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Karl Mohnen war nicht der einzige, der um diese Zeit unter die Räder kam, die den Prunkwagen der Exzellenz trugen. Der Geheimrat übernahm völlig die grosse Volkshypothekenbank, die längst unter seinem Einfluss war, und bemächtigte sich zugleich der Kontrolle über das weit im Lande verzweigte System der Frostsilbervereine, die unter klerikaler Flagge bis ins letzte Dorf hinein ihre kleinen Sparbanken ausdehnten. Das ging nicht ohne scharfe Reibungen ab; so strauchelten manche alten Beamten, die dem neuen Regime, das ihnen jede Selbständigkeit nahm, widerstrebten. Rechtsanwalt Manasse, der gemeinsam mit Justizrat Gontram als juristischer Berater bei diesen Transaktionen fungierte, versuchte manche Härten zu mildern, ohne doch verhindern zu können, dass Exzellenz ten Brinken rücksichtslos genug vorging und alles kurzerhand hinauswarf, was ihm nur einigermassen überflüssig erschien, auch auf recht zweifelhafte Weise einzelne zur Seite stehende kleine Rabattvereine und Sparkassen zwang, sich seiner übermächtigen Kontrolle zu unterwerfen. Bis weit in den Industriebezirk hinein erstreckte sich nun seine Macht, alles was mit dem Boden zu tun hatte, Kohlen und Metalle, Säuerlinge, Wasserwerke, Grundstücke und Gebäude, landwirtschaftliche Genossenschaften, Wegebauten, Talsperren und Kanalanlagen, alles das war im ganzen Rheinlande mehr oder weniger von ihm abhängig. Seit Alraune zurück war im Hause, griff er noch skrupelloser überall zu, von vornherein seines Erfolges bewusst; kannte keine Rücksichten mehr, keinerlei Hemmungen und Bedenken.
In langen Seiten erzählt er in dem Lederbuche von allen diesen Geschäften. Es machte ihm augenscheinlich Freude, genau zu untersuchen, was alles gegen irgendeine neue Unternehmung sprach, wie ausserordentlich gering im Grunde die Möglichkeit eines Erfolges schien – nur, um gerade diese Sache dann um so sicherer anzugreifen und schliesslich den Erfolg dem Wesen zuschreiben zu können, das in seinem Hause weilte. Auch holte er sich zuweilen Rat von ihr, ohne ihr freilich irgendwelche Einzelheiten anzuvertrauen; er fragte nur: »Soll man das tun?« Wenn sie nickte, tat er's, und liess es, wenn sie den Kopf schüttelte.
Gesetze schienen schon lange nicht mehr zu existieren für den alten Mann. Hatte er früher oft lange Stunden mit seinen Anwälten beraten, um einen Ausweg zu finden, ein offenes Hintertürchen bei einer besonders heikeln Wendung, hatte er alle möglichen Lücken des Gesetzbuches genau studiert und mit hundert Kniffen und Pfiffen recht übele Handlungen immer noch juristisch haltbar gemacht, so kümmerte er sich nun längst nicht mehr um solche Winkelzüge. Fest vertrauend auf seine Macht und sein Glück, brach er offen genug das Recht; er wusste gut, dass es keinen Richter gab, wo kein Kläger aufzustehen wagte. Freilich häuften sich seine Zivilprozesse, mehrten sich auch die Anzeigen, die meist anonym, oft auch namentlich, bei der Behörde gegen ihn einliefen. Aber seine Verbindungen gingen so weit, ihn deckten der Staat wie die Kirche, mit denen er beiden wie auf Duzfuss stand; seine Stimme im Provinziallandtag war ausschlaggebend und die Politik des erzbischöflichen Palais in Köln, die er zum mindesten materiell unterstützte, gab ihm fast eine noch bessere Rückendeckung. Bis nach Berlin gingen seine Fäden: der aussergewöhnlich hohe Orden, der ihm bei Enthüllung des Kaiserdenkmals von allerhöchster Hand selbst um den Hals gehängt wurde, dokumentierte das öffentlich genug. Freilich hatte er eine recht runde Summe zu diesem Monument beigesteuert – aber die Stadt hatte dafür auch das Grundstück, das sie zur Verfügung stellte, sehr teuer von ihm erstehen müssen. Dazu seine Titel, dazu sein würdiges Alter, seine anerkannten Verdienste um die Wissenschaft – welcher kleine Staatsanwalt wäre da gerne gegen ihn vorgegangen?
