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3.
Die Brücke.

Zunächst hatte die Begegnung mit meinem alten Freunde die Wirkung, daß ich mich plötzlich für Brücken interessierte wie nie zuvor. Früher waren mir diese starren, toten Machwerke ziemlich gleichgültig gewesen. Höchstens als Zugabe zu einer Landschaft ließ ich sie gelten, und dann waren sie mir um so willkommener, je gefährlicher und zerfallener sie aussahen. Ich war zu sehr Maschinenbauer geworden. Was meine technische Teilnahme fesseln sollte, mußte Umdrehungen machen, sich mindestens bewegen. Mit einer Brücke ließ sich nichts anfangen, wenn sie nicht umfiel; man konnte sie höchstens anstreichen. Dies wurde nun anders. Alles wenigstens, was über den Fortschritt der Ennobrücke in Zeitungen und technischen Journalen zu finden war, suchte ich liebevoll zusammen. Ein freundschaftlicher Briefwechsel mit Stoß kam in Bewegung, bei dem nach guter Freunde Art sich allerdings keiner überstürzte. Wir teilten uns gelegentlich unsre Hoffnungen und Sorgen wieder mit, wobei ich ein etwas bunteres Bild darbieten, er in satteren Farben malen konnte. Ein Riesenwerk wie die Ennobrücke nimmt, für gut oder übel, den ganzen Menschen gefangen.

Seine Briefe, die ich sorgfältig aufbewahrte, wurden später durch ein halbes Dutzend andrer an seine Frau ergänzt. Wie diese in meine Hände kamen, wird sich in geeigneterer Weise später zeigen lassen. Ein kleiner Auszug aus beiden Paketen erspart mir die Schilderung der Hauptvorgänge während des gewaltigen Baus, der acht Jahre lang in weiten Kreisen mit reger Aufmerksamkeit verfolgt wurde. – Die ersten zwei Schreiben stammen aus der Zeit, die unserm Zusammentreffen auf dem Kahlenberg voranging. Trotzdem mögen sie der Vollständigkeit halber hier eine Stelle finden.

 

Ennobucht, den 25. Juni 1871.

Meine liebe Ellen!

Dein Papa behauptet, ich sei in den nächsten drei Wochen hier im Norden nützlicher als in London und Richmond. Ich fürchte, wir müssen es glauben. Ehre Vater und Mutter, auf daß dir's wohl gehe. Die Folge aber ist, daß ich Dir den Festbericht von gestern nicht mit den üblichen Küssen mündlich abstatten kann. Und das schlimmste scheint mir: meiner kurzen Verbannung in diese Wildnis werden wohl andre, längere folgen, bis wir in fünf bis acht Jahren trockenen Fußes und Arm in Arm über das Stückchen See wandeln können, das sich vor meinen Augen breit macht. Ich habe mir deshalb heute vormittag in Lavalettes Arbeitsschuppen ein Stübchen zurechtgemacht, von dem aus ich die herrliche Wasserfläche übersehen und an Dich denken kann. Es werden vorläufig manche gezwungene Pausen in unsrer »fieberhaften Tätigkeit« eintreten, wie meine alten Wiener Landsleute zu sagen lieben, wenn sie sich gemächlich an die Arbeit machen. Aus diesen mögen Briefe werden, die den Dokumenten Deiner Brautzeit nichts nachgeben sollen. Du siehst, ich bin seit gestern zu allen guten Vorsätzen fähig. Auch verspreche ich Dir, daß Du selbst vor Ablauf von acht Jahren an dieser Stelle ein zweites Fest mitfeiern sollst, das die kleine Tragikomödie von gestern auslöschen und vernichten wird. Die kommende Eröffnungsfeier der Brücke will ich selbst in die Hand nehmen.

Grundsteinlegen können nämlich Deine wackeren Landsleute, die sonst so vieles können, nicht! Eure Freunde über dem Kanal hätten sich den Tag anders eingerichtet, trotz ihres augenblicklichen Elends. Da wären ein Regiment Kürassiere, ein Bischof und ein Altar, die Bürgermeister der halben Republik, fünfzig weißgekleidete Jungfrauen, fünfundzwanzig Komiteemitglieder in Nationalfarben, Vertreter gelehrter und ungelehrter Zünfte, Blechmusik an beiden Ufern, die vorläufig eine Brücke aus Tönen hergestellt hätten, Böllerschüsse und Feuerwerk angerückt gekommen, um den Segen von Himmel und Erde auf das große Werk herabzurufen. Hier standen wir, fünfzehn aufgespannte Regenschirme, sang- und klanglos um ein wassergefülltes Loch herum, als ob wir einen viereckigen Selbstmörder begrüben. Nur die Eingeweihtesten konnten zur Not ahnen, daß dies ein feierliches Freudenfest war und der erste Stein der großen Ennobrücke versenkt wurde.

Da war Dein Papa feierlich und freudig erregt, wie es sich geziemte. Am Morgen hatte er die Nachricht erhalten, daß der Regierung Ihrer Majestät ein Licht aufgegangen und der verdienstvollste Mann des Königreichs geadelt worden sei. »Sir William« stand am Schluß der fünfzehn Jahre langen Vorarbeiten seines gewaltigen Unternehmens, Arbeiten, die einen Elefanten hätten umbringen können. Hinter ihm standen vier Direktoren der Nordflintshire-Eisenbahn – einundzwanzig hatten sich entschuldigt; ihm gegenüber der Bürgermeister, ein Magistratsmitglied von Pebbleton und drei Kollegen aus der Nachbarschaft. Die Bürgerschaft des Königreichs repräsentierte der Wirt zum »Goldenen Kreuz«, ebenfalls aus Pebbleton, bei dem das Festessen bestellt war, und der die kleine Versammlung mit der Miene tiefster Besorgnis musterte. Er hatte auf dreimal so viel Gedecke gerechnet. Das Ingenieurwesen vertrat nächst Deinem Vater der alte Lavalette, der die Ausführung der Brücke übernommen hat, in einem den Witterungsverhältnissen angepaßten Frack und sehr schmutzigen Stiefeln, Jenkins, der wie eine auf einer Ferienreise begriffene Nachteule dreinsah, ich und die jungen Leute von Lavalette. Die etlichen hundert Erdarbeiter, Maurer und Zimmerleute, die bereits hier sind, standen verschüchtert, wenn auch neugierig, in einiger Entfernung und wollten sich nicht heranwinken lassen, als ob sie das Losgehen einer Sprengpatrone erwarteten. Es war aber zunächst nur Dein Vater, der einige passende Worte sprach, die man wegen des Windes leider nicht verstehen konnte. Ihm folgte der erste Bürgermeister von Pebbleton, der in längerer Rede auf die blühende Jutefabrikation seiner Stadt hinzuweisen begann, zum Glück aber nicht weit kam, weil ein Windstoß seinen Regenschirm umdrehte und die Arbeiter dies als das verabredete Zeichen ansahen, in ein kräftiges Hurra auszubrechen, womit die feierliche Handlung schloß. Etwas zu spät, aber sehr rasch versank der Stein in seinem feuchten Grab und bespritzte zum Dank die Nächststehenden mit großen gelben Lehmklumpen, die sie bis zum Schluß des Tages zur Schau trugen. Dann fuhren wir in einem bereitliegenden Dampfer nach Pebbleton hinüber und saßen eine Stunde später bei einem vortrefflichen Mahl. Ganz unerwartet und hocherfreulich war es, daß sich hierzu sämtliche Direktoren der Bahn, sämtliche Stadtverordnete von Pebbleton und eine überraschende Zahl enthusiastischer Bürger eingefunden hatten. Ende gut, alles gut. Gegen elf Uhr nachts hatte man die Brücke nahezu vergessen, obgleich sie in wenigstens zehn Toasten in all ihren Beziehungen zu dieser und jener Welt gefeiert worden war. Die Festlichkeit artete in eine allgemeine Verbrüderung von Nord und Süd, von alt und jung, von Landwirtschaft und Industrie, von Gott und Welt aus, gegen die sich vom ethischen Standpunkte aus gewiß nichts einwenden läßt. Für uns, die eigentlichen Brückenbauer, war es ein halbverlorener Tag. Doch muß man billig sein: in acht Jahren stellt ein halber Tag keinen fühlbaren Verlust dar.

Um so flotter muß es jetzt vorwärtsgehen. Lavalette ist ein netter Herr, guter, solider Engländer trotz seines französelnden Namens, den eine alte Hugenottenfamilie herübergebracht hat, wie ich höre. Man spürt noch etwas von dem ernsten Enthusiasmus seiner Vorfahren, den wir bei Franzosen nicht erwarten, wenn er seine Leute kommandiert oder Pläne für die nächste Zukunft bespricht. Der Mann gefällt mir außerordentlich. Er hat das niederste Gebot für die Brücke gemacht: zweihundertfünfzehntausend Pfund; und ich fürchtete ernstlich, ehe ich ihn kannte, es werde zu niedrig sein. Das ist bei einem so großen Unternehmen für alle Teile ein Unglück. Aber eine Energie und eine Geschäftsgewandtheit wie die seine sind imstande, fünfzigtausend Pfund zu ersetzen. Jedenfalls erwarte ich, gut mit ihm auszukommen, solange er mit dem Gelde auskommt. Er ist, wie jedermann um mich her, in die Brücke verliebt, seitdem er, vor fünf Jahren, im Auftrag Deines Papas die Sondierungen für die Pfeilerfundamente vornahm. Daher erklärt sich auch sein billiges Angebot. Und außerordentlich beruhigend ist es, daß nun derselbe Mann, der diese wichtigen Untersuchungen in Händen hatte, auf denselben auch weiterbauen muß. Du weißt nicht, Schatz, wie unnötig viele Sorgen einem durch den Kopf gehen, wenn man den glatten Wasserspiegel vor sich sieht, der heute, so unschuldig wie ein Kind, das Blau des Himmels zurückstrahlt. Wer kann wissen, was unter dieser glänzenden Oberfläche liegt und liegen wird, ehe wir lustig drüber wegfahren!

Am Strande wenigstens fängt es an lebendig zu werden. Schuppen, Magazine, Geschäftszimmer, Arbeiterwohnungen wachsen aus dem Boden. Am Ufer – man weiß wahrhaftig heute noch nicht, soll man hier von Strand oder Ufer, von Meer oder Fluß sprechen; die Ennobucht bleibt ein geheimnisvoller Hermaphrodit – am Ufer also ist ein langer hölzerner Landungsstaden fertig. Zwei gewaltige Plattformen sind im Bau begriffen. Auf der einen sollen die Gitterbalken zusammengenietet, auf der andern die Senkkasten und das Belastungsmauerwerk für dieselben gebaut werden, auf welche die künftigen Pfeiler zu stehen kommen. In einigen Wochen wird das alles in vollem Gang sein. Was die Sache so interessant und schwierig macht, ist, daß der Bau der Brücke die Schiffahrt nicht unterbrechen darf, daß also keine Gerüste irgendwelcher Art in dem Strombett aufgebaut werden dürfen. An den drei steinernen Landpfeilern hat man heute mit neunzig Arbeitern zu mauern angefangen.

