sonntagsschüler, was heute zur See fährt! Und wenn einer seine Glacéhandschuhe recht schön und elegant anziehen kann, so schimpft er sich Kapitän.
»Das dort hinten«, fuhr er fort, indem er auf eine mächtige Viermastbark deutete, die mit ihren hohen Masten und Rahen noch stolzer aussah als alle anderen, »das ist die ›Windsor Castle‹. Es ist das feinste Schiff im Hafen und der schnellste Segler. In drei Monaten sind sie schon in Kapstadt.«
Bisher hatte ich nur mit halbem Ohre gehört auf das Gerede, aber nun horchte ich auf. – Kapstadt? Das ging mir wie Feuer durch die Adern. Im Augenblick wurde in mir alles lebendig, was ich einmal gehört und gelesen hatte von Buren, Büffeln, Löwen, Hartebeestern und feurigen Konstantiaweinen.
»Südafrika?«
»Warum denn nicht? Ist schon alles klar zur Abreise. – Kannst nicht sehen? Sie fliegen schon den ›blauen Peter‹. Fehlen noch drei Mann, um die Besatzung voll zu machen. Wenn ich du wäre, so würde ich mich nicht lange besinnen! So ein gutes Ding findet sich nicht alle Tage. Sie zahlen fünf Pfund im Monat.«
Die bloße Erwähnung der Summe nahm mir den Atem weg. Fünf Pfund – hundert Mark! So viel Geld hatte ich in meinem Leben noch nie beisammen gesehen!
Der andere blinzelte verheißungsvoll mit den Augen. »Komm mit zum Boß. Der wird alles besorgen. Kannst ja dann immer noch tun, wie du willst. Für einen Whisky hast du jedenfalls Kredit für uns beide.«
Er wandte sich zum Gehen, und ich folgte ihm nach, ohne recht zu wissen, warum. Ich hatte Geld, ich hatte ein Schiff. Es fehlte mir an nichts. Aber in meinem Kopf rumorte es ohne Unterlaß:
Südafrika!
Wir kamen nach einer Kneipe, wo es nach Whisky roch und man kaum die zweifelhaften Gestalten erkennen konnte, die an den kahlen Tischen hockten, durch die Tabakwolken, die an der Decke hingen.
Durch das Gewühl der Gäste drängte mein neugefundener Freund nach vorn zur Bar, wo uns der Boß empfing, ein dicker, hemdsärmeliger Kerl mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht, der ein schlechtes Englisch mit stark schwedischem Akzent sprach. Er nahm sich kaum die Mühe, uns anzusehen.
»Das Kücken?« sagte er mit einem halben Seitenblick auf mich. »Oh, laß ihn zu Mama gehen!«
Das kränkte mich tiefer als alle Beleidigungen, die ich vor- und nachher erlebt hatte in meinem Leben.
»Ich bin um Kap Hoorn gefahren!« sagte ich trotzig. Da lachten die anderen, und ein alter Seebär mit einem Krausbart unter dem Kinn, ganz so, wie man ihn auf den Reklamebildern der Dover-Ostende-Bahn sehen kann, kam herbei und klopfte mir noch viel kräftiger auf die Schulter, als es vorher schon mein Freund getan hatte, und meinte, ich sei allright und man solle es mit mir probieren. Dann schafften sie immer mehr Whisky herbei und tranken durch die ganze lange Nacht und ließen mich ein Papier unterschreiben und verschafften mir einen Seesack mit Ölzeug und Seestiefeln, und also kam es, daß ich anmusterte auf der englischen Viermastbark ›Windsor Castle‹ für fünf Pfund im Monat, auf der Reise nach Südafrika; wenigstens dachte ich mir das so.
Jedoch –
Als der nächste Morgen grau und neblig heraufdämmerte und alle Umrisse des bunten Hafenbildes sich eben erst aus dem Dunste abzusondern begannen, fuhren wir – Piet Larson und ich – mit dem flinken Motorboot hinaus in die Bai. Es war, wie gesagt, noch beim ersten Tagesgrauen. Die Frühnebel hüllten alles in eine nasse Decke. Überall heulte und lärmte es in dem grauen Nichts, wo Wasser und Nebel ineinanderflossen. Alle Augenblicke tauchte unvermittelt die mächtige Gestalt eines Dampfers oder die vom unsicheren Licht ins Riesenhafte verzerrte Takelage eines schlanken Seglers auf und verschwand ebenso schnell wieder im Nebel. Plötzlich stoppte das Boot dicht an den schwarz geteerten Planken einer kleinen, hölzernen, altmodisch aussehenden Bark. Ich hatte gerade noch Zeit, am Heck den Namen ›Bonanza‹ zu lesen, als sie von oben eine Strickleiter herunterwarfen. Piet Larson packte meinen Seesack und enterte auf mit einer Geschicklichkeit, die von langer Erfahrung zeugte.
»Halt fest!« rief er mir von oben zu, als ich von dem schwer in der Dünung rollenden Boote nicht gleich das richtige Tauende erfassen konnte.
»Halt fest! 's ist besser, du lernst es heute als morgen. Du wirst bessere Seebeine haben, wenn du wieder von Bord kommst.«
Oben auf dem Verdeck war alles in einem großen Durcheinander und nicht eben schiffsgemäß. Ein großer Mann mit einem Schlapphut und einer tiefen Stirnnarbe, der aussah, als ob er eben erst einem Seeroman des ollen ehrlichen Kapitän Marryat entlaufen wäre, kam auf uns zu.
»Ist das alles?« fragte er mit einem nicht sehr wohlwollenden Seitenblick auf mich.
