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Die Reise des Grafen Osten, dem sich im letzten Augenblicke auf Wunsch des Prinzen noch der Kammerjunker von Zedtwitz anschloß, verlief nicht ohne Zwischenfall. Zunächst ging freilich alles vorschriftsmäßig. Man fuhr mit dem Schiff über die Lagune hinüber nach Fusina, von dort den Brentakanal hinauf nach Mira. Man verließ das Schiff; fuhr nach Padua, um hier die Post nach Trient zu nehmen. Die Reisegesellschaft war eine sehr kleine, meist Reisende, die nur kurze Strecken mitfuhren. Erst in Bassano schloß sich ihnen ein französischer Abbè an, dessen Weg auch über die Alpen ging.
Dieser Abbè hatte eine sehr große Anzahl von Gepäckstücken, um die er sehr besorgt tat. Er erzählte, daß ihm sein Bedienter am Abende vorher entlaufen sei, so daß er nun niemanden mehr habe, der auf seine Kisten und Kasten aufpassen könne. Graf Osten schlug ihm vor, die Obhut seinem Jäger Hagemeister anzuvertrauen, ein Anerbieten, das der Abbè mit großer Dankbarkeit annahm. Während eines Pferdewechsels in Borgo überzählte der Abbè wieder einmal seine Gepäckstücke und stellte fest, daß ihm eine Handtasche fehlte. Man durchsuchte alles – vergebens. Hagemeister erklärte mit Bestimmtheit, daß er diese Tasche noch vor einer halben Stunden gesehen habe; sie müsse ihm während dieser Zeit von einem geschickten Diebe unter seinen Augen gestohlen worden sein. Der Abbè sprach endlich die Vermutung aus, daß sie vielleicht vom Verdeck der Kutsche heruntergefallen sei – der Jäger erklärte das für völlig unmöglich, da er alles Gepäck mit guten Stricken festgebunden habe. Dennoch hieß ihn der Graf ein Pferd satteln und befahl ihm, zurückzureiten, um den Weg gründlich abzusuchen.
Da man schon mit der Mahlzeit fertig war, so beschlossen Graf Osten und Zedtwitz, derweil einen kleinen Spaziergang durch den Ort zu machen, sie luden den Abbè hierzu ein, der sich jedoch mit Müdigkeit entschuldigte und sich anheischig machte, auf das Gepäck aufzupassen. Als die beiden zurückkamen, fanden sie den Jäger schon vor, er hatte zur großen Freude des Abbè die Tasche unweit des Ortes in einem Gebüsch am Weg gefunden. Ihr Inhalt war unversehrt.
In Trient übernachtete man. Der Graf fand keinen rechten Schlaf; er stand also auf und ging auf den mondscheinbeleuchteten Balkon. Dort fand er den jungen Zedtwitz, der das anliegende Zimmer bewohnte, das auf denselben Balkon führte. Die beiden hatten im Laufe der Reise die Abenteuer des Prinzen während dieses Jahres lange besprochen; Zedtwitz erklärte, daß er keine Ruhe im Bett gefunden habe, da es ihn stets zwänge, über einige Vorkommnisse nachzudenken, die ihm unerklärlich schienen. Man setzte also diese Unterhaltung fort. Da man sich irgendeines Punktes nicht genau erinnern konnte, so nahm der Graf aus seinem Handkoffer seine Schreibmappe, in der er sein Manuskript, soweit es niedergeschrieben war, aufbewahrte; Zedtwitz holte derweil ein paar Leuchter und steckte die Kerzen an. Sowie der Graf das Manuskript herausnahm, stutzte er. Er erinnerte sich bestimmt, die einzelnen Seiten paginiert und sorgfältig der Reihe nach geordnet zu haben. Er hatte ferner das Manuskript in Seidenpapier geschlagen und mit einer Goldschnur umbunden. Diesen Handkoffer hatte er erst am Abend geöffnet; die Schreibmappe selbst seit der Abreise von Venedig nicht wieder in der Hand gehabt. Er fand nun das Manuskript in völliger Unordnung; es fehlte zwar nichts, doch lagen alle Seiten durcheinander. Das Einschlagepapier lag daneben, die Schnur fehlte. Es machte den Eindruck, als ob jemand das Manuskript gelesen habe, dabei gestört worden sei und dann in aller Eile die Blätter in die Schreibmappe zurückgegeben habe.
Die beiden überlegten, wer dies wohl gewesen sein könnte. Die Möglichkeit hierzu hatte zweifellos der Jäger gehabt. Aber Zedtwitz kannte Hagemeister nun schon seit manchen Jahren und schwor auf dessen Zuverlässigkeit; auch war es augenscheinlich, daß man ihn gerade wegen seiner treuen Anhänglichkeit an den Prinzen mit Gewalt aus dessen Dienst entfernt hatte. Dazu kam, daß der Bremer trotz seiner starken, natürlichen Intelligenz eine recht geringe Schulbildung besaß; er konnte zwar zur Not schreiben und sein eignes Geschreibsel und einiges andere lesen, um aber eine so umfangreiche Handschrift entziffern zu können, hätte er lange Tage in ruhiger Arbeit benötigt. Zedtwitz sprach dann seinen Verdacht aus, daß vielleicht der Abbè der neugierige Leser sein könnte – die Gelegenheit dazu hatte er reichlich während des Aufenthalts in Borgo – verdächtig genug erschien die Tatsache, wie er den Jäger veranlaßte, von dem Gepäck wegzugehn, um nach der verlorenen – oder vielleicht auch nur angeblich verlorenen – Tasche zu suchen.
Man hatte mit dem Abbè bisher nur französisch gesprochen; wenn dieser aber das Manuskript gelesen hatte, so mußte er sehr gut deutsch verstehn. Die beiden nahmen also im weiteren Verlauf der Reise des öfteren Gelegenheit, dem Reisegefährten eine Falle zu legen; sie sprachen ihn, scheinbar ganz unabsichtlich, plötzlich auf deutsch an, in der Hoffnung, daß er sich verraten möchte. Aber sie kamen bald zu der festen Überzeugung, daß der Abbè auch nicht ein einziges Wort deutsch verstehe. Im übrigen verließ er sie bereits in Brixen; Hagemeister war froh, der Obhut über sein Gepäck enthoben zu sein.
Sie hatten dann in der Folge einige Verzögerungen, da sie die regelmäßige Post nicht bekommen konnten; so kamen sie mit einiger Verspätung in München an, wo sie eine Zeitlang in der »Rose« am Rindermarkt verweilten, um Nachricht von Venedig abzuwarten. In der Tat traf schon nach wenigen Tagen ein reitender Kurier ein, der dem Grafen ein Handschreiben des Prinzen sowie einen Brief des Freiherrn von Freihardt überbrachte. Der Prinz dankte dem Grafen Osten nochmals für seine Anhänglichkeit; er bat in großer Herzlichkeit, ihm seine vermeintlich kühle Abweisung in Venedig zu verzeihen und sprach die Hoffnung aus, daß sich die alte Freundschaft recht bald erneuern würde. Dem Briefe des Barons war eine Anweisung an einen Münchener Kaufherrn beigefügt, der für den Grafen eine recht bedeutende Summe zur Verfügung hatte, die dieser nach Belieben im Interesse des Prinzen verwenden möge. Der Baron fügte hinzu, daß der Haushalt nahezu aufgelöst sei, daß die Vorbereitungen zur Abreise getroffen seien, und daß man in spätestens einer Woche, und zwar über Wien reisen würde. Graf Osten möge sofort weiterfahren, die beiden Briefe des Prinzen an dessen Oheim und Schwester abgeben und dann in der Residenz oder deren Nähe ein geräumiges Quartier auswählen und einrichten lassen das zu einer Hofhaltung in nicht zu kleinem Stile passend erschiene. Freihardt machte in dieser Beziehung auf mehrere Gebäude aufmerksam, die vielleicht geeignet seien.
Der Baron fügt hinzu, daß ganz augenscheinlich in der letzten Zeit Prinz Alexander keine Besuche des Armeniers mehr empfangen habe. Marchese Civitella, der seine Nachforschungen insgeheim weiter fortsetze, habe zwar über dessen Persönlichkeit noch immer nichts Näheres feststellen können, doch mit ziemlicher Sicherheit ermittelt, daß er von Venedig abgereist sei. Der Prinz habe Civitella des öfteren empfangen und sei das beiderseitige Vernehmen zu seiner großen Freude ein sehr herzliches. Mit ihm, Freihardt, habe Prinz Alexander einige längere Unterhaltungen gehabt, die sich alle um seine Hoffnungen und Pläne drehten. Neu sei dabei nur der eine Umstand, daß Prinz Alexander gewiß sei, seine Veronika in Deutschland wiederzusehen. Seine Liebe zu dieser Frau sei keineswegs geringer geworden durch die wilde Komödie, die sie ihm vorgespielt hatte – im Gegenteil sei der Prinz von der großen Willensstärke und leidenschaftlichen Hingabe für einen großen Gedanken, die Veronika dabei bewies – in noch viel höherem Grade von ihr eingenommen. Freilich sei es gewiß, daß diese Liebe ihn nicht mehr wie früher allein ausfülle – der Gedanke an seine Mission nehme immer mehr Besitz von ihm. Aber gerade hierbei glaube der Prinz in der Dame von Murano eine kräftigste Hilfe zu finden: So seien in seiner Brust seine Liebe und der Wille zur Krone zu einer großen Sehnsucht zusammengeschmolzen.
Graf Osten hatte eben die beiden Briefe zu Ende gelesen, als Zedtwitz aufgeregt in sein Zimmer stürzte.
»Ich habe ihn gesehn!« rief er. »Er ist soeben abgefahren!«
»Wer ist abgefahren?« fragte der Graf.
Der Junker erzählte, daß er durch den Hof des Gasthauses gegangen sei und müßig den eben abfahrenden Reisenden zugeschaut habe. Eine große Kutsche habe reisefertig dagestanden, die Pferde angeschirrt, der Kutscher auf dem Bock, der Vorreiter im Sattel, zwei Jäger am Schlage. Da sei ein Herr in der Tracht eines sächsischen Dragoneroffiziers eilig über den Hof gekommen und in die Kutsche gesprungen. Er habe ihn trotz der Verkleidung gut erkannt – es sei niemand anderes gewesen als der französische Abbè! In deutscher Sprache habe er dem Kutscher zugerufen, loszufahren – die Kutsche sei aus dem Hofe gerollt.
»Vielleicht irren Sie!« zweifelte der Graf.
Aber Zedtwitz blieb dabei, daß es der Abbè gewesen sei und kein anderer. Er habe sich im Gasthof erkundigt; als Reiseziel hätte einer der Bedienten Ulm angegeben.
Graf Osten führte die ihm von dem Prinzen gegebenen Aufträge gewissenhaft aus. Er gab seinen Brief ab; mietete dann in der Residenz ein geräumiges Palais, dessen Besitzer vor kurzem gestorben war. Das hübsche Schloß war dicht vor der Stadt gelegen und von wohlgepflegten Gärten umgeben. Einen großen Teil der Einrichtung, auch der Dienerschaft konnte der Graf sofort mit übernehmen; in den nächsten Wochen beschäftigte er sich damit, mit Hilfe des Junkers alles noch Fehlende anzuschaffen. Graf Osten selbst bezog ein Landhaus, das dicht bei dem Park gelegen war und ebenfalls zu dem Besitzstand gehörte.
Man war eben mit der Einrichtung völlig fertig, als das Eintreffen des Prinzen Alexander gemeldet wurde. Der Prinz kam, mit ihm Freihardt und wenige Diener; das neue Heim wurde sogleich bezogen.
*
Bereits am nächsten Tage machte der Prinz bei Hofe seine Aufwartung; er wurde ebensowenig von dem Herzog empfangen wie Graf Osten. Der Grund wurde ihm durch den Hofmarschall offen mitgeteilt: sein Übertritt zur katholischen Kirche. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, er möge nicht erwarten, daß der Hof auch nur das geringste zu seinem Unterhalt beitragen würde. Nur für den Fall, daß er sich verpflichten würde, an einem Orte, den man ihm anweisen würde, still und ruhig zu leben, würde ihm eine bescheidene Rente ausgesetzt werden.
Prinz Alexander nahm diesen Bescheid lächelnd auf; er hatte ihn augenscheinlich erwartet. Der Kampf zwischen dem Hof und dem prinzlichen Schloß begann sofort; und es zeigte sich jetzt, was der Prinz gemeint hatte, als er sich Freihardt gegenüber auf das berühmte Wort des vierten Heinrich berief. Sein Besuch in Wien hatte zu sehr wichtigen Unterhandlungen für ihn geführt, deren Folgen sich sogleich herausstellten: Noch in der selben Woche machte der kaiserliche Gesandte am Hof in der prinzlichen Haushaltung offiziellen Besuch, der in der Umgebung des Herzogs große Bestürzung hervorrief. Prinz Alexander machte seiner näheren Umgebung gegenüber nicht das geringste Hehl daraus, daß sein Übertritt nicht aus religiöser Überzeugung, sondern in politischer Absicht erfolgt sei: nur auf diese Weise sah er sich in den Stand gesetzt, den Kampf mit der herzoglichen Regierung aufzunehmen. Nach dem Vorgang der kaiserlichen Hofhaltung in Wien machten ihm der Münchener und Dresdener Hof ansehnliche Zuwendungen, stellten ihm Gelder zur Verfügung, die ihn in den Stand setzten, in der Residenz eine Art Gegenhofhaltung einzurichten. Die Tatsache, daß der Herzog ein fanatisch-protestantischer Fürst war, der seinen ausgesprochenen Haß gegen alles Katholische bei jeder Gelegenheit zur Schau trug, mußte die katholischen Höfe auf die Seite des Prinzen bringen, der zugleich offen damit herauskam, daß er als nächster Thronerbe die Krone des Landes für sich beanspruche. Er tat das, indem er öffentlich die Legitimität des jungen Prinzen bestritt und beim höchsten Gericht zu diesem Zwecke einen Prozeß zur Wahrung seiner Rechte anstrengte. Dieses Vorgehen erregte nicht nur im Lande, sondern weit über dessen Grenzen hinaus ungeheures Aufsehen.
Der kurfürstlich-sächsische Hof erklärte sich offen für den Prinzen; war doch das Herrscherhaus der Wettiner selbst vor nicht allzu langer Zeit zum katholischen Glauben übergetreten, um dadurch die polnische Königskrone zu gewinnen. Der bayrische Gesandte ließ öffentlich erklären, daß seine Regierung die Handlungsweise des Herzogs dem jungen Erbprinzen gegenüber keineswegs billigen könne. Sie wolle durchaus nicht dem Legitimitätsprozeß vorgreifen – aber wie dieser auch ausfallen möge, es sei gewiß, daß der Herzog kein Recht habe, gegen den ausgesprochenen Willen der Eltern den jungen Prinzen protestantisch erziehen zu lassen.
Dem Beispiel dieser Gesandten folgte dann sehr bald der Abgesandte des französischen Königs; es war zweifellos Wiener Einfluß, der diesen Entschluß veranlaßte. Auch er machte in dem Schloße des Prinzen Alexander seine offizielle Aufwartung. Noch mehr Aufsehen aber erregte es, als zwei Monate später ein Gesandter des spanischen Hofes eintraf, der zuerst bei dem Prinzen Alexander, dann erst am herzoglichen Hofe Besuch machte.
Zu gleicher Zeit fand die herzogliche Regierung an den protestantischen Höfen, die ihr naturgemäß einen starken Rückhalt bieten sollen nur sehr wenig Hilfe. Der Berliner Hof war gegen den alten Herzog seit vielen Jahren verschnupft, seit dieser bei Gelegenheit einer Fürstenzusammenkunft in Braunschweig aus dem Saale gegangen war, um dem König Friedrich II., den er einen dem Teufel verfallenen Atheisten nannte, nicht die Hand reichen zu müssen. Hierüber hatte freilich der König von Preußen gelacht; aber da bei allen Gelegenheiten der Herzog stets jeden Vorschlag und jede Handlung, die von dem atheistischen Berlin auszugehn schien, zu durchkreuzen versuchte, so hatte man an der Spree schließlich Gleiches mit Gleichem vergolten. Ebenso vollständig war der Bruch der herzoglichen Regierung mit dem hannoverschen, dem englischen, dem braunschweigischen und dem kurhessischen Hofe, wenn auch der Grund hierzu dem Herzog nur zur Ehre gereichte. Wie an manche deutsche Fürsten, so war auch an ihn die englische Regierung herangetreten, um von ihm Regimenter für die Kriege in Spanien und Amerika zu bekommen. Der Herzog hatte diese Anfrage in denkbar schärfster Form zurückgewiesen und seinen Standesgenossen, die darauf eingegangen waren, Verrat am Vaterlande und gemeinen Sklavenhandel vorgeworfen.
Während so der Herzog kaum irgendwelche Freunde außerhalb seines Landes zählte, wuchs die Anhängerschaft des Prinzen Alexander mit jeder Woche. Die venetianische Regierung sandte ihm einen Sondergesandten; mehrere an benachbarten Höfen beglaubigte Gesandte einiger italienischen Fürsten machten ihm ihre Aufwartung. Vor allem aber kam der in München akkreditierte Nuntius des päpstlichen Stuhles mit großem Pomp, um den Prinzen aufzusuchen; er blieb über drei Wochen in der Residenz. Es war ein Ereignis, als der hohe kirchliche Würdenträger in der kleinen katholischen Kirche, die sonst nur von wenigen Gesandten und deren Gefolge besucht wurde, die Messe zelebrierte, der Prinz Alexander und alle katholischen Gesandten beiwohnten. Als der Prinz nach Hause zurückkehrte, sah er vom Parke aus Baron Freihardt, überraschte ihn auf der Terrasse, wo er nachdenklich grübelnd, den Kopf in die Hände gestützt, dasaß.