Vorläufig liegt die weite Bucht noch vor uns, im Gold der Abendsonne, als ahnte sie nichts Böses: ein stilles, glückliches Bild, wie es die Natur schuf, ehe Menschen waren. Friedlich rollt die Flut herauf und kümmert sich nicht um die Zwerge, die emsig am Ufer hantieren. Es ist, als fühlten die gewaltigen Wassermassen, daß sie hier Herr sind und nichts und niemand, seit Kanut dem Großen, ihnen zu widerstehen wagt. Aber es kommt anders, mein guter Enno. In wenigen Jahren stehen achtzig schlanke Pfeiler in deinem Grund, gegen die du toben kannst, soviel du Lust hast, und über deiner Tiefe liegt ein eisernes Band, auf dem die Zwerge hin und her fahren, wann es ihnen beliebt, ob du flutest oder ebbst, im Sturm tobst oder still im Abendrot schimmerst. Die Tage deiner Alleinherrschaft sind gezählt.

In weiter Ferne, drüben in Pebbleton, zünden sie die Lichter an. Die zusammen gehören, setzen sich ums Kamin. Es wird Feierabend in der Welt. Auch das Rufen und Rennen, das Gehämmer und Gesäge am Staden unten hat aufgehört. Ich muß hier in meiner einsamen Bude aushalten, so gut ich kann. Aber wenn einmal unsre Brücke steht, Billy, wollen wir auch zusammen sitzen wie die Pebbletoner. Nein, schon vorher; hundertmal vorher!

Dein vereinsamter Brückenbauer.

Nachschrift: Schicke mir meine großen Logarithmentafeln hierher. Sie liegen in meinem Arbeitszimmer links oben auf dem Bücherschrank. Das Inspizieren und Überwachen ist eine einförmige Arbeit und läßt manchmal Zeit zu allerhand Nebensächlichem. Auch kann ich Dir nicht immer von meiner Sehnsucht erzählen, wie Du's verlangst. Zur Erholung möchte ich alle auf die Brücke bezüglichen Berechnungen noch einmal durcharbeiten. Das beruhigt.

War Dir dieser Brief lang genug?

 

Eunobucht, den 6. November 1872.

Du willst zu viel wissen, Billy, und zu viel wissen, sagen wir in meinem alten Vaterland, macht Kopfweh. Ganz kannst Du Dich von Deinem Geschlecht eben nicht losreißen. Ich wäre auch übel dran, wenn Du's könntest. Und so werde ich das kleinere der zwei Übel wohl auf mich nehmen müssen und Deine weibliche Neugierde zu befriedigen suchen, so gut es geht. Schimpfe aber nicht nachher, man verstehe kein Wort von allem, was ich sage. Zu einem unverständlichen Bericht gehören immer zwei, und nicht immer ist der arme Berichterstatter der schuldige Teil.

Lavalette will mich um jeden Preis wieder vier Wochen hier behalten, bis das Versenken der neuen Senkkasten in geregeltem Gange ist. Er hat nicht ganz unrecht, denn ich bin für die Änderung verantwortlich, für die er mir übrigens dankbar ist, wie es halbe Franzosen sind – avec effusion.

Wie meine Senkkasten aussehen? – warum Papas alte nichts taugen? – was ein Senkkasten sei? – das alles sprudelst Du heraus, als ob man solche Fragen in zwei Worten beantworten könnte. Aber ich will mein möglichstes tun. Das ist hier die Regel für uns alle.

Es handelt sich also vor allen Dingen darum, für unsere neunundachtzig Pfeiler in zwanzig bis dreißig Fuß tiefem Wasser feste Grundmauern zu schaffen. Dabei ist der Boden der Bucht kein Fels, wie wir ihn brauchen, sondern auf eine Tiefe von zehn bis fünfzehn Fuß Sand und grobes Geröll. Erst unter dieser Schicht, also vierzig bis fünfzig Fuß unter der Wasseroberfläche, findet man Gestein, auf dem sich bauen läßt.

Nun nimm meinen feinsten schwarzen Seidenhut und schneide ringsum den Rand sorgfältig ab – doch nein! tu' dies lieber nicht! – Denke Dir ein einfaches Wasserglas ohne Fuß, drehe es um und stelle es so ins Wasser. Das Wasser soll dreimal tiefer sein als die Höhe des Glases. Die im Glas eingeschlossene Luft wird zunächst verhindern, daß sich dieses völlig mit Wasser füllt. Denke Dir weiter ein kleines Loch in dem nach oben gekehrten Boden des Glases und eine dichtschließende Röhre in das Loch geschraubt, die bis zur Wasseroberfläche heraufreicht. Wenn Du durch diese Röhre hineinbläst, so wird durch die Spannung der Luft weiteres Wasser aus dem Glase verdrängt; bläst Du stark genug – ich weiß, Du würdest dies tun –, so treibst Du alles Wasser aus dem Glas hinaus, so daß selbst der Boden, auf dem es steht, trocken gelegt wird. Früher hieß man dies einen Caisson, aus Höflichkeit, weil die Franzosen sich einbilden, das Ding erfunden zu haben; heute ist es ein Senkkasten.

Das heißt, Du mußt Dir das Glas neun Fuß im Durchmesser und sieben Fuß hoch denken, so daß vier Leute bequem darin stehen und arbeiten können, und das runde Loch in der Decke etwa drei Fuß weit; die Röhre, die vom Loch durch das Wasser nach oben führt, vielleicht zwanzig Fuß hoch, und das Ganze aus starkem Eisenblech und teilweise aus Gußeisen. Siehst Du es jetzt?

Dieses Ungetüm, so groß wie ein kleines rundes Haus mit einem unförmlich hohen Schornstein in der Mitte, wird am Ufer angefertigt, zwischen zwei Schiffe gehängt und in den Strom hinausgefahren. An der Stelle, wo man seinen Pfeiler haben will, wird es versenkt und schneidet mit seinem kreisrunden scharfen Rande unten zunächst in den Sand und das Gerölle ein, auf das es zu stehen kommt. Mittlerweile hat man auch einen mächtigen Block aus Zement und Backsteinen gebaut, im Durchmesser so groß wie der Senkkasten und zwölf oder fünfzehn Fuß hoch, der ein Gewicht von viertausend Zentnern hat. Auch dieser Riesenblock wird von zwei Schiffen geholt und versenkt, so daß er genau auf den eisernen Senkkasten zu stehen kommt und dann noch zur Zeit der Ebbe wie ein Inselchen aus dem Wasser herausragt.

Wie diese gewaltigen Massen von den zwei Booten am Ufer aufgehoben, zwischen denselben hängend davongetragen werden und dann genau an der richtigen Stelle in der dunkeln Tiefe verschwinden, will ich dir heute nicht erzählen. Das meiste schafft dabei Ebbe und Flut für uns, die täglich zweimal das Niveau des Stromes an dieser Stelle um sechs bis zehn Fuß hebt und senkt. Es hat fast etwas Ergreifendes, wenn man zum erstenmal sieht, wie die geheimnisvolle Naturkraft, die vom fernen Mond herkommt, unsere riesigen Blöcke leise, aber mit einer fürchterlichen, alles zermalmenden Sicherheit packt und wir nur zuzusehen brauchen und den richtigen Augenblick nicht verpassen dürfen. Es wird einem ordentlich bange, wenn die gewaltigen Massen sich stöhnend erheben, als ob sich's von selbst verstünde, ihre Wanderung über Wasser antreten und gurgelnd versinken, um drunten in der Tiefe ihre neuen Pflichten zu erfüllen.

Dann machen sich die Transportboote mit ihren hydraulischen Winden davon, und das Boot mit der Luftpumpe legt sich an die kleine Kunstinsel, in deren Mitte der schornsteinartige Luftschacht des Senkkastens hervorragt. Derselbe wird durch eine Luftkammer mit doppelten luftdichten Türen geschlossen, von denen die eine sich nach außen, die andere nach innen in den Luftschacht öffnen läßt. In diesen Schacht wird jetzt Luft gepumpt. Dieselbe treibt das Wasser aus dem Senkkasten hinaus, so daß man jetzt durch die Luftkammer in die Röhre und in die mit gepreßter Luft gefüllte Kammer hinuntersteigen kann. Dort steht man trockenen Fußes zwanzig Fuß unter Wasser auf dem Sand und Geröll des Flußbettes wie in einem runden Stübchen. Nun geht's ans Ausgraben des Senkkastenbodens. Sand, Steine, Schlamm werden durch den Luftschacht hinaufgeschafft. Es entsteht ein sich langsam vertiefendes Loch, im Durchmesser so groß wie der Senkkasten selbst, in welches derselbe durch sein eignes Gewicht tiefer und tiefer in den Boden sinkt. Dadurch würde unser Inselchen an der Oberfläche des Wassers bald verschwunden sein, wenn nicht Maurer den Zementblock fortwährend um so viel nach oben weiterbauten, als er in der Tiefe versinkt. Schließlich ist der höher und höher werdende Bau durch die ganze Schichte von Sand und Lehm und Geröll in dieser Weise durchgesunken. Der Senkkasten sitzt auf dem Felsgestein, auf dem er für immer zur Ruhe kommt. Nun wird das hohle Innere desselben ausgemauert und mit Beton gefüllt. Ist dies geschehen, so ist der Pfeiler vom Felsengrund bis an die Wasseroberfläche ein turmartiger, fester Steinblock, auf dem sich getrost weiterbauen läßt.

Verstehst Du das jetzt, Billy? Die niedlichsten Sachen habe ich natürlich weglassen müssen; wie die Leute durch die Luftkammer in das Rohr kommen, wie die gespannte Luft erhalten wird, wie es den Arbeitern drunten zumute ist, wie das Geröll herauskommt, ohne daß der ganze Senkkasten, wie eine Champagnerflasche knallend, seine gespannte Luft verliert, und andres mehr. Das alles wollte ich Dir mündlich gerne auseinandersetzen, wenn Du dann nicht immer vorzögest, Dummheiten zu machen.

Nun bilden zwei solche Senkkästen, die nebeneinander zu stehen kommen und oben mit Mauerwerk verbunden werden, die Basis eines eigentlichen Brückenpfeilers. Aber schon bei den ersten fünf Pfeilern, die in verhältnismäßig geringer Tiefe Felsgrund finden, hatte man große Schwierigkeiten. Im Sand, durch den sie versenkt werden, liegen gelegentlich mächtige Steine und Felsblöcke, welche der Strom in Urzeiten aus dem Gebirge herabgebracht haben mag. Wenn die Kante des Senkkastens auf einen derartigen Felsblock stieß, wollte das erforderliche senkrechte Versenken nicht mehr gelingen. Drei Pfeiler fielen hierbei völlig um und machten die fürchterlichste Mühe und Arbeit, bis sie wieder aufgerichtet und endlich richtig gestellt waren. Die Basis jedes einzelnen war für seine Höhe zu klein. In dieser Weise konnte Lavalette nicht weitergehen. Nach meinem Vorschlag wurden nunmehr beide Senkkästen auf einen gemeinsamen, ovalen, schmiedeeisernen Unterbau ausgesetzt, in dieser Weise fest verbunden und gleichzeitig versenkt. Hierdurch gewann man eine doppelt so große Basis, und die zwei Teile des Doppelpfeilers konnten ihre parallele Stellung nicht verlassen. Es scheint so in der Tat vortrefflich zu gehen und hat die Sorgen, die uns durch den ganzen letzten Monat quälten und Lavalettes Haar, nach seiner Behauptung, gebleicht haben, aus der Welt geschafft. Jetzt ist alle Hoffnung vorhanden, daß wir rascher vorwärts kommen und die neunundachtzig Inselchen bald über die Bucht punktiert sein werden.