»Alles«, antwortete Piet Larson, »und verdammt froh können Sie sein, daß es so viel ist! Man nimmt sie eben, wo man sie findet. Schanghaien ist nicht mehr das, was es war zu unserer Zeit.«
Der Mann mit dem Schlapphut – erst nachher habe ich herausgefunden, daß es der Kapitän selber war – maß mich mit einem weiteren Blick, der nun schon ganz Gift und Galle war. Mürrisch griff er in die Tasche und wühlte in den losen Dollars. Zwei blanke Goldstücke wechselten den Besitzer.
»Mit dir mach' ich noch einmal Geschäfte«, brummte er wütend, »vier Mann sollst du mir bringen. Statt dessen kommst du mit einem halben an Bord. Ein andermal kannst du deine Kundschaft in der Montgomerystraße suchen.«
Piet Larson, der damit offenbar die Unterredung als beendet ansah, wandte sich zum Gehen. Ich wollte ihm folgen. Aber als ich eben an der Reling angelangt war, packte mich eine große Hand wie eine Eisenklammer.
»Langsam hier, du landlümmeliges Grünhorn!«
Piet Larsons Kopf war schon auf der anderen Seite der Reling. Er grinste über das ganze Gesicht; ein so teuflisches Grinsen, wie ich es niemals vorher oder nachher gesehen habe, es sei denn bei Fung Li, dem Chinesenkoch an Bord des alten ›Walroß‹.
»Auf Wiedersehen«, sagte er mit herausfordernder Liebenswürdigkeit, »und glückliche Reise! Es wird eine schöne Reise werden und sehr interessant in der Tat! Wirst schon sehen, ob ich recht habe oder nicht! Das Verdeck wird überfließen mit Öl, und du wirst einen Zahltag haben so lang wie ein Tag ohne Sonne. Auf der ganzen Erde gibt's kein so nobles Geschäft für einen christlichen Seemann wie das Walfischfangen. – Haha!«
Höhnisch kam das Lachen aus dem Boot. Der Motor puffte. Im Augenblick war das kleine Fahrzeug verschwunden und nichts mehr zu sehen als der treibende Nebel. Es war wie ein Spuk. Eine ganze Weile starrte ich sprachlos in die graue Leere über dem Wasser und in den Nebel, der wie ein Rauch durchs Tauwerk zog. – Schanghait! Von so etwas hatte ich schon öfters gehört aus den Gesprächen, die die Matrosen in den Freiwachen führten, aber dabei war es doch immer romantisch zugegangen mit betäubenden Getränken, mit geheimen Falltüren, mit Sandsäcken, die einem hinterrücks über den Kopf geschlagen wurden. Daß aber einer so nüchtern und selbstverständlich, so sang- und klanglos in die Falle gehen werde, das hatte ich bisher nicht für möglich gehalten. Eine ganze Weile stand ich neben meinem Seesack und schaute unschlüssig und, wie ich fürchte, auch nicht wenig dumm auf das fremde Leben. Kein Mensch kümmerte sich um mich. Es wurde Mittag und Abend, und noch immer stand ich da. Wild aussehende Menschen mit desperaten Gesichtszügen und andere verkümmerte und vertrocknete, die nach Whisky ausschauten, machten sich auf dem Verdeck zu schaffen und jagten mich von einem Platz zum anderen in ihrer rücksichtslosen Geschäftigkeit. Spät abends, als eben die Sonne unterging, kam das Motorboot noch einmal vom Lande herüber.
»Schiff ahoi!« rief der Bootsführer. »Werft uns ein Tauende!«
Drei Mann sprangen herzu, und mit vielem Jo! Ho! heißten sie eine Last über die Seite. Erst nachdem diese langausgestreckt an Deck lag, konnte man erkennen, daß es eine lebende Last war, ein mächtiger, breitschultriger Mann von weit über normaler Größe, der sich willenlos hin und her werfen ließ, da der Alkohol, das Morphium oder sonst irgendwelches Gift eines ausgekochten Waterkanthalunken ihm jede Besinnung geraubt hatte. Ein Mann mit boshaften Augen – es war der Zweite Steuermann – kam herzu und betrachtete ihn neugierig. Im Augenblick prallte er zurück vor dem Anblick. Dann rieb er sich die Augen und schaute ihn wieder an mit weitaufgerissenem Munde wie einer, der einen Geist gesehen.
»Ich will meinen Hut fressen, wenn das nicht Schanghai-Bill ist. – Schanghai-Bill aus der Washingtonstraße!« Das Wort wirkte wie ein elektrischer Funke auf die ganze Mannschaft. Alle ließen ihre Arbeit im Stich und kamen herbeigelaufen, um sich das Wunder anzusehen.
»Schanghai-Bill! Der wäre der letzte, den man hier vermuten sollte, nachdem er selbst schon so viele verschanghait hat! Aber der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Ich wette meinen Anteil am nächsten Walfisch gegen ein Pfund Tabak, daß er Grund und Ursache dazu hatte. Der Staatsanwalt wird ihn heute schon suchen, und ich gäbe etwas darum, wenn ich jetzt an Land wäre, um mir die Dollars zu verdienen.« So redeten sie noch eine Weile weiter, bis plötzlich die mächtige Stimme des Kapitäns vom Achterdeck ertönte:
»Schafft das Zeug da nach vorne! Alle Mann ans Gangspill hier! Hiev Anker!«
Im Nu waren sie alle oben auf der Back. Man hörte das Klick-Klick der zögernd hereinkommenden Kette und das Trampeln der bloßen Füße, die um das Gangspill marschierten. Dann wieder tippte der Bootsmann eines von den alten, Wind und Wellen abgelauschten Seeliedern, einen sogenannten Shanty. Das alte, schöne vom Yankeeschiff, das den Fluß hinunterkam. Eintönig rollte der Kehrreim über das Wasser:
»Blow boys, blo–o–w! for Californio.