»Lustig, Baron!« rief er. »Es ist kein Grund vorhanden, traurig zu sein! – Ach, ich weiß, daß es Ihnen nicht paßt, Freihardt, um so mehr erkenne ich Ihre große Anhänglichkeit an, die Sie dennoch bei mir ausharren läßt!«
»Gnädigster Prinz«, erwiderte der Baron, »es ist nicht das, woran ich jetzt dachte. Haben Sie den Ausdruck auf den Gesichtern der Leute gesehn, die die Straßen füllten, als Sie zur Messe fuhren?«
Der Prinz wurde sehr ernst. »Ja, Baron, das tat ich. Es war ein Ausdruck des Kummers und der Trauer. Manchmal sogar ein Ausdruck des Hasses und der verhaltenen Wut. Es hat mich genauso ergriffen wie Sie, Freihardt, wenn ich mir auch nichts davon habe merken lassen. Aber glauben Sie mir, wenn ich mein Ziel erreicht habe, so werde ich es verstehn, auf diesen selben Zügen Liebe statt Haß und Freude statt Kummer zu wecken. Ich habe soviel Gutes im Kopfe, Baron, und es ist ja so leicht, seinem Volke ein guter und geliebter Fürst zu sein!«
Freihardt schüttelte den Kopf. »Diese Menschen sind gläubig, Prinz, gläubig wie ihr Oheim, der Herzog. Sie werden immer in Ihnen einen sehen, der ihren Glauben nicht teilt – einen Fremden!« »Und wer sagt Ihnen denn, Baron«, rief Prinz Alexander, »daß ich in Glaubenssachen meinen Untertanen ein Fremder sein werde? Wenn ich aus Gründen der Vernunft den Glauben meiner Kindheit verlassen konnte – kann ich ihn, wenn die Vernunft das fordert, nicht jederzeit wieder annehmen?«
Baron Freihardt starrte ihn an, als könne er im Augenblick die Tragweite dieses Gedankens nicht erfassen. Endlich sagte er: »Gnädigster Prinz, ist das der Gedanke Ihres – Ihres –«. Er zauderte. Der Prinz kam ihm zu Hilfe: »Meines Freundes, meinen Sie? Meines Ratgebers? – Des Armeniers? – Nein, es kam aus meinem eigenen Kopfe! Aber ich kann wohl sagen, daß er es gutheißen würde. Doch nun kommen Sie, Baron, wir haben große Tafel zu Ehren des päpstlichen Nuntius.«
Die Befürchtungen des Baron Freihardt waren gewiß gerechtfertigte. Wenn der alte Herzog auch nur wenige Freunde außerhalb seines Landes hatte, so hielt doch das Volk selbst treu zu ihm. Der Herzog hatte nie irgendwelche Reformen gemacht, nie drückende Lasten erhoben, nie irgend etwas getan, das dem Volke zu dauerndem Vorteil gereichen konnte. Aber er war persönlich ein einfacher, durchaus anspruchsloser Mann von einer außerordentlichen Sparsamkeit, die manchmal fast an Geiz grenzte. Er haßte jede Verschwendung und hatte sich in langen Jahren ein Geschlecht von Beamten herangezogen, die ebenso dachten wie er. Er besuchte die Gerichtssäle, ging in die Kirchen des Volkes, reiste über Land und tat manches für Verbesserung von Wegen und Wasserwegen. Das Volk fühlte: Er ist einer von uns. Die Handlungsweise des alten Herzogs gegenüber seinem Enkelkinde entsprach dazu durchaus der Anschauungsweise dieser Menschen: Genauso hätte es jeder einzelne von ihnen gehalten.
Den Prinzen Alexander kannten sie nicht. Seine flotte Hofhaltung machte sie mißtrauisch – schließlich wird es doch aus unserer Tasche gehen, rechneten sie. Sein Religionswechsel schien ihnen verdammenswert, der Gedanke, ein katholisches Fürstenhaus über sich dulden zu müssen, unerträglich. Nur sehr wenige Adlige, Opportunisten oder solche, die aus dem einen oder anderen Grunde es mit dem Hofe des alten Herzogs gründlich verspielt hatten, schlugen sich auf seine Seite; der Prinz war intelligent genug, um zu sehn, daß es die am wenigsten begehrenswerten Elemente waren. Dennoch kam er ihnen freundlich entgegen; gab sich den Anschein, als glaube er an ihre Ergebenheit für seine Sache.
Über diese Leute hinaus aber machte Prinz Alexander sehr geringe Eroberungen. Daß er mit seinen Ansprüchen bei dem Obersten Gerichtshofe ziemlich wenig Glück haben würde, war ihm von vornherein klar. Es war ganz augenscheinlich, daß diese Richter zu ihrem Herrn, dem Herzog halten würden, um so mehr, als dessen Überzeugung sich mit der ihrigen vollkommen deckte. Die Politik des Prinzen ging infolgedessen dahin, diesen Prozeß nach Möglichkeit zu verschleppen und hinzuhalten: Seine Advokaten verstanden es, aus reich formalen Gründen eine Vertagung nach der anderen durchzusetzen. Ein besonderes Ereignis, wie etwa der Tod des alten Herzogs, konnte eintreten, das ihm die Macht gab, auf den Verlauf des Prozesses einen ganz anderen Einfluß auszuüben.
Man wartete also ab, inzwischen richtete man sein Hauptaugenmerk darauf, möglichst viele Offiziere zu gewinnen, um im geeigneten Falle das stehende Heer wenigstens zum Teil auf seiner Seite zu haben. Diese Arbeit, mit der der Prinz mehrere der zu ihm übergetretenen Adligen beauftragte, ging nur sehr langsam vonstatten, obzwar mit dem Gelde nicht geknausert wurde. Man gewann freilich insgeheim eine Anzahl von unzufriedenen Hauptleuten und Leutnants, auch wenige Stabsoffiziere, aber der Prinz konnte sich nicht verhehlen, daß es sich auch hier nur um das zweifelhafteste Element handelte, während die große ehrliche Masse jeder Bestechung unnahbar blieb.
Fast täglich fanden lange Beratungen statt, an denen nach der Abreise des Nuntius, besonders der Wiener, der Münchener und der spanische Gesandte teilnahmen. Allen ihren Anregungen schenkte der Prinz ein williges Ohr, nur in einem Punkte zeigte er sich halsstarrig. Man bedeutete ihm nämlich, daß es seine Position erheblich verstärken würde, wenn er einer Prinzessin aus einer reichen, mächtigen Familie die Hand reichen würde. Man hatte schon eine solche Prinzessin ins Auge gefaßt – aus lothringischem Hause: Auf diese Weise würde er in nahe verwandtschaftliche Beziehungen sowohl zu dem kaiserlichen Hause in Wien, wie auch zu dem französischen Königshause treten. Seine ganze Lage verbot dem Prinzen natürlich, diesen Vorschlägen ein glattes »Nein« gegenüberzusetzen; er beschränkte sich also darauf, auch hier eine Verschleppungs- und Verzögerungspolitik zu treiben.
Die Monate verstrichen; die anfängliche Sicherheit des Prinzen machte allmählich einer gewissen Unruhe Platz, die sich von Woche zu Woche steigerte. Jede Post ergriff er in begieriger Erwartung, suchte nach einem bestimmten Schreiben, daß nicht einzutreffen schien. Er machte seinen Vertrauten, dem Grafen Osten und dem Baron Freihardt gegenüber keinen Hehl daraus, daß dieser Brief, den er so sehnlich erwartete, von dem Armenier kommen sollte, von dem er in all dieser Zeit nichts gehört hatte.
»Vertrauen Sie so fest auf ihn, Durchlaucht?« fragte Osten.
»Es ist nicht das allein, Graf«, antwortete der Prinz, »wie sehr ich auch den Rat dieses außerordentlichen Mannes einschätze. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Es ist, als ob mein Verstand durch den Einfluß dieses Mannes ungeheuer gestärkt und geschärft würde. Ich sehe klarer, erkenne genauer in seiner Gegenwart, meine Energie wächst – und diese merkwürdige Kraft hält durch lange Zeit hindurch an. Sehen Sie, der Wiener Gesandte zum Beispiel ist ein außerordentlich gewandter, sehr kluger Geist; auch unter den andern werden sich manche gescheite Köpfe finden, die eine Fülle von Gedanken haben. Aber sie alle handeln in einem bestimmten Interesse – zum Teil vielleicht in ihrem eigenen, noch mehr in dem der Politik ihres Fürsten und ihres Landes.« »Und Sie glauben, gnädiger Prinz«, warf Freihardt ein, »daß ihren Armenier ein solches Interesse nicht leitet? Daß er nur ein einziges Interesse kennt, das Ihre?«
Aus tiefster Überzeugung sagte der Prinz: »Ob es mein Interesse ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß es kein fremdes ist. Es ist eine Freude, am Geschehen, eine Lust am Außerordentlichen, die all seine Schritte lenkt – es ist ein Schöpferwille«.
Wenige Tage nach dieser Unterredung erhielt Prinz Alexander aus München ein Schreiben des Marchese Civitella. Dieser meldete seine baldige Ankunft und machte zugleich die Mitteilung, daß einer seiner Leute auf der Straße dort den Armenier gesehen habe. Dieser Brief erregte den Prinzen sehr. Zunächst hatte er die Absicht, selbst nach München zu fahren; bei reiflicher Überlegung aber kam er zu dem Schluß, daß seine Anwesenheit in der Residenz nicht zu entbehren sei, da nur mit dieser seine Sache stehe und falle. Der Prinz bat also den Grafen Osten, unverzüglich zu reisen und gab ihm den jungen Zedtwitz mit. Sie sollten in München sofort Civitella aufsuchen und mit seiner Hilfe versuchen, den Armenier aufzufinden – dann diesen beschwören, mit ihnen zurückzufahren.
»Wie heißt er?« fragte Graf Osten.
Der Prinz zuckte die Achseln. »Er hat viele Namen – er hat viele Trachten – und viele Berufe. Wie er sich jetzt nennt, was er treibt und wie er sich kleidet, das weiß ich nicht.«
Graf Osten und Junker von Zedtwitz fuhren also nach München; sie nahmen wieder Hagemeister mit sich. Sie fanden den Marchese in der »Rose«, wo sie auch selbst Quartier nahmen.
Der Marchese hatte drei seiner besten Leute aus Venedig mitgebracht; diese verdoppelten ihre Anstrengungen, nachdem ihnen vom Grafen eine hohe Belohnung in Aussicht gestellt war. Dennoch gelang es keinem von ihnen, seiner habhaft zu werden. Jedoch machte der Jäger Hagemeister einen anderen Fund. Er kam eines Abends sehr vergnügt nach Hause und erzählte dem Junker von Zedtwitz, daß er ihren Reisegefährten wiedergesehen habe.
»Als Abbè oder Dragoner?« fragte Zedtwitz. Das vermochte der Jäger nicht zu entscheiden, da er ihn hinter einem verschlossenen Fenster habe stehn sehn. Er habe sich das Haus und die Gasse genau gemerkt. Man beschloß, den Reisegefährten aufzusuchen – einen Vorwand hierzu konnte man leicht finden. Graf Osten war überzeugt, daß er und kein anderer sich sein Manuskript gewaltsam ausgeliehen hatte – die Vermutung lag also nahe, daß er eine der Kreaturen des Armeniers war, von der man vielleicht Auskunft über diesen erlangen konnte.
Um den Abbè sicher zu Hause anzutreffen, machte sich Osten mit dem Junker früh genug auf den Weg; der Jäger führte sie. Es war ein nasser, kalter Herbsttag, der Wind pfiff um die Straßenecken. Hagemeister brachte sie bald in die alte Gasse und zeigte ihnen das Haus; sie lugten nach dem Fenster hinauf, sahen aber niemanden. Die Gasse war völlig menschenleer. Man hörte eine Kutsche anfahren, die aber an der Ecke hielt. Zwei tiefverschleierte Damen stiegen heraus, sie sprachen einige Worte zusammen; dann half die jüngere der älteren wieder in den Wagen zurück, während sie selbst, ohne sich umzublicken, in die Gasse eilte, geradewegs auf das alte Haus zu, dessen Fenster die zwei beobachteten. Die Dame schlug mit dem Klöppel an die Türe – nach einer Weile sah man die Tür ein wenig sich öffnen. Es fand da ein Gespräch statt, das aber so leise geführt wurde, daß weder der Graf noch der Junker ein Wort davon verstehn konnten. Doch war der Sinn dieser Unterhaltung leicht begreiflich: Die junge elegante Frau verlangte Einlaß und irgend jemand verwehrte ihr diesen. Plötzlich stieß sie mit einem raschen Entschluß gegen die Tür, der Spalt öffnete sich weit – die junge Frau drang ein.
Die beiden Herren warteten eine Weile, unschlüssig, was sie tun sollten. Bald darauf kam ein altes krummes Männlein aus dem Hause, augenscheinlich dasselbe, das der Dame vergeblich den Eintritt verweigern wollte. Er schüttelte andauernd den Kopf, redete vor sich hin und gestikulierte mit den Händen. Graf Osten lief ihm nach und stellte es; bat in höflichstem Ton, ihm Auskunft geben zu wollen. Das Männchen schien die Frage zu überhören und rannte weiter, aber Zedtwitz hielt es am Rocke fest.
»Was wollen Sie von mir?« krächzte der Alte. Graf Osten griff in die Tasche und nahm ein Goldstück heraus. Er gab es dem Alten und bat ihn, ihm nur wenige Fragen beantworten zu wollen. Der Alte betrachtete das Goldstück genau von beiden Seiten. »Schweres Gold« murmelte es, »gutes Gold!« Dann spie er darauf und warf es achtlos auf das Pflaster, als ob es eine wertlose Blechmarke gewesen wäre. »Was wollen Sie wissen?« fragte er.
»Wir suchen einen Freund«, begann Graf Osten. »Wohnt in dem Hause, aus dem Sie herauskamen, ein französischer Abbè?« »Nein«, sagte das Männlein.
»Oder ein sächsischer Dragoneroffizier?« frage Zedtwitz.
Wieder verneinte der Alte.
»Wer wohnt da?« fragte Osten weiter.
»Nur ich und mein Herr«, kam die Antwort.
»Noch eine Frage«, verlangte Graf Osten. »Wie heißt dein Herr?« Das Männlein kicherte: »Wie mein Herr heißt«, »Mein Herr ist der Dr. Teufelsdrökh.«
Damit wandte es sich um. Mit dem Fuß gab es der blinkenden Doppelkrone einen tüchtigen Tritt, daß sie weit in die schmutzige Gosse rollte. Dann hüpfte es von dannen.
Wilhelm Hagemeister war entrüstet über dieses Benehmen. Er hob das Goldstück auf, reinigte es sorgfältig und reichte es dem Grafen zurück. »Du magst es behalten«, rief dieser, »wenn der Herr mit dem schönen Namen irgend etwas mit deinem Abbè zu tun hat.« Man ging zurück; Zedtwitz sprang die Stufen hinauf und stellte fest, daß die Türe nur angelehnt war. Graf Osten postierte also seinen Jäger an die Tür, während er selbst mit dem Junker eintrat. Ein schmaler Gang, der links in einen ebenfalls ziemlich schmalen, aber sehr tiefen Raum führte. Dieser Raum wurde augenscheinlich als Buchbinderei benutzt; sie sahen alle Utensilien herumliegen, dazu eine Reihe schon gebundener und noch zu bindender Bücher.
»Das ist gewiß«, rief Zedtwitz, »das Männchen hat uns die Wahrheit gesagt. Sein Herr ist ein Gelehrter und es selbst vertreibt sich die Zeit mit Bücherbinden!«
Graf Osten griff einen Band auf und las den Titel: »Franciscus Antonius Mesmer, De Planetarum influxu.« Dann strich er wohlgefällig mit der Hand über die Lederdecke. »Und er versteht sein Handwerk – da ist kein Zweifel!« sagte er.
Sie stiegen eine alte Treppe hinauf; das nach der Gasse sehr schmale und unansehnliche Haus erbreitete sich zusehends nach hinten. Sie kamen durch eine ganze Anzahl zum Teil recht großer Räume, die entweder leer standen oder nur mit einigen alten Stühlen und Schränken versehen waren, Über eine Galerie, die um einen alten tiefen Hof führte, kamen sie dann wieder an eine Treppe. Sie stiegen hinauf, sahen eine halboffene Türe und traten ein; zu ihrem Erstaunen fanden sie ein mit auffallend gutem Geschmack eingerichtetes mächtiges Bibliothekzimmer. Sie schritten hindurch, kamen in einen zweiten ebenso großen Raum. Auch hier standen Bücherfächer an einigen Wänden, doch schien dies Zimmer auch als Speisezimmer benutzt zu werden: Auf einem kleinen Tisch standen einige Teller und Gläser mit den Resten einer Mahlzeit. An den Wänden hingen sehr gute alte Bilder; in dem offenen Porphyrkamin brannten mächtige Holzscheite. Sie kamen dann, ohne einen Menschen anzutreffen, durch einige kleinere Zimmer, die alle mehr oder weniger einen Bibliothekcharakter trugen und alle sowohl von Geschmack wie von Reichtum des Besitzers zeugten. Freilich bemerkte man überall eine gewisse Unordnung und Vernachlässigung. Eine Flurhalle führte einige Stufen hinauf in eine andere Flucht von Zimmern, die mehr den Charakter von Arbeitsräumen als von Wohnzimmern trugen. Hier lagen, standen und hingen von den Decken und an den Wänden, am Boden, sowie auf Tischen und Stühlen, eine Menge von ausgestopften Tieren aller Arten, ferner menschliche und tierische Skelette und Präparate. Man sah große Globusse, Weltkarten, astronomische Instrumente, chemische Retorten und Gläser, dazwischen immer wieder Bücherständer. Kein Zimmer trug einen völlig ausgesprochenen Charakter; doch war überall das Interesse für alle Künste und Wissenschaften wahrzunehmen.
Plötzlich hörten die beiden eine aufgeregte Frauenstimme, die von unten her zu klingen schien. Sie gingen weiter, befanden sich nun in einem Raume, aus dem eine Treppe in ein darunter befindliches Zimmer führte. Die beiden stiegen leise einige Stufen hinab – da sahen sie, vor einem großen, dunklen Vorhange, der diesen Raum von einem zweiten Räume trennte, die Frau stehn, die sie vorhin aus der Kutsche steigen gesehn hatten. Ihr Schleier war heruntergefallen, doch konnte sie, da die Dame ihnen den Rücken zudrehte, das Gesicht nicht erkennen; nur den Hinterkopf mit einer Fülle lichtblonden Haars. Die Frau hielt sich an dem schweren Vorhang mit beiden Händen fest; es schien, als drohe sie umzusinken. Ihr Leib zitterte, man hörte ihre Seufzer. Von der anderen Seite des Vorhangs schallte nun eine volle Männerstimme, die wohl ein wenig gereizt, aber nicht heftig, sondern ruhig und gefaßt klang.
»Ich wiederhole«, sprach diese Stimme, »es geht nicht! Ich kann dich in dieser Woche nicht sehn – noch vermutlich in der nächsten und übernächsten. Du weißt, daß ich über meinen Büchern sitze – und keine Helena und keine Heloise soll die Macht haben, mich von meiner Arbeit abzuziehen. Ich will nicht gestört werden, ich darf nicht, verstehst du mich? Und nun – geh!«
Die junge Frau antwortete nicht mehr. Sie ließ die Arme sinken, drückte ihr Spitzentuch an die Augen, zog den Schleier hoch. Da Osten befürchtete, daß sie die Treppe hinaufkommen würde, zog er sich schnell und leise mit Zedtwitz zurück. Aber die Furcht war unbegründet; die Dame kam nicht hinauf, schritt vielmehr durch das Zimmer und zur gegenüberliegenden Tür hinaus. Noch eine Zeitlang hörten die beiden ihr verzweifeltes Schluchzen, das sich immer weiter entfernte; dann wurde es still.»
»Der Mann, der der Dame so ungalant die Tür wies«, flüsterte Zedtwitz, »wird zu uns nicht viel höflicher sein!«
»Versuchen wir immerhin unser Glück«, antwortete Graf Osten.