Ein paarmal drang der Geheimrat selbst auf Untersuchung – da stellten sich die Anzeigen wirklich als arge Uebertreibungen heraus, zerplatzten wie Seifenblasen. So nährte er die Skepsis der Behörde gegen die Denunziationen. So weit ging es, dass, als ein junger Assessor in einer Sache, die ihm sonnenklar schien, durchaus gegen die Exzellenz einschreiten wollte, der Erste Staatsanwalt, ohne nur einen Blick in die Akten zu werfen, ihm zurief: »Dummes Zeug! Querulantengeschrei – wir kennen das! Wir würden uns nur blamieren damit.«
Der Querulant war der provisorische Direktor des Wiesbadener Landesmuseums, der von dem Geheimrat alle möglichen Ausgrabungen gekauft hatte, sich betrogen fühlte und ihn nun öffentlich der Fälschung zieh. Die Behörde nahm die Klage nicht auf, aber sie machte dem Geheimrat Mitteilung. Und der wehrte sich gut: schrieb in seinem Leiborgan, der Sonntagsbeilage der »Kölnischen Zeitung« einen schönen Artikel, der den humanen Titel »Museumspflege« führte. Er ging auf nichts ein, was ihm zum Vorwurf gemacht wurde, aber er griff seinen Gegner so blutig an, vernichtete ihn so gründlich, stellte ihn als solchen Nichtswisser und Kretin hin, dass der arme Gelehrte völlig am Boden lag. Und er zog seine Schnüre, liess seine Rädchen laufen – – nach wenigen Monaten schon war ein anderer Herr Direktor des Museums. Der Erste Staatsanwalt nickte befriedigt, als er diese Notiz in der Zeitung las; er brachte das Blatt dem Assessor hinüber und sagte: »Da lesen Sie, Kollege! Danken Sie Gott, dass Sie damals mich fragten und so eine Mordsdummheit vermieden.« Der Assessor bedankte sich, aber er war gar nicht zufrieden.
Zur »Lese« fuhren die Schlitten und die Autos am Tage Mariä Lichtmess, da war der grosse Fastnachtball der Gesellschaft. Die Hoheiten waren da, und um sie herum, was immer nur Uniform hatte in der Stadt, oder bunte Korpsbänder und Mützen. Dazu die Professorenkreise und die vom Gericht, von der Regierung und der Stadtverwaltung, endlich die reichen Leute, Kommerzienräte und Grossindustrielle. Alles war in Kostüm, nur den erklärten Ballmüttern war »die falsche Spanierin« erlaubt; selbst die alten Herren mussten ihren Frack zu Hause lassen und erschienen im schwarzen Domino, den man ›Mönemantel‹ nannte.
Justizrat Gontram präsidierte an dem grossen Tische der Exzellenz; er kannte den alten Keller und verstand es, die besten Marken herbeizuschaffen. Die Fürstin Wolkonski sass da mit ihrer Tochter Olga, Gräfin Figueirera y Abrantes, und mit Frieda Gontram, die beide in diesem Winter bei ihr zu Besuch waren. Dann der Rechtsanwalt Manasse, ein paar Privatdozenten und Professoren und ebensoviel Offiziere. Und der Geheimrat selbst, der sein Töchterlein zum ersten Male auf einen Ball führte.
Alraune kam als das Fräulein von Maupin, in dem Bubenkleide des Beardsley. Sie hatte manche Schränke in dem Hause ten Brinken aufgerissen, in alten Kasten und Truhen herumgestöbert; da fand sie, von der Urahne her, ganze Stösse schöner Mechelner Kanten. Gewiss klebten Zähren armer Näherinnen in feuchten Kellern daran, wie an allen herrlichen Spitzenkleidern schöner Frauen, aber Alraunens frechen Anzug netzten noch frische Tränen – der gescholtenen Schneiderin, die sich nicht zurechtfinden konnte mit dem kapriziösen Kostüm, der Friseurin, die sie schlug, weil sie die Frisur nicht begriff und die Chi-Chis nicht legen konnte, und der kleinen Zofe, die sie beim Anziehen ungeduldig mit langen Nadeln stach. Oh, es war eine Qual, dieses Mädchen Gautiers in der bizarren Auffassung des Engländers – – aber als es fertig war, als der launenhafte Knabe auf hohen Stöckeln mit dem zierlichen Prunkdegen durch den Saal stolzierte, da war kein Auge, das ihm nicht gierig folgte, kein altes und kein junges, von Herren keines und keines von Damen.
Der Chevalier de Maupin teilte mit Rosalinde seinen Erfolg. Rosalinde – die der letzten Szene – das war Wolf Gontram, und nie sah die Bühne eine schönere. Zu Shakespeares Zeiten nicht, als schlanke Knaben seine Frauenrollen spielten, und auch später nicht, seit Margaret Hews, Prinz Ruperts Geliebte, zum ersten Male als Frau das schöne Mädchen in ›Wie es euch gefällt‹ darstellte. Alraune hatte den Jungen angezogen; mit unendlicher Mühe hatte sie ihm beigebracht, wie er gehen und wie er tanzen müsse, wie er den Fächer bewegen und wie er lächeln solle. Und wie sie ein Knabe schien und doch ein Mädchen in dem Gewande Beardsleys, dessen Stirne Hermes küsste und Aphrodite zugleich, so verkörperte Wolf Gontram nicht minder die Figur seines grossen Landsmannes, der die ›Sonette‹ schrieb: war in seinem Schleppgewande in rotem golddurchwirktem Brokate ein schönes Mädchen und doch wieder ein Knabe.
Vielleicht verstand das alles der alte Geheimrat, vielleicht der kleine Manasse, vielleicht auch ein wenig Frieda Gontram, deren rasche Blicke flackernd von einem zum andern flogen. Sonst gewiss keiner in dem gewaltigen Saale der ›Lese‹, in dem schwere Girlanden roter Rosen rings von der Decke hingen. Aber das fühlten alle, dass hier ein Besonderes war, etwas, das seine eigenen Werte hatte.
Ihre Kgl. Hoheit sandte ihren Adjutanten, liess die beiden holen und sie sich vorstellen. Sie tanzte den ersten Walzer mit ihnen, als Herr zuerst mit Rosalinde und darauf als Dame mit dem Chevalier de Maupin. Und sie klatschte laut in die Hände als dann beim Menuett Théophile Gautiers lockiger Knabengedanke kokett sich neigte vor Shakespeares holdem Mädchentraume. Ihre Kgl. Hoheit war selbst eine ausgezeichnete Tänzerin, war die erste auf dem Tennisplatze und die beste Schlittschuhläuferin in der Stadt – – sie hätte am liebsten die ganze Nacht hindurch nur mit den beiden getanzt. Aber die Menge wollte auch ihr Recht: so flogen Mlle. de Maupin und Rosalinde aus einem Arm in den andern; bald pressten sie sehnige Arme junger Männer, bald fühlten sie heiss atmende Brüste schöner Frauen.
Gleichmütig blickte Justizrat Gontram darein; die Trierische Punschbowle, die er nun braute, interessierte ihn weit mehr als die Erfolge seines Sohnes. Er versuchte der Fürstin Wolkonski eine lange Geschichte von einem Falschmünzer zu erzählen, aber Ihre Durchlaucht hörte nicht hin. Sie teilte die Befriedigung und den freudigen Stolz der Exzellenz ten Brinken, fühlte sie sich doch mitbeteiligt daran, dass dieses Wesen, ihr Patenkind Alraune, in der Welt war. Nur der kleine Manasse war missmutig genug, schimpfte und knurrte halblaut vor sich hin.
»Du solltest nicht soviel tanzen, Junge,« fauchte er Wolf an, »solltest mehr achtgeben auf deine Lungen!« Aber der junge Gontram hörte ihn nicht.
Gräfin Olga sprang auf, flog hin zu Alraune. »Mein hübscher Kavalier –« flüsterte sie. Und der Spitzenknabe antwortete: »Komm her, kleine Toska!« Er wirbelte sie daher, links herum, rings durch den Saal, liess sie kaum Atem schöpfen. Brachte die Atemlose zurück zum Tisch, küsste sie mitten auf den Mund.
Frieda Gontram tanzte mit ihrem Bruder, sah ihn lange an mit klugen grauen Augen: »Schade, dass du mein Bruder bist.« sagte sie.
Er verstand sie gar nicht. »Warum denn?« fragte er.
Sie lachte. »O du dummer Junge! – Uebrigens hast du ja im Grunde ganz recht mit deiner Frage: ›Warum denn?‹ Denn eigentlich sollte das wirklich kein Hinderungsgrund sein, nicht wahr? Es ist nur eben, weil uns die Moralfetzen unserer blöden Erziehung immer noch wie die Bleikugeln in unseren Schossnähten hängen und uns die Tugendröcke fein sittsam strecken. – Das ist es, mein schönes Brüderchen!«
Aber Wolf Gontram begriff nicht eine Silbe; da liess sie ihn lachend stehen und nahm den Arm des Fräulein ten Brinken. »Mein Bruder ist ein schöneres Mädchen, wie du,« sagte sie, »aber du bist ein süsserer Junge.«
»Und du,« lachte Alraune, »du blonde Aebtissin, du hast die süssen Jungen lieber?«
Sie antwortete: »Was darf Héloise verlangen? Grimmig schlecht ging es meinem armen Abälard, weisst du – der war schlank und war zart wie du es bist! Da lernt man sich bescheiden. Dir aber, mein holder Knabe, der du ausschaust, wie ein seltsam Pfäfflein einer neuen und frechen Lehre, dir wird niemand ein Leid antun.«
»Meine Spitzen sind alt und sind ehrwürdig,« sagte der Chevalier de Maupin.
»Da decken sie am besten die süsse Sünde,« lachte die blonde Aebtissin. Sie nahm ein Spitzglas vom Tische und reichte es ihr: »Trink, süsser Junge.«
Die Gräfin kam, heiss mit bittenden Augen. »Lass ihn mir,« drängte sie ihre Freundin, »lass ihn mir!« Aber Frieda Gontram schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie scharf, den nicht! Freier Wettbewerb, wenn du magst.«
»Sie hat mich geküsst,« machte die Tosca geltend. Und Héloise spottete: »Glaubst du: dich allein in dieser Nacht?« Sie wandte sich zu Alraune.
»Entscheide, mein Paris, wen willst du? Die weltliche Dame oder die geistliche?«
»Heute?« fragte das Fräulein de Maupin.
»Heute – und solange du magst