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I.
Lieber H.H.E.! Haben Sie mal daran gedacht, die Fortsetzung des »Geistersehers« zu schreiben? Natürlich in Ihrer Art! Sie sollten es tun – Sie sind der einzige, der das kann.
Herzlichst!
Ihr
7. XI. 1909 H. Conrad.
Berlin.
II.
Dem Andenken
Heinrich Conrads
des
fetten Caesar.
16.VI.1921, Hans Heinz Ewers
Venedig
Als durch irgendeine Indiskretion die Öffentlichkeit Wind davon bekam, daß ich mich damit beschäftigte, Schillers Fragment »Der Geisterseher« zu Ende zu schreiben, ging ein Sturm der Entrüstung durch die deutsche Presse. Das »Berliner Tageblatt«, das die Nachricht zuerst brachte, meinte, »daß man nun endlich wisse, wer den Einbruch in die Weimarer Fürstengruft begangen habe.« Von rechts und von links, wie aus der Mitte wurde ich in gleicher Weise beschimpft; es war das allererste Mal, daß ich die Presse aller Parteien völlig einig sah. Ein konservativ-antisemitisches Blatt nannte mich »einen perversen Judenjungen, dessen widerlicher Reklamesucht nichts heilig sei«, eine unabhängig-sozialistische Wochenzeitschrift beschimpfte mich als einen »pornographischen Nichtskönner, der stets nur mit fremden Federn prunke«, ein Zentrumsblatt meinte, daß es sich vermutlich »um den kindischen Versuch eines talentlosen Maulhelden handle, gegen die Jesuiten Stimmung zu machen.«
Ich war ein Verbrecher – einstimmig verurteilt von allem, was öffentliche Meinung macht in deutschen Landen. Verurteilt dabei, ohne daß auch nur einer der Herren Richter eine einzige Zeile des inkriminierten Schandwerkes gelesen hatte! Was hatte ich getan? Das Fragment eines Dichters, so gut ichs konnte, zu Ende geschrieben. Nun, das ist hundertmal geschehen, und nie ist es einem Menschen eingefallen, das allergeringste dabei zu finden. Man kritisierte die Arbeit, fand sie gut oder schlecht – aber nie hat man einen Schriftsteller lediglich darum beschimpft, weil er sich an eine solche Arbeit heranmachte!
Warum also die erstaunliche Entrüstung in meinem Falle?
Offen gestanden: ich weiß es nicht! Ich habe eine Menge Zeitungsleute gefragt – und sie wußten es auch nicht. Nur einer vom Bau, ein alter Landsknecht, der unter sechs Pseudonymen schreibt und seine spitze Feder jedem verkauft, der sie bezahlt, gab mir einigermaßen Auskunft:
»Unsere Presse ist masochistisch geworden«, sagte er, »wie unser Volk! Wir berauschen uns daran, uns selbst zu zerfleischen, können uns nicht genug daran tun, uns selbst Schmerzen zuzufügen! Je mehr wir kriechen, je würdeloser wir uns benehmen, um so wohler fühlen wir uns – wir betteln geradezu um Fußtritte! Wir bespeien alles Gute, das wir selbst schaffen, und loben jeden letzten Dreck, der vom Auslande kommt – das nennen wir dann: kosmopolitisch empfinden. Und dagegen haben Sie immer wieder verstoßen. Sie haben kosmopolitisch gelebt und dennoch oft genug gegen das Ausland und für Ihr eigenes Volk Stellung genommen – das gilt in tiefstem Sinne als undeutsch in unserer Zeit. Dazu kommt, daß Sie Erfolg haben – und das wird Ihnen kein Schmok je verzeihen. – Die Presse hat vollkommen recht: wenn einer es heute wert ist, mit Schmutz beworfen zu werden, dann sind Sie es!«
Ich glaube beinahe, der Mann hat recht! Ich habe freilich heute ein Publikum, das meine Bücher liest – aber ich habe keine einzige Zeitung, die etwas drucken würde, wenn ich gerade einmal etwas zu sagen hätte; keine Zeitschrift, die es wagen würde, meine Geschichten zu bringen; kein Theater, das es riskieren möchte, meine Stücke zu spielen; sogar bei den beliebten Rundfragen verschont man mich.
Wäre ich ein Engländer oder ein Franzose, ein Italiener, ein Amerikaner, die Blätter und Theater würden sich um mich reißen – bei uns aber gilt es als Odium, Erfolg zu haben, wie es ein Odium ist, ein Deutscher zu sein! Es gibt einen großen deutschen Dichter, dem seit vielen Jahren nichts mehr glücken will. Jeden großen Wurf von ihm griff man maßlos an; aber einmütig lobt nun die gesamte Presse seine oft kindlich schwachen Elaborate, seit man weiß, daß er doch unter keinen Umständen mehr Erfolg haben kann. Auf der anderen Seite kenne ich einen sehr geschickten Theatermacher, der nach anfänglichen Erfolgen von der Presse durch manche Jahre völlig tot gemacht wurde. Er schrieb heuer ein neues Stück, ließ es aber nicht unter seinem Namen laufen, sondern wählte als Pseudonym einen spanischen Namen. Die Folge? Dieselben Kritiker, die ihn seit Jahren heruntermachten, schrieben lange Lobestiraden über das unerhörte Talent des Spaniers – und alle deutschen Bühnen erwarben das Stück!
*
Ich bin ein Dichter und kein Prophet. Wie die Welt ist, nehme ich sie; versuche nicht, sie zu ändern. Ich bin »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt« – und vielleicht dazu, das Geschaute niederzuschreiben. Und ich bilde mir ein, gute Augen zu haben.
Ich beklage mich nicht. In dieser besten aller Welten besteht nun einmal ein jedes Wesen nur dadurch eine Zeitlang, daß es andere Wesen auffrißt. Wie darf ich da verlangen, höchst ungeschoren durchs Leben zu gehn? Ich nehme an, daß ein jeder das Recht hat, mich nach Herzenslust mit Kot zu bewerfen, meine lieben Landsleute insbesondere.
Aber darum muß ich doch meinen Weg weitergehen. Und wenn die liebe Presse mich schon zum Verbrecher erklärte, weil ich dies Buch schrieb und mich sicher zum Giftmischer und Muttermörder stempeln wird, wenn ichs veröffentliche – so will ichs dennoch herausgeben.
*
Zu Schillers Zeiten war das anders. Wer hat ihm je einen Vorwurf gemacht, daß seine Turandot nur eine Bearbeitung ist? Kleists Amphitrion, der eine Übersetzung des von Molière ist (der nimmt wieder von Plauton), läuft nur mit Kleists Namen – wer kümmert sich darum? Ich aber, schreibt die Presse, breche in Grüfte ein und bestehle die Toten.
Dennoch, meine ich, habe ich Schiller gelassen, was Schillern ist; habe nie daran gedacht, ihn irgendwie zu »bearbeiten«. Die ganz geringfügigen Textänderungen, die ich vorgenommen habe, müssen, bilde ich mir ein, ihm nützen, da sie das Lesen seines Romanes dem heutigen Leser erleichtern. Es sind folgende:
Schillers Personen heißen: der Prinz von **, der Graf von O**, der Baron von F**, der Junker von Z**, der Kardinal von A** usw. Sie stammen aus K** oder aus **d**, gehen in die **kirche oder das **kloster. Schiller empfand wohl selbst, wie ermüdend das auf die Dauer wirkt, er gab daher dem zum Schluß seines Fragments auftretenden Marchese bereits einen ehrlichen Namen: Civitella. – Ich habe nun allen Personen Namen gegeben, wie auch den Ländern, Städten und Kirchen. Ich habe ferner einige wenige altfränkische Worte, die dem Leser von heute nicht mehr geläufig sind, geändert. So schreibe ich Quecksilber (statt »lebendiger Merkur«), Gebüsch (statt »Bocage«), Versammlung (statt »assemblé«), Spieler (statt »Pointeur«), Andenken (statt »Denkmal«), äußerster Schritt (statt »Extremität«), Beamte (statt »Officianten«) usw.
Das sind alle meine Änderungen! Ich zweifle demnach keinen Augenblick, daß mir mehr wie ein Kritikus vorwerfen wird, »ich hätte Schillers Text auf das schamloseste vergewaltigt.«
*
Warum hat Schiller seinen »Geisterseher« nicht selbst beendet? Jeder Literarhistoriker hat dafür eine andere Mutmaßung. Ich denke, es ist müßig darüber zu streiten – er hat es nun einmal nicht getan! Wenn nun ein anderer – wenn ich an diese Arbeit ging, so mußte es im Schillerschen Sinne geschehen. Und das habe ich versucht.
Jedem, der Schiller kennt und liebt, sollte der »Geisterseher« aus dem besonderen Grunde interessant sein, weil er mehr als irgendein anderes Werk einen Hauptzug des Bewußtseins des Dichters zeigt: den kriminalistischen Zug. Zum »Pitaval«, der deutschen Ausgabe der berühmten Sammlung merkwürdiger Verbrechen, schrieb Schiller eine Vorrede, in der er den engen Zusammenhang zwischen Drama und Verbrechen erörtert. Niemals hat ein anderer Dichter solch abgefeimte Schurken auf die Bühne gestellt wie Schiller, Kerle, die wie Geßler, Franz Moor, Leicester, Wurm sich nur wohl fühlen im Bösen und das Schlechte um des Schlechten willen tun. Mehr wie irgendein anderer Dichter hat – von den Räubern bis zum Demetrius – das »Verbrechen« den Künstler Schiller angereizt.
Auch der »Geisterseher« ist die Geschichte eines Verbrechens – aber dieses »Verbrechen« nennt Schiller nicht, deutet es nur sehr vage an. Um sein Fragment zu beenden, mußte dies Verbrechen entschleiert, mußte es in den Mittelpunkt der Handlung gestellt werden. Nun aber ist uns nicht ein Sterbenswörtchen überliefert, wie Schiller sich das Verbrechen, eigentlich gedacht hat, und die Herrn Literarhistoriker haben sich wohl gehütet, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es ist überhaupt erstaunlich, welch haarsträubenden Unsinn diese Herren über Schillers Fragment zusammengefaselt haben und wie oberflächlich sie es oft getan haben! So schreibt beispielsweise Boxberger, der die große Schillerausgabe des Groteschen Verlages besorgt hat: »Der lüderliche Marchese Civitella ist wie sein Onkel, der Kardinal, eine Kreatur der Jesuiten. – Eine andere feile Kreatur der Jesuiten wird dem Prinzen in den Weg geworfen: er geht in das Netz der schönen Griechin. Aus Eifersucht ersticht er ihren Geliebten, den von den Jesuiten geopferten Civitella. Die Griechin stirbt vor Schmerz; er hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen, eine furchtbare Schuldenlast erdrückt ihn – er ist reif zum Übertritt. Er ist ein willenloses Werkzeug der Jesuiten geworden usw.!« – So liest ein Universitätsprofessor seinen Schiller. Keine Silbe davon steht in Schillers Fragment! Civitella ist ebensowenig wie sein Onkel ein »Kreatur der Jesuiten«; beide läßt Schiller vielmehr den »Bucintoro« angehören, den er deutlich als einen Zirkel des Illimunatenordens charakterisiert – als eine Verbindung also, die die Gesellschaft Jesu bekämpft! Nirgends ist bei Schiller der Prinz auf Civitella eifersüchtig – auch tötet er ihn keineswegs; vielmehr läßt Schiller den Marchese Civitella ausdrücklich genesen. Auch stirbt die »Griechin« – die bei Schiller eine Deutsche ist – keineswegs an Schmerz, sondern an Gift, und bei ihrem Tode ist der Prinz noch keineswegs »reif zum Übertritte zur katholischen Kirche«, er wehrt sich vielmehr mit aller Kraft dagegen! Der Herr Professor schwatzt eben seinen Unsinn einfach drauf los!
Die Literaturgeschichte gab mir also keinen kleinsten Fingerzeig, welchen Weg ich gehen könne – es blieb mir nur die eine Möglichkeit, aus Schillers Hirn selbst zu schöpfen. Nun gibt es bei jedem Künstler Dinge, die sich wiederholen. Leitmotive, gewisse Farbenzusammenstellungen, besondere Vorliebe für ein bestimmtes Sujet, bestimmte Gedankenvorgänge, technische Hilfsmittel oder was es sei. Schiller z.B. verwendet, gewiß unbewußt, mit großer Vorliebe das technische Hilfsmittel des Briefes. Gleich in den Räubern finden wir zwei solcher für die Handlung maßgebenden Briefe, den, der Karl zum Räuber macht, und den andern, der den alten Grafen Moor vernichten soll. In »Kabale und Liebe« ist es der Brief, der Luisen abgezwungen wird, der zum Konflikt führt; im »Don Carlos« der Brief, den die Eboli erwischt. Der Brief, der dem ehrgeizigen Butler den Grafentitel versagt, ist der Grund zu Wallensteins Untergang; in »Maria Stuart« ist es der Königin Brief an Leicester, der Elisabeths Haß aufstachelt. Im »Gestürzten Günstling«, wie auch im »Geisterseher« selbst spielen wieder Briefe – hier die gehässigen Briefe des Hofes an den Prinzen – eine große Rolle. Ist Schiller also das technische Hilfsmittel des Briefes außerordentlich geläufig, so treffen wir bei ihm das Leitmotiv des »geraubten oder gemordeten Kindes« nicht weniger oft an. In »Die Kinder des Hauses» läßt Narbonne die Kinder seines Bruders, die zwischen ihm und der Erbschaft stehen, verschwinden. Im »Warbeck« handelt es sich darum, ob der Held eines der Kinder Edwards ist, das den Händen der Mörder entging – genau dasselbe Motiv finden wir im Demetrius'. Ist der Zarevitch als Kind im Feuer umgekommen oder nicht? Und wir finden dasselbe Motiv endlich in der »Braut von Messina« wieder.
Nun ist es gar keine Frage, daß Schiller auch im »Geisterseher« dieses Motiv angeschnitten hat, wenn auch kein Herr Literarhistoriker die Nase dazu hatte, das herauszuschnüffeln. Zu Beginn des Romans wird der Prinz als dritter Agnat des Thrones eingeführt: Zwischen ihm und der Krone steht ein Vetter, der Erbprinz, und ein alter, kinderloser, kränklicher Oheim. Der Erbprinz stirbt auf den ersten Seiten, auch er ist kinderlos; also hätte nun unser Prinz alle Aussicht, auf legitime Weise zur Herrschaft zu kommen. Dann aber finden wir plötzlich, scheinbar ohne Zusammenhang, die Bemerkung des Barons: »Über die Familienverhältnisse an unserem Hofe sind wir bisher in einem großen Irrtume gewesen.«
In diesem Satze allein und in der kleinen Bemerkung des Grafen über den Prinzen: »Er wäre gewiß eine Zierde des Thrones geworden, den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ«, darf man den Schlüssel zu dem ungeschriebenen zweiten Teile des Romans suchen.
Durch ein Verbrechen? Also der Prinz wird zum Verbrecher; aber zum Edelverbrecher, der wiederum eine ganz besondere Vorliebe Schillers ist und den wir sowohl im »Karl Moor«, wie im »Verbrecher aus verlorener Ehre« wiederfinden.
Welcher Art nun war des Prinzen »Verbrechen«? Die Intrigen, die Schiller um den Prinzen spinnen läßt, haben alle den Zweck, in diesem Lust zum Herrscher zu erwecken; das gelingt. Zwischen seinem endlich erwachten Ehrgeiz nach dem Throne und diesem selbst steht nur ein alter kränklicher Oheim, dessen Ableben man bald erwartet – ihm also kann das »Verbrechen« nicht gelten. Aber: »Über die Familienverhältnisse an unserem Hofe sind wir bisher in einem großen Irrtume gewesen!« schreibt der Baron. Das kann nur einen Sinn haben, wenn ein weiterer Erbe da ist, der sich zwischen den Prinzen und den Thron drängt. Wer aber kann das sein? Bei Schillers fast zwangsmäßigem Schaffen ganz gewiß niemand anders, als ein kleiner Sohn des eben verstorbenen, vielleicht heimlich vermählten Erbprinzen. Und dieses Hindernis wegzuräumen wäre in der Tat ein Verbrechen – ein Verbrechen dazu, wie es Schillers Phantasie immer wieder beschäftigt hat. Er hat es in französischem (»Kinder des Hauses«), englischem (»Warbeck«), russischem (»Demetrius«) Gewande behandelt – im zweiten Teile des »Geistersehers« hätte er dies Verbrechen auf deutschem Boden gezeigt.
Denn nur in Deutschland, an dem Hofe des Prinzen, konnte sich die Intrige weiterspinnen; nur dort, nicht in Venedig, konnte das ausgeführt werden, was Schiller angedeutet hat. Die Anregungen also, die mich bei der Vollendung des »Geistersehers« geleitet haben, habe ich nur Schiller selbst zu verdanken; kleine Funken nur, die dennoch hell genug leuchteten, mir den Weg zu zeigen.
*
Ein Wort noch: es ist erstaunlich, wie modern dieser Schiller wirkt! Vergißt man ein wenig die Zierdegen und gepuderten Zöpfe, so glaubt man sich mitten in unsere Zeit versetzt. Dieselben Abrakadabraritter damals wie heute, dieselben Wundertäter und Seligmacher in allen Farben, dieselben phantastischen Gesellschaften und Orden, die sich untereinander grimmig bekämpfen. Ob die Führer es ehrlich meinen, oder Betrüger sind – oder auch, wie die meisten, beides in einer Person – ob sie Schröpfer und Stark, Cagliostro, Dr. Mesmer, Gaßner heißen, ob sie Illuminaten oder Rosenkreuzer sich nennen, oder, wie heute, Okkultisten, Spiritisten, christliche Wissenschaftler, Theosophen, Anthroposophen und was alles: damals wie heute wimmelt es von Geistersehern aller Farben in allen Städten und Landen. Freilich, einen so genialen Kerl, wie ihn Schiller in seinem »Armenier« schuf, wird man gewiß nicht auf allen Gassen treffen!
Warschau 26. XI. 1921
Hanns Heinz Ewers.