Sie stiegen absichtlich mit kräftigen Schritten und sich laut unterhaltend die Treppe hinunter, um die Aufmerksamkeit des Gelehrten zu erregen. Während sie durch das Zimmer gingen, hörten sie seine fragende Stimme: »Wer ist dort?«
»Ah, endlich!« rief Graf Osten mit gemachtem Erstaunen. »Dort hinter dem Vorhang ist ein Mensch!«
Er schlug die Vorhänge zurück und trat mit Zedtwitz ein. Sie befanden sich wieder in einem weiten Raum, den ein großes Kaminfeuer sehr behaglich erwärmte. Das Zimmer trug denselben Charakter wie die meisten anderen, war überfüllt von wissenschaftlichen Geräten aller Art, noch mehr aber von Büchern, die überall verstreut lagen. Vor einem großen Schreibtisch saß in einem hohen Ledersessel ein Mann mit schwarzen Kniehosen, Strümpfen und Schnallenschuhen bekleidet. Er trug keinen Rock, den Oberkörper bedeckte nur ein weites Hemd mit langem offenstehenden Spitzenkragen.
»Was wollen Sie?« rief er den beiden entgegen, die an der Schwelle stehen blieben.
Graf Osten faßte den Gelehrten scharf ins Auge. Er war ein Mann in den Vierzigern, ohne Bart und sorgfältig rasiert. Das kurze wirre schwarze Haar fiel ihm in die Stirne, die Augen waren tief schwarz und sehr stechend. Sein Gesicht war schmal und knochig, dabei außerordentlich bleich. Es war gewiß; diesen Menschen hatte er nie gesehn. Es war nicht der Armenier und nicht der französische Abbè. Und dennoch war etwas in diesem Gesicht, daß ihm irgendwie bekannt zu sein schien.
»Was wollen Sie?« fragte der Mann wieder.
»Wir suchen in diesem Hause«, begann der Graf »einen Freund und Reisegefährten. Einen französischen Abbè – mein Jäger sah ihn am Fenster stehn –«
»Ich bin kein Abbè«, rief der Mann, »ich –«
»Wir wissen, wer Sie sind«, unterbrach der Graf, »Sie sind Dr. Teufelsdrökh. Ihr – Ihr Hausmeister hat uns das gesagt. Wir möchten Ihnen – auf gut Glück hin – eine Mitteilung machen, weil –«
Er zögerte, wußte nicht recht, was für einen Grund er angeben sollte, um diesem wildfremden Mann den Wunsch des Prinzen zu übermitteln – ihn zu bitten, ihnen auf der Suche nach dem Armenier behilflich zu sein – nach einem Menschen, dessen Namen sie nicht einmal wußten! Gewiß hatte er ein unklares Empfinden, daß dieser merkwürdige Gelehrte mit dem geheimnisvollen Armenier in Verbindung stehn könnte – aber gerade so gut konnte er sich völlig irren.
»Reden Sie«, drängte der Gelehrte, »meine Zeit ist knapp.«
»Ich habe das Empfinden«, begann der Graf wieder, »als ob Sie, Herr Doktor, uns einen großen Dienst erweisen könnten. Ich bin mir sehr wohl des Unschicklichen meines fast gewaltsamen Eindringens bewußt.«
»Lassen Sie die Phrasen«, rief der andere, »Sprechen Sie endlich.«
Graf Osten nahm sich zusammen: »Sie können uns natürlich kurzerhand die Tür weisen. Wir sind Eindringlinge, Sie sind der Herr dieses Hauses, in dem nur ein freier Wille regiert – der Ihre! – Dennoch bitte ich Sie –«
Der Gelehrte lachte rasch auf. »Freier Wille!? Sie Narr!«
Des Grafen Blick fiel in diesem Augenblick auf den Schreibtisch, auf dem die »Theodicèe« von Leibniz aufgeschlagen lag. Er sagte rasch: »Oh, ich sehe, Herr Doktor, Sie sind Determinist! Bestreiten die Willensfreiheit!« Er glaubte, den kratzbürstigen Gelehrten eher zu gewinnen, wenn er ihn auf ein gelehrtes Thema brächte, ihm wenigstens zeigen konnte, daß er es nicht mit völlig ungebildeten Leuten zu tun hatte. Und es schien wirklich, als ob der Doktor auf diesen Köder anbeißen wollte. Er nickte, sagte grimmig: »Ja, das bin ich – Determinist – unbedingter!«
Der Graf kam einen Schritt näher zum Schreibtisch, griff das Buch auf. »Und ein Anhänger von Leibniz, nicht wahr? Gott ist allmächtig und allwissend, alles bestimmt er voraus – also auch jede Handlung eines jeden Menschen. Ein freier Wille des Menschen ist also undenkbar – denn sonst könnte er ja den Plan Gottes stören, könnte dessen Allmacht und Allwissenheit zuschanden machen!«
Fast wütend riß ihm der Gelehrte das Buch aus der Hand, schleuderte es weit ins Zimmer. »Leibniz ist ein grenzenloser Esel«, schrie er, »und sollte sich aufhängen lassen mit all seinen Freunden und besonders dem Haller! Par nobile fratrum! – Schon vor fünfundzwanzig Jahren schrieb der Königsberger Professor Kant seine Naturgeschichte und Theorie des Himmels und fünf Jahre später der Wolff seine »Theoria Generationis.« Er legte jedem, der sehn wollte, die embryonale Entwicklung dar, mit all ihren Prozessen! Und da kommt der berühmte Professor Haller und hält an der Präformation fest! Behauptet, daß im Ei schon, bei Mensch und Tier, der ganze Organismus vorgebildet sei in allen Einzelheiten. Keine Entwicklung findet statt, sondern eine Auswicklung der eingewickelten Teile! Und in dem weiblichen Embryo stecke schon der Eierstock und in dem schon der Keim des nächsten Geschlechts! Und so ging's von Adam an und hinab durch alle Ewigkeit! Am sechsten Schöpfungstage stopfte der große Gott in Evas Eierstock die Keime von Abermillionen Menschen, immer hübsch eingeschachtelt in den anderen! Und der Pfaff, der Leibniz, greift solchen Unsinn auf und begründet damit seine Seeleneinschachtelungstheorie! In ewig unzertrennlicher Gemeinschaft sind Seele und Leib; ebensowenig wie für den Leib, gibt's für die Seele eine Entwicklung. Nur eine Auswicklung, wie bei Zwiebeln! Was kräht der Dummkopf? Diese Seelchen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, sind im Samen schon da! Haben in den Voreltern, bis auf Adam, also bis zum Beginn der Dinge immer in der Form organisierter Körper gehaust. Das ist die Wissenschaft dieser Hohlköpfe – heute noch, hundert Jahre nach Spinoza! – Ich bin Determinist, meine Herren, ganz gewiß – aber ich leugne die Willensfreiheit nicht Leibniz zuliebe. Auch nicht um Calvins willen oder des heiligen Augustin, die bessere Köpfe waren als er.«
Er schob dem Grafen ein paar Bücher zu, die an der Seite des großen Tisches lagen. »Da – lesen Sie das, wenn Sie sich unterrichten wollen. In diesem Sinne bin ich Determinist.« Graf Osten nahm die Bücher und schlug sie auf; es waren »La Politique Naturelle« und »Système de la Nature« des Freiherrn von Holbach. »Der Mann hat recht«, rief der Gelehrte, »wenn auch nicht alles ganz so einfach ist, wie er es sich vorstellt. Geist und Körper – das ist ein Ding und sind nicht zwei. Und der Teil meines Körpers, der meine Seele ist, ist von allen andern Teilen abhängig – und von manchem andern noch – vor allem von dem zum Beispiel, was um mich herum geschieht! Darum muß ich die Willensfreiheit verwerfen – und nicht, wie Leibniz, wegen einer gloriosen Laune, die vor Ewigkeiten eine Gottheit gehabt hat!«
Graf Osten sah seinen Vorteil sofort. »Wenn das so ist, Herr Doktor, so habe ich Hoffnung, daß Sie meine Bitte ruhig anhören und erfüllen, wenn das in Ihrer Macht steht. Wir suchen in München einen – gewissen Mann im Auftrage des Prinzen Alexander von –«
Dr. Teufelsdrökh unterbrach ihn. »Ich weiß das, Herr Graf von Osten! Sie und der Herr von Zedtwitz –«
Der Junker schrak auf: »Woher wissen Sie unsere Namen?«
»Einerlei woher ich sie weiß!« lachte der Gelehrte. »Sie wollen hier den Mann suchen, den der Prinz den Armenier nennt, weil er ihn in armenischer Tracht zuerst gesehn hat. Sie sollen diesen Mann bitten, ehemöglichst zum Prinzen zu kommen! Nun wohl, kehren Sie zurück zum Prinzen und sagen Sie ihm, daß Sie zwar nicht seinen Armenier gesprochen hätten, wohl aber mich. Und daß ich ihm mitteilen lasse, daß mein Freund, der Armenier, augenblicklich andere, interessantere und bessere Dinge zu tun habe, als sich um ihn zu bekümmern!«
Dr. Teufelsdrökh stand auf, eine kurze Handbewegung schien anzudeuten, daß er nun wünsche, daß die beiden sich entfernen sollten. Es lag etwas so Dominierendes, seltsam Befehlendes in seiner Haltung, daß Junker von Zedtwitz, der gewiß keine furchtsame Natur war, unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Dem Gelehrten fiel diese Bewegung auf; er lachte leise und richtete seinen starren, stechenden Blick auf den Junker, der im Augenblicke völlig gebannt schien.
Graf Osten, der vor dem Junker stand und diesen nicht sehen konnte, versuchte noch einmal sein Glück. »Herr Doktor«, fragte er, »es scheint gewiß, daß Sie unsern Armenier gut kennen – können Sie uns nicht zu ihm führen? Oder, wenn das nicht möglich ist, ihn zu bestimmen versuchen, den Bitten des Prinzen nachzukommen?«
Ohne auch nur einen Augenblick seinen brennenden Blick von dem Junker zu lassen, antwortete der Gelehrte: »Das Abenteuer mit dem Prinzen war nur eine Laune für den Armenier. Augenblicklich hat er eine andere Laune. Vielleicht wird er sich bald des Prinzen erinnern, vielleicht wird es ihm Spaß machen, in diesem Spiele weiter zu spielen! Vielleicht! Dann wird ihn der Prinz wiedersehn.«
Der Graf verbeugte sich und wandte sich zum Gehn. Da lachte Dr. Teufelsdrökh auf: »Sagen Sie mir, Graf Karl Friedrich von Osten-Sacken, haben Sie nie diesen Armenier gesehn?«
»Gewiß sah ich ihn«, antwortete Osten. »Ich sah ihn in seiner armenischen Tracht auf dem Markusplatz zu Venedig, sah ihn später als russischen Offizier während einer Geisterbeschwörung in einem Landhaus an der Brenta – –«
»Ja, ja«, unterbrach ihn der Gelehrte, »er hat mir erzählt von dieser Geisterbeschwörung. Wie gefiel Sie Ihnen, Herr Graf?«
»Sie war sehr raffiniert gemacht und zeigte äußerstes Taschenspielergeschick«, erwiderte der Graf. »Manches ist mir heute noch völlig unerklärlich. Dennoch –«
Wieder lachte Dr. Teufelsdrökh. »Dennoch – ja gewiß – dennoch! Ein wenig altmodisch, was? Heute macht man so was viel einfacher und viel leichter. Ich hab's in Paris gelernt; ein Wiener Arzt gibt dort Vorstellungen –«
»Was?« rief Graf Osten. »Sie, Sie können Geister beschwören?«
Dr. Teufelsdrökh nickte lachend: »Macht's Ihnen Spaß, das zu sehn? Stören lassen habe ich mich doch genug diesen Morgen – sehr gegen meinen Wunsch, Graf, das mögen Sie glauben. Nun, so kann ich auch noch zehn Minuten auf ein paar Geister verwenden.«
»So wollen Sie sagen, Herr Doktor«, rief Osten, »daß Sie hier im Raume, jetzt, in wenigen Minuten, einen Geist – den Geist –«
»Allerdings!« nickte der Gelehrte, »ich werde den Geist eines Verstorbenen herbeirufen.«
Er wandte sich zu dem Junker, der sich dicht an den Vorhang gedrängt hatte. »Setzen Sie sich dort auf den Stuhl«, forderte er ihn auf.
Zedtwitz tat, wie ihm geheißen, ohne ein Wort erwidern zu können. Die stechenden Augen des Dr. Teufelsdrökh schienen ihn zu versengen, dicke Schweißtropfen standen ihm auf seiner Stirn.
Der Gelehrte kam auf ihn zu. »Leben Ihre Eltern noch, Junker?« fragte er.
»Sie sind tot«, flüsterte Zedtwitz, nicht fähig, seine Stimme zu erheben.
»Sie werden sie beide sehn«, sagte Dr. Teufelsdrökh, dessen Stimme seltsam tonlos wurde. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich dicht vor den Junker, strich ihm mit den Fingern über Stirn und Schläfen. »Sie sind sehr müde«, flüsterte er, »Sie werden gleich schlafen. Ich werde bis sieben zählen; fünf werden Sie noch gut hören, sechs nur noch sehr undeutlich, bei sieben schlafen Sie!«
Er zählte; die Lider des Junkers fielen zu, seine Arme sanken schlaff herab. Ein leichter Seufzer, dann ein stilles, ruhiges Atmen.
Nun beugte sich Dr. Teufelsdrökh über den Schlafenden, zischte in sein Ohr. Graf Osten verstand nur hie und da ein paar Worte: »Sie werden sehen« – »Vater« – »so wie er damals« – »Mutter« –
Dann stand der Gelehrte auf, trat zu Osten. »Passen Sie auf, Graf«, sagte er, »die Geister seiner Verstorbenen werden zu ihm kommen.«
Eine Weile blieb Zedtwitz ruhig atmend auf seinem Stuhle sitzen, dann schien eine seltsame Aufregung ihn zu ergreifen. Ein Zucken griff seinen Körper, sein Atmen wurde rasch und hart. Plötzlich sprang er auf, seine Augen öffneten sich weit. Kindliche Freude strahlte aus seinem Gesicht, er streckte den Arm weit aus, als wollte er jemandem die Hand reichen. Aber im nächsten Augenblick schon fuhr er zurück – Seine Knie schlotterten, wie gelähmt stand er da, während seine Züge ein jähes Entsetzen spiegelten. Er schien zu lauschen – dann bewegten sich mühsam seine Lippen, als ob sie sprächen. Endlich schien das Bild, das er sah, zu schwinden; Zedtwitz starrte ihm lange nach. Dann plötzlich schien er von der anderen Seite her ein Geräusch zu hören, er wandte sich halb, ging ein paar Schritt vor, irgend jemandem entgegen. Seine Züge erhellten sich wieder, seine Lippen bewegten sich schnell, seine Arme öffneten sich, schlossen sich dann, als ob er jemanden zärtlich umarme. Und dieses unsichtbar Bild führte er zu dem Stuhle, hieß es dort sich niederzusetzen, während er selbst davor kniete. Nun schien er zu lauschen, aufmerksam und ergriffen. Plötzlich befiel ihn ein starker Weinkrampf, er drückte seinen Kopf auf den Stuhlsitz, wie in einen Schoß, schluchzte und weinte zum Erbarmen. Allmählich beruhigte er sich, das Weinen wurde schwächer und stiller.
Dr. Teufelsdrökh trat zu ihm hin, berührte ihn leicht an der Schulter. »Stehn Sie auf«, befahl er. »Setzen Sie sich!« Der Junker gehorchte.
»Sie werden nun wieder schlafen«, fuhr der Gelehrte fort, »sehr fest und sehr tief schlafen«, glücklich und ruhig! Aber Sie werden alles genau behalten, was Sie gesehen haben; es wird Ihnen beim Mittagessen wieder einfallen und Sie werden es dem Grafen Osten erzählen.«
Man hörte die tiefen Atemzüge des Junkers; sein Gesicht nahm einen zufriedenen, glücklichen Ausdruck an.
Wieder beugte sich Dr. Teufelsdrökh über ihn, flüsterte ihm ins Ohr; diesmal verstand Graf Osten noch weniger, was er sagte. Nur einen Satz konnte er deutlich vernehmen: »Hören Sie? – Dienstag um acht Uhr abends!« – Und der Junker nickte.
Der Gelehrte trat wieder zurück. Nach wenigen Minuten sagte er: »Sie werden sogleich aufwachen, Zedtwitz! Sie werden sich sehr wohl und frisch fühlen – voller Kraft und Lebenslust!«
Noch ein paar tiefe Atemzüge – dann erwachte der Junker. Er öffnete die Augen, reckte sich, stand auf von dem Stuhle, lächelte unsicher, als ob er sich auf etwas besinne. Dann schüttelte er unschlüssig den Kopf und kam ein paar Schritte vor.
Der Gelehrte wandte sich an den Grafen. »Sehn Sie, Graf, so läßt man heutzutage Geister kommen! Warten Sie nur, Sie werden schon begreifen. Und nun darf ich Sie wohl bitten, mich allein zu lassen!«
Der Graf verbeugt sich stumm; Zedtwitz folgte seinem Beispiel. Da wandte sich Dr. Teufelsdrökh zu ihm. »Nicht so steif, Bengel!« rief er. »Sie sind ein braver Junge, gewiß. Und nun – hübsch artig sein!« Damit drehte er den beiden den Rücken und ging zu seinem Schreibtisch zurück.
Der junge Zedtwitz wollte auffahren; aber der Graf ergriff rasch seinen Arm und zog ihn mit sich fort. Schon im Vorzimmer wollte der Junker wieder umkehren, rief: »Haben Sie gehört, Graf, was er gesagt hat? Das ist unerhört, ich darf mir das nicht gefallen lassen!«
Aber Graf Osten ließ ihn nicht los. Sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren; unten sahen sie den Alten in seiner Buchbinderwerkstatt sitzen. Osten erwartete einen Protest von seiner Seite, weil sie ohne Erlaubnis in das Haus gedrungen seien und überlegte eine rasche Erklärung – aber das Männlein schien sich keineswegs zu wundern. Es stand nicht von seinem Sitze auf, legte das Buch nicht aus der Hand, lachte nur in hohe Tönen. Noch auf der Straße schlug ihnen das Meckern des Alten um die Ohren.
Auf dem Heimweg fragte der Graf den Junker, was er gesehen habe – zu seinem Erstaunen aber begriff Zedtwitz nicht einmal, wonach er fragte. Jeder Einzelheit des Besuches in dem alten Hause erinnerte er sich genau, konnte jeden Raum beschreiben, jedes Wort des seltsamen Gelehrten wiederholen – nur die Episode, während der er auf dem Stuhle beim Vorhange saß, war aus seinem Gedächtnis vollkommen weggewischt. Osten versuchte alles, um ihn daran zu erinnern, die Antwort war stets nur ein Kopfschütteln. Schließlich sah er die Fruchtlosigkeit seiner Versuche ein und schwieg. Zedtwitz, der trotz des trüben, naßkalten Tages sich so lebensfrisch und voller Energie fühlte wie an einem jungen Lenztage, bat um die Erlaubnis, ausreiten zu dürfen; der Graf nickte. Man verabredete, sich zum Mittagessen im Zimmer des Grafen wiederzutreffen.
Im Gasthof angekommen, schickte der Graf seinen Jäger zum Marchese von Civitella und ließ ihn bitten, mit ihm zu Mittag zu speisen und möglichst bald zu ihm zu kommen. Der Marchese ließ nicht allzu lange auf sich warten; Osten erzählte ihm in allen Einzelheiten die Erlebnisse des Morgens. Man kam überein, dem Prinzen genauen Bericht abzustatten, mittlerweile aber die Nachforschungen nach dem Armenier fortzusetzen.