There's plenty o' gold, so I been told
On the banks o' the Sacramento!«
Schon hatten die Nebel sich verzogen, als eben die Nacht über das Wasser gekrochen kam und die letzten Strahlen der sinkenden Sonne die hohen Schornsteine und die schlanken Masten noch einmal scharf wie Schattenbilder am roten Abendhimmel abzeichneten. Ein schnaubender Dampfer kam heraus und schleppte uns nach der hohen See. Die frische Brise fuhr in die bereits gesetzten Stagsegel, und schon waren Matrosen nach oben gegangen, um die Marssegel loszumachen. Eben fuhren wir mitten durch den Mastenwald der in der Bai vor Anker liegenden Tiefwassersegler. Da lag stolz und hoch die ›Windsor Castle‹. Und da – nicht fünfzig Faden entfernt –, da lag die liebe gute ›Alsternixe‹! Deutlich konnte man jeden Mann an Deck erkennen. – Da ging eben einer achteraus nach der Kajüte. Das war wohl Smutje, der dem Kapitän den Kaffee brachte. Dort auf der Luke saß der Segelmacher, der die Persenning flickte. War das nicht Karl Karsten da oben in der Bramsaling – ja, und all' die anderen! Und das Schiff und die Flagge und dahinter die Heimat! – Wie weit es wohl wäre bis dort hinüber? Fünfzig Faden! Ehe ich mir noch selbst recht darüber klar geworden war, hatte ich schon das Ende eines Tamps über die Seite geworfen, an dem ich mich hinunterlassen wollte. Da tönte eine Stimme aus allernächster Nähe:
»Langsam, du Grünhorn! Ich hab' mein Auge an dir! Das hab' ich dir angesehen, daß du noch wild bist; so wild wie nur irgendeiner von den Mauleseln da drüben. Aber ich werde dich zahm machen, ehe ich mit dir fertig bin. Ich bin der Steward hier an Bord, und du hast als Kajütjunge gemustert – savvy?«
Und dabei blieb es, denn er maß gut und gern seine sechs Fuß und soundso viele Zoll, und ich war nur eine Handvoll.
Noch eine Weile stand ich unschlüssig da mit meinen wirren Gedanken und schaute hinauf in die dunkle Nacht, aus der nur noch das Gewirr der Lichter und die blitzenden Leuchtfeuer der nahen Küste herausblinkten. Gewiß wäre es so auch noch die ganze Nacht weitergegangen, wenn nicht das harte Gesicht des Mister Silas Hard, des Zweiten Steuermanns, auf der Brücke erschienen wäre.
»Johnny!« rief er mit einer Stimme, die laut genug war, um die Toten aufzuwecken am Jüngsten Gericht.
Ich hörte nicht darauf, denn bisher hatte mich noch niemand bei solchem Namen genannt. Da verzog sich das Gesicht des Gewaltigen förmlich zu einer Frage, und seine grauen Augen schossen wahre Dolche.
»Mit dir dort unten rede ich, du Grünhorn! Weißt nicht mehr, wie du heißt?«
»Nein«, antwortete ich kleinlaut.
»Sir! Wenn du mit mir redest! Mach', daß du von Deck kommst, ehe ich dir Beine mache!«
Ein herumstehender Bootssteurer von kaffeebrauner Gesichtsfarbe nahm sich meiner an und brachte mich zu meiner Koje. Es war ein kleiner Raum, der gerade noch Platz genug hatte für zwei übereinander angebrachte Kojen. In der unteren Koje lag ein schlitzäugiger Japaner, der eine Zigarette um die andere rauchte. Das war Hata, der Segelmacher.
»Amerikamänner sehr viel verrückt«, sagte er zu mir, »Kapitän auch verrückt! Sehr schlechtes Schiff! Ich fahre zur See viele Jahre und weiß, was es mit Schiffen auf sich hat, ich glaube: schlechtes Schiff, schlechte Mannschaft, schlechter Kapitän. Eines Tages bums! Kaputt!«
Dann drehte er sich um auf sein anderes Ohr und schnarchte so laut, daß die Blechung neben seiner Koje zitterte. Ich aber konnte lange nicht schlafen. Ich lag in meiner Koje und träumte mit offenen Augen. Ich hörte auf das Rauschen und Waschen des Wassers an der Schiffsseite. Ich hörte auf das Schlagen der Schiffsglocke und das Trampeln der Füße auf dem Verdeck. Ich sah durch das Bullauge die Lichter, die draußen in der Finsternis aufblitzten. Und meine Gedanken gingen wirrer als je in meinem Kopfe. Alles das, was ich erlebt hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden, tauchte noch einmal vor mir auf, und ich konnte mir keinen Vers drauf machen, ob ich wollte oder nicht. Ein kaltes, häßliches Gefühl der Verlassenheit kroch mir über den Rücken. Ich fing an, mich zu schelten ob meiner eigenen Dummheit, und dann – denn ich war ja nur ein halbes Kind – fing ich leise an zu weinen aus purer Angst und Ungewißheit über die Dinge, die mir noch bevorstanden. Dann aber kam ich unversehens ins Träumen. Es fiel mir ein, was ich vor vielen Jahren einmal gelesen hatte von Walfischen und Walfischfängern in den schönen, furchtbar interessanten Büchern, und ich dachte mir, wie das wohl sein würde, wenn ich eines Tages nach Hause käme und denen erzählen würde von wilden Walfischen, von tödlichen Lanzen und Harpunen, von kühnen Männern in kleinen, zerbrechlichen Booten, die so etwas zu handhaben wüßten. – Ah, da würden sie nicht nur Augen machen wie Teetassen, sondern gleich wie Scheunentore!