Vorige Woche wurde der erste Gitterbalken zwischen dem vierten und fünften Pfeiler aufgelegt. Das ist auch eine hinlänglich wundersame Geschichte zum Zusehen. Was wir hier unter einem Balken verstehen, ist die ganze Brücke, fix und fertig, mit Ausnahme der Schwellen und Eisenbahnschienen, welche zwei Pfeiler verbindet; ein Ding aus schmiedeeisernen Stäben und Stangen, fünfzehn Fuß hoch, etwa zehn Fuß breit und an diesem Ende des Baues hundertzwanzig Fuß lang, das etwa sechsunddreißighundert Zentner wiegt. Die Stäbe und Stangen kommen, in richtiger Länge geschnitten und gebohrt, von Wales, wo Lavalette seine Eisenwerke hat, und werden hier auf der hölzernen Plattform über dem Wasser, die hierfür gebaut wurde, zusammengestellt. Ist der Balken fertig, so werden an beiden Enden bewegliche Stücke der Plattform entfernt. Zwei Boote fahren während der Ebbe in die entstandenen Lücken unter den Gitterbalken. Mit der steigenden Flut heben sich die Boote und heben auch den Balken in die Höhe, der jetzt, von den beiden Booten getragen, schwimmt. Das sonderbare Fahrzeug wird nun nach den Pfeilern geschleppt, für die es bestimmt ist, welche bei Hochwasser nur wenige Fuß über die Flut hervorragen. Dort wird das Ganze so verankert, daß bei Wiedereintritt der Ebbe die sinkenden Boote unsere Balkenenden auf beiden Pfeilern sitzen lassen und nach kurzer Zeit des weiteren Sinkens frei unter dem Balken wegsegeln können. Was wir ohne Ebbe und Flut machen würden, weiß ich nicht. Es ist eine wundervolle Einrichtung und nur schade, daß wir sie nicht auch erfunden haben.

Nun aber werden auf den zwei Pfeilerinselchen hydraulische Pressen aufgestellt, mit denen der Balken langsam in die Höhe gepumpt wird, während die gußeisernen Säulen Glied um Glied untergeschoben werden, bis der Balken seine richtige Höhenlage, etwa achtzig Fuß über der Wasserfläche, erreicht hat, so daß große Segelschiffe unter ihm durchfahren können.

Dieses Manöver wurde also gestern zum erstenmal ausgeführt. Es ging alles glatt und ohne Anstand vonstatten. Jede Bewegung, jede Pause war ausgeklügelt. Mit der Sekundenuhr in der Hand, einen Mann mit einem Sprachrohr an der Seite, kommandierte Lavalette Schiffe und Leute. An diesem ersten Tag stieg der Balken um zwanzig Fuß in die Höhe. Aber ich war doch begierig, als es Dämmerung wurde, ob wir ihn am nächsten Morgen noch oben finden würden. In sechs Tagen hatte er seine richtige Höhe erreicht, und meine gußeisernen Pfeiler stehen da, als ob sie in den Himmel wachsen wollten. Ich gebe zu, daß man sich an den Anblick gewöhnen muß. Manchmal krampft sich mir doch das Herz zusammen, wenn ich von einem Boot aus oben am blauen Firmament das Gitterwerk betrachte. Man glaubt die ganze fürchterliche Eisenmasse schwanken zu sehen. Natürlich ist es die Bewegung des Bootes, oder es sind die fliegenden Wolken, die das Auge täuschen. Gut aber ist es doch, daß es nicht jedermann zu sehen bekommt. Auch Jenkins brauchst Du nichts zu sagen.

Du siehst, es geht alles munter vorwärts. Lavalette hat jetzt rund dreihundert Arbeiter auf dem Platz, zweihundert hier und hundert am Nordufer. Es ist eine Freude, ein solches Werk wachsen zu sehen, und ich weiß, Du freust Dich mit mir. Die Sorgen laß mir allein. Manchmal brauchen sie einen dicken Schädel und ein festes Herz. Das Unerwartete kommt uns so oft in die Quere, und dann geht auch im gewohnten Gleise nicht immer alles, wie es sollte. Von manchem kritischen Punkte wissen wir noch so blutwenig und sollen und müssen darauf losbauen. Aber wo wäre die Welt geblieben, wenn nicht einige die Nerven gehabt hätten, die es möglich machen, im Dunkeln zuzugreifen.

Das Wetter wird schlecht. Es stürmt viel. Gerade heute rüttelt der Westwind an den etwas mangelhaften Fenstern meiner Bude nicht übel, und die ganze Bucht ist mit weißen Wellenkämmen bedeckt. Früher freute mich das Brausen, wann und wo ich's hörte. Seit einiger Zeit macht mich's förmlich beklommen, ohne daß ich mir bewußt werde, weshalb. Wenn ich den Gitterbalken dort drüben in der Luft ansehe, weiß ich's. Alles ist nicht reines Vergnügen in dieser Welt, Billy, und der diesjährige November ist nicht unser erster Mai.

Trotzdem bleibe ich Dein getreuer Brückenbauer.

 

Ennobucht, den 2. September 1874.

Lieber Freund!

Wenn Du bei unserm wunderbaren Zusammentreffen auf dem Kahlenberg, das meiner Frau besser gefiel als die ganze italienische Reise, einige Teilnahme für meine Brücke heucheltest, so hast Du nicht ungeschickt geheuchelt. Doch würde ich Dir mehr trauen, wenn Du Dich dazu aufschwingen könntest, die Sache in natura anzusehen. Bei Deinen Hin- und Herfahrten zwischen Algier und Rumänien, oder wo Dich diese Zeilen finden mögen, wäre Dir ein kleiner Seitensprung nach dem Norden zu gönnen, namentlich geistig. Selbst für einen verbauerten Schollenbrecher fängt die stattliche Reihe von Pfeilern an sehenswert zu werden, die jetzt von beiden Ufern in die See hinausstreben, um sich mit der Zeit in der Mitte der Meeresbucht – Gott allein weiß zwar, wann – die trutzigen Hände zu reichen. Je länger ich hier bin, um so fester bin ich nämlich überzeugt, daß wir es nicht mit der gewaltigen Mündung eines kleinen Flusses, sondern mit einem kleinen Arm des gewaltigen Ozeans zu tun haben. Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, und umgekehrt.

Die Begegnung in London, die Du mir zwischen zwei Deiner Blitzzüge vorschlugst, konnte ich leider nicht einhalten, da mich ein Telegramm ganz unerwartet hierher sprengte. Alles war in bestem Gang, als uns aus scheinbar blauem Himmel ein kleiner Unglücksfall traf; ein großer, menschlich gesprochen, denn es sind sieben brave Arbeiter dabei zugrunde gegangen. Die Zeitungen, die Dich in Algier schwerlich erreichten, machten einen großen Lärm von der Sache, als ob damit etwas geholfen wäre. Die Federfuchser wissen nicht, was es heißt, mitten im Kampf mit der feindlichen Natur zu stehen. Auch unsre Schlachten haben ihre Toten; es kann nicht anders sein. Doch bleibt es, selbst ohne dieses sinnlose Geheul, ein peinliches Gefühl, plötzlich Vizevater von zweiunddreißig unerzogenen Kindern geworden zu sein, wenn man bisher nur für zwei bis drei verantwortlich war.

Die Tatsache ist, daß am 28. August, dem von Dir zu einem fröhlichen Beisammensein bestimmten Tag, das Mittelgußstück eines unserer Doppelsenkkästen zersprang, der am gleichen Tage den Felsboden berühren sollte.

Die strengste Wahrhaftigkeit ist das Ideal eines Dampfpflügers. Ich habe dies aus Deinem eignen Mund und nehme deshalb an, daß Du in Deinem letzten Brief nicht so fürchterlich logst, wie dies manchmal mündlich der Fall ist, daß Du Dich also für meine Brückensorgen und -freuden wirklich ein wenig interessierst. Beim Palmettenfelderpflügen in der Sahel oder wie die Wüste heißt, in der Du gegenwärtig tätig zu sein vorgibst, hast Du jedenfalls Zeit, einen Brief aus unsrer kühlen Heimat liebevoll zu studieren. Ich ziere mich nicht länger, ihn zu schreiben, um mir eine peinliche Wartestunde zu verkürzen.

Die wirkliche Ursache des Unglücks ist noch nicht aufgeklärt. Wir hatten bis dahin vierzehn Senkkästen der gleichen Gattung anstandslos versenkt. Wahrscheinlich war das Verbindungsstück zwischen den zwei Luftschachtröhren und dem eigentlichen Doppelkasten, wie wir sie neuerdings bauen, schlechter Guß. Das sollte nicht vorkommen; aber hier auf Erden, und namentlich unter dem Wasser, treibt der Teufel sein Spiel mit uns armen Sterblichen, wie ihm beliebt und soweit es Gott zuläßt. Man kann nicht vorsichtig genug sein im Umgang mit diesen höheren Mächten. Du siehst, ich bin ein wenig desperat. Es ist kein Wunder.

Elf Mann waren unten, als mit einem lauten Knall das Wasser durch einen der Schachte hinabschoß und die gepreßte Luft irgendwo hinauspfiff. Natürlich erlöschten sofort alle Lichter. Die armen Kerle waren mit einem Schlag in einer gurgelnden, heulenden Finsternis, in die von allen Seiten Wasser in Wogen hineindrang. Vier Mann, die dem zweiten Schacht am nächsten waren, wurden Hals über Kopf in dem Rohr emporgeschwemmt, daß ihnen auf ein paar Minuten Hören und Sehen verging. Im nächsten Augenblick explodierte die Luftkammer mit ihren Doppeltüren, die oben das Rohr abschließt. Auf dem Dach dieser Kammer ist die Druckluftpumpe angeschraubt, deren Maschinist in den Strom geblasen wurde wie bei einer regelrechten Kesselexplosion. Glücklicherweise war ein Nachen in der Nähe und fischte ihn auf. Für die vier Mann bedeutete die Explosion ihre Lebensrettung. Sie kamen durch das Schachtrohr herauf, wie aus einer Windbüchse geschossen, allerdings mit etwas blutigen Köpfen und einem Beinbruch. Aber die sieben, die noch unten waren, mußten wie Mäuse in einer Falle elend ertrinken. Ich hoffe, sie merkten nicht mehr viel davon.

Als ich acht Stunden später ankam, hatten unsere Taucher die Leichen schon geborgen. Sie lagen in Reih und Glied im Magazin neben meinem Arbeitszimmer und warteten auf ihre Särge. Ohne Ungeduld, friedlich und still, aller Mühen los. Der alte Lavalette, der aus Manchester herbeigekommen war, saß neben ihnen auf einem Balken. Er schien furchtbar angegriffen zu sein, so daß ich ihn trösten mußte. Es war ein Unglücksfall, den nur Gott hätte verhindern können. Aber trotzdem drückt einen das Gefühl der Verantwortlichkeit in solchen Stunden ziemlich. Ich zog ihn mit Gewalt in mein Zimmer; er wollte die sieben stillen Männer nicht verlassen.

Seitdem ich ihn kenne, ist er merkwürdig gealtert und scheint an Sorgen zu tragen, von denen er mir erklärlicherweise nichts sagen will. Vielleicht sieht er nicht, wie er mit der Brücke und seinen zweihundertfünfzehntausend Pfund zu Ende kommen soll. Es gilt so manchen Stein des Anstoßes und Ärgernisses aus dem Weg zu räumen, an den zuvor kein Mensch denken konnte. Vor ein paar Monaten wäre ich vielleicht ebenso trostlos neben der Totenkompagnie gesessen wie er. Die Reise nach Florenz hat mich wieder auf die Beine gebracht, und Billy – Du weißt, wen ich meine – trägt redlich mit. Sie ahnt ein wenig, daß die Brücke, wenn sie auch zu unserm Glück geführt hat, bezahlt sein will.

Heute früh haben wir die sieben Mann begraben. Sie liegen wenigstens trocken auf dem Hügel hinter unsrer kleinen Arbeiterstadt. Man übersieht von dort die ganze Bucht und die Inselchen, die die mächtige, geschwungene Linie der künftigen Brücke bezeichnen. Es sind am rechten Ufer schon vierundzwanzig, am linken elf. Noch eine weite, spiegelglatte Fläche liegt unberührt zwischen beiden. Ob sie noch mehr Menschenleben kosten wird? Nicht, wenn es mit menschlichen Mitteln vermieden werden kann. Dabei sei es aber genug der Sentimentalität. Das Leben ist hart. Wir hätten nicht in die Welt kommen sollen, wenn wir das nicht tragen können.

Den Arbeitern kann man so viel Philosophie vielleicht nicht zumuten. Sie machten gestern, im Schrecken über den Unfall, Anstalt, zu streiken, wenigstens die Senkkastenleute. Ich rief sie zusammen und sagte ihnen, was im Einverständnis mit Lavalette geschehen werde. Die Röhren und alle Teile unter Wasser, die bis jetzt in Gußeisen ausgeführt waren, sollten in Zukunft aus Schmiedeeisen und weichem Stahl gemacht werden. Die Arbeitszeit in den Senkkästen sollte von zehn auf acht Stunden täglich herabgesetzt, der Lohn um dreißig Prozent erhöht werden. Sie lächelten gutmütig, denn sie sahen, daß es mir ernst war. Aber der Eindruck der sieben Särge war noch zu frisch. Es rührte sich keiner, als ich sie aufforderte, zu sagen, ob sie zufrieden seien. Nun erklärte ich, daß ich die nächsten vierzehn Tage hier bleiben und mich jeden Tag in jedem Senkkasten eine Stunde lang aufhalten werde, um mich zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei. Dies half. – Im übrigen geht die Arbeit munter vorwärts. Sieben Gitterbalken liegen an ihrem Platze, drei sind im Heben begriffen. Am Ufer, auf beiden Seiten, wird gehämmert und genietet, daß es eine Freude ist; die Sache ist jetzt organisiert wie eine fliegende Fabrik. Meine Pfeiler bewähren sich. Sie sind eine gewaltige Ersparnis, verglichen mit dem Mauerwerk der Menaibrücke. Allerdings sehen sie noch immer etwas toll aus bei der Höhe von sechsundachtzig Fuß über dem Wasserspiegel, welche das Schienengleise in der Mitte des Stroms erhalten muß. Eine ziemliche Anzahl der Säulen muß in die Gießerei zurückwandern, was sich Lavalette mit löblicher Ergebung gefallen läßt. Es soll mir wenigstens keine passieren, die nicht nach Material und Ausführung tadellos ist. Leider kann man die Augen nicht überall haben. Solange Lavalette vollständig gesund war, konnte ich ruhiger sein. Er ist zwar der Unternehmer, aber ein Mann, auf den man bauen kann wie auf unsre Felsen.

Ich glaube, ihr beneidet mich; Du vielleicht weniger, denn mit Deinen Pflügen scheinst Du ein lustiges Wanderleben zu führen, um das umgekehrt Dich mancher beneiden mag. Aber Schindler schrieb mir vor einiger Zeit in diesem Ton. Der gute Mann weiß nicht, was er sagt. Manchmal schon wünschte ich, ich säße auf seinem Katheder und dozierte Englisch oder jede beliebige andre Sprache unter der Sonne. Er kann dabei wenigstens im Frieden schlafen, ohne daß ihn jeder Windstoß aus den Träumen rüttelt.

Nebenbei: Bist Du auf Deinen verrückten Kreuz- und Querfahrten nicht zufällig einer Formel oder einem Rattenkönig von Formeln begegnet, die den Winddruck gegen große, komplizierte Flächen, Gitterbalken zum Beispiel, betreffen? Nirgends wissen sie etwas Bestimmtes hierüber. Mein Schwiegervater, der alte Bruce, lacht mich aus, wenn ich mit der Frage komme, streckt seine Nase gen Himmel und meint: »Was bis heute niemand weiß, brauchen wir auch nicht zu wissen, mein Junge! Die Welt fällt nicht um, weil du sie nicht in Formeln zu bringen weißt. Frage übrigens in Greenwich an, wenn dir's Spaß macht.« In Greenwich, am Königlichen Observatorium, wissen sie auch nichts, nicht einmal, wie schnell ein gut schottischer Sturmwind läuft. Bei den besten Exempeln, an die sie sich erinnern, ist regelmäßig im kritischen Augenblick ihr Meßapparat zusammengebrochen, und bis er wieder im Gang war, war der Sturm vorbei.

Mich läßt das Problem nicht ruhen. Bruce trägt zu Hause eine gutmütige Wurstigkeit zur Schau, seitdem er zum Maschinenadel gehört, die wenigstens erträglicher ist als seine Maske in der City und bei den Direktoriumssitzungen seiner Eisenbahnen. Dort gibt er sich das Ansehen, als sei die Welt und alles, was darinnen ist, zu klein für ihn geworden? Die Manier scheint sich übrigens zu bezahlen.

Wenn ich wieder auf die Welt komme, werde ich Dampfpflüger. Deinen Briefen nach brichst Du mit Deinen Maschinen alle acht Tage zusammen, ohne daß Dir's etwas schadet. Ich wollte, ich hätte es auch so gut.

In alter Freundschaft Dein Stoß.

 

Ennobucht, den 15. Oktober 1875.

Armer Billy!

Jetzt gilt es zusammenzuhalten »in guten und bösen Tagen«, wie Du leichtsinnigerweise in der kleinen Jakobuskirche zu Richmond seinerzeit versprochen hast. Damals lag unsre Glücksbrücke im rosigen Morgenlicht vor uns, zart und duftig wie ein Elfengespinst, und wir wollten schon drüber, Hand in Hand und leichten Herzens. Heute, sechs Jahre später, liegt die unüberbrückte Bucht vor mir in blaugrauer Dämmerung. Wie zwei hilflose, gebrochene Arme streckt sich unser Bau von beiden Ufern nach der Mitte, und eine wette Wasserfläche dehnt sich zwischen den letzten Pfeilerinselchen, die zweimal täglich zur Ebbezeit aus dem Wasser ragen und zweimal hilflos in der Flut versinken. Ich werde mich in den nächsten vier Wochen an das Bild gewöhnen müssen, denn es wird sich nicht ändern. Gestern haben wir die Hälfte der Arbeiter entlassen. Je weniger getan wird, um so mehr werde ich zu tun haben, so daß ich wohl für einen Monat nicht daran denken kann, nach London zurückzukommen. Ganz rettungslos ist die Sache ja nicht. Sonst könnte ich rascher aufräumen.

Der arme Lavalette also ist gestorben und mausetot, wie Du weißt. Ich dachte in der letzten Zeit öfter, daß ihn die Brücke liefern werde. Jeder neue Pfeiler, den er aufstellte, schien ihn etwas mehr zu Boden zu drücken, obgleich er nie klagte. Und es ging schließlich rascher, als irgend jemand geglaubt hatte. Das kam so: Schon beim Versenken des vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Senkkastens, vom Südufer gerechnet, fand sich der Felsgrund, auf dem sie alle aufstehen müssen, beträchtlich tiefer, als man erwartet hatte. Die alten Bohrungen hatten ganz andre Maße ergeben. Beim sechsundzwanzigsten Senkkasten war die Tiefe derart, daß es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich riet deshalb Lavalette, ehe er mit dem siebenundzwanzigsten beginne, neue Bohrversuche machen zu lassen, um über den wirklichen Stand der Sache in dieser infernalischen Tiefe klar zu werden. Es war dies um so nötiger, als wir jetzt an das Mittelstück der Brücke kommen, das den Durchgang für große Segelschiffe gestalten muß. Bis hierher waren die lichten Weiten zwischen den Pfeilern hundertzwanzig Fuß und die eisernen Teile der Pfeiler siebzig Fuß hoch. Von jetzt an kommen sechzehn Spannweiten von zweihundert Fuß und eine Pfeilerhöhe von fünfundachtzig Fuß, weil die längeren Gitterbalken dieses Teils der Brücke über den Bahngeleisen liegen, statt, wie bis hierher, drunter. Kurz, hier fängt der Ernst der Sache eigentlich erst an. Du hast dies alles ja an den Fingerenden, Billy!

Man schlug nun fünf neue Bohrlöcher in den noch pfeilerlosen Teil der Bucht, und da zeigte sich, daß von beiden Seiten der Felsgrund plötzlich scharf abfällt und eine tiefe Mittelrinne bildet, die wir zu überbrücken haben; so tief, daß nicht daran zu denken ist, unsre bisher üblichen Senkkästen bis auf den Felsen zu versenken. Die alten Bohrungen, denen der ganze Bauplan zugrunde lag, waren falsch; eine Schicht zusammengebackener Kiesel, welche mächtige Sandlager bedeckt, hatte die Leute getäuscht. Sie glaubten, auf dem Felsen zu sein und hatten nur diese Schicht zwischen dem Stromgeröll und den darunter liegenden Sandlagern erreicht. Am Abend des Tages, an dem diese Tatsache unzweifelhaft klar wurde, legte sich Lavalette zu Bett. Bekanntlich hatten seine eignen Leute vor mehr als zehn Jahren die Bohrungen und den Fehler gemacht. Nach zwei Tagen war er tot. Sein Hausarzt hatte ihn schon vor Monaten gewarnt, daß mit seinem Herzen nicht alles in Ordnung sei und daß er jeden Ärger von sich abhalten müsse. Ein sehr zeitgemäßes Rezept für einen Mann mit der Ennobrücke auf dem Hals. Es war ein guter, wackerer Mann, nur etwas zu sanguinisch und etwas zu weich für sein Handwerk. Unsre Zeit braucht Leute von Stahl, soviel auch gewisse Narren über die Verweichlichung der Menschheit jammern. Es gibt solche, sonst gäbe es keine Ennobrücke, keinen Mont Cenis-Tunnel, keinen Telegraphendraht zwischen England und Amerika. Aber nicht jeder hat Stahl genug im Blut, und so stirbt mancher an einem Herzleiden, ehe man sich's versieht. – Lavalette hinterläßt zwei Söhnchen, die noch nicht aus der Schule sind. Seine Firma erklärte sofort, daß sie nach dem Tode ihres Chefs außerstande sei, den Brückenbau weiterzuführen. So stand die Sache vor drei Tagen. Die Nachricht lief in Pebbleton wie ein wildes Feuer von Haus zu Haus und war in vierundzwanzig Stunden das Börsengespräch von Manchester und London. Die Aktionäre der Nordflintshire-Eisenbahn rangen die Hände; ein paarmal hunderttausend Pfund ihres Geldes schienen nutzlos ins Wasser geworfen worden zu sein. Das übrige Publikum hatte wie gewöhnlich den Zusammenbruch vorausgesehen. Es habe alles seine Grenzen. Für Brücken seien Flüsse genug in der Welt; Meeresarme sollte man in Ruhe lassen. Die Aktien der Eisenbahn sanken um zehn Prozent, die der alten Brückengesellschaft um fünfzig. Die wohlhabendsten Aktionäre hofften, daß die Geschichte wenigstens damit ein Ende haben und niemand versuchen werde, das unglückliche Unternehmen wieder auf die Beine zu stellen. So reckte sich neben den plötzlich entdeckten technischen Schwierigkeiten die Geldfrage wie ein alles erdrückendes Gespenst vor uns auf.

Jetzt aber zeigte Dein Papa, aus welchem Metall er gemacht ist. In Pebbleton wurde vorgestern eine gemeinsame Sitzung der Direktoren der Nordflintshirebahn und der alten Brückengesellschaft abgehalten, um die Lage zu betrachten. Ich glaube, zwei Drittel der Herren kamen mit der Absicht, für das Aufgeben des Brückenbaus zu stimmen. Sir William saß wie üblich neben dem Präsidenten der Bahnverwaltung. Sein vornehmes, pomphaftes Wesen, das er sich in der letzten Zeit angewöhnt hat – verzeih mir, Billy; seit sechs Jahren gehörst Du mir, nicht mehr ihm –, war wie weggeblasen. Er sprach mit der Begeisterung eines achtzehnjährigen Gelbschnabels von der Notwendigkeit, von dem enormen Nutzen der Brücke, mit einer fast hinreißenden Überzeugung von der Überwindung der Schwierigkeiten, die keinem großen Unternehmen erspart bleiben, von seinem felsenfesten Entschluß, nicht nachzulassen, was auch heute beschlossen werden möge, von der Schande, ein solches Werk halbfertig zu verlassen, von der Ausdauer und Zähigkeit der anglosächsischen Rasse, deren Vertreter – hier machte er seinen mürrisch dasitzenden Nachbarn eine bezaubernde Verbeugung– sich in dieser Krisis um ihn geschart hätten. Kein Oppositionsredner kam so recht zum Wort. Die gefährlichsten versprachen wohlwollend zu prüfen, wie der abgerissene Faden weiterzuspinnen wäre. Entrüstet ergriff Dein Papa wieder das Wort. Er begreife nicht, wie der ganze Lärm entstanden sein könne, woher der Kleinmut eigentlich gekommen sei. Alles gehe ja vortrefflich. Man möge doch ihm gütigst überlassen, mit den technischen Hindernissen fertig zu werden. Der Tod Lavalettes sei ein schwerer Schlag, ohne Zweifel, aber er habe sich bereits umgesehen. Hinter Lavalette stehen ein Dutzend Unternehmer, die den Bau weiterzuführen bereit seien. Vielleicht etwas teurer. Aber die Geldfrage sei in diesem Falle für Männer von der Weitsichtigkeit der anwesenden Herren, für eine aufblühende Stadt wie Pebbleton, für die großen Verkehrsinteressen von England und Schottland ohne Belang.

Der Oberbürgermeister von Pebbleton, ein Mann schöner Reden, folgte ohne Zagen, und bald war die Begeisterung allgemein. Der Trotz dieser nordischen Mannen fängt langsam Feuer, dann ist aber auch kein Löschen mehr. Ich glaube, man hätte ihnen jetzt die schwerste unserer Sorgen ohne Bedenken mitteilen können: die große Änderung im Bauplan des Mittelstücks der Brücke, die unvermeidlich geworden war, die zweifelhaften Mehrkosten, die Unmöglichkeit, das Ganze zur bisher bestimmten Zeit fertigzustellen. Je erdrückender die Schwierigkeiten vor ihnen aufgestiegen wären, um so entschlossener hätten sie standgehalten.

Abends saß ich mit Papa noch eine Stunde zusammen. Je ruhiger er in der Sitzung gewesen war, um so mehr kochte es jetzt in ihm. Er wollte keinen Augenblick stillstehen, er wollte vorwärtskommen, wenn er die Brücke am Himmel aufhängen müßte. Wir besprachen die neuen Pläne. Ich machte Skizzen und mußte manches aufzeichnen, was ich kaum für ausführbar halte. Doch wird es schon etwas heller um uns her, wenn es auch ein halbes Jahr lang ziemlich still um die Brücke bleiben dürfte. Morgen erwarten wir Griffin & Co., die Unternehmer, die seinerzeit das zweitbilligste Angebot gemacht hatten. Sie werden voraussichtlich den Bau weiterführen. Dann muß mit Lavalettes Erben eine vernünftige Vereinbarung getroffen werden. Eine der schwierigsten Aufgaben ist, die Arbeiter über die nächsten Monate wegzuschleppen, bis ein neuer Anfang gemacht werden kann.

Und meine Briefe werden kürzer werden in der vor uns liegenden Zeit; doch weißt Du jetzt, warum. Halte gut Haus. Es kommen wieder bessere Zeiten.

Dein Harold.

 

Ennobrücke, den 8. August 1876.

Lieber Schollenbrecher!

Du hast natürlich auch in Deinen Zeitungen an der Wolga gelesen, daß wir samt unsrer Brücke um ein Haar in die Luft geflogen sind und die mächtige Ennobucht ihre Wogen wieder ungebrochen und in paradiesischem Frieden auf und ab rollt. Ich wollte Dir den Genuß dieser Nachricht nicht allzu früh verkümmern, doch jetzt, seitdem sie fast ein Jahr alt ist, dürfte es Zeit sein, Dich zu überzeugen, daß alles Lug und Trug war.

Ohne Zweifel hatten wir ernste Augenblicke, in denen es gruselte und kriselte. Der Tod des guten Lavalette – »Wehe dem Manne, der sich auf Menschen verläßt und nennet Fleisch seinen Arm!« – fiel mit dem Augenblick zusammen, in dem uns sozusagen der Boden unter den Füßen verschwand. Es entstand mehr Lärm, als nötig und gut war, und der ganze Bau geriet in bedenkliches Wackeln. Die unvermeidliche Umgestaltung aller technischen Maßregeln, widerspenstige Aktionäre, kein leistungsfähiger Bauunternehmer, ein Publikum, das sich beglückwünschte, daß das tolle Unternehmen stillschweigend begraben werde: das alles kam zusammen und sah schwarz genug aus am Horizont. Aber es weckte den alten Bruce, der mit einemmal wieder jung wurde. Das Phänomen war hochinteressant. Er packte die Aktionäre an den Ohren und schüttelte sie, bis sie warm wurden; dann packte er mich am Kopf – Du weißt, wir sind nahe Verwandte – und stieß ihn mir so lange auf ein Reißbrett, bis der wunde Schädel etwas Brauchbares von sich gab. Du kannst Dir vorstellen, wie es bei uns aussah, wenn ich Dir sage, daß mir diese Behandlung förmlich wohl tat. Er hatte in weniger als vier Wochen einen Unternehmer gefunden, Griffin & Co., eine Clevelandfirma, die bereit ist, den Bau um zweihundertfünfzigtausend Pfund fertigzustellen, und mit rühmlichem Eifer ins Zeug geht. Kurz, wir haben ein halbes Jahr verloren, aber dank dem nicht zu bändigenden Willen meines unglaublichen Schwiegervaters ist der tote Punkt überwunden, und gestern haben wir den dritten der neuesten großen Senkkästen in die tiefe Mittelrinne der Bucht glücklich versenkt.

Davon möchte ich Dir einiges erzählen, denn seit der Hauptsturm vorüber ist, kommen mir wieder allerhand Bedenken, die ich am liebsten in einer Freundesbrust versenken möchte. Wenn ich sie auf diese Weise los werden könnte, würdest Du Briefe erhalten, mit denen Du Deine strohfeuernden Dampfpflüge zehn Stunden lang heizen könntest. Die Mühe sollte mich nicht verdrießen, sie zu schreiben.

Sir William, Griffin, ich und ein halbes Dutzend untergeordneter Hilfsdenker – Du glaubst nicht, wie viele Finger in einem so gigantischen Pudding stecken – hatten sich also daran zu machen, das ganze Mittelstück der Brücke umzugestalten. Wegen des verschwundenen Felsuntergrundes war, wie Du weißt, der alte Plan nicht mehr festzuhalten. Zunächst wurde beschlossen, längere Gitterbalken – zweihundertfünfzig statt zweihundert Fuß – anzuwenden, um ein paar Pfeiler zu ersparen. Die Geldfrage hängt immer über uns wie ein Schwert, und trotzdem wird das große Werk etwa zweimal so viel kosten, als Bruce die Aktionäre vor sechs Jahren träumen ließ. Dann müssen wir es aufgeben, den unergründlichen Felsboden für die Pfeilerfundierung zu erreichen, und uns auf das zusammengebackene Geröll verlassen, das die Sandschichten des Untergrunds bedeckt. Dies hat kein Bedenken, solange man den Fuß der Pfeiler groß genug macht. Deshalb kommt statt der ursprünglichen Doppelsenkkästen von zehn Fuß Durchmesser ein Riesensenkkasten von einunddreißig Fuß Durchmesser in Anwendung, auf dem in ähnlicher Weise wie früher ein solider Steinpfeiler bis zur Fluthöhe aufgebaut wird. Soweit sieht die Sache befriedigend aus.

Nun müssen aber auf diesen kreisrunden Riesentrommeln meine gußeisernen Pfeiler aufgestellt werden, und dabei zeigt sich, daß die acht Säulen, aus denen sie aufgebaut sind, kaum Platz finden, und wir uns mit nur sechs in Sechseckform angeordneten Säulen begnügen müssen. Du kannst Dir denken, wie mir dies mißfiel. Gerade die Pfeiler, die um fünfzehn Fuß höher werden als alle andern, sollten zwei Säulen weniger erhalten! Ich hatte ein paar tolle Szenen mit Sir William. Er war wütend, wenn ich mit meinen Berechnungen kam, und hatte nicht ganz unrecht. Denn mit scheinbar kleinen Annahmen bei zweifelhaften Punkten der Kalkulationen läßt sich fast alles ausrechnen, was man haben will. Es war nicht die mathematische Gewißheit, die ich ihm entgegenhalten konnte. Festigkeitskoeffizienten unsrer heutigen Materialien, Winddruckfragen – alles ist so unsicher, daß man mit zehnfacher oder zwanzigfacher oder dreißigfacher Sicherheit rechnen kann, je nach der Stimmung, ohne sehr fehlzugehen. Jedenfalls läßt sich nicht beweisen, daß man fehlgegangen ist. Ich fühlte nur, wie mich eine geheime Angst packte, die ich mit allem Rechnen nicht los wurde. Bruce erklärte mich schließlich für einen nervenschwachen Geisteskrüppel, dem er nie eine Bruce hätte geben sollen. Griffin, der unbehaglich dabei stand, versprach, die Wanddicke der Säulen um einen halben Zoll stärker zu machen, als ausbedungen war, und das beste Material nicht zu sparen. Und schließlich gab ich nach. Es war wahrhaftig nicht meine Brücke, und die Pfeiler, so wie sie jetzt werden, sind nicht meine Pfeiler. Ich war, nach drei Tagen des Streits, außer mir.