Das Mittagessen wurde aufgetragen; man setzte sich zu Tisch. Nach einer Weile kam auch der junge Zedtwitz frisch und rosig von seinem Ritt, die Reitgerte fröhlich durch die Luft schwingend. Der Graf hatte erlesene Weine kommen lassen, und die Unterhaltung war eine sehr angeregte, besonders Zedtwitz erzählte mit viel Witz und Behagen von der verschleierten Dame und dem meckernden Männlein, dem verwunschenen Hause des Gelehrten und von diesem stauchlichten Dr. Teufelsdrökh.
Plötzlich, mitten im Satz, blieb er stecken. Er stellte das Glas, das er in der Hand hielt, um eben zu trinken, auf den Tisch zurück und ließ den Kopf sinken, als ob er nachdenke über etwas, das ihm soeben eingefallen sei. Dann hob er die Augen, sah zu dem Grafen hinüber und sagte, ohne jeden Übergang: »Ich habe meinen Vater gesehn – und meine Mutter!«
Civitella fragte: »Wann haben Sie die gesehn?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte der Junker unsicher. »Heute morgen glaube ich.«
»Aber Zedtwitz!« wandte der Marchese ein. »Haben Sie mir nicht selbst einmal gesagt, daß Ihre Eltern kurz hintereinander starben, als Sie noch ein kleiner Bub waren?«
Der Junker sah ihn an, dann wieder den Grafen. »Ja«, sagte er langsam, »sie sind lange tot! Ich habe – heute – ihre Geister gesehn!«
»Erzählen Sie!« drängte Osten.
Abgerissen, stoßweise, kamen die Sätze aus dem Munde des Junkers. »Mein Vater kam auf mich zu, streckte mir beide Hände entgegen. Dann sah ich – auf seiner Stirn, an der linken Schläfe, ein Loch – er kam von dem Duell, in dem er erschossen wurde. Das rote Blut sickerte aus der Wunde – so bleich sah er aus – so bleich –« »Was sagte er?« fragte Osten.
»Er sprach – er sprach –« Der Junker suchte in seinem Gedächtnis; man konnte sehn, wie er sie quälte – »Er sprach – oh, ich weiß nicht mehr, was er sprach!«
Er stützte den Kopf in die Hand, seufzte schwer. Dann richtete er sich wieder auf, fuhr fort: »Dann ging er, mein Vater. Immer undeutlicher wurde sein Bild – nebelhafter. Ich sah ihm lange nach, aber da rief es von der anderen Seite. »Egon« rief es. Ich wandte mich – da kam meine Mutter. Sehr traurig sah sie aus, ihre Augen waren trübe vom vielen Weinen. Sie wankte; ich nahm sie in meine Arme, führte sie zu einem Sessel, ließ sie niedersitzen. Ich kniete vor ihr und sie erzählte mir, daß der Vater gefallen sei, daß – aber ich verstand nicht viel, was sie sagte; es war so traurig, daß ich selbst schluchzte und weinte. Ich versenkte meinen Kopf in ihrem Schoß, während ihre weichen Hände mich streichelten. Und ich fühlte, wie ihre Tränen auf mein Haar fielen. Dann – dann –«
»Was kam dann«, frage Osten.
Aber der Junker schüttelte den Kopf. »Dann kam nichts mehr. Alles war fort – fort.«
Civitella klopfte dem jungen Mann freundlich auf die Schulter und reichte ihm sein Glas. »Trinken Sie, Zedtwitz! Sie haben geträumt – das war ein böser, schwerer Traum!«
Aber der Junker fuhr auf, rief mit starker Überzeugung: »Nein, nein! Es war kein Traum! Ich habe es – erlebt!« Er griff das Glas, leerte es zur Neige. »Ich habe es wirklich gesehn, am hellen Tage, heute morgen. In – warten Sie – in – dem Arbeitszimmer des Doktor Teufelsdrökh.«
Es schien, als ob diese letzte Mitteilung ihn eine ungeheure Anstrengung gekostet habe. Er fiel vornüber, wäre zu Boden gesunken, wenn die andern ihn nicht gehalten hätten. Er taumelte, schwankte, kämpfte mit einer Ohnmacht. Sie führten ihn in sein Zimmer, entkleideten ihn und brachten ihn zu Bett. Nach wenigen Minuten schlief er fest ein.
Doch verging diese plötzliche Schwäche sehr bald, nach wenigen Stunden schon fühlte sich Zedtwitz wieder so frisch und gesund, daß er den eingehenden Bericht an den Prinzen, den ihm Graf Osten diktierte, leicht schreiben konnte. Die nächsten Tage verliefen ohne jedes Ereignis, jedoch gab es am Dienstag der nächsten Woche einen merkwürdigen Zwischenfall. Am Abend saß Zedtwitz am Schreibtische des Grafen, der ihm wieder einige Briefe diktierte. Während der Junker bisher ruhig und heiter gewesen war, ergriff ihn, gegen sieben Uhr etwa, eine seltsame Unruhe. Er legte seine Feder weg und nahm sie wieder auf, er sprang vom Stuhle auf, lief durchs Zimmer und setzte sich wieder. Befragt, was er habe, wußte er keine Antwort zu geben. Diese Unruhe steigerte sich von Minute zu Minute und nahm schließlich einen fast unheimlichen Charakter an. Gegen halb acht Uhr erklärte der Junker, daß er weggehen müsse. Graf Osten fragte ihn, wohin er denn wolle, aber Zedtwitz gab keine Antwort; er wußte es offenbar selbst nicht. Osten erinnerte ihn daran, daß der Marchese sie heute abend zur Oper eingeladen habe und daß er unbedingt mitgehen müsse; der Junker sah das ein und setzte sich wieder nieder, aber nur, um nach wenigen Minuten von neuem aufgeregt aufzuspringen. Civitella kam dann, um seine Freunde abzuholen; sein Mahnen zu raschem Aufbruch vermehrte noch die Aufregung des Junkers. Wohin er eigentlich wollte, konnte er auch jetzt nicht sagen; er wiederholte nur, daß er notwendig fort müsse. Da er ein paarmal versuchte, aus der Türe zu gehn, so verschloß der Graf diese und steckte den Schlüssel in die Tasche. Der Junker bat und flehte, ihn fortzulassen; aber Osten, den dieses seltsame Gebaren stutzig machte, verweigerte das. Um zehn Minuten vor acht Uhr sprang Zedtwitz plötzlich ans Fenster, öffnete es und schwang sich hinaus. Die beiden andern stürzten ihm nach, vermochten aber nicht mehr, ihn festzuhalten. Sie sahen, wie Zedtwitz sich erst auf die Fensterbank kniete, dann mit den Händen den vorspringenden Stein der Fensterschwelle ergriff, einen Augenblick daran hing und sich endlich fallen ließ. Das Zimmer war im ersten Stock gelegen; der Junker kam also recht unsanft auf dem Straßenpflaster an. Er fiel zwar auf die Füße, stürzte dann aber hin und schlug sich die Stirne blutig. Er sprang gleich wieder auf und rannte, hinkend, ohne Mantel und Hut, durch die Gasse. Civitella sah unten am Tore einen seiner Leute mit dem Jäger Hagemeister stehn; er winkte den beiden und rief ihnen zu, dem Junker zu folgen und festzustellen, wohin er sich begeben würde. Man bekam diesen Bescheid, als man aus der Oper zurückkehrte: Junker von Zedtwitz war zu dem Hause des Dr. Teufelsdrökh gelaufen und hatte sich dort über eine Stunde aufgehalten. Dann sei er herausgekommen und sofort nach Hause gegangen. Verletzt habe er sich augenscheinlich nicht, da er auf dem Heimweg nur noch sehr unerheblich gehinkt habe und recht fest ausgeschritten sei. Im Gasthause sei er sofort in sein Zimmer gegangen.
Graf Osten fand ihn im tiefsten Schlafe. Er wollte ihn nicht wecken; stellte ihn also erst am andern Morgen zur Rede. Da stellte sich heraus, daß dem jungen Manne auch bei dieser Gelegenheit wieder das Gedächtnis völlig entschwunden war über das, was er am Abend vorher getan hatte. Er erinnerte sich nur, daß er für den Grafen Briefe geschrieben habe, ferner, daß er sehr müde gewesen sei und zu Bett gegangen sei – über die Stunden vor dem Schlafengehen seit dem ersten Auftreten seiner eigentümlichen Unruhe vermochte er nicht die geringste Auskunft zu geben.
Graf Osten besprach lange diesen merkwürdigen Fall mit dem Marchese. Im Anschluß daran gab er dem Junker den strengen Befehl, ohne seine ausdrückliche Erlaubnis unter keinen Umständen mehr auszugehen. Als er an diesem Abend ein Theater, das er mit dem Marchese besucht hatte, verließ, hörte er hinter sich die meckernde Stimme des alten Männleins, das seinen Namen rief. Er drehte sich um; das Männlein drückte ihm grinsend einen Brief in die Hand und trippelte davon.
Der Brief lautete:
Herr Graf, versuchen Sie nicht, durch dumme Befehle das, was ich anordne, zu durchkreuzen. Begreifen Sie, daß der Junker von Zedtwitz in Zukunft allen meinen Befehlen aufs strengste gehorchen wird, und daß keine Macht der Erde imstande ist, ihn daran zu hindern. Dr. Teufelsdrökh.
Zu Hause fanden sie ein Schreiben des Prinzen, der mit ihrem Bericht durchaus zufrieden zu sein schien; er bat sie, sogleich zur Residenz zu kommen. Da Civitella noch einige notwendige Einkäufe zu machen hatte, so setzte man die Abreise auf den übernächsten Tag fest, zu früher Morgenstunde.
Im letzten Augenblicke fehlte der Junker. Man suchte ihn überall – vergeblich. Alle seine Gepäckstücke waren vollzählig da; er selbst war verschwunden. Am Abend vorher hatte er Hagemeister und die Bedienten des Marchese beim Packen beaufsichtigt; seither hatte man ihn nicht mehr gesehn. Sein Bett war unberührt. Civitella wollte die Abreise verschieben und nach dem jungen Manne suchen lassen, aber Graf Osten hatte das unbestimmte Gefühl, als ob dieses Verschwinden irgendwie mit Dr. Teufelsdrökh zusammenhinge, der ihm seine unbedingte Macht über den Junker zeigen wollte. In diesem Falle wäre es, im Interesse des Prinzen, schlechte Politik gewesen, unüberlegte Schritte zu tun, zumal von seiten des Gelehrten gewiß nichts Übles dem Junker geschehen würden. Man reiste also ohne den Junker ab.
Als sie in der Residenz ankamen, erwartete sie Prinz Alexander mit dem Baron von Freihardt am Parktor. Man umarmte sich herzlich, und der Prinz rief: »Das nenn ich Pünktlichkeit! Zwei Minuten vor der angesagten Zeit!«
»Wieso – angesagte Zeit?« fragte Marchese Civitella. »Aber Marquis!« lachte der Prinz, »Sie haben mir doch den jungen Zedtwitz vorausgeschickt, um Ihre Ankunft zu melden!« Er faßte den Marchese unter den Arm und ging mit ihm voraus dem Schlosse zu, während der Graf mit dem Baron Freihardt folgte. »Ist der Junker hier?« fragte Osten.
»Seit gestern schon!« nickte der Baron. »Er ist Tag und Nacht durchgeritten. Prinz Alexander ist ihm und Ihnen außerordentlich dankbar für die Aufmerksamkeit!«
»Aufmerksamkeit?« fragte Osten erstaunt. »Was meinen Sie? Wir haben den Junker nicht gesandt und ihm keinerlei Aufmerksamkeiten für den Prinzen mitgegeben!« Er erzählte dem Baron in kurzen Zügen von dem Verschwinden des jungen Zedtwitz und den Begebenheiten, die diesem vorausgingen.
Freihardt hörte zu, dann berichtete er: »Der Junker kam am Morgen an und verlangte sofort, den Prinzen zu sehn, der gerade in meinem Zimmer war. Er meldete die genaue Stunde Ihrer Ankunft, sagte, daß Sie ihn vorausgesandt hätten, um ihm einige Stunden eher etwas zu bringen, das ihm gewiß große Freude machen würde. Er wisse nicht, was es sei; man habe es im Hotel für den Grafen abgegeben mit dem Auftrage, es dem Prinzen zu übersenden. Mit diesen Worten zog er ein Paketchen aus der Tasche, das der Prinz öffnete. Es enthielt ein Taschentuch mit venetianischen Spitzen – eine Ecke zeigte den Namen Veronika. Der Prinz preßte das Tuch, dem ein wundervoller Wohlgeruch entströmte, an die Lippen. »Es ist ihr Duft!« flüsterte er. – Deshalb, Graf, ist er so gut gelaunt heute! Er ist gewiß, daß er sehr bald von beiden hören wird, von der Dame von Murano sowohl wie von seinem Armenier.«
*
Weihnachten verging, ohne daß Prinz Alexander weiteres hörte. Erst am Sylvestertage traf in dem prinzlichen Schlosse eine Nachricht ein, die im Zusammenhang mit dem Armenier oder wenigstens mit seinem Freunde, dem Münchener Gelehrten, stand. Marchese Civitella hatte nämlich sowohl in Venedig wie bei der venetianischen Gesandtschaft in München den Auftrag hinterlassen, nichts unversucht zu lassen, was es auch sei, über diese geheimnisvolle Persönlichkeit etwas zu erfahren. An diesem Abend nun erhielt er ein Schreiben aus München, das er gleich las. Er kam dann hinüber zum Prinzen, der mit seiner intimsten Umgebung, dem Grafen Osten, dem Baron Freihardt und dem jungen Zedtwitz bei einer dampfenden Sylvesterbowle saß.
»Sie kommen spät, Marquis,« warf ihm der Prinz vor, »was hielt Sie ab?«
»Dieser Bericht, Euer Durchlaucht!« sagte der Marchese laut lachend, während ihm der Junker sein Glas füllte. »Er beweist, daß der Zauberdoktor auch eine lustige, sehr menschliche Seite hat. Man hat mir eine italienische Übersetzung beigefügt, da der bayrische Dialekt des Berichtes doch ein wenig zuviel für meine deutschen Kenntnisse ist. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis mag Baron Freihardt das Original vorlesen – es paßt gut in eine lustige Silvesterstimmung!«
Der Prinz nickte; der Marchese erhob sein Glas und leerte es auf des Prinzen Wohl. Während er das Schriftstück dem Baron reichte, erklärte er: »Wie Ew. Durchlaucht wissen, habe ich meine kleinen Nachforschungen weiter fortgesetzt; in München ist der Gesandte der Republik Venedig für mich tätig, der, da er bereits seit zwanzig Jahren beim dortigen Hofe beglaubigt ist, sehr viele Beziehungen hat. Er schreibt mir, daß in München selbst weder die Polizei noch die Regierung von der Existenz eines Dr. Teufelsdrökh überhaupt etwas wisse. Dagegen habe er, durch einen fast komischen Zufall, von einem braven Dorfgeistlichen etwas über diesen Mann erfahren. Dieser biedere Seelenhirt aus dem Oberbayrischen war in die Gesandtschaft gekommen, um einen Geleitbrief zu erhalten; er wollte nach Rom und beabsichtigte, den Weg über Tirol und Venetien zu nehmen. Während er dasaß und auf die Ausstellung der Papiere wartete, sprach der Gesandt mit einem Sekretär gerade darüber, wie man am besten mir behilflich sein könne. Der gute Pfaff verstand kein Wort, da diese Unterhaltung in italienisch geführt wurde. Plötzlich aber wurde er stutzig, als der Name »Dr. Teufelsdrökh« an sein Ohr klang. Als er ein zweites Mal diesen Namen hörte, bekreuzigte er sich sehr verängstigt; beim dritten Male sprang er auf, um zur Tür hinauszueilen. Man hielt ihn, stellt ihn zur Rede und erfuhr nun diese sonderbare Historie, die sich vor einigen Jahren in dem Pfarrdorfe des guten Geistlichen ereignete! Hören Sie nun, meine Herren, diese Geschichte, wie sie der Münchener Schreiber meines Gesandten nach der Erzählung des Pfarrers niederschrieb!«
Baron Freihardt begann zu lesen:
In demselbigen Sommer war ein Mann nach St. Johann am Mangfall gekommen, der ist nie in die Kirche gegangen. Aber weil er dem Herrn Pfarrer und auch dem Herrn Bürgermeister oft Geld für die Armen ins Haus geschickt hat, hat man ihn in Ruhe gelassen. Er nannte sich Dr. Teufelsdrökh, und die besseren Leute wollten nichts mit ihm zu schaffen haben. Der Mann wollte auch mit den Leuten nichts zu schaffen haben. Er hatte einen Haufen unheiliger Bücher mitgebracht, über denen er zu Hause den ganzen Tag gesessen ist. Nur am Abend lief er herum in den Feldern und im Walde, und manchmal hat er Käfer und Asseln und anderes gottloses Würmerzeug gefangen. Der Mann wohnte bei der Frau Anastasia Hupfauf, der Grantlbäurin. Die war eine Witfrau und das sauberste Weib in der ganzen Gegend. Alles Mannsvolk war vernarrt in sie, auch – der Herr Pfarrer. Ihr Mann war der reiche Grantlbauer gewesen, aber der war im vorigen Jahr umgekommen bei der letzten Kirchweih. Der Grantlbauer hat sich nie lumpen lassen, und was so Sachen gewesen sind, wie die Ausschmückung der Dorfkirche und der Wein, so hat er dafür allezeit Geld ausgegeben. So hat er denn den Herrn Bürgermeister und den Herrn Pfarrer zum Wein eingeladen, und da ging es zuerst recht sittsam zu. Aber weil dem Herrn Pfarrer die anderen so viel zugetrunken haben, so sank er schließlich unter den Tisch, daß sie ihn heim zum Pfarrhaus tragen mußten. Der Grantlbauer ist aber mit den sündigen Menschen weitergezogen, und sie haben immer noch mehr getrunken. Da kam der Satan über sie, und sie vermaßen sich ihrer Stärke. Der Grantlbauer sagte, daß er die Tischkante abschlagen könne von dem Eichentisch im Wirtshaus. Und das hat er auch gemacht und den Wein vom Moserbauern gewonnen. Er vermaß sich, daß er den Gemeindestier an den Hörnern aus dem Stall ziehen wolle. Und den rotkropfigen Knecht vom Wirtshaus mit dem Riesengenick, den wolle er mit einem Faustschlage niederhauen. Da sagte der Nebelhofbauer, das möge schon sein, aber er wisse etwas, mit dem er sich nicht anzubandeln trauen würde. »Was ist dös?« fragte der Grantlbauer. Der Nebelhofbauer sagte: »Meine Bienen!« Da lachte der Grantlbauer und brüllte, er werde allen Honig herausnehmen und herbringen. Und er schere sich den Teufel um ein paar Bienenstiche. Sie gingen also zum Hof des Nebelhofbauern, aber nur dieser und der Kainzenhofbauer und noch zwei gingen mit, weil die anderen schon so voll waren und nicht mehr mitkonnten. Der Grantlbauer hatte sich gleich an die Arbeit gemacht und den ersten Stock zerrissen und den Honig herausgenommen. Die Bienen sind herausgeflogen und auf die Bauern los und haben sie nach Herzenslust gestochen. Da sind die anderen weg; der Grantlbauer aber hat ihnen nachgeschrien, sie könnten sich seinetwegen zum Wirtshaus scheren, er werde schon nachkommen und ihnen den Honig bringen. Und damit ist er auf den zweiten Stock losgegangen.
Die anderen gingen zum Wirtshaus zurück, und da saßen sie und tranken und warteten. Aber der Grantlbauer kam nicht; und dann hatten sie auch genug und schliefen ein.
Am anderen Morgen fanden ein paar Knechte den Grantlbauern bei den Bienenstöcken, die lagen umgeworfen und zerstört da. Den Grantlbauern aber hatten die Bienen furchtbar zugerichtet. Kein Mensch konnte ihn wiedererkennen, so verschwollen war er. Man trug ihn nach Hause zu seiner Bäurin und dann schickte man zum Bader, aber den konnte kein Mensch wachbekommen. Die Bäurin und die Mägde wuschen den Grantlbauern mit Essig, aber sie richteten nichts damit aus. Man sah wohl, daß sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Da schickten sie zum Pfarrhaus, und der geistliche Herr erhob sich in starker Christenpflicht und bekämpfte seine Müdigkeit und seine menschliche Schwäche zu Ehren Gottes des Herrn. Wie er den Grantlbauern sah, da merkte er wohl, wie der Finger Gottes so wunderbarlich walten konnte, der aus diesem starken Manne und reichen Bauern nun ein so mißgestaltetes, aufgeschwollenes Stück Fleisch gemacht hatte. Da erzählte er zur Erbauung der Grantlbäurin und der Knechte von der großen Güte Gottes und seinen unerforschlichen Ratschlüssen und spendete dem sterbenden Grantlbauern reichen Trost und erweckte große Reue bei ihm über die sündhafte Tat. Dann gab er ihm die letzte Ölung.
Und der Grantlbauer ist einen schönen, christ-katholischen Tod gestorben.
Die Grantlbäuerin aber hat vom Nebelhofbauern die Bienenstöcke gekauft, hat sie hinter dem Grantlhof aufgestellt und gut versorgt. So ehrte sie das Andenken des Grantlhofbauern und hatte einen sehr guten Honig und verdiente ein schönes Geld damit.
Alles das ist geschehen, wie die Grantlbäuerin noch guter Hoffnung gewesen ist. Und sechs Wochen, nachdem sie ihren Mann begraben hatte, kam sie in die Wochen und hat ein hübsches dickes Mädchen in die Welt gesetzt.
Auf dem Grantlhof wohnte nun der fremde Mann, der Dr. Teufelsdrökh. Eines schönen Tages war er angekommen, und der Postwagen hatte ihn am Wirtshaus abgesetzt. Dann war er im Dorf umeinandergestiegen und hat sich überall umgeschaut, auf dem Grantlhof aber hat es ihm am besten gefallen. Und er war bald einig geworden mit der Bäurin, weil er mit schönen Maria-Theresia-Talern bezahlte. So hat sie ihm die Zimmer gegeben, die er verlangte, und da wohnte er und las in seinen unheiligen Büchern.
Nun war die junge Witfrau ein schöner Anblick unter den Menschen, und da sie obendrein noch sehr reich war und den größten Hof hatte auf Meilen in der Runde, so war es kein Wunder, daß den Mannsleuten die Hosen juckten, wenn sie vorbeikam. Sie war aber sehr stolz und wollte von keinem etwas wissen und tat, als ob niemand gut genug für sie sei.
Da gefiel es Gott dem Herrn, daß er dem Satan erlaubte, auch das Herz des geistlichen Herrn, Emmeran Fürnkäs, in sündhafter Lust zu bestricken. Er wich ab von dem Wege der Heiligkeit, und seine Augen sahen nichts mehr als nur das Bild der Bäurin, die überall voll und rund war. Einmal kam er vorbei am Grantlhof, und die Bäurin saß vor dem Hause und nährte ihr Kind. Da packte es den geistlichen Herrn, und er trat zu ihr hin und konnte sich gar nicht sattsehn an dieser Pracht. Es juckte ihn in den Fingern, aber er widerstand als ein Knecht Gottes – nur das liebe Kindlein wollte er streicheln. Dann aber schuf es der Satan, daß sich seine Hand verirrte auf die schönen Dinge. Da sprang die Bäurin auf und schlug ihm auf die Finger und lachte ihn aus und rannte fort. Aber es kam so weit, daß der arme Herr Pfarrer gar nicht mehr schlafen konnte vor lauter Begier und sich in seinem Bett wälzte und nur nachsann, was er wohl anstellen könnte, um die Grantlbäurin zu haben.
Nun war aber der Herr Pfarrer ein sehr gebildeter Mann, der viel mehr wußte als alle Bauernlümmel von St. Johann am Mangfall. So fiel ihm ein, daß er einmal in seiner Jugend gehört hatte, wie man es wohl anstellen könne, um die Liebe einer Frau zu gewinnen. Nämlich wenn sie Milch hat und ein Kind nährt, so braucht man nur ein paar Tröpflein von dieser Milch zu haben. Ein Tröpflein gibt man auf die Lippen und die anderen Tröpflein wischt man über Hände, Brust und Leib. Dann muß das Frauenzimmer ganz entflammen vor Lust und Begier und muß einem nachlaufen überall hin, ob es nun mag oder nicht. In früherer Zeit hatte man es wohl oft so gemacht; aber die Leute wußten es nicht mehr. Nur der geistliche Herr wußte noch darum und der Satan stach ihn, daß er das Mittel versuchen sollte.
Als nun Emmerentia, die Großmagd der Grantlbäurin, zu ihm zum Beichten kam, da machte er es ihr leicht, obgleich sie voller Fleischeslust war und einen sündhaften Wandel mit den Knechten führte. Er war sehr gütig und voller Mitleid, der geistliche Herr, und sagte, daß wir allzumal Sünder seien und des Ruhmes mangelten, den wir vor Gott haben sollten. Und dann sprach er ihr von seiner Not – und daß ihm nur geholfen werden könne, wenn er ein paar Tröpflein von der Milch der Grantlbäurin bekomme. Die Großmagd tat sehr fromm und willfährig und versprach ihm, daß sie ihm von der Milch verschaffen wollte.
Wie sie aber nach Hause kam, da vergaß sie bald ihre guten Vorsätze. Zuerst strich sie herum um die Bäurin und sagte gar nichts. Aber jedesmal, wenn sie sah, wie die Bäurin das Mieder öffnete, um dem Kindlein die Brust zu reichen, dann kicherte sie und gluckste wie eine Truthenne. Endlich wurde die Bäurin aufmerksam und fragte die Magd, was sie wolle mit ihrer damischen Lacherei? Die Emmerenz wollte zunächst nicht heraus mit der Sprache; dann aber wurde sie zur Judassin und beging eine schwere Sünde und verriet ihren Beichtvater, den geistlichen Herrn Fürnkäs. Sie sagte also der Bäurin, was der Herr Pfarrer von ihr wollte – ein paar Tröpflein Milch, damit sie ihm nachlaufen müsse überallhin in Lust und Begier. Da erschrak die Bäurin gar sehr und knöpfte rasch das Mieder zu und schalt heftig in sehr unheiligen Worten gegen den geistlichen Herrn. Grade kam der Herr Dr. Teufelsdrökh aus dem Hause und die beiden Weiber riefen ihn an und erzählten ihm alles. Die Bäurin fragte ihn, was sie wohl tun könne, um sich dagegen zu schützen, daß man ihr heimlich Milch wegstehle. Denn sie wolle einen Mann haben, sagte sie, der ihr gefiele, und sie wolle nicht jemanden nachlaufen, der sich mit ihrer Milch beschmiert habe, und erst recht nicht dem Pfarrer! Der Dr. Teufelsdrökh hörte alles ruhig an und dann sagte er, daß sie nur ruhig sein solle, er würde schon dafür sorgen, daß ihr nichts geschähe. Und dem Pfaffen wolle man einen Streich spielen, an den er sein Lebtag denken würde. Dann ging er in die Wiesen und fing gottloses Würmerzeug.
Am anderen Tage aber gab er der Bäurin ein paar bittere Pillen zu schlucken und sagte ihr, daß sie nun ganz sicher sei. Und wenn alle Mannsbilder vom Dorf von ihrer Milch söffen und sich darin badeten – so brauche sie doch keinem einzigen nachzulaufen. Die Bäurin merkte wohl, daß es ein sehr gutes starkes Mittel war, da sie ein heftiges Zwicken im Leibe verspürte und wohl ein dutzendmal an diesem Tage zum Misthaufen laufen mußte. Dann aber dokterte dieser unheilige Mann in seinem Zimmer herum und schließlich befahl er den Weibern, daß sie ihm eine Ziege bringen sollten. Die Frauen brachten also die weiße Ziege, und der Satansdoktor hieß der Großmagd, ihm ein wenig Milch zu melken. Die Emmerenz strich das Euter, und er gab ein wenig Milch in ein schwarzes Fläschchen. Dann schickte er die Weibes wieder fort mit der Ziege. Wieder am anderen Morgen kam er zur Bäurin herunter und ließ die Magd rufen. Er hatte ein rotes Fläschchen, darin waren nur Tropfen von der Ziegenmilch. Das gab er ihr und sagte, daß sie stracks zum Pfarrer laufen solle und ihm das Fläschchen bringen. Sie solle ihm sagen, daß es die Milch der Bäurin sei. Dann aber solle sie gut aufpassen und sich im Pfarrhause irgendwie zu schaffen machen. Und wenn der Pfarrer ausgehe, so solle sie heimlich die Hose und die Strümpfe nehmen, die er sonntags anziehe, und ihm herbringen.
Die Großmagd folgte also diesem sündhaften Rat und tat, wie er geheißen hatte. Der geistliche Herr ahnte in seinem reinen Herzen nicht die Tücken dieser Welt, freute sich sehr, nahm das Fläschchen und dankte ihr. In seiner Güte schenkte er ihr gar noch zwei silberne Schuhschnallen, die er von seiner seligen Mutter geerbt hatte. So arglosen Gemütes war er. Die Emmerenz aber vergalt Gutes mit Bösem. Sie stahl die Sonntagshosen und Sonntagsstrümpfe und brachte sie zum Grantlhof dem Dr. Teufelsdrökh. Der nahm sie und befahl, daß man den großen Ziegenbock bringen solle, einen häßlichen alten Kerl mit langem Barte. Mit dem schloß er sich eine Weile ein – und es war sicher Satanswerk, das er trieb. Am Abend aber sandte er die Großmagd wieder zum Pfarrhof und befahl ihr, heimlich die Strümpfe und die Hose genau wieder an denselben Ort zu legen, woher sie sie genommen hatte. Die Emmerenz ging und tat alles, und der gute geistliche Herr merkte nichts davon. Er fühlte sich an diesem Abend ganz froh und leicht, und nahm das rote Fläschchen und gab ein Tröpflein Milch auf die Zunge und wischte die andern über Hände und Arme und Leib und Brust. Und da noch ein wenig übrig war, so rieb er auch die Beine und den Rücken ein, denn er wollte, daß die Grantlbäurin ihn überall sehr lieb haben sollte. Da er aber ein sehr frommer Mann war, so kniete er nieder zum Gebet und bat um Vergebung seiner Sünde und versprach der Heiligen Jungfrau sieben schöne Kerzen, wenn alles gelingen sollte. Und dann setzte er sich hin und überlegte eine sehr erbauliche Predigt, weil einige Tage drauf Peter- und Paulstag war.
Nun hatte zwar der Dr. Teufelsdrökh den Frauen gesagt, daß sie fein still sein und nichts ausschwatzen sollten. Aber die Großmagd hatte es dennoch dem Wastl erzählt, und der sagte es den anderen Knechten. Die verrieten es den Mägden, bei denen sie fensterln gingen – so kam es, daß man im ganzen Dorf darum wußte. Die Bauern wußten es und die Knechte, die Mägde und die Bäuerinnen. Alle wußten, was der Herr Pfarrer Fürnkäs angestellt hatte, und alle wußten, daß ihm ein böser Streich gespielt werden sollte – und zwar gerade am Festtage, das hatte der Dr. Teufelsdrökh gesagt. Nur der Herr Pfarrer wußte nichts davon und ging reinen Herzens durch diese Teufelsverschwörung.
Früh am Morgen des Feiertages ließ der gottlose Doktor wieder die Ziege kommen. Die Bäurin und die Großmagd lauerten auf der Stiege und lauschten durch die Tür, um zu hören, was er mit ihr machen wollte. Aber sie hörten nur, daß er lange auf sie einsprach, und die Emmerenz sah durch das Schlüsselloch, daß er ihr mit einem Tuche über die Nase rieb. Als man sich zum Kirchgang rüstete, befahl er zwei Knechten, die Ziege an einem Strick mitzunehmen und am Pfarrhaus zu warten, bis der Pfarrer herauskäme, um zur Kirche hinüberzugehn. Er selbst aber erklärte, daß er auch zur Kirche gehn würde – nur an diesem Tage ging der sündhafte Mann und nur, um eine unheilige Freude zu haben über den geistlichen Herrn. Die Kindsmagd nahm also das Kindlein und schritt vorauf, dann kam die Bäurin selbst. Hinterher alle Mägde und Knechte, zum Schluß die zwei mit der weißen Ziege, der sie ein blaues Band um den Hals gebunden hatten und ein paar kleine Göckerl an den kurzen Schwanz. Ganz zuletzt aber kam der Dr. Teufelsdrökh, Grad wie der geistliche Herr zur Kirche hinüberging, um seinen armen Lämmlein das Licht des Evangeliums zu bringen, ließen die Knechte die Ziege los; die hüpfte ein paarmal herum, dann rannte sie schnurstracks auf den Pfarrer los. Der konnte sich ihrer gar nicht erwehren, und die Leute lachten und keiner half ihm. Schließlich aber entkam er doch, rannte zur Sakristei, schlüpfte hinein und schlug die Türe zu. Ein anderer Mann hätte wohl geflucht, wenn ihm das geschehen wäre, aber der geistliche Herr bezwang sich und dachte an seine heilige Pflicht. Und dann fiel ihm auch ein, daß die Grantlbäurin da sein würde, und daß es das erstemal sei, daß sie ihn sehn würde, seit er die Milch bekommen hatte. Wenn er die Augen schloß, sah er sie vor sich – so rund, überall!
Unterdessen füllte sich die Kirche – das ganze Dorf war heute da. Nur Dr. Teufelsdrökh blieb draußen stehn und ein junger Knecht, der die Ziege hielt, die man wieder eingefangen hatte. Von Zeit zur Zeit ging der Doktor zur Kirchentür und schaute hinein. Endlich kam er auf den Knecht zu und sagte: »Er ist bei der Predigt, Ambros! Ich geh nun in die Kirche. Du bleibst hier stehn und zählst bis dreißig. Dann kommst du nach und führst deine Ziege in die Kirche, sowie du die Türe hinter dir geschlossen hast, läßt du sie los.« Da grinste der Ambros.
Der geistliche Herr bereitete sich in der Sakristei vor. Er wußte, daß er im Stande der Gnade war, da er sein Brevier bis zur Terz gebetet hatte. Noch einmal, während er sich die Hände wusch, betete er um innere Reinheit. Dann legte er den Amikt um und die Albe, die er mit dem Cingulum hochschürzte, gab Manipel und Stole darüber und bekleidete sich schließlich mit Meßgewand und Birett. Er trat in die Kirche zum Altar und zelebrierte die Vormesse. Mit besonderer Weihe sprach er den Introitus des Festtages: »Nun weiß ich gewiß, daß Gott seinen Engel gesandt hat«; sehr erbaulich klang das Kyrie und die Gloriahymne. Nach dem Evangelium eilte er wieder in die Sakristei, legte die Kasel ab und nahm dafür das Chorhemd und die rote Stola. So stieg er auf die Kanzel; grade unter sich sah er die Grantlbäurin sitzen; sie sah so hübsch aus wie noch nie. Aber der geistliche Herr unterdrückte die fleischliche Lust und richtete Augen und Seele zum Himmel und sprach ein Gebet. Dann begann er seine Predigt. Er erzählte von Paulus und Petrus und den vielen Märtyrern, die ihr Leben hinopferten zum Wohle ihrer Mitmenschen. Das sei ein hehres Beispiel für alle Frommen. Ein jeder habe die heilige Pflicht, seinen Nächsten zu lieben, und darin könne kein Christ und keine Christin zu weit gehn. Man solle nicht locken gegen den Stachel, und wenn man in seiner tiefsten Seele ein starkes Bedürfnis empfinde, gut zu sein zu seinen Nächsten, so solle man dies nicht unterdrücken, sondern hineilen zu seinem Nächsten mit offenem Christenherzen und nicht darauf achten, was die Leute sagen. Wer aber sei nun der Nächste? Nun, da müsse man einen guten Unterschied machen und jeden Nächsten so lieben, wie es ihm zukomme. Den Bettler solle man nicht von der Tür weisen, sondern ihm ein Stück Brot geben, und den kranken Nachbaren solle man aufsuchen und ihn erquicken und laben. Man solle dankbar und gut sein zu seinen Eltern und Geschwistern und seinen Herrn, deren Brot man äße. Das seien alle unsere Nächsten. Besonders gut müsse man aber zu dem sein, der einem das geistige Brot reiche und durch Fasten und Beten einem helfe, den Weg zur ewigen Seligkeit zu wandeln – dieser heilige Mann sei vor allem unser Nächster.
Hier stutzte der Herr Pfarrer Fürnkäs, weil sich die Kirchentür plötzlich öffnete. Sie knarrte, und die Leute sahen sich um. Er sah einen Menschen eintreten, den er sonst nicht in dem Hause Gottes zu sehn gewohnt war – und das war der Dr. Teufelsdrökh. Eine große Unruhe faßte die Gemeinde, aber dann wurde es wieder still. Den geistlichen Herrn aber überfiel eine dunkle Ahnung, als ob irgend etwas nicht in Ordnung wäre. Dann aber besann er sich und richtete den Blick nach oben und begann von neuem. Liebliche Worte kamen aus seinem Munde.
Das sei ein gottwohlgefälliges Bild, sagte er, wenn die Lämmlein der Gemeinde sich eng scharten um den bestellten Hirten. Und kein Lämmlein möge sich scheuen und ängstigen, wenn sein Herz ihm bang schlage, es möge ruhig zum guten Hirten kommen ins Pfarrhaus, der würde es trösten.
Da ging zum zweitenmal die Kirchentür und knarrte noch lauter. Er sah Ambros, den Knecht der Grantlbäurin, eintreten, der zerrte etwas hinter sich. Dann hörte er unter den Leuten, die hinten am Eingang standen, ein halblautes Rufen und ein unterdrücktes Lachen und sah, wie etwas Weißes durch den Mittelgang lief, zwischen den Bänken durch. Jetzt erkannte er, daß es die weiße Ziege der Grantlbäurin war. Diese sündhafte Störung des Gottesdienstes tat ihm sehr weh. Er rief mit lauter Stimme hinunter, daß man dieses Geschöpf des Ärgernisses entfernen solle.
Aber keiner achtete darauf. Die Weiber kicherten und die plumpen Bauernlümmel grölten; er sah, wie selbst der Herr Bürgermeister grinste. Die Ziege blieb hier und dort stehn und schnupperte überall herum, als ob sie etwas suche – dabei klangen die Glöcklein an ihrem Schwanz. Dann blieb sie unter der Kanzel stehn und hob den Kopf und sog die Luft durch die Naslöcher. Ganz plötzlich sprang sie die Stufen hinauf, war in drei Sprüngen oben auf der Kanzel. Sie roch und schnupperte an dem geistlichen Herrn Fürnkäs und schob ihre Schnauze unter sein Chorhemd. Und ehe der geistliche Herr noch recht wußte, wie ihm geschah, stellte sie sich auf die Hinterbeine und legte ihm die Vorderbeine auf eine Schulter und leckte ihn mit der rauhen Zunge mitten durchs Gesicht.
Da brüllten und lachten und johlten und schrien die Bauernmenschen. Aber einer krähte ganz hell: »Er hat die Grantlbäurin haben wollen, jetzt hat er die Grandtlgoas!« Und ein anderer rief: »Schaut's, dem Herrn Pfarrer sei Braut!«
Der geistliche Herr wußte in seiner Not nicht, wie ihm geschah. Er dachte nicht anders, als daß der Teufel selber auf ihn gestürzt hätte und suchte sich seiner zu erwehren, so gut es ging. Aber je mehr er um sich schlug und stieß, um so enger drängte sich die Ziege an ihn und immer wieder leckte sie ihm durchs Gesicht.
Die Vroni, die Tochter vom Kaintenhofbauern, rief: »Mein Gott und Herr! Sie busselt ihn ab!« Und die Kirche grölte.
Der geistliche Herr sah wohl, wie er verlassen war von seiner Gemeinde und keine Hilfe zu hoffen habe. Das war der Dank für seine schönen Worte über die Nächstenliebe. Endlich stieß er mit aller Kraft die Ziege zur Seite und stürzte die Stufen hinab und lief Hals über Kopf durch die Kirche. Aber die Ziege sprang ihm nach und lief hinter ihm her, hinaus zur Kirche und über den Platz bis ans Pfarrhaus und tat so verliebt, als wollte sie nicht mehr von ihm lassen. Immer wieder stieß er sie fort, und immer wieder sprang sie hoch an ihm und leckte ihm durchs Gesicht. Bis er endlich sich retten konnte in sein Haus und die Tür zuschlug und verschloß.
Aber noch den ganzen Tag schrie das Bauernvolk vor der Tür: »Pfarrer, wie schmeckt enk die Milli?« Und: »Busselt sie guet dei' Ziegenbraut?«
Und die sündhaften Bauern meinten, daß sie einen solchen Spaß ihrer Lebtag nicht gehabt hätten in St. Johann am Mangfall.
Später aber wurd's nicht besser. Der arme geistliche Herr konnte sich nicht mehr sehn lassen, weil sie alle gegen ihn aufsässig waren und hinter ihm dreinschrien. Und dann erfuhr es der Bischof – und es heißt, daß er auch gelacht hat über die Geschichte. Und das ist gewiß, daß er die Seite der Bauern nahm und den geistlichen Herrn ungerecht leiden ließ. Er schickte einen anderen Pfarrer nach St. Johann und den geistlichen Herrn Fürnkäs sandte er fort auf eine recht magere Pfarrei im Edinger Moos, wo man nichts wußte von der ganzen Sache. Und Bußen gab er ihm noch dazu auf, die schwere Menge.
So mußte der arme geistliche Herr leiden unter der Treulosigkeit der Grantlbäuerin und Judasverrat der Großmagd Emmerenz und dem Satanswerk des Dr. Teufelsdrökh.
*
Kurze Zeit darauf erhielt Graf Osten einen Antwortbrief seiner Base, der Gräfin Elisa von der Recke aus Mi tau in Kurland. Er hatte sich an sie gewandt, um Näheres über den Sizilianer, den Grafen Cagliostro, zu erfahren. Die Gräfin, die eine Zeitlang eine Anhängerin des Abenteuers war, berichtete, daß er in Kurland eine mystische Loge gegründet habe, dann nach St. Petersburg und Warschau gegangen sei, wo er ebenfalls großen Erfolg erzielt habe. Sie habe auf den Wunsch ihres Vetters ihn über die Persönlichkeit des Armeniers zur Rede gestellt, aber nicht viel mehr erfahren, als was er dem Prinzen selber in Venedig mitteilte. Doch habe er offen zugegeben, daß er das Abenteuer in dem Lusthause an der Brenta auf ausdrücklichen Befehl des Armeniers in Szene gesetzt habe; dieser habe ihn auf den Prinzen Alexander aufmerksam gemacht. Seine Entlarvung durch den Armenier sei ihm völlig überraschen gekommen, ebenso wie seine Verhaftung. Der Armenier nenne zweifellos geheime Kräfte sein eigen; er selbst habe verschiedentlich versucht, sich ihm entgegenzusetzen, das aber bitter bereuen müssen. Er habe seither erkannt, daß es besser sei, sich ihm zu beugen; deshalb habe er auch in Venedig, ohne weiter zu fragen, die ihm gegebenen Befehle nach besten Kräften ausgeführt. Sie habe, fügte die Gräfin von der Recke hinzu, die feste Überzeugung gewonnen, daß der Sizilianer an die geheimnisvolle Kraft des Armeniers fest glaube und eine mit ängstlicher Scheu, ja Furcht vermischte Bewunderung ihm entgegenbringe.
Übrigens wiederholte sich in den nächsten Wochen des öfteren das plötzliche Entweichen des jungen Zedtwitz. Zur Rede gestellt, verwirrte er sich; vermochte immer nur über den ersten Anfang, wie über das Ende seiner Eskapaden Auskunft zu geben; sehr selten auch über belanglose Einzelheiten in der Zwischenzeit. Der Prinz gab den Befehl, ihn gewähren zu lassen und sorgte dafür, daß in seine Rockschöße Goldstücke eingenäht wurden, um ihm stets die Möglichkeit zu geben, unabhängig zu sein. Doch stellte man fest, daß nie dieses Geld benutzt wurde. Einmal verschwand der Junker auf eine ganze Woche, so daß man ernstlich sich um ihn sorgte. Eines Abends sah man ihn dann mit einem Ochsenwagen in den Park fahren; er befahl den Fuhrleuten, eine große Kiste abzuladen, entlohnte sie und schickte sie fort. Dann setzte sich der Junker, unbekümmert um den dichtstiebenden Schnee, auf seine Kiste und wartete. Prinz Alexander gab Befehl, jede seiner Bewegungen scharf zu beobachten, ihn aber nicht zu stören. Unbeweglich blieb der Junker über zwei Stunden auf seiner Kiste sitzen. Punkt acht Uhr – als die Tafelglocke durch das Schloß schallte – erhob er sich, ging zum Gärtnerhause, rief einige Leute und befahl ihnen, die Kiste in das Schlafzimmer des Prinzen zu bringen. Dort arbeitete er eine gute halbe Stunde, ging dann in sein eigenes Zimmer, legte sich zu Bett und schlief sofort ein. Als der Prinz nunmehr in das Schlafgemach eilte, bot sich ihm eine seltene Überraschung: An der Wand, gegenüber dem Bettende hing das Bild Veronikas als Madonna, das er, seit es ihm in Venedig von dem florentinischen Maler angeboten wurde, nicht mehr gesehn hatte. Der Prinz war außer sich vor Freude; er eilte sofort in das Zimmer des Junkers, um ihm zu danken und ihn auszufragen. Aber kein Rütteln und Schütteln vermochte diesen aus seinem Schlaf zu erwecken. Früh am andern Morgen befahl der Prinz, der noch im Bett lag, dem Baron Freihardt, den Junker zu holen. Der junge Zedtwitz kam; er war ausgeschlafen und sah außerordentlich frisch und blühend aus. Der Prinz wußte es so einzurichten, daß der Junker bei seinem Eintreten das Bild nicht sah; er ließ ihn dann auf dem Bette Platz nehmen, so daß er der Wand den Rücken zudrehte. Er plauderte mit ihm über allerhand gleichgültige Dinge, und der Junker stand ihm völlig unbefangen Rede und Antwort. Dann bat ihn der Prinz, er möge ihm doch eine kleine Schere von der Konsole holen. Zedtwitz stand auf und sah über dieser Konsole das Bild hängen. Er blieb, aufs äußerste erstaunt, stehn und rief: »Unsere Madonna aus Venedig! – Wann haben Sie das Bild bekommen, Durchlaucht?«
Es war ganz augenscheinlich, daß seine wachen Augen es jetzt zum ersten Male in diesem Raum sahen.
Dieses Bild wurde dem Prinzen der Gegenpart zu langen Zwiegesprächen. Er ließ einen Vorhang darüber anbringen, als wolle er es bewachen vor den Blicken aller andern. Nur wenn er allein war, zog er diesen Vorhang zurück – verbrachte ganze Stunden im Anstarren des Bildes.
*
Die Tagessatzung vor dem höchsten Gericht, die trotz aller Verschleppungspolitik der Anwälte des Prinzen Alexander die endgültige Entscheidung, auf die der alte Herzog drängte, bringen sollte, brachte statt dessen eine von keiner der beiden Seiten vorhergesehene Überraschung. Die Advokaten des Prinzen hatten wieder Vertagungsanträge eingereicht, die sie eingehend begründeten; das Gericht hörte ihnen geduldig zu, um dann die Anträge kurzerhand abzuweisen. In diesem Augenblick betrat ein Frankfurter Anwalt, der eben in der Residenz eingetroffen war, den Gerichtssaal. Da er den meisten der Richter und Sachwalter gut bekannt war, brauchte er sich persönlich nicht zu legitimieren; dagegen legte er vollgültige Dokumente vor, die seine Eigenschaft als regelmäßig bestellten Vertreter der verschwundenen Erbprinzessin, der Mutter des jungen Prinzen, klar bewiesen. Er legte dar, daß wichtige Umstände, die nicht zur Sache gehörten, seinerzeit das Verschwinden der Erbprinzessin bedingt hätten. Jetzt aber mache sie ihr Recht als Mutter geltend und verlange, daß ihr der Sohn herausgegeben und zur Erziehung überlassen werde. Auf die Frage des Vorsitzenden, in welcher Weise denn diese Erziehung gedacht sei, erklärte der Anwalt, daß er darüber keine Angaben machen könne, und daß das im übrigen Angelegenheit der Mutter sei.
Infolge dieser überraschenden Wendung wurde natürlich die Sitzung vertagt. So sehr diese neue Vertagung auch den Wünschen des Prinzen entsprach, so konnte er sich doch keineswegs verhehlen, einen wie starken Schlag seine Sache durch das Auftreten der Erbprinzessin erleiden mußte. Wenn diese Frau, die bisher ihre Muttergefühle, wenn sie solche überhaupt je gehabt hatte, völlig vernachlässigt hatte, sich nun plötzlich auf ihr Recht als Mutter besann und es im Prozeß gegen den alten Herzog wie gegen den Prinzen Alexander geltend machte, so standen ganz gewiß nicht zu verachtende Kräfte hinter ihr, die ihr Rückhalt boten; man mußte also annehmen, daß hier unter allen Umständen ein starker Widerstand zu gewärtigen war. Des Prinzen Sache aber war viel mehr wie die des Herzogs durch das Eingreifen der Erbprinzessin gefährdet. Der Prinz bestritt die Legitimität des Kindes, und seine ohnehin schwachen Gründe stützten sich auf die Behauptungen, daß die Mutter eine Abenteurerin sei, und daß die Ehe des Erbprinzen überhaupt nicht gültig zustanden gekommen sei. Seine Hoffnung stützte sich auf die Person des Prämonstratenserpaters der Fürstin Elisabeth, der das Paar getraut hatte. Gelang's diese wichtigsten Zeugen zu gewinnen – so war sehr viel erreicht. Bisher freilich waren alle Versuche, ihn zu einer andern Aussage zu bewegen, völlig vergeblich gewesen. Dennoch: Er gehörte zu jenen blinden Fanatikern, die für die Sache, an die sie einmal glauben, jedes Opfer zu bringen bereit sind. Sein großer Gedanke war gewesen, das Fürstenhaus und damit das Land in den Schoß seiner Kirche zurückzuführen. Dieser Plan war gründlich gescheitert: Der junge Prinz wurde streng protestantisch erzogen. Dagegen war Prinz Alexander katholisch – hier also konnte er das Spiel gewinnen, wo er vorher gründlich verspielt hatte.
Nun aber griff die Erbprinzessin ein. Gelang es ihr, jetzt oder nach dem Tode des alten Herzogs, die Person und damit die Erziehung des Thronfolgers in die Hand zu bekommen, so war es gewiß, daß sie ihn katholisch aufziehn würde. Dann aber würden alle Elemente, die bisher seine, des Prinzen, Sache unterstützten, sich von ihm ab- und der Erbprinzessin zuwenden. Seine Einwände gegen die Legitimität würden im Augenblick zurückgewiesen werden; die Höfe von Wien, München, Dresden, die römische Kurie, wie die spanischen, französischen, italienischen Fürstenhäuser mußten ganz gewiß ein viel größeres Interesse an einem jungen katholisch getauften und katholisch erzogenen, dazu zweifellos thronfolgeberechtigten Prinzen haben, als an einem Konvertiten, dessen Ansprüche recht zweifelhafter Natur waren. Dazu kam, daß sie während der Regierung eines Kindes und der möglichen Regentschaft einer Frau, der Erbprinzessin-Mutter, gewiß einen viel stärkeren Einfluß auf die Politik des Landes ausüben konnten. Schon gleich in den nächsten Tagen bemerkte Prinz Alexander die Folgen des plötzlichen Eingreifens des Frankfurter Anwalts: Die Gesandten waren zwar genauso höflich und liebenwürdig wie zuvor, aber er bemerkte doch eine gewisse Zurückhaltung. Offenbar hatten sie die Situation sofort erkannt und erwarteten nun Weisungen ihrer Regierungen. Inzwischen stellen Marchese Civitella und Baron von Freihardt fest, daß von den verschiedensten Höfen durch ihre Vertreter in der Freien Reichsstadt Frankfurt das Menschenmöglichste versucht wurde, um von dem Advokaten der Erbprinzessin Näheres über deren Aufenthalt und Pläne zu erfahren. Civitella, der selbst nach Frankfurt gefahren war, um im Interesse des Prinzen das Gleiche zu versuchen, konnte jedoch berichten, daß der Anwalt durchaus reinen Mund hielt – augenscheinlich aus dem sicheren Grunde, daß er von all dem selbst nicht das geringste wußte.
Die Lage schien verzweifelt für den Prinzen. Er wartete immer noch vergebens auf das Eintreffen seines Ratgebers, des Armeniers. Obwohl er äußerlich eine gleichgültige Miene aufzusetzen versuchte, bemerkte doch jeder, der mit ihm sprach, seine innere Unruhe. Auf lange Zeit zog er sich täglich allein in seine Gemächer zurück; manchmal saß er dann stundenlang vor dem Madonnenbild; dann wieder lief er einsam grübelnd durch den Park. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen. Er bat den Marchese zu sich, zu dessen Geschicklichkeit er ein großes Vertrauen hegte.
»Marquis«, rief er dem Eintretenden entgegen, »etwas muß geschehen! Ich warte und warte – und derweil wird der Kampf ausgespielt, ehe wir ihn recht begonnen haben. Setzen Sie sich, Civitella, ich glaube einen Weg gefunden zu haben, und ich möchte ihre Meinung darüber hören.«
Der Marchese nahm Platz; sie sprachen noch einmal in allen Einzelheiten die ganze Lage durch. »Der Herzog«, schloß Prinz Alexander, »ist deshalb im Vorteil, sowohl vor uns, wie vor der Erbprinzessin, weil er den jungen Thronfolger in seiner Obhut und Gewalt hat. Beatus Possidens! Bekommt die Erbprinzessin diese Gewalt, so ist aller Vorteil bei ihr, Marquis, und unsere Sache ist ganz sicher verloren. So ist es und nicht anders. »Dann, Durchlaucht«, rief Civitella, »gibt es nur eines: mit allen Mitteln zu versuchen, den jungen Prinzen in unsere Hand zu bekommen!«
Prinz Alexander sprang auf. »Das ist es!« rief er. »Ich freue mich, daß Sie es fanden, noch ehe ich's selbst aussprach. Und nur Marquis, wollen Sie mir helfen? Sie sind geschickter als meine deutschen Kavaliere und Freunde; hier können Sie mir Ihre Anhänglichkeit beweisen! Darf ich diese Sache in Ihre Hände legen?«
Der Marchese, dessen angeborene Lust zu jeder Intrige dieser Gedanke mächtig anreizte, erklärte sich sofort bereit. »Geben Sie mir Zeit bis heute abend, Durchlaucht!« rief er. »Ich werde inzwischen einen Plan ausdenken.«
Nach der Abendmahlzeit kehrte er zum Prinzen zurück, der mit dem Baron von Freihardt über einer Schachpartie saß.
»Ich hab's!« rief er aufgeregt. »Wollen Sie mir nun bitte genaue Angaben machen, gnädigster Prinz, wo der junge Thronfolger zu finden ist.«
»In demselben Schloß«, erwiderte der Prinz, »in dem mein Vetter seine Gefangenschaft und seine Flitterwochen verlebte; in demselben Zimmer vermutlich, in dem der junge Prinz das Licht der Welt erblickt hat. Es ist mit einem guten Pferde in kaum zehn Stunden von der Residenz zu erreichen.« Er befahl dem Baron, eine Landkarte herzubringen und zeigte ihm genau die Lage. Freihardt, dessen Vater vor manchen Jahren dieses herzogliche Schloß eine Zeitlang verwaltet hatte und der als Knabe lange dort gelebt hatte, schilderte ihm die Baulichkeiten und Gärten sowie das nahegelegene Städtchen in allen Einzelheiten.
Civitella steckte die Karte ein und machte sich Notizen. Als der Prinz ihn befragte, wie er vorzugehn beabsichtigte, bat er, von einer Antwort entschuldigt zu werden. Er zog seinen Degen und rief: »Gnädigster Prinz, auf diese Klinge, die ich liebe und nicht von der Seite lasse, schwöre ich Ihnen: in spätestens drei Wochen ist Ihr junger Neffe in diesem Zimmer! Dann werde ich Ihnen alles erklären!«
Mit einer vollendeten Verbeugung steckte er seinen Degen in die Scheide. Prinz Alexander lächelte und reichte ihm die Hand. »Und wir können nichts tun, Marquis, Ihnen zu helfen?« fragte er.
»Doch!« nickte der Marquis. »Ich brauche den jungen Zedtwitz – geben Sie mir den mit.«
Noch in derselben Nacht ritten Civitella und Zedtwitz aus dem Schloßparke.
Sechzehn Tage später klopfte es mitten in der Nacht an des Prinzen Türe. Der Prinz lag im Bette; aber er hatte noch kein Auge zugetan. Lange hatte er vor dem Madonnenbilde gesessen, hatte endlich den Vorhang vorgezogen, war zu Bett gegangen und hatte versucht zu lesen. Doch fand er keine Ruhe.
Auf sein »Herein!« öffnete sich die Tür; Baron Freihardt führte den fröhlich lachenden Civitella herein.
»Halten zu Gnaden«, rief der Marchese, »und verzeihn Sie gütigst die nächtliche Störung! Mein Auftrag ist ausgeführt, Durchlaucht – ich erwarte den nächsten!«
Mit diesen Worten winkte er zur Türe hin – der Prinz sah eine hübsche Kindsmagd eintreten, die einen dreijährigen Buben auf dem Arme trug.
»Darf ich Ihnen den jungen Prinzen Eberhard vorstellen?« lachte der Marchese.
Es war ein sehr schönes Kind, das in tiefstem Schlafe lag. Eines der kleinen Händchen hatte es fest um den Daumen der Kindsmagd gepreßt. Der Prinz betrachtete es lang, von widerstrebenden Gefühlen erfaßt. Er sprach kein Wort; doch sah man, daß dieses hilflose, arglos schlummernde Kind seine starke Sympathie gewann. Langsam beugte er sich herab und küßte es.
Dann befahl er Freihardt, die Wärterin zu holen. Man hatte in der Zwischenzeit, in der Erwartung der Ankunft des jungen Prinzen, Personal gemietet, auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen konnte; auch waren einige Zimmer zum Empfange vorbereitet. Die Wärterin kam und tat sehr entzückt über ihren Schützling, den sie sogleich aus den Armen der Kindsmagd nahm. Sie ging, während die Magd stehn blieb, als ob sie weitete Befehle erwarte.
»Sie können mit der Wärterin gehen«, sagte Prinz Alexander, »Sie werden müde sein von der Reise und ausschlafen wollen. Einstweilen danke ich Ihnen, liebes Mädchen – wir werden morgen früh weiteres besprechen.«
Aber die Kindsmagd grinste und blieb unbeweglich stehn, während der Marchese in ein helles Gelächter ausbrach.
»Gnädigster Prinz!«, rief er. »Wie gefällt Ihnen das Mädchen? Meinen Sie nicht, daß sie es in Ihrer persönlichen Dienst nehmen sollten?«
Freihardt erschrak über den Scherz des Italieners; er wußte zu gut, daß in dem Herzen seines Herren nur ein Bild Platz hatte: das Veronikas. Er bemerkte eine leichte Wolke auf der Stirne des Prinzen und versuchte rasch einzulenken. »Kommen Sie, Marquis, der Prinz ist sehr müde«, sagte er, »ebenso wie Sie und die Magd. Man wird alles morgen besprechen.«
Aber Civitella ließ sich nicht abschrecken. Er faßte die Kindsmagd um die Hüften und gab ihr einen herzhaften Kuß auf die Wangen. »Nein, nein, Baron«, lachte er, »das muß gleich erledigt werden. So dürfen Sie die hübsche Kleine nicht abspeisen. Sie hat sich sehr verdient gemacht um unsern Prinzen – und es ist wirklich nicht recht, daß er sie nicht einmal ordentlich anschauen will. Sie hat einen Kuß von Ihnen verdient, Prinz, und von Ihnen auch, Baron! Und, bei meiner Ehre, ich will nicht hinausgehen aus diesem Zimmer, bis sie nicht beides bekommen hat!«
»Um Himmels willen, Marquis!« stotterte Freihardt.
Aber zu seinem Erstaunen hörte er plötzlich auch den Prinzen hell auflachen. »Komm her, hübsches Ding«, rief er, »hier hast du deinen Kuß.«
Die Kindsmagd trat ans Bett, knickste sehr tief und artig – und wirklich: Prinz Alexander küßte sie.
»Und nun«, fuhr er fort, »geh zu meinem lieben Freunde Freihardt, daß er dir auch einen Kuß gibt!«
Der Baron glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die hübsche Magd aber trat auf ihn zu, lächelte und knickste vor ihm wie vor dem Prinzen.
Freihardt starrte sie an – und dann – plötzlich – erkannte er das Gesicht.
Es war – der junge Zedtwitz, den er nun auch seinerseits küßte.
»Wollen Sie mir berichten, Marquis?« bat der Prinz. »Ich kann doch nicht schlafen, und wenn Sie nicht zu müde sind –«
»Müde schon, Durchlaucht, und vor allem durstig und hungrig!« antwortete Civitella. »Wenn Sie gütigst befehlen wollen, mir ein wenig Essen und einen Schluck Wein zu bringen – so werde ich bis morgen früh Ihnen erzählen.«
»Recht so!« rief Prinz Alexander. »Wollen Sie dafür sorgen, Freihardt? Und nehmen Sie das hübsche Fräulein mit sich und erquicken Sie es tüchtig! Aber dann bringen Sie es zu Bett – junge Mädchen dürfen nicht so lange aufbleiben!«
Bald brachte ein Lakai eine kalte Schüssel und dazu ein paar Flaschen Wein. Der Marchese begann mit erstaunlichem Appetit zu essen. »Wir sind hergefahren in einer geschlossenen Kutsche«, erklärte er, »aufgebrochen vor Tagesgraun! Jede Ortschaft, jedes Dorf haben wir sorgsam vermieden, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen – so konnten wir nichts zu essen bekommen. Es war nur ein Glück, daß wir genügend Milch und Zwiebäcke mit hatten für das Kind – ich sage Ihnen, Durchlaucht, es ist ungeheuerlich, was so ein Wurm essen und trinken kann.«
Er setzte sich zu dem Prinzen aufs Bett und erzählte.
»Wir ritten die Nacht durch, gnädigster Prinz, und kamen zeitig in dem Städtchen an. Dort stiegen wir in einem kleinen, aber sehr reinlichen Gasthause ab und hielten uns den Tag über ruhig; bis zum Abende mein Jäger eintraf, der mir die nötigen Kleider brachte, die ich zu meinem Plan benötigte. Während des Tages trug ich dafür Sorge, daß das hübsche Töchterlein des Wirts, das uns bediente, möglichst viel in unseren Zimmern und besonders in dem des jungen Zedtwitz zu tun hatte. Ew. Durchlaucht hatten damals in Venedig den Kopf zu voll mit anderen Dingen, sonst würde es Ihnen ebenso aufgefallen sein, wie Baron Freihardt und mir, welch tiefen Eindruck der saubere Junker auf alles macht, was Röcke trägt. Alte Matronen und junge Mädel, Gräfinnen und Schenkdirnen, alle waren gleich verrückt nach ihm. Da konnte es denn nicht ausbleiben, daß der schöne Schmetterling, der kaum flügge geworden, sich den süßen Honig der venetianischen Frauenwelt gut schmecken ließ.
Eines Abends war ich zum Nachtmahl bei dem Grafen – – geladen, gestatten Sie mir, den Namen zu verschweigen, Prinz! Er hatte eine schöne junge Frau, eine Paduanerin, auf die ich längst ein Auge geworfen hatte. Nach der Mahlzeit zog sich die Gräfin in ihr Schlafgemach zurück, während ich mit dem Alten allein saß. Plötzlich kamen einige Herren an, Mitglieder des Bucintoro, dessen eifrige Stütze der alte Graf war; sie hatten den Auftrag, ihn zu einer wichtigen Sitzung zu holen, die er augenscheinlich vergessen hatte. Wir brachen auf und eilten hinunter zur Gondel; als wir eben einstiegen, bemerkte ich, daß ich mein Barett vergessen hatte. Da ich doch nicht mit den anderen fahren konnte – ich war damals noch zu jung, um in den Bucintoro aufgenommen zu sein –, so verabschiedete ich mich, um meine Mütze zu holen. Wie ich die Treppe hinaufstieg, kam mir der Gedanke, daß dieser Zufall vielleicht mein Glück sein könnte. Freilich hatte die junge schöne Gräfin nie auch nur durch einen Blick mich ermutigt, aber ich kannte die Frauen unserer Gesellschaft zu gut, um nicht zu wissen, daß es bei einer guten Gelegenheit häufig nur des kecken Zugreifens bedarf, um sie zu erobern. Ich beschloß also, mein Glück zu wagen und ging geradewegs in das Schlafzimmer der Gräfin, in das ich, ohne zu klopfen, eindrang – zu meiner Freude war die Tür nicht verschlossen. Das Zimmer war dunkel – nur ein schwacher Mondschein fiel durch das Balkonfenster. Ich hörte einen raschen Aufschrei – die Stimme der Gräfin – dann die Worte »Mein Mann, mein Mann!« – Und: »Hier – schnell – verbirg dich!«
Ich erfaßte die Situation im Augenblick – hatte ich mich doch selbst schon in solch fataler Lage befunden. Die Gräfin hatte also einen Liebhaber bei sich! Es wäre wenig ehrenhaft gewesen, die Verlegenheit der schönen Frau auszunutzen – ich sah, daß ihr Herz ausgefüllt war und mußte mich damit abfinden. Im Augenblick vorher noch ein stürmischer Liebhaber, verwandelte ich mich gleich in einen tadellosen Kavalier.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, gnädigste Gräfin!« sagte ich. »Ich habe die Türe verfehlt.« Mit diesen Worten machte ich Miene, mich zurückzuziehen. Die Gräfin stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dann kam sie auf mich zu. Sie brannte einen Leuchter an und hielt ihn hoch, als wolle sie sich vergewissern, daß wirklich nur ich der Eindringling sei.
Ich verbeugte mich, legte die Hand aufs Herz und sagte: »Gnädigste Frau Gräfin wollen überzeugt sein, daß das, was mir ein Zufall mitteilte, mein strengstes Geheimnis bleiben wird. Nehmen Sie an, Frau Gräfin, daß ich blind und taub sei und nichts gesehen noch gehört habe.«
Sie stutzte einen Augenblick; es schien als wolle sie meine Hand ergreifen, um mir zu danken. Dann aber besann sie sich, zog die Lippen hoch und sagte stolz: ›Sie irren sich, Marquis! Sie haben wirklich nichts gesehen noch gehört, was ich mir vorzuwerfen hätte! – Sie hörten mich bei Ihrem unvermuteten Eintritt erschreckt aufschreien – und dachten–dachten – daß ich einen Liebhaber bei mir hätte! Sie versichern mich zwar Ihrer Großmut und Diskretion – aber ich fürchte, daß Sie vielleicht daran vergessen könnten! Nein Marquis – es war kein Mann in diesem Raume!‹
Obwohl dieses Mißtrauen beleidigend war, widersprach ich ihr nicht ›Wie Sie befehlen, Gräfin‹, sagte ich, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken.
Sie bemerkte es sofort. ›Sie zweifeln?!‹ rief sie. ›Ich will Ihnen sagen, wer hier war: eine arme Verwandte von mir, die mein Mann aus Gründen, die Ihnen gleichgültig sein können, nicht bei mir sehn soll!‹ Sie ging ein paar Schritte ins Zimmer und schlug den Vorhang zurück. ›Komm heraus, Marietta‹, fuhr sie fort, ›es ist nicht der Graf!‹
In der Tat kam ein Mädchen hinter dem Vorhang zum Vorschein, das verschämt eine Hand vor das Gesicht hielt. Ihre Kleidung war ein wenig in Unordnung, sie hatte keine Schuhe an, und der Gürtel des Gewandes war gelöst. Ein plötzlicher Verdacht faßte mich; ich ergriff den Leuchter, den die Gräfin auf ein Tischchen gestellt hatte, riß dem Mädchen die Hand herunter und leuchtete ihm ins Gesicht. Meine Bewegung war so schnell, daß sie vollkommen überraschend kam – aber die Überraschung der beiden Frauen war nicht größer als meine eigene, als ich in der armen Verwandten den Kammerjunker von Zedtwitz erkannte. Übrigens muß ich sagen, daß der hübsche Junker schneller seine Geistesgegenwart wiederfand als ich die meine: Er riß mir meinen eigenen Degen aus der Scheide und hielt ihn mir vor die Brust. Ich war wirklich völlig wehrlos – meine einzige Waffe war ein schallendes Lachen, das freilich den hitzigen jungen Liebhaber vollständig entwaffnete.
Die Gräfin gab nun ihre Heuchelei auf; sie bat händeringend um meine Diskretion, die ich ihr natürlich zusagte. Ich habe mein Wort gehalten – sie gilt heute noch als die tugendhafteste Dame in Venedig.
Die Erinnerung an dies kleine Abenteuer, gnädigster Prinz, war es, die mir meinen Plan eingab. Ich gebe offen zu, daß mir nie aufgefallen wäre, ein wie hübsches Frauenzimmer der Junker darstellen könne – die weibliche Schlauheit der Gräfin sah es im Augenblick, so daß der Junker in ihrem Palazzo ungehindert ein- und ausgehen konnte.
Es war also mein Plan, Zedtwitz als Kindsmagd in das Schloß zu schmuggeln; die nötigen Kleider und die Perücke hatte mein Jäger inzwischen besorgt und uns nachgebracht. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß erst wenige Tage vorher ein Mädchen, das der Pflegerin des jungen Prinzen zur Seite stand, mit einem Soldaten durchgegangen war. Inzwischen hatte sich, wie ich voraussetzte, der Junker mit dem Wirtstöchterlein herzlich angefreundet, und es war mir am andern Tage ein leichtes, sie für unsere Zwecke zu gewinnen. Der Junker mußte ihr vorreden, daß er mit mir eine Wette gemacht habe, unerkannt als Mädchen zwei Monate herumzulaufen und bat sie nun um ihre Hilfe, seine Wette zu gewinnen. Das Mädel ging um so bereitwilliger darauf ein, als sie auf diese Weise die Hoffnung hatte, den hübschen Jungen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, auf so lange Zeit in ihrer nächsten Nähe zu haben. Sie kleidete also den Junker zur Probe an und nahm, was sie nur konnte, von ihren eigenen Sachen, um ihn möglichst echt ausschauen zu machen. Ich hörte im Nebenzimmer das Gekicher und Gelächter, und ich muß gestehn, gnädigster Prinz, daß mir ganz warm dabei wurde.
Am Nachmittag ließ ich den Junker auf seinem Gaul abreiten; während der Nacht ließ seine kleine Freundin ihn heimlich durch Fenster wieder ein. Am andern Morgen wurde er von neuem in ein Mädchen verwandelt – – er brachte mir das Frühstück ans Bett, und ich erkannte ihn zunächst ebensowenig wie Sie, Durchlaucht. Das Wirtstöchterlein erzählte ihrem Vater, daß ein Mädchen aus der Residenz da sei, um sich um die Stellung im Schlosse zu bewerben – weder er noch einer der Angestellten des Gasthauses schöpften den leisesten Verdacht. Der Wirt, ein Witwer in den besten Jahren, fing sofort an, mit dem Kindsmädchen zu schäkern – seine Tochter zog es ihm weg. Man sandte einen Knecht zum Schlosse, der den Bescheid zurückbrachte, daß das neue Mädchen sich erst am andern Morgen vorstellen sollte. So mußte es noch diese Nacht im Gasthaus bleiben. Es half beim Aufwarten während des Abendessens, das ich mit dem Wirt und ein paar Handlungsreisenden gemeinsam in der Schenkstube einnahm, und erfreute sich der allgemeinen recht deutlichen Zuneigung aller; besonders schien auf die starken Hände des Wirtes das hübsche Ding eine geradezu magnetische Anziehungskraft auszuüben. Es ging so weit, daß das Wirtstöchterlein hell zu weinen begann und erklärte, daß sie so etwas nicht leiden wollte, und daß der Herr Vater sich schämen sollte! Und sie wisse, daß er es nicht wagen würde, sich so zu benehmen, wenn ihre Frau Mutter noch lebe – die würde es ihm schon gezeigt haben! Und dann erklärte sie, daß es ihre Pflicht sei, das arme unschuldige Ding zu schützen, und daß sie nicht dulden würde, daß ihr Schützling in dem Gastzimmer schliefe, dessen Schloß ohnehin zerbrochen wäre und wo sie Gott weiß welchen unsittlichen Anschlägen ausgesetzt sein könnte! Sondern sie würde das unschuldige Kind für die Nacht in ihr eigen Zimmer und in ihr eigen Bett nehmen und die Tür gut verriegeln und schon dafür sorgen, daß ihm nichts von seiten der Mannsleute geschähe! Und das tat sie auch.
Am anderen Morgen brachte sie das neue Mädchen ins Schloß und führte es vor; man wurde gleich einig und nahm es in den Dienst. Das Wirtstöchterlein hatte es als seine eigene Base vorgestellt und gesagt, daß sie für seine Tugend verantwortlich sei – darum müsse es die Erlaubnis haben, wenigstens zweimal in der Woche zu ihr zu kommen, während umgekehrt auch sie es im Schlosse besuchen dürfte – all das wurde von der Pflegerin gerne zugestanden.
In diesen Tagen hielt ich mich sehr ruhig im Gasthause; ging nur in der Dämmerung ein wenig spazieren. Es war recht langweilig, Durchlaucht, zumal das Wirtstöchterlein auch nicht das allergeringste von mir wissen wollte. Zedtwitz kam ein paarmal, aber dann konnte ich ihn nur sehr kurze Zeit sprechen, da seine kleine Freundin ihn sofort mit Beschlag belegte. Da diese ihn auch im Schloß aufsuchte, da ferner mein Jäger inzwischen die Gelegenheiten ausgekundschaftet hatte und sich an verabredeten Plätzen im Schloßpark herumtrieb, so war ich wenigstens in ständiger Verbindung mit dem Junker. Der junge Prinz wurde sehr gut bewacht; Zedtwitz sollte eine glückliche Gelegenheit abwarten, wo ihm allein die Obhut des Kindes anvertraut sein würde. Für diesen Moment war alles vorbereitet; in einem kleinen unscheinbaren Gasthofe vor dem andern Ende des Städtchens hatte ich meinen zweiten Jäger untergebracht, der mit der Kutsche nachgekommen war; diese stand Tag und Nacht reisefertig da.
Ich war froh, daß das Wirtstöchterlein da war; ich weiß nicht, ob der Junker ohne diese hübsche Zerstreuung so lange seine schwierige Rolle hätte durchführen können. Und dieses Mädchen war es auch, das sehr viel zum Gelingen unseres Planes beitrug, der auf ein Haar zu scheitern drohte. Sie kam eines abends sehr aufgeregt von einem Besuche im Schlosse zurück und berichtete mir, daß sie in der Dämmerung vor dem Parke eine große Kutsche gesehen habe und eine Schar Berittener, alle bis an die Zähne bewaffnet. Da die Nachricht von dem Eingreifen der Erbprinzessin in dem Prozeß ihren Weg längst in das Städtchen gemacht hatte, so befürchtete man dort, wie auch im Schlosse, eine gewalttätige Entführung des Kindes von ihrer Seite – es ist richtig, Prinz, daß man früher auch von unserer Seite einen ähnlichen Schritt befürchtet hatte, doch hatte man diesen Gedanken längst wieder aufgegeben, da während so vieler Monate nichts geschehen war.
Kein Wunder also, daß dieser unvermutete Anblick in der stillen friedlichen Gegend das Herz des braven Mädchens heftig schlagen ließ. Ich traf sofort meine Vorkehrungen, beorderte meine Kutsche an einen anderen Punkt der Parkmauer, wo sie unter dem Schutz einer verfallenen Scheune ziemlich unbemerkt stehn konnte. Während ich meine Jäger dort warten ließ, begab ich mich mit dem Mädchen zu dem vom Vollmonde beschienenen Schloßpark. Inzwischen war der geheimnisvolle Trupp Bewaffneter auch von andern bemerkt worden; es kamen immer mehr aufgeregte Leute in die Wirtsstube; man beschloß, unter Führung des Wirtes und des Nachtwächters dem Schlosse zu Hilfe zu eilen.
Mittlerweile hatte sich im Schloß ein kleines Drama abgespielt. Einige Bewaffnete waren unbemerkt eingedrungen, in den Flügel des Gebäudes, der dem jungen Prinzen bestimmt war, geeilt und hatten das Kind vor den Augen der schreienden Pflegerin aus der Wiege gerissen. Eine große verschleierte Frau war mit ihnen; diese hatte den Prinzen sofort auf die Arme genommen – sie schritt voraus, während die Bewaffneten ihren Rückzug deckten. Das Schreien der Kindsfrau hatte die Dienerschaft und die Kavaliere herbeigerufen; man machte sich sofort an die Verfolgung und erreichte die Entführer im Parke. Da diese jedoch mit Schußwaffen versehen waren und reichlich davon Gebrauch machten, so wurden zwar eine Anzahl der Verfolger verwundet, nicht aber den Räubern ihre Beute abgejagt. Schon glaubten sich diese in Sicherheit, als in ihrem Rücken mit großem Geschrei der Haufe der Bauern und Stadtleute erschien; hierdurch gerieten die Entführer für einen Augenblick in Verwirrung, da sie ihren Weg abgeschnitten sahen. Sie besannen sich aber sofort und wandten sich kräftig gegen den neuen Feind, während zwei von ihnen mit der verschleierten Frau, die das Kind trug, über eine große Rasenfläche forteilten. – Schon hatten sie fast die Parkmauer bei einem kleinen Pförtchen erreicht, als plötzlich, die Röcke hochaufgeschürzt, ein Frauenzimmer heranstürzte – eben die neue Kindsmagd, unser Junker. Er schwang einen mächtigen Reitersäbel über dem Kopf – die Räuber waren durch diesen seltsamen Angriff so verwirrt, daß sie die Verteidigung fast vergaßen, er verwundete beide, riß dann das Kind aus den Armen der Frau und eilte zurück – in der nächsten Minute war er von der begeisterten Menge der Schloßleute sowie der Städter und Bauern umgeben, die ihm laut zujauchzten. Das Wirtstöchterlein vor allem hängte sich weinend und lachen an seinen Hals, als wollte es ihn überhaupt nicht mehr loslassen. Im Triumph brachte man das Heldenmädchen zum Schlosse zurück.
Diese Gelegenheit hatten die zwei Bewaffneten benutzt, um mit der verschleierten Frau durch das Pförtchen zu entkommen. Auch von den anderen Leuten der Entführerbande erwischte man keinen, obwohl man den Park und die Umgegend aufs genaueste absuchte.
Es galt als ausgemacht, daß der Anschlag von der Erbprinzessin ausging; ja die Schloßleute behaupteten, daß diese selbst die Bande geführt habe. Gesehn hatte zwar keiner ihr Gesicht, doch glaubten viele, ihre stolze Figur erkannt zu haben. Der Umstand, daß die Erbprinzessin ja mit allen Gelegenheiten innerhalb und außerhalb des Schlosses aufs genaueste Bescheid wußte, machte diesen Verdacht fast zur Gewißheit – nur so war es zu erklären, daß die Bewaffneten trotz aller Vorsichtsmaßregeln ungesehn ins Schloß dringen konnten, um urplötzlich in dem Schlafgemach des jungen Prinzen zu erscheinen.
Diesen Umstand machte ich mir zunutze – wenn unser Plan überhaupt gelingen sollte, so mußte er sogleich ausgeführt werden und zugleich der andern Seite in die Schuhe geschoben werden.
Die Pflegerin war von dem Schrecken, den sie erlitten hatte, so angegriffen, daß sie das Bett hüten mußte; so wurde die persönliche Obhut des Kindes vollständig der heroischen Kindsmagd anvertraut – man legte zwei bewaffnete Jäger in das Vorzimmer. Ich sandte im Laufe des folgenden Tages die Wirtstochter mit einem Brief an Zedtwitz und gab ihm genaueste Instruktionen, die er gewissenhaft ausführte. Er ließ sich in der letzten Nachtstunde, nur mit einem Hemd bekleidet, an einem Strick, den ich ihm gesandt hatte, von dem Fenster herunter und traf mich und meinen Jäger im Gebüsch im Parke versteckt. Alles ging vorschriftsmäßig, und mein Plan mußte nur insofern eine Änderung erleiden, als die verliebte Wirtstochter nicht zu bewegen gewesen war, für diese Nacht nach Hause zu gehen, sondern darauf bestanden hatte, in den Armen ihres jungen Helden zu schlafen. Als wir drei den Strick hinaufgeklettert waren, fanden wir sie in tiefstem Schlafe – beide Arme hielten eng ein Kissen umschlungen, das ihr der Junker an seiner Stelle untergeschoben hatte. Vorsichtig legte sich Zedtwitz wieder zu Bett an ihre Seite, während mein Jäger und ich unsere Masken anlegten – wie Sie wissen, Durchlaucht, trägt ein Venetianer die immer in der Tasche. Dann stürzten wir uns auf die Wirtstochter, schoben ihr einen Knebel in den Mund, um sie am Schreien zu hindern, und banden sie an Armen und Beinen – doch ließen wir ihr die Augen offen, damit sie den weiteren Verlauf gut sehn sollte. Wir warfen uns nun auf Zedtwitz, der im Hemd aus dem Bett sprang und uns zum Schein einen verzweifelten Kampf lieferte. Schließlich sank er zu Boden, von meinem Theaterdolch, der in den Griff zurückschnellt, in die Brust getroffen. Um das arme Mädchen wenigstens einigermaßen zu beruhigen, beugte ich mich über ihn, als ob ich ihn untersuchte und sagte halblaut: ›es ist nichts – nur eine kleine Fleischwunde! Eine leichte Ohnmacht, die bald vergehn wird!‹ Und ich fuhr fort, zu meinem Jäger gewandt: ›Binde Arme und Beine recht fest! Ich nehme das Kind – und dann fort mit beiden – die Erbprinzessin wird uns gut belohnen!‹
Der Jäger machte Anstalten, als ob er den Junker binden wollte, während ich über das Mädchen, das sich nicht rühren konnte, alle Decken und Kissen warf, die ich nur finden konnte – was nun geschah, sollte sie gewiß nicht mehr sehn. Zedtwitz erhob sich, ergriff das Kind, warf seiner kleinen Freundin noch eine Kußhand zu und schwang sich aus dem Fenster, der Jäger folgte ihm mit den Frauenkleidern und der Perücke, während ich den Beschluß machte. Wir kletterten an dem langen Strick herunter – zum Glück erwachte der junge Prinz nicht. In dem nächsten Gebüsch machten wir halt; jetzt nahm ich das Kind, während der Jäger den Junker auf die Arme nahm. Wir liefen über die Wiesen, weil dies der schnellste Weg war – da kommen zwei Parkwächter mit lautem Geschrei auf uns zu. Ich rufe meinem Jäger zu, weiterzulaufen, ziehe meinen Degen und werfe mich den beiden Burschen entgegen. Beide knallen ihr Pistol auf mich ab – das eine versagt, aber das andere schießt mir den Dreispitz vom Kopf. Von dem Knall erwacht das Kind in meinem Arm und fängt jämmerlich an zu schreien. Ich höre die Fenster und Türen sich öffnen und ein Geschrei und Gelaufe von allen Seiten. Schnell tue ich ein paar gute Stiche gegen die beiden braven Leute – ich hoffe, daß ich sie nicht ernsthaft verwundet habe. Dann wende ich, springe mit langen Beinen über die Wiese ins Gebüsch – finde endlich die Mauer und klettere hinauf – Gott sei Dank, keine hundert Schritte von mir entfernt sehe ich meine Kutsche halten; mein Jäger und Zedtwitz springen schon auf sie zu. Zwei Minuten später saß ich mit Zedtwitz und dem jungen Prinzen im Wagen – einer der Jäger peitschte vom Bock aus auf die Gäule los, während der andere auf sein Pferd sprang und unsere beiden Gäule an Halftern neben sich galoppieren ließ. Es war nicht einen Augenblick zu früh, schon kamen die Schloßleute aus dem Parktore und über die Mauern.
Den Rest wissen Sie, gnädigster Prinz. Wir vermieden jeden Ort und hielten die Gardinen unserer Kalesche fest geschlossen. Wenn wir Rast machten, verbargen wir uns auf einem Felde oder in einem Wäldchen – bei einem solchen Halt machte Zedtwitz aufs neue Toilette. Ihr Herr Neffe benahm sich musterhaft – und ein besseres Kindermädchen wie den Junker habe ich nie gesehn.
Noch etwas, Durchlaucht, es ist ganz gewiß, daß man unsern Streich der Erbprinzessin in die Schuhe schieben wird. Die Wirtstochter wird die Entführung in allen Einzelheiten beschreiben – nur über den Punkt, daß die entführte Kindsmagd ein Mann und ihr Geliebter war, wird sie gewiß reinen Mund halten! Wenn wir also den jungen Prinzen hier sicher und unentdeckt bewahren können – so wird kein Mensch Verdacht auf uns werfen.«
»Wir werden es besser machen als die Leute des alten Herzogs«, sagte Prinz Alexander, »verlassen Sie sich darauf, Marquis! Die hatten wenig zu verlieren – wir: alles!«
Er bedankte sich bei dem Marchese und schüttelte ihm die Hand. Kaum war der Marchese aus dem Zimmer, als es leise an die andere Türe pochte. »Wer ist da?« rief der Prinz erstaunt.
Die Tür öffnete sich; herein trat der junge Zedtwitz.
»Ich bitte um Verzeihung, gnädigster Prinz«, sprach er, »ich muß Ihnen eine Mitteilung machen. Ich warte schon lange im Nebenzimmer, aber ich wollte nicht hineinkommen, solange ich noch eine Stimme hörte.«
»Was ist es, mein Junge?« sagte der Prinz.
Der Junker fragte: »Hat Ihnen der Marchese gesagt, daß die erste Entführung von der Erbprinzessin geleitet wurde?«
»Gewiß!« nickte der Prinz.
Zedtwitz kam ganz nahe ans Bett und beugte sich herab. »Er irrt sich«, sagte er leise, »es war nicht die Erbprinzessin!«
»Wer war es denn?« fragte der Prinz Alexander.
Der Junker wandte den Kopf und hob den Arm, zeigte auf das verhangene Madonnenbild. »Diese Frau war es«, sagte er.
Der Prinz richtete sich hoch. »Die! – Veronika? – Woher weißt du es?«
»Als ich das Kind aus ihrem Arm riß«, sagte der Junker, »riß ich den Schleier mit – den sie gleich wieder hoch nahm. So sah ich für einen Augenblick im Mondschein ihr Gesicht. – Ich schwöre es, gnädigster Prinz, es war die Dame von Murano!«
Der Prinz schwieg – minutenlang. Dann schickte er den Junker fort. »Gehn Sie schlafen, mein Junge – es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie mir Bescheid sagten.«
Unbeweglich saß er eine Weile da, endlich stand er auf, steckte alle Kerzen an. Dann ging er auf und nieder im Zimmer, tief nachdenkend. Sie war es – Veronika? Der Junker konnte sich nicht irren – er war der einzige, der die verschleierte Frau, die den nächtlichen Überfall leitete, ohne diesen Schleier gesehn hatte! Er kannte sie gut, er hatte ihr Bild hier gesehn wie in Venedig und liebte und bewunderte es kaum weniger als er selbst. Und das Original dieses Bildes lebte nicht weniger in des Junkers Gedächtnis – er hatte dabeigestanden, als, heimkehrend von Chioggia, die Damen in Murano das Schiff verließen, damals als er, der Prinz, zum ersten Male das Wort an Veronika richtete! Zwei- oder dreimal hatte ihn der Junker dann nach Murano begleitet, dort in den Gärten Veronika gesehn und ein paar Worte mit ihr sprechen dürfen. Er hatte endlich mit ihm an ihrem Krankenbette gestanden –
Nein, er konnte sich nicht irren: Das Bild dieser Frau vergaß keiner, der es einmal sah!
Dann aber – was konnte das bedeuten!
Doch nur dies eine: Sie handelte im Auftrage ihres Freundes und Ratgebers – des Armeniers –, der nun auch sein Freund und Ratgeber war!
Und sie handelte – für ihn, den Prinzen! Er schien nun ganz klar zu sehn, alle Zusammenhänge zu erkennen. Zu lange hatte er gezögert, zu lange es immer aufgeschoben, zu handeln – gerade darauf aber wartete der Armenier. Und da nichts geschah von seiten des Prinzen durch all diese Zeit, so griff er selber ein und bediente sich hierzu der Hilfe dieser Frau – konnte er besser dem Prinzen zeigen, daß die Tage des Zweifelns und Zauderns vorüber seine und daß es endlich an der Zeit sei, zu handeln?! Wenn er sich nicht entschließen konnten – nun, so beschloß man es eben für ihn – wenn er nicht handeln konnte – diese Frau konnte es!
Freilich, der Zufall wollte es, daß sein Plan geglückt war, während der andere scheiterte! Aber: scheiterte nur im letzten Augenblick durch das schnelle Eingreifen des Junkers. Er hatte sich zum Handeln entschlossen, o gewiß – aber sicherlich später als sein geheimer Freund und die geliebte Frau – deren Plan der seine nun über den Haufen geworfen hatte, während er zugleich die Geliebte in schwere Gefahren brachte.
Er trat vor das Bild; zog den Vorhang zurück, starrte lange hinauf.
›Wenigstens eines weiß sie nun‹, dachte er, ›daß ich nicht ganz tatenlos dasitze!‹ Er löste eine schmale Goldkette vom Halse und öffnete das klein, runde Medaillon, das daran hing – sie hatte es ihm einst in Murano geschenkt. Er betrachtete das Miniaturbild, verglich es Zug um Zug mit dem Madonnenbilde.
Da hörte er einen leichten Seufzer hinter sich. Er schrak auf, wandte sich um –
In der Mitte des Zimmers, regungslos, stand Veronika.
Prinz Alexander griff sich an die Stirne, schwankte, hielt sich mühsam an einem Stuhle fest. »Du –?« flüsterte er.
Er taumelte auf sie zu, hob seine Arme, sie zu umarmen. Aber sie wehrte ihn still ab. Da sank er in die Knie, griff ihre Hand, die er mit heißen Küssen bedeckte. Sie ließ ihn gewähren, streichelte sein Haar.
Endlich sagte sie: »Steh auf!«
Eine Fülle von Fragen drängte sich auf seine Lippen; sie merkte es wohl, lächelte. »Frage nicht!« mahnte sie. »Frage nicht, woher ich komme, noch wohin ich gehe. – Er schickt mich. Er läßt dir sagen, daß du ihn bald sehen wirst!
Wieder griff er ihre Hand – aber sie entzog sie ihm langsam. »Bleibe stehn, wo du stehst«, sagte sie, »rühre dich nicht – folge mir nicht!«
»Und dich – wann werde ich dich wiedersehn?« stammelte er.
Ein fast schmerzliches Lächeln überzog ihre Züge. »Bald«, erwiderte sie, »bald, wenn er es will.«
Langsam schritt sie hinaus aus dem Raum.
Der Prinz schaute ihr nach – noch hörte er ihren Tritt. Ah, sie stand vor ihm, eben noch, ein Wesen aus Fleisch und Blut! Und doch zweifelte er jetzt schon, ob es wirklich lebte – ob es nicht eine Erscheinung war, eine Truggestalt seiner Phantasie, die ihn narrte –
Er ging zum Schreibtisch, ließ sich auf einen Stuhl niederfallen und grub den Kopf in beide Hände. Ein Schauder schüttelte seinen Körper, dann weinte er bitterlich.
*
Früh am andern Morgen stürmte Freihardt ins Zimmer. »Prinz!« rief er, »Prinz, das Kind ist fort!«
Zwei Wärterinnen schliefen in dem Schlafraume, der dem jungen Prinzen bestimmt war, zwischen ihren Betten stand die Wiege. Vor jede der Türen hatte Freihardt die besten Leute als Wachen hingestellt. Unterhalb des Fensters gingen drei Wachen auf und nieder.
Und niemand hatte das allergeringste bemerkt. Man durchsuchte jeden Raum, Speicher und Keller, jeder kleinste Winkel des Schlosses, jedes Gebüsch der Gärten – nirgends fand man die leiseste Spur. Prinz Alexander vernahm persönlich jeden einzelnen seines Gefolges und der Dienerschaft, fragte jeden besonders, ob man eine große Frau gesehn habe – vergebens. Niemand hatte sie gesehn; niemand wußte über das Verschwinden des Kindes.
Am Abend saß der Prinz mit seinen Intimen bei der Tafel – die Unterhaltung war sehr einsilbig. Plötzlich sprang der junge Zedtwitz auf und starrte in die Luft – hob dann den Kopf, als ob er auf etwas lausche.
»Was gibt's, Junker?« fragte Graf Osten.
Aber Zedtwitz antwortete nicht. Er lief vom Tische fort, öffnete das Fenster – aus weiter Ferne hörte man ein schwaches Schreien. »Ein Kater miaut!« rief Civitella.
»Irgendein Kind schreit in der Nachbarschaft!« sagte Baron Freihardt.
»Nein, nein!« rief der Junker. »Es ist nicht – irgendein Kind! Es ist das Kind – unser Kind – ist der junge Prinz!«
Er lief durch das Zimmer; man hörte ihn die Treppen hinunterjagen. Schweigend blieben die andern sitzen.
Es dauerte geraume Zeit, bis der Junker zurückkam – schon vom Gange her scholl seine fröhliche Stimme: »Ich bringe es! Ich bringe es!« Dann sprang er durch die offene Tür, den jungen Prinzen im Arm. »Ich lief dem Schalle nach,« berichtete er, »ah, diese Kinderstimme kenne ich unter tausenden! Ich suchte im Park – aber der Schall narrte mich – bald schien er hierher, bald dorther zu kommen. Endlich eilte ich hinaus aus dem Park herum um die Mauern der alten Mühle zu – jetzt vernahm ich deutlich das Schreien. Mitten auf der Landstraße lag das Kind – auf seinem seidenen Kissen, als ob es eben erst hingelegt worden wäre. Aber kein Mensch war weit und breit!«
Er zog einen Brief aus seiner Tasche: »Dieser Brief lag bei dem Kinde, gnädigster Prinz. Er ist an Sie adressiert.«
Prinz Alexander öffnete den Brief und las:
»Nehmen ist leichter als Halten. Sie, Prinz müssen beides lernen.«
Keine Unterschrift – – aber es waren die Schriftzüge des Armeniers.
»So ist er in der Residenz!« sagte der Prinz.