Darüber war ich langsam eingeschlafen. Mir war, als ob ich eben erst die Augen zugemacht hätte, als der boshaft aussehende Mister Twist auf der Bildfläche erschien und mich recht unsanft aus dem Schlafe schüttelte.
Oben auf dem Achterdeck, wo sie mir eine Arbeit beim Farbenwaschen anwiesen, war es recht kalt und ungemütlich. Der Wind war merklich aufgefrischt, und es wehte eine starke Brise aus Südwesten. Die oberen Segel waren alle festgemacht bis auf die Marssegel, die sich zum Zerspringen voll in der Brise blähten. Der Wind pfiff ein schauriges Lied zwischen den kahlen Rahen und Spieren. Er summte zwischen den Stagen und weckte einen Teufelschor im straff gespannten Tauwerk. Von Zeit zu Zeit flogen scharfe Spritzer über das Verdeck. Auf der Wetterseite des Achterdecks promenierte der Kapitän mit der Pfeife im Munde wie immer. Auf der Leeseite erging sich Mr. Mulligan, der Erste Steuermann. Er war, wie fast alle Menschen in diesem Milieu, ein Riese von Gestalt, mit einem kaffeebraunen Gesicht und dicken, aufgeworfenen Lippen. Offenbar gehörte er zu der auf Walfischfängern öfters vorkommenden Klasse der Halbblutkanaken, die sie unten bei den Tongainseln auflesen. Die andere Hälfte an ihm war unzweifelhaft irländisch. Das war unschwer zu erkennen an dem roten Haarschopf und den kleinen, graublauen Augen.
Mister Mulligan und der Kapitän waren offenbar beide »on distant terms«, wie man auf englisch zu sagen pflegt. Wenn der eine achteraus marschierte, so war der andere gewiß auf dem Weg nach vorn. Niemals sprachen sie ein Wort miteinander oder würdigten sich auch nur eines Blickes. Denn so will es die Disziplin an Bord eines Schiffes. Das Spiel hatte schon zwei Stunden gedauert, als plötzlich ein Mann auf dem Achterdeck auftauchte, der auch in dieser Umwelt noch durch seine Größe und seinen herkulischen Körperbau auffallen mußte. Er hatte breite Schultern, von denen lange Arme herunterhingen, mit zwei Fäusten, die groß genug waren, um den Teufel zu erschrecken. Das breite, eckige Gesicht mit dem Unterkinn sah aus wie das eines berufsmäßigen Boxkämpfers, nur etwas verschwommen, verwaschen und aufgedunsen, mit einem bläulichen Hauch, der von Whisky redete. Breitspurig pflanzte er sich auf, mitten in der Fahrtrichtung des Kapitäns.
»Was willst du hier, Bill?« fragte der nicht eben unfreundlich.
»Bill?« sagte der Mann. »Ich kenne hier keinen Bill. Mein Name ist Henry E. O'Sullivan – Mister Henry E. O'Sullivan, wenn Sie jemand fragen sollte! Mein Name hat eine Handhabe, und ich muß schon bitten, daß man das nicht vergißt.«
Der Kapitän, der an jenem Morgen offenbar bei guter Laune war und nicht die Absicht hatte, sich diese von jedem hergelaufenen Mister O'Sullivan verderben zu lassen, schaute ihn neugierig an.
»Mister Henry E. O'Sullivan? Möglich, daß du das einmal gewesen bist! Hier an Bord bist du Bill – Schanghai-Bill und weiter nichts. Und jetzt geh an deine Arbeit, ehe ich dir helfe.«
Die Augen des Mister O'Sullivan, Schanghai-Bill oder wie er immer heißen mochte – es war kein anderer als der Mann, den sie am Abend zuvor in solch bedauernswertem Zustand an Deck geheißt hatten – waren in diesem Augenblick eine Sehenswürdigkeit. Sie sprühten Dolche und zischten Feuer.
»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« wandte er sich nochmals an den Kapitän.
»Alles«, antwortete dieser.
Da zog Mister O'Sullivan, ehe es jemand verhindern konnte, einen Revolver hervor, und schon krachte ein Schuß. Der Kapitän, der so etwas wohl erwartet haben mochte und auch wohl Übung hatte in diesen Dingen, duckte sich noch beizeiten. Die Kugel flog hart an seinem Kopfe vorüber. Schon aber war wie durch Zauberschlag ein halbes Dutzend handfester Männer erschienen, die den aufsässigen Mister O'Sullivan im Nu in Eisen gelegt hatten. An Händen und Füßen gefesselt stand er vor dem Besanmast und schoß Blicke, die ebenso viele Dolche gewesen wären, wenn Blicke töten könnten.
»Lacht nur, beim Teufel, lacht!« rief er wütend. »Es kommt eine Zeit, da werdet ihr aus einem anderen Auge lachen. Nicht alle Zeit werden wir hier auf dem Wasser sein. Eines Tages wollt ihr wieder an Land kommen, und dann wird die Stunde für O'Sullivan da sein! Es wird sich dann zeigen, ob es noch ein Gesetz gibt in den Vereinigten Staaten, ob das Schanghaien heute noch Mode ist, ob man friedliche Menschen so ohne weiteres auf der Straße auflesen kann, wenn man sonst keine Mannschaft bekommt für solche Trankiste. – Und mich, einen kranken Mann! – Ah, ich fühle mich jetzt schon reich wie John D. Rockefeller, wenn ich an den Zahltag denke, den ich von dieser Reise bringe, und mein Hals ist steif bei dem Gedanken an den Galgen, an dem ihr alle baumeln werdet – für das, was ihr mir angetan habt!«
Der Kapitän, der die ganze Affäre mit unerschütterlicher Ruhe angesehen hatte, ließ sich auch jetzt nicht weiter beunruhigen durch solche Drohungen. Langsam zündete er seine Pfeife an, ging hinunter nach der Kajüte und überließ seinem Steuermann die weitere Behandlung der Angelegenheit. Das war Wasser auf die Mühle des Mister Mulligan, der von jeher nicht gut zu sprechen war auf die Heuerbase.
»Jetzt will ich dir etwas sagen, du Mister O'Sullivan oder wie du immer heißen magst«, sagte er mit einer Stimme, die ordentlich knirschte vor unterdrückter Wut, »dein Name ist Bill, Schanghai-Bill, hier an Bord. Und nichts mehr von Mister O'Sullivan. Das kannst du dir merken, lieber heute als morgen. Ich sage es dir zu deinem eigenen Guten, wenn du glücklich leben und anständig sterben willst auf diesem Kasten. Du wirst deine Arbeit tun, und ich werde darauf sehen, daß du sie ordentlich tust! Wenn du einmal wagst, hier aufzumucken, oder nur so tust, als ob du eben aufmucken wolltest, so werde ich dabeisein mit einem Tauende oder einer Handspeiche. Mister O'Sullivan – ich werde dich mistern! Bessere Leute als dich habe ich schon begraben hier an Bord! Und glaube nicht, daß ich mich bei dir besinnen würde. Es gibt nichts auf der Welt, was ich lieber täte als das Begraben eines Landhaifisches von deiner Sorte. Ich würde es gleich jetzt tun, wenn es nach mir ginge. Aber die Reise ist noch jung, und wir brauchen alle Hände an Bord. Auf einen mehr oder weniger kommt es aber nicht an. Du kannst also nichts Besseres tun, als fein den Mund zu halten und dich nicht als Seeadvokat aufzuspielen, wenn du nicht willst, daß wir dich eines Tages über Bord verlieren mit einem Sack Kohle an den Füßen. Du wärst der erste nicht!«
Es war offensichtlich, daß Schanghai-Bill, der an so etwas gewöhnt war, sich nicht allzusehr einschüchtern ließ durch solche Ermahnungen. Er zeigte sich nach wie vor renitent, und es bedurfte kräftiger Fäuste und noch stärkerer Sprache, um ihn vom Achterdeck zu entfernen.
Zitternd vor Angst hatte ich den Vorgang mit angesehen. Es war das erste Abenteuer, das ich an Bord der alten »Bonanza« erleben mußte, aber wahrlich nicht das letzte. Mir war dabei zumute wie jenem Delinquenten, der am Montag gehängt werden sollte: »Die Woche fängt gut an!«
Bald waren wir auf hoher See, und das Land lag weit in der Ferne als ein kleiner gelber Streifen unter dem Horizont. Der Schlepper warf die Trossen los, und die »Bonanza« machte einen ordentlichen Sprung in ihrem nassen Element, wie jedes gute Schiff tun muß, wenn es das Land hinter sich läßt. Der Westwind, der uns schon bei der Ausfahrt aus dem Hafen so kräftig überfallen hatte, blieb uns auch fernerhin treu und schwoll an zu einem Sturme von beträchtlicher Stärke, vor dem wir mit dicht gerefften Segeln dahinflogen in der Richtung der Azoren. Es war die Gegend, die der englische Seemann respektvoll die »roaring fourties« nennt. Mehr als die Hälfte unserer Mannschaft, die – wie sich nunmehr herausstellte – zum größten Teil aus »Landratten« bestand, die in ihrem ganzen Leben noch nie das Meer, geschweige denn ein Segelschiff gesehen hatten, war hoffnungslos seekrank.
Jetzt erst, nachdem sie die Wachen gesetzt hatten und alles Leben allmählich in die immer gleiche Routine der hohen See auslief, hatte ich Zeit und Gelegenheit, die neue Welt, in die ich so unverhofft hineingeworfen wurde, etwas eingehender zu studieren.
Von allen Menschen an Bord bemitleidete ich keinen so sehr wie mich selber. Wer vielen dient, wird viele Herren haben, und wer hätte deren mehr als ein Schiffsjunge! In gewisser Hinsicht ist er der Blitzableiter für die bösen Launen aller derer, die etwas zu sagen haben. Heute ist es der Kapitän, morgen der Steuermann, übermorgen der Steward, im nächsten Augenblick der Koch, der Bootssteuerer, der Harpunier, der Bootsmann, der als Herr und Meister über ihn gebietet. Am meisten aber von allen diesen Herren trat Mister Twist in die Erscheinung. Mister Twist war der Steward. Ich habe schon erwähnt, daß er gut und gern sechs Fuß und mehrere Zoll maß. Das war indes nichts besonders Auffälliges in dieser Umwelt der großgewachsenen Menschen. Was ihn vor allen auszeichnete, das war die ungeheure blaue Mütze mit reichen Stickereien, wie man sie zuweilen bei den Reiseagenten an den Docks in Liverpool sehen kann. Nicht umsonst trug Mister Twist diese Mütze, denn wenn es etwas gab, das seine schwarze Seele vor allem ängstigte und beunruhigte, so war es seine Kahlköpfigkeit. Ich habe vorher und nachher noch manchen kahlköpfigen Menschen gesehen, aber nie wieder einen von solch absoluter Abwesenheit alles dessen, was zu einem Kopfschmuck gehört. Mister Twist, so pflegten sie zu sagen, war so boshaft, daß er sich die Haare auf dem eigenen Kopf nicht gönnte. Neben dem Fehlen der Haare waren bemerkenswert an ihm die kleinen, kohlschwarzen, unruhigen Augen, die tief im Kopfe lagen und auch dadurch nicht schöner wurden, daß sie nie miteinander zusammenstimmen wollten und stets nach beiden Seiten schielten. In einem Punkt war Mister Twist besonders empfindlich. Das war eben die »Handhabe« an seinem Namen. Mister Twist! Es verging kein Tag, ohne daß er mir diese seine Eigenschaft noch besonders einschärfte. Und da es sonst an Bord keinen Menschen gab, dem es einfiel, ihn zu mistern, so versäumte er keine Gelegenheit, dieses Attribut wenigstens aus meinem Munde zu hören, sein Wille war für mich Befehl. Er war Steward und ich der Kajütjunge. Man muß ein seebefahrener Mann sein, um zu wissen, welche Welt zwischen diesen beiden Polen liegt. –
Auf einem richtigen Schiffe gibt es Menschen und »Hände«.
Die letzteren waren eine so eigenartige Gesellschaft, wie man sie nur immer an der Hafenfront eines amerikanischen Seeplatzes auflesen kann. Was immer im tollen Spiele des Lebens an Strandgut zusammentreiben und in die Hände eines Heuerbases gelangen kann, das hatte sich hier zusammengefunden. Farmer, alle Sorten Handwerker, Tramps und »Hobos«, verkrachte Kaufleute, ausrangierte Seiltänzer, aber Matrosen nicht. Hata, der Segelmacher, mochte schon recht haben, wenn er sagte: »Zuviel verrückt!« Irgend etwas war nicht richtig bei jedem einzelnen, und das war kein Wunder. Wie sonst wären sie wohl auf den Gedanken gekommen, vor dem Mast auf einem Walfischfänger zu mustern!
Da war ein kleiner schmächtiger Mann von einigen vierzig Jahren, mit einem mageren, eingefallenen Gesicht und einer langen, gebogenen Nase und sanften blauen Augen, die einen bei jedem Blick um Entschuldigung zu bitten schienen, daß ihr Besitzer überhaupt geboren war. Erst Monate später mußte ich erfahren, daß dieser schüchterne Mensch ein vor der New-Yorker Polizei flüchtig gegangener berüchtigter Taschendieb und Falschspieler war, der schon mehr als ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Da war Dan, Dan Mac Farlan, ein herkulisch gebauter Schottländer mit einem wilden schwarzen Haarschopf und kohlschwarzen Augen, in denen ein irrsinniges Feuer brannte. Stets hielt er sich abseits von den anderen, und wo er ging und stand, murrte er vor sich hin wie ein bösartiger Kettenhund. Schon beim ersten Anblick hatte ich die Überzeugung gewonnen, daß dieser ein »schwerer Junge« sei, bis sich herausstellte, daß er vor kurzem noch Pfarrer war an einer kleinen Landgemeinde in Pennsylvanien.
Und da waren Jim, Jacques, Al, Ed, Dick, Jumbo, ein großer Neger mit schwarzem, lackglänzendem Gesicht und funkelnden Zähnen, dessen Wiege man am Kongo vermutet hätte, wenn sein Geburtsschein – er war der einzige, der so etwas mit an Bord gebracht hatte – nicht die Stadt Atlanta in Georgia aufgewiesen hätte.
Ein jedes Mannschaftslogis hat seine »Bullies«. Diese waren an Bord der »Bonanza« vertreten durch das Kleeblatt Jim Collins, Joe Carrol mit Schanghai-Bill als dritten im Bunde. Jeder einzelne von diesen dreien hatte schon mehr Berufe ausgeübt, als er Haare auf dem Kopfe hatte. Jim Collins war der geborene Soldat. Er war auf Kuba und den Philippinen gewesen, er hatte im Burenkriege mitgekämpft, er war bei den Blockaderennern im Russisch-Japanischen Kriege gewesen, er hatte in Revolution und Flibustierexpeditionen in Mittelamerika gemacht. Es hatte in diesem letzten Vierteljahrhundert keinen Streit gegeben an den Enden der Erde, wo Jim nicht mitten drin gewesen wäre, um seine Hand zu versuchen in dem Spiele.
Joe Carrol dagegen hatte es mehr mit dem Salzwasser gehalten. Sein ursprünglicher Beruf war der des »Black Birder«, jener Sorte moderner Sklavenhändler, die vor wenigen Jahren noch die Inselwelt der Südsee heimsuchten auf der Jagd nach schwarzen Arbeitskräften für die Zuckerplantagen in Queensland. Das ging, solange es gehen konnte, und als dann die Polizeischoner allzu aufdringlich wurden, mußte man sich wohl oder übel einem weniger einträglichen Berufe widmen. Seither hatte Joe Carrol sich in allen Zweigen der Seefahrt versucht, vom Austernfischen bis zum Walfischfangen. Am einträglichsten, so meinte er, sei noch immer das Seehundstehlen an der Küste von Feuerland und auf den Inseln im Beringmeer gewesen. Das bringe bei gutem Verlauf der Reise einen großen Gewinn, andernfalls könne man auch mit seinem Kopfe dafür bezahlen. Das müsse man eben mit in Kauf nehmen. Und Joe Carrol war gerade der Mann, der so etwas riskieren würde aus reiner Lust am Riskieren, denn es gab auf dieser Welt nichts, was Joe Carrol fürchtete, es sei denn die harte Arbeit.
Und da waren noch all die anderen. Ein jeder hatte seine Geschichte, und wollte ich sie alle erzählen, so würde ich mein Garn niemals zu Ende spinnen. Es waren ganz junge dabei, kaum älter als ich selber, verzogene Muttersöhnchen, die von Zuhause weggelaufen waren, und andere, die mit Schuhputzen und Zeitungsverkäufen niemals einen guten Tag gesehen hatten in den Höhlen und Spelunken, im Dienste mauschelnder Betrüger und schmieriger Halsabschneider an der Bowery zu New York. Da war Mac-Donald, ein schwerer Junge aus dem Ostende von Chikago, der sich rühmte, in seinem ganzen Leben noch keinen Strich Arbeit getan zu haben. Sie brachten ihn auf die Wache von Silas Hard, und es dauerte wirklich nicht lange, bis er das Arbeiten gelernt hatte.
Der einzige unter dieser Gesellschaft, der sich dazu herbeiließ, mit mir anders als mit Knurren und Brummen zu reden, war der Koch. Auf deutschen Schiffen wird der Inhaber dieses wichtigen Amtes Smutje genannt; auf Schiffen englischer Zunge nennt man ihn Doktor oder einfach Doc.
Doktor war ein sehr gesprächiger Herr, der es nicht versäumte, mir in jeder Hundewache, wenn es sonst nichts zu tun gab, ein langes Garn zu spinnen, das ich gierig aufsaugte, wie lauteres Evangelium. Denn Doktor war schon länger zur See gefahren als irgendein anderer Mann vorn oder achtern an Bord der »Bonanza«. Für Schiffe war er geradezu ein wanderndes Lloydbüro. Man brauchte ihn nur zu fragen, und schon sagte er die Namen herunter mit Tonnage, Takelage, Heimathafen, Kapitän und Reedern. Das Schiff aber fing bei Doktor erst beim Segelschiff an. Diese aber teilte er nach altem Seemannsbrauch in zwei Klassen: die harten und die hungrigen. Zu ersterer Sorte gehörten alle Yankeeschiffe.
»Setz' dich her«, sagte er mir eines Tages, als ich in die Kombüse kam, »ich will dir erzählen, wie ich an Bord der ›Black Adder‹ Zweiter Steuermann war unter Kapitän Donald MacKay. Wir segelten von Oyster Bay nach Frisco in hundertzwanzig Tagen, und eine feine Reise war das! Denn der alte MacKay war gerade der Junge, der sich aufs Treiben von Männern und Schiffen verstand. Rede einer von blaunasigen Yankeeschiffern! MacKay war einer, er und sein Steuermann, Mr. Slocum. Aus seinem Schiff hat er die Hölle und aus sich selbst den Teufel gemacht. Glücklich war der, der noch mit heiler Haut und ungebrochenen Knochen am Ende der Reise abmustern konnte. Denn MacKay war nicht empfindlich und sein Steuermann noch viel weniger. Sie waren dort an Bord ziemlich verschwenderisch im Gebrauch von Belegnägeln, Schlagringen, Seestiefeln und Revolvern. Ein verstauchtes Bein und ein gebrochener Arm zählten hier nicht, Rippen, die durch Seestiefel eingetreten wurden, mußten selbst sehen, wie sie wieder zusammenwuchsen, Gesichter, die von Belegnägeln verunstaltet waren, mußten obendrein noch freundlich und dienstfertig blicken, wenn sie nicht im nächsten Augenblick eine noch schlimmere Behandlung gewärtigen wollten. Wer aufmuckte, der wurde in Eisen gelegt und bekam nichts zu essen als ein Biskuit je Tag und eine Tracht Prügel in jeder Wache. Wer ein saueres Gesicht machte, der wurde mit den Händen über dem Kopfe in der Takelage aufgehängt. Aber ein guter Seemann war Kapitän MacKay und ein Teufel im Segelführen. Einmal – ich sah das mit meinen eigenen Augen – kam unten vor Kap Hoorn eine Hagelbö herangefegt und knickte die Vorbramrahe wie ein Streichholz. Da steckte sich MacKay seine Pfeife an und ging nach der Kajüte. »Weckt mich, wenn die Großrahe herunterkommt!«
Noch manche derartige Geschichte von Yankeeschiffen hatte Doktor auf Lager. Seine besondere Mißachtung aber galt nicht den harten, sondern den hungrigen Schiffen, den Limejuicers.Unter Seeleuten gebräuchliche Bezeichnung für englische Segelschiffe, auf denen täglich eine Ration Zitronensaft (lime juice) als Gegenmittel gegen Skorbut verabreicht wird.
»Der hungrigste Limejuicer, auf dem ich gefahren habe«, sagte er eines Tages, »war die ›Loch Torredon‹ aus Glasgow. Nur einmal im Monat gab es dort Erbsensuppe, und das war ein Festtag für alle Mann an Bord. Im übrigen mußte man mit Biskuits auskommen, die so hart waren wie der Schädel eines Steuermanns auf einem Yankeeschiff. Alle vierzehn Tage mußte ich mir ein neues Loch in den Gürtel machen, bis am Ende – du kannst mir's glauben oder nicht – das Ding zweimal um den Leib ging und man den Anfang wieder benutzen konnte. Das war vor zwanzig Jahren. Aber auch heute sind sie nicht viel besser, und das ist auch der Grund, warum nur Dutchmen und Degos darauf fahren und kein anständiger Britischer seinen Fuß auf ihre Decksplanken setzt.«
Das alles erfuhr ich, wie gesagt, von »Doc« in mancher Hundewache, erst vor dem brummenden Herd in der warmen Kombüse und dann draußen auf der Luke unter den schwellenden Segeln, die sich majestätisch über uns breiteten, so recht die richtige Umrahmung für solche Geschichten. Denn wir waren inzwischen in den Passat gekommen. Ohne je eine Brasse zu berühren, rannten wir vor dem Wind nach südlichen Zonen. Die Luft war warm und weich, der Himmel war blau, über das dunkelblaue Wasser schwirrten die fliegenden Fische, und vor dem Bug funkelte das phosphoreszierende Meer in den lauen, sternbesäten Nächten.
Der alte Koch mochte schon recht haben, wenn er die Schiffe erst beim Segelschiff beginnen ließ. Es kann einer Jahr um Jahr auf schnaubenden Dampfern durch tropische Meere fahren, ohne etwas zu verspüren von der Schönheit des Passats, ohne nur einen Hauch von dem Zauber der See.
Doch, was schreibe ich? Nie werde ich mein Garn zu Ende spinnen, wenn ich so weiter mache. So mache ich von meinem Vorrecht als Geschichtenerzähler Gebrauch und springe mit Siebenmeilenstiefeln über anderthalb Jahre und über endlose Meeresstrecken in eiskalten Kap-Hoorn-Stürmen und unter brütender Tropensonne. Was soll man von jenen anderthalb Jahren erzählen? Glück und Unglück wechselten miteinander in allen Zonen, aber das ist nichts Besonderes im Leben des Seemannes. In den Solandergründen an der Neuseelandküste verloren wir den ehrenwerten Mister Mulligan, der durch den Schlag der Flosse eines sinkenden Walfisches mitsamt seiner Bootsmannschaft ums Leben kam. »Schade«, hatte der Kapitän gesagt, »er war eine gute Hand, und die Reise ist noch jung. Hätte sich die Faxen für später aufsparen sollen. Besser wäre es schon gewesen, wenn Silas Hard statt seiner nach David Jonas' Spind gegangen wäre.«
Wir waren alle derselben Ansicht.
Die Art, wie man hier von Menschenleben sprach, hatte etwas Kaltes an sich, an das ich mich nie gewöhnen konnte. Es war ein Glück, daß jetzt alle von baldiger Heimkehr redeten. – Ach, wir wußten nicht, daß die Reise nun erst richtig anzufangen begann!
An einem warmen Frühjahrsmorgen lagen wir östlich von den Hawai-Inseln. Es war ein vollständig windstiller Tag. Die Segel hingen schlaff von den Rahen und schlugen zuweilen mit donnerndem Getöse gegen die Masten, wenn das Schiff in der Dünung rollte. Die See war glatt wie Glas und schwer wie Öl. Glucksend ging das Wasser an der Schiffsseite. Es war alles so leblos und unwirklich wie ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Meere. Ich stand am Ruder und träumte vor mich hin, wie ich das schon so unendlich oft getan hatte in den anderthalb Jahren dieser langen, langen Reise. Vorn auf der Back arbeiteten die Matrosen am Gangspill und sangen ein Shanty, zu dem Jumbo, der in solchen Dingen ein Meister war, den Ton angab. Kräftig kam der Gesang über das stille Wasser.
»Shenandoah, I love your daughter.
Away, my rolling river!
Oh, Shenandoah, I long to hear you.
Ah! ah! We're bound away
Cross the wide Missouri!«
Ich konnte nicht umhin zu denken, wie weit wir doch jetzt von solchen Plätzen entfernt waren, und ob es denn noch einmal möglich werden würde, dorthin zurückzukehren, nach Missouri oder sonst wohin, wo auch noch andere Menschen wohnten, oder ob dieses Seezigeunerleben nun immer so weitergehen sollte in alle Ewigkeit. Sie redeten ja jetzt alle von der Heimkehr, und wenn erst einmal eine richtige Brise aufspringen wollte, so würden wir jetzt sicherlich die Rahen vierkant brassen, und dann – ja dann – –
Und wie ich noch bei diesen Gedanken war, da begann im Südwesten ein Luftzug aufzukommen, der mit dunklen »Katzenpfoten« über die glatte Wasserfläche lief. Bald begann er stärker aufzufrischen. Royal und Bramsegel begannen sich zu füllen. Der Kapitän kam an Deck und schnüffelte nach allen Windrichtungen.
»Voll und bei!« rief er mir zu.
»Voll und bei, Sir!«
Langsam drehte das Schiff sich nach dem Winde.
»Was liegt an?« rief der Kapitän.
»Nordost zu Ost, halb Ost, Sir.«
»Recht so!«
Der leise Luftzug wurde bald zu einer kräftigen Brise. Die Segel standen voll. Das Schiff legte sich über unter ihrem Druck. Wieder ging es vorwärts, irgendwohin. Aber wohin?
Nordost zu Ost, halb Ost?
Eben hatte ich acht Glas geschlagen. Der Kapitän schaute noch einmal auf den Kompaß, ehe er nach unten ging.
»Recht so«, sagte er wieder, »halte gut voll und bei, und wenn sie abfällt, so halte Kurs. Nordost zu Ost, halb Ost.« Er mußte bemerkt haben, wie ich ihn zweifelnd anschaute, denn plötzlich ließ er sich dazu herbei, mich mit Worten anzusprechen, obwohl er es sonst für unter seiner Würde hielt, mit »Vormasthänden« anders zu sprechen, als durch saure Mienen, ungeduldige Gebärden und handfeste Redensarten.
»Das nimmt dich wunder? Du wirst dich noch mehr wundern, mein Junge, ehe wir fertig sind. Die Reise ist noch jung, verflucht jung! Es geht nach der Beringstraße.«
Einen Augenblick stand ich wie versteinert ob solcher Offenbarung. Unwillkürlich kamen mir die Worte des Kochs in den Sinn, die er allemal im Mund zu führen pflegte, wenn einer dort unten im Süden einen Albatros fing. Sollte am Ende doch etwas Wahres daran gewesen sein? Es war lächerlich, daran zu glauben, aber ob ich wollte oder nicht, immer wieder gingen mir die Verse durch den Kopf:
»Was hat heute dieser Schwerenot
Landlümmel nur gemacht?
Er schlug, bei Gott, den Vogel tot,
Der Glück und Wind gebracht!
All unser Glück wiegt nicht ein Lot,
Seit schmählich über Nacht
Der Lümmel schlug den Vogel tot,
Der Glück und Wind gebracht!«