Nicht meine Pfeiler, sagte ich? Habe ich nicht mit diesen Pfeilern, die das Glück und das Unglück meines Lebens zu sein scheinen, einen Schatz erkauft, der mir noch heute über alle Brücken geht? Du verstehst das nicht, alter Junggeselle; es gehört deshalb nicht in Deinen Brief. Aber es will mir nicht aus dem Kopf seit einiger Zeit und kommt überall zum Vorschein, wo es nicht hingehört.

Griffin gefällt mir nicht halb so wohl als der alte Lavalette, obgleich er, als jüngerer Mann, zweimal so viel Tatkraft an den Tag legt. Auch der Guß, den er aus Middelsborough schickt, ist schlechter als der alte. Ich habe ihm vorige Woche sechs Säulen zurückschicken lassen, woraus ein heftiger Briefwechsel entstand. Doch was kümmern Dich diese Einzelheiten? Wenn Du in Deinem Werk aufgehst, wie ich in meiner Brücke, verlierst auch Du den Maßstab der Dinge und eine vernunftgemäße Perspektive. Schreibe mir ein wenig von Deiner Wolga, damit ich den richtigen Augpunkt wieder finde. Aus der Ferne sieht alles mehr aus, wie es wirklich ist, als in der Nähe, obgleich viele das Umgekehrte behaupten.

Etwas für Dich als Mechanikus! Seit etlichen Tagen versuchen wir ein neues System des Caissonversenkens, das einer unsrer jungen Assistenten erfunden hat und das uns viel Mühe und Zeit erspart. Statt Sand und Geröll im Grund des versinkenden Senkkastens wie bisher auszugraben und durch die Luftschachte mühsam heraufzuschaffen, haben wir auf einem Saugboot, wie wir es nennen, sechs große kesselartige Blechbehälter, die mittels einer Pumpe luftleer gemacht werden. Von diesen Behältern geht ein Schlauch in die Tiefe, der am Boden des Senkkastens mündet. Wird die Verbindung zwischen dem Behälter und dem Schlauch geöffnet, so saugt die Luftleere des Behälters Wasser, Sand und Steine mit furchtbarem Gebrüll herauf, so daß sich der Behälter in zehn Sekunden mit dem gewünschten Brei füllt. Man hat das Faß dann nur zu entleeren und es wieder luftleer zu pumpen, worauf es aufs neue bereit ist, seine zehn Zentner Geröll heraufzusaugen. Weder Bruce noch Griffin wollten an das Ding glauben, solange es nur auf dem Papier stand. Der Zeichner, der es erfand, ist der Sohn eines der sieben ertrunkenen Senkkastenarbeiter. Der junge Mann ließ mir keine Ruhe, und schließlich bequemte sich Griffin dazu, den Versuch zu machen. Jetzt bildet er sich wahrhaftig ein, er habe den Witz selbst erfunden, der übrigens das Glück des Jungen machen wird. Ich sorgte dafür, daß er sich die Sache patentieren ließ. Die Senkkästen, die ihn um den Vater gebracht haben, sind ihm eine kleine Vergütung schuldig.

Morgen kommt der erste der zweihundertfünfzig Fuß langen Gitterbalken auf seine volle Höhe. Die hydraulischen Hebevorrichtungen arbeiten jetzt musterhaft. Wir kommen mit den Riesenkasten täglich um fünfundzwanzig Fuß weiter, so daß er in vier Tagen seine schwindlige Höhe erreicht. In der Nähe sieht die Sache gruselig aus, in der Ferne, vom Ufer gesehen, wie ein Zauber, wie etwas, das im Traum geschieht; heimlich, still, wie von selbst. Man hört keinen Laut und hat, bei der Größe der Massen, alles Gefühl für Entfernungen verloren. Höher und höher steigt das Ding und ruht, wie schwebend, in der Luft, als ob Eisen kein Gewicht mehr hätte. Das sind Augenblicke, in denen man ein dummstolzes Gefühl nicht ganz unterdrücken kann – – noch mag, um Dir's ehrlich zu sagen. Man hat so viele geheime Sorgen nebenher, daß man sich Augenblicke solcher Illusionen nicht verderben darf. Seitdem uns vor einem Jahr der Erdboden unter den Füßen verschwand, traue ich dem morgigen Tag nicht mehr.

Meine Frau sagt, ich brauche wieder eine Erholungsreise. Ist Kumys gut für Nerven? Wie sieht es an der Wolga aus? Ich habe fast Lust, Dich in Samara aufzusuchen. Aber wie ich höre, bauen sie dort auch eine große Brücke.

Erzähle mir davon! Nein, schreibe mir und erzähle mir nichts von der Brücke.

Dein Stoß.

 

Ennobrücke, den 27. Februar 1877.

Freue Dich mit mir, Billy; es geht lustiger voran als je. Die jüngsten sechs Monate haben trotz des Winters Wunder getan. Gestern wurde der letzte der kleineren Gitterbalken auf seine Pfeilerschwellen festgebolzt. Im ganzen sind es siebenundsiebzig Stück, die jetzt, auf zierlichen Stelzen stehend, von Süden und Norden her gegen die Mitte der Bucht zwei ununterbrochene dunkle Linien ziehen. Von den großen zweihundertundfünfzig Fuß langen Balken lagern fünf auf ihrer schwindligen Höhe. Du weißt, sie müssen um fünfzehn Fuß höher gelegt werden als die andern. Der sechste wird seit einigen Tagen ins Blaue hinaufgepumpt und mit seinen Säulenbeinen versehen, die ihm während des Aufsteigens unter dem Leibe wachsen, der siebente liegt fertig am Ufer, bereit, sich auf die Seefahrt zu machen, zwei sind im Begriff, zusammengenietet zu werden, und nur von den letzten vieren ist noch nichts zu sehen. Aber trotzdem ist das Ende in Sicht, Billy! Unsre Brücke wird fertig, ehe das Jahr zu Ende geht. Es ist jetzt alles so hübsch organisiert, neue Probleme sind nicht mehr zu lösen, die Leute sind dermaßen eingeübt, daß ich nicht wüßte, woher eine ernstliche Störung noch kommen sollte. Griffin ist in wachsender Geschäftsaufregung, treibt und jagt jetzt an allen Enden und Ecken, so daß vieles etwas pünktlicher gemacht werden könnte. Aber man gewöhnt sich auch daran, leider.

Du solltest jetzt das Leben ringsumher sehen! Wie das von Ufer zu Ufer hämmert und klopft, stampft und plätschert, kracht und stöhnt und alles sich reckt und streckt, damit die zwei langen Brückenarme sich endlich die Hände reichen. Es sind fünfhundert Arbeiter auf beiden Ufern, vier Dampfer, zwölf Barken zu allen möglichen Zwecken. Kleine Boote ohne Zahl wimmeln unter den neunundsiebzig Pfeilern umher, von denen nur noch drei ihre Fundamente nicht über Wasser zeigen. Im Morgensonnenlicht, das mit der Flut die Bucht heraufströmt, macht all das ein herrliches Bild. Wir haben aber auch zehn Jahre lang daran gemalt mit Müh und Sorgen aller Art. –

Man ruft mich. In einer halben Stunde ist die Flut hoch genug, um den fertigen Gitterbalken auf den Rücken zu nehmen und an seine Stelle zu tragen. Ich muß diesmal dabei sein und schließe den Brief, wenn ich zurückkomme. –

* * *

Guter Gott, weiß ich noch immer nicht, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll? Ein entsetzliches Unglück hätte geschehen können, und ein großes Unglück ist geschehen. Nur eines ist tröstlich, es hat diesmal keine Menschenleben gekostet. Aber es wird Griffin eine runde Summe Geld und uns alle mindestens vier kostbare Wochen kosten. Bis morgen früh die großen Schleppbarken mit dem schweren Hebezeug von Pebbleton herübergeholt und die Taucher von Leith eingetroffen sind, kann nichts geschehen. So erhältst Du wieder eine lange Epistel mit einer hübschen Hiobspost. Das untätige Warten nach solchen Stunden ist das Schlimmste dran. – Aber warum hast Du auch einen Brückenbauer geheiratet? Du hättest Dir's zweimal überlegen sollen, denn Du kennst das Gewerbe.

Du weißt, was wir unsre Gitterbalken heißen: völlig fertige Stücke der großen Brücke, die wie eine entsetzlich lange viereckige Röhre aussehen und von einem Pfeiler zum andern reichen. Die, um die es sich gegenwärtig handelt, sind zweihundertundfünfzig Fuß lang, achtzehn Fuß breit und sechsunddreißig Fuß hoch, so daß ein ganzer Eisenbahnzug in ihrem Innern bequem Platz hat. Sie wiegen nahezu viertausend Zentner. Was das heißt, kann sich nur der vorstellen, dem das Röhrchen einmal auf die Zehen fällt; der nicht einmal.

Auch habe ich Dir einmal erzählt, wie dieses Spielzeug auf einer Art von Holzbrücke am Ufer aufgebaut wird, wie dann, wenn es fertig ist, an beiden Enden zwei Joch der Holzbrücke herausgenommen und an deren Stelle zwei kräftige Barken untergeschoben werden, die sich mit der steigenden Flut heben und den Balken schwimmend davontragen. Die Sache ist so einfach und geht so lautlos und sicher vor sich, als wäre es viel weniger als ein Kinderspiel. Gut. Dieses Manöver sollte heute zum dreiundsechzigstenmal ausgeführt werden, und ich wollte mitfahren, um die Steinpfeiler zu beobachten, wenn das fürchterliche Gewicht auf sie niedersinkt.

Als ich ans Ufer kam, waren die Barken schon unter dem Gitterbalken festgelegt, die mächtigen Schwellen und Holzklötze aber, die ihn tragen mußten, noch einen halben Fuß unter dem Eisenwerk. Langsam, fast unmerklich, stiegen sie empor wie der Zeiger eines Uhrwerks. Es war das Weltalluhrwerk, das man hier laufen sehen konnte. Die Schiffer der Boote, ein Dutzend Arbeiter und die Führer des Trupps warteten plaudernd auf das Steigen des Wassers, das in rauschenden Wellen vom Meer heraufkam. Das Wetter hatte sich plötzlich geändert. Ein frischer Wind jagte in leichten Stößen über die Wasserfläche, und im Osten stieg eine Mauer schwerer Wolken auf, die scharf gegen den blauen Himmel abstach.

Das Wetter bleibt nicht stad, sagte der Kapitän der Barke, auf der ich Platz nahm, ein alter Schiffer aus Pebbleton, zum Vormann der Brückenleute. Er erwartete und erhielt keine Antwort. Brummend hantierten die Leute mit den Seilen, welche die Barke festhielten, die etwas unruhig hin und her schwankte. Man warf den zwei kleinen Schraubendampfern schon die Schlepptaue zu. Alle Aufmerksamkeit war auf unsre Barke selbst gerichtet, die jetzt die Unterkante des Balkens berührte. Hier wurde noch ein mächtiger Holzkeil untergeschlagen, dort mit hastiger Anstrengung eine sich verschiebende Schwelle zurechtgerückt. Man hörte da und dort ein leichtes Knistern, ein dumpfes Knarren. Das Boot drückte jetzt gewaltig von unten. Die Bohlen der Holzbrücke, denen die Last allmählich abgenommen wurde, stöhnten auf. Es wurde ihnen mit jeder Minute leichter. Jetzt fiel ein Holzklotz, auf dem ein Teil des Gitterbalkens geruht hatte, polternd aus seiner Lage, jetzt am andern Ende ein zweiter. Die zwei Schleppdampfer zogen die ausgestreckten Taue sanft an, um ihre Länge genau zu regeln. Jetzt endlich regte sich der mächtige Gitterbalken mit einem leisen Ruck, und plötzlich schwebte er einen Zoll hoch über dem Lager, auf dem er entstanden war. Zwanzig Arbeiter warfen die Unterlagen über den Haufen, auf denen er entlang der Brücke geruht hatte. Man wartete noch zehn Minuten, dann schwankte er sechs Zoll über jedem festen Punkt der Plattform. Der Vormann kommandierte: »Seile los!«, und die zwei Dampfer zogen langsam und vorsichtig die Schlepptaue an.

Majestätisch segelte das wunderliche Doppelfahrzeug in den Strom hinaus: die zwei Barken, mit dem zweihundertundfünfzig Fuß langen Riesenbalken, der sie verband. Der Holzstaden, von dem wir abtrieben, befindet sich oberhalb der Brücke. Da die Strömung während der steigenden Flut landeinwärts zieht, läßt man die Barken in dieser Richtung hinauftreiben, um sie weiter oben über die Bucht wegzuschleppen. Dann erst wird der Balken langsam gedreht und in einer Stellung parallel zur Brücke dieser entgegengeschleppt. Das gewohnte, wenn auch noch immer etwas unbehagliche Manöver gelang wie früher immer, doch bemerkten wir jetzt erst, wie unruhig der Strom war. Je weiter wir gegen die Mitte der Bucht kamen, um so höher wurden die Wellen. Der blaue Himmel war verschwunden, ein pfeifender Wind kam vom Meer her, und da und dort zeigten sich die weißen Schaumkämme einer regelrechten See. Man fuhr natürlich immer mit der größten Vorsicht, so daß die Fahrt gewöhnlich dreißig bis sechsunddreißig Minuten dauerte. Die Arbeiter betrachteten sie als eine ihrer Lustbarkeiten und saßen gewöhnlich plaudernd auf dem Rand der Barken. Heute wurde einer nach dem andern still und sah nachdenklich über die windbewegte Fläche, auf der weiter unten schon stürmische Regengüsse hinfegten.

»Kein guter Tag für die Fahrt, Kapitän!« sagte ich zu dem alten Schiffer, der mit einem Seilende in der Hand starr nach dem letzten, kaum aus dem Wasser hervorragenden Pfeiler sah, dem wir zusteuerten. Ein weißer Wellenkranz, wie eine kleine Brandung, zeigte die Stelle deutlicher als gewöhnlich.

»Nein!« sagte er, sichtlich nicht geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Von Zeit zu Zeit spritzte jetzt etwas Wasser über Bord, denn die Boote gingen mit ihrer gewaltigen Last ziemlich tief. Manchmal traf eine Welle die Bootseite mit einem lauten, harten Schlag. Dann ging ein Zittern durch unsern Gitterbalken, von einem Boot zum andern, wie wenn man eine Saite berührt. Dazu heulte jetzt der Wind hörbar und brachte dicke Nebelwolken den Fluß herauf. Die Stimmung wurde unbehaglich.

»Können Sie schwimmen?« fragte ich unnötigerweise den knurrigen Alten, um etwas Leben in die Gesellschaft zu bringen. Es schien mir stets rätlich, bedenklichen Augenblicken wenigstens mit dem Schein von Humor entgegenzugehen, wenn man ihnen nicht mehr ausweichen kann. Ohne mich eines Blicks zu würdigen, ging der Mann nach dem Bug des Boots. Dort hingen zwei Rettungsgürtel. Er band den einen los und warf ihn mir zu. An Deutlichkeit ließ die Antwort nichts zu wünschen übrig. Ein paar Arbeiter lachten unbehaglich.

Unser Fahrzeug hatte noch nicht die Mitte des Stroms erreicht, der uns mit Gewalt von der Brücke ab nach oben trieb, was übrigens ganz im Plan des Manövers lag.

»Wir können wohl nicht zurück, Kapitän?« fragte ich nach einer langen Pause, in der man nichts als das Plätschern des Wassers, das Sausen des Windes und das regelmäßige Brausen der zwei Schleppdampfer hörte.

»Nein!« sagte der Mann.

»Der Transport des Balkens könnte ja ebensogut morgen ausgeführt werden, wenn die Bucht ruhiger ist,« meinte ich.

»Nein!« war die lakonische Antwort unter dem zerfetzten Matrosenhut. Dann machte er aus beiden hohlen Händen ein Sprachrohr und brüllte etwas in den Nebel hinaus, das man wohl an beiden Ufern hören, aber sicher, wie mir schien, nirgends verstehen konnte. Die Schlepptaue des linken Dampfers und unsers Bootes streckten sich mit einem Ruck, die des andern sanken lose gegen das Wasser. Der Gitterbalken schwenkte sich langsam quer über den Strom.

Dann erst wandte sich der Kapitän zu mir, gutmütig blinzelnd, als lägen nicht fünf Minuten zwischen meiner Bemerkung und seiner Antwort. »Seit wir wegfuhren, denke ich daran, Mister Harold« – die Leute nennen mich alle beim Vornamen, der ihnen mundgerechter zu sein scheint –, »aber es geht nicht. Keiner der Steuerleute ist darauf eingerichtet. Wie wollen Sie die vier Boote kommandieren, daß alles zusammenarbeitet? Das muß vorher verabredet sein. Wir würden die Brücke einstoßen oder sonst ein Unheil anrichten. Die Sache muß durchgeführt werden wie immer. Geht's, so geht's; geht's nicht –«

Damit war seine Beredsamkeit erschöpft. Der Gitterbalken stand jetzt parallel mit der Brücke, quer über den Fluß. Beide Dampfer zogen mit Macht gegen, die wütende Strömung, die uns entgegenbrauste. Am Bug unsrer Boote spritzten die Wellen jetzt beständig über Bord. Die Barken hoben und senkten sich in unruhiger Bewegung, die sich dem Balken mitteilte, der haushoch über seine Unterlagen emporragte. Da sich beide Boote jedoch nicht in gleichem Tempo bewegen wollten, so zitterten und knirschten die Unterlagen bösartig.

»Hierher, Leute!« schrie der Kapitän, »alle Mann nach vorn!« Sie gehorchten mit ungewohnter Behendigkeit. Wir näherten uns jetzt den Pfeilerinseln, auf denen ein halbes Dutzend Leute uns erwartete, förmlich eingehüllt in den weißen Gischt einer kleinen Brandung. Die Dampfer waren schon zwischen den Pfeilern durchgefahren und ließen die Schleppseile sinken. Jetzt erst, an den Pfeilerinseln als festen Punkten, sah man, wie unser gewaltiges Zwillingsfahrzeug schwankte und schaukelte. Es war grausig. Ich begann an Dich zu denken, Billy, und an die Kleinen.

Beim besten Willen kann ich nicht genau erzählen, was nun vor sich ging. Es war den Steuerleuten wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die genaue Mitte zwischen unsern zwei Pfeilern einzuhalten. Auch hatten die Schlepper uns nicht ganz parallel mit der Brücke herangezogen. Wir, mit unserm Balkenende, waren noch ein paar Fuß vom Pfeiler entfernt. Da kam ein furchtbarer Stoß von der andern Seite. Fünf, sechs Leute fielen zu Boden. Dann ein zweiter. Die Unterlagschwellen krachten und drehten sich, die dicken Seile, die den Balken aufrechthielten, knallten entzwei und flogen wie Peitschenschnüre durch die Luft. Am fernen Ende stieg die Bootspitze aus dem Wasser wie ein Pferd, das sich bäumt. Bei uns neigte sich der Gitterbalken nach hinten, langsam, unaufhaltsam; die Unterlagschwellen stürzten zermalmt in einen Holzstücke speienden Haufen übereinander, und dann war es zehn Sekunden lang ein Zischen und Tosen, ein Klatschen und Schlagen, ein Knirschen und Sausen, in dem man nicht wußte, ob man im Wasser oder auf dem Land, auf den Füßen oder auf dem Kopf stand. Und das Geschrei!

Als ich mich wieder mit einiger Besinnung umsehen konnte, stand ich neben dem alten Kapitän auf der Pfeilerinsel. Unser großer Gitterbalken war spurlos verschwunden, und der reißende Strom jagte drüber weg, da und dort noch ein wenig gurgelnd, als habe ihm der ungewohnte Bissen nicht übel geschmeckt.

Das Erstaunliche ist, daß nicht ein Mann verloren ging. Am andern Ende waren die meisten ins Wasser gesprungen. Da jedoch die Leute auf den Pfeilern zwei Kähne bei sich hatten, wurden sie ohne Schwierigkeit aufgefischt. Auf unsrer Seite gab es einen Beinbruch und ein paar zerbrochene Rippen, wofür wir Gott danken dürfen. Da alle unsre Leute sich an der Spitze des Boots befanden, konnten sie mit einem Sprung das rettende Inselufer erreichen und lachten schon wieder, wenn sie an das allgemeine Gehüpf und an die unglaublichen Sprünge dachten, die sie fertig gebracht hatten. Unser fast zertrümmertes Boot hing noch an den Schlepptauen des Dampfers, das andre war mit dem Gitterbalken untergegangen. Die Dampfer brachten die ganze Gesellschaft ohne Verzug ans Ufer. Es war mir nicht unangenehm, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, da es gleich darauf entsetzlich zu regnen begann.

Ein kleines Stoß- und Dankgebet hatte der versunkene Gitterbalken wohl jedem von uns ausgepreßt, vom stummen Kapitän an bis herunter zum zehnjährigen Bootsjungen, dessen kleine Zunge vor Aufregung nicht mehr zur Ruhe kam; jedem in seiner Sprache, und wunderliche Sprachen waren es teilweise. Aber der uns erhalten, versteht uns auch und verzeiht das Gestammel. Ernst war es allen.

Dann galt es zu arbeiten. Das ist das Gute in solchen Fällen: sie lassen uns keine Zeit, lange über verschüttete Milch nachzudenken. Zuerst wurden Telegramme an Deinen Papa und Griffin aufgegeben, die beide nicht übel geschimpft haben mögen. In sicherer Entfernung ist dies ja eine harmlose Form von Tröstung. Diesen folgte ein Telegramm nach Leith, um so schnell als tunlich zwei geübte Taucher hierher zu bekommen. Dann wurde einer der Schlepper mit einer Barke und zwanzig Mann nach Pebbleton geschickt, um alle Hebewerkzeuge, die im Lande aufzutreiben sind, zu holen. Sie nahmen gleichzeitig auch das zerbrochene Bein und die Rippen mit, welche sie im dortigen Hospital abzugeben haben. Die Verunglückten betrachten den Fall mit stoischer Ruhe und freuen sich auf ein paar Wochen ungestörter Erholungszeit. Es ist wahrhaftig eine Rasse aus Hartguß. Damit war geschehen, was für den Augenblick geschehen konnte, und Zeit gewonnen, Dir dieses Briefchen zu schreiben, das Dich hoffentlich freuen wird.

Es ist mittlerweile Abend und Ebbe geworden. Trotzdem sieht man nichts von unserm Balken. Dabei geht es mir vortrefflich. Ein solches Zwischenspiel, nach dem man weiß, wo und was anzupacken ist, sehe ich als Hochgenuß an gegenüber den schlaflosen Nächten, die uns eingebildete Sorgen bereiten. Du verstehst mich, aber sage niemand etwas davon. Dies muß unser Geheimnis bleiben.

Für immer
Dein Harold.

 

Pebbleton, den 23. September 1877.

Hipp hipp hurra! Ich bitte Dich, lieber Eyth, noch einmal: Hipp hipp hurra! Gestern ist die erste Lokomotive über unsre Brücke gefahren. Und wie!

Es war eine tolle Wirtschaft, diese letzten drei Monate. Man wollte mit Gewalt vor Anbruch des Winters das Werk, an dem wir nun fast acht Jahre arbeiten, fertig sehen, und die Gewalt hat gesiegt. Jeden packte schließlich dieses Eilfieber in unheimlicher Weise, und ich selbst war einer der Schlimmsten, obgleich eigentlich nur das Zusehen meines Amtes war. Allein die Telegramme des alten Bruce, der nicht müde wurde, die Hoffnung auszusprechen, daß er das Ende der Brücke noch erleben möge, das Herumstampfen und Schreien Griffins und seiner Leute, die – Gott sei's geklagt – unter dem Vorwand von Übereifer manches schlechte Stück Guß- oder Schmiedeeisen in den Bau hineingeschmuggelt haben mögen, steckten mich an. Ich schrie, stampfte und telegraphierte genau wie sie. Ehrlich gesagt, ich ließ mich gerne anstecken und arbeitete mit, als ob ich einer von Griffins jungen Leuten wäre, anstatt dazu da, sie zu beaufsichtigen. Es tat mir gut. Ich habe mich schon lange nicht mehr so vergnügt und sorgenfrei gefühlt. Selbst ein tüchtiger Herbstwind läßt mich seit einiger Zeit wieder ruhig schlafen. Ich glaube, ich war auf dem besten Wege, ernstlich krank zu werden, ehe diese Sturmwochen kamen. Fixe Ideen können Blut zersetzen. – Gestern also, um zehn Uhr vormittags, wurde die letzte Schiene auf die Brückenschwellen genagelt. Es war zwischen dem zweiunddreißigsten und dreiunddreißigsten Pfeiler in einem der langen Gitterbalken der Mittelbrücke. Wir alle, Griffin, ich und ein halbes Dutzend seiner Ingenieure und Werkführer, standen feierlich um die Schwellen herum, auf denen das letzte Verbindungsglied zwischen Süd und Norden ruht. Bruce hatte leider eine Erkältung im Leib und konnte nicht kommen. Der älteste Schienenleger auf dem Platz durfte die letzte Schraube durch die letzte Fischplatte stecken und anziehen. Ich hatte die Operation in den letzten Monaten wohl tausendmal mit angesehen, ohne etwas dabei zu denken, als daß sie etwas schneller ausgeführt werden könnte. Heute hatte ich den Eindruck, als ob der alte Kerl mir das Herz zusammenschraubte, schmerzhaft und wohlig zugleich. Griffin hatte für ein paar Flaschen Sekt gesorgt. Dies löste die Spannung ein wenig und stellte die übliche Feststimmung vor. Für die Arbeiter sollte sie erst am Abend beginnen.

Und nun komme ich an ein Kapitel, das Du leider nicht verstehst, das ich Dir aber trotzdem nicht vorenthalten kann. Sobald die Schiene festgeschraubt und das erforderliche mangelhafte Hurra ausgestoßen war, fuhren Griffin und ich auf einer Draisine nach Pebbleton hinüber, wo, wie wir angeordnet hatten, eine Lokomotive unter Dampf stand. Sie sollte mit uns ohne Verzug die erste Fahrt über die Brücke machen; dieser Genuß durfte uns nicht entgehen. Lustig pfiff sie uns entgegen, als wir in den Bahnhof einfuhren, setzte mich aber auch sofort in kein kleines Erstaunen, nicht weil ihr eine halbverbrannte Girlande um den Schornstein und ein Rosenkranz über die Sicherheitsventilhebel hing – das war einem poetischen Lokomotivführer, der auf ein glänzendes Trinkgeld rechnen konnte, zu verzeihen –, sondern weil neben dem Mann statt des Heizers eine Dame stand. Ich traute meinen Augen kaum. Es war Billy.

»Donnerwetter,« rief ich in meinem besten Brückenenglisch, »was tust du hier? Willst du herunterkommen, Schatz!«

»Donnerwetter, willst du heraufkommen!« sagt sie. »Wir haben hundertunddreißig Pfund Dampf und können nicht länger warten!«

Wir fochten einen Strauß! Griffin, der unsre Ehekämpfe nicht kannte, war in der größten Verlegenheit, während wir uns heftig beschimpften und liebevolle Blicke zuwarfen. Sie war vor einer Stunde expreß von London gekommen. Sie ist das eigensinnigste Geschöpf auf Gottes Erdboden, was ich besonders hochschätze. Man weiß im Verkehr mit ihr wenigstens immer, was man zu tun hat. Ich stellte ihr vor, daß sie vor Schwindel sterben würde, ehe wir auf dem Südufer ankämen. Ich sagte ihr, daß eine erste Fahrt über eine derartige Brücke meistens den Tod aller näher Beteiligten verschulde und daß ihr Gewicht die Katastrophe mit Bestimmtheit herbeiführen müsse. Statt aller Antwort fragte sie den Lokomotivführer, mit welchem Hebel man pfeife, und pfiff. Als ich sie an ihre unerzogenen Kinder erinnerte, fragte sie mich, ob ich Rabenvater genug sei, die auch noch zu verlangen. Ich sah, es half alles nichts. Wir stiegen deshalb auf, nahmen sie in die Mitte, setzten sie auf einen umgestürzten Kohlenkübel und fuhren ab.

Natürlich wurde langsam gefahren, sobald wir die Brücke erreichten, um die Gegend zu genießen, wie Du Dir denken kannst. Es war ein windiger, sonniger Herbstnachmittag; Land und Wasser strahlten von den Bergen im Westen bis hinaus gegen Osten, wo sich die offene See im wasserhellen Himmel widerspiegelt. Über den ersten Teil der Brücke, auf dem die Gitterbalken unter den Schienen liegen, sah die Fahrt toll genug aus, besonders da die Bohlung an der Seite des Geleises und das Handgeländer noch fehlen. Man schien turmhoch über dem Wasser zu hängen und die Maschine in der Luft hinzuziehen. Hier zog Billy doch vor, die Augen zu schließen, und wurde etwas bleich, so daß ich sie auslachen und ohne Widerstand küssen konnte. Die Rache war süß. Dann kamen wir auf die Mittelbrücke, wo die Maschine durch das Innere der Gitterbalken läuft. Hier fühlt man sich sicherer, obgleich das Gegenteil der Fall sein sollte. Wenn ein Teil der Brücke bedenklich ist, so ist es dieser. Auf Augenblicke vergaß ich hier meine Frau. Die Arbeit von zehn Jahren stand auf dem Spiel. Griffin und ich sahen uns an. Wir wußten beide, was wir dachten, ohne ein Wort zu sagen. Aber es war wirklich unmöglich, das leiseste Zittern der gewaltigen Gitterbalken zu fühlen. Allerdings: wir fuhren sehr langsam und vorsichtig. Nun kam man wieder ins Freie. Billy war jetzt an alles gewöhnt und sah sich keck um. Und als wir am andern Ufer zwischen den Granitobelisken durchfuhren, die das Ende der Brücke schmücken, und das hundertstimmige Hurra der Arbeiter die Maschine empfing und gleichzeitig die Bierfässer angerollt kamen und das Hurra sich verzehnfachte, da packte sie mich am Kopf und mißhandelte mich vor der versammelten Volksmenge in unverantwortlicher Weise.

Wie gesagt, Eyth, ich kann Dich nur bedauern, denn Du verstehst dies alles nicht. Aber ein stolzes Gefühl ist und bleibt es, mit bebendem Herzen über ein Werk von Jahrzehnten wegzufahren und zu fühlen, daß es steht, für alle Zeiten steht. So viel wirst Du begreifen, und das ist eigentlich alles, was ich Dir erzählen wollte.

Die offizielle Prüfung, bei der sechs schwere Lokomotiven auf jeden Gitterbalken gestellt werden, wird wohl erst in vier Wochen stattfinden. Ich habe jetzt nicht mehr die geringste Sorge und lache mit Sir William in die Wette, wenn der alte Jenkins seine langen Gesichter schneidet. Was die Bruchfestigkeit betrifft, so ist absolut nichts mehr zu befürchten.

Die eigentliche Eröffnung der Brücke soll dann nach weiteren drei Monaten feierlich vorgenommen werden. Man will während des Winters nur Güterzüge über dieselbe leiten, damit das arme Publikum sich an die Sache gewöhnt. Es gibt nämlich heute noch auf beiden Seilen der Bucht ängstliche Gemüter genug, die der Brücke nicht trauen, obgleich sie Billy persönlich geprüft und gut befunden hat.

Und was denkst Du jetzt dazu?

Es war mir im Lauf der letzten Jahre manchmal ein Trost, lieber Freund, Dir mein sorgenschweres Herz auszuschütten. Ich bestehe deshalb darauf, daß Du als stiller Sorgenteilhaber bei dem Eröffnungsfest nicht fehlst. Unser wackerer Schindler, Doktor und Professor des Englischen und Französischen, hat bereits zugesagt und wird sicherlich eine Festrede in gemischter Sprache zum besten geben. Auch Billy erwartet Dich und ist gewöhnt, ihren Willen respektiert zu sehen. Solltest Du zurzeit in Hindostan oder Mexiko beschäftigt sein, so treffe rechtzeitig in Pebbleton ein. Weniger können wir wahrhaftig nicht verlangen. In alter Freundschaft Dein

Stoß, Brückenbauer z. D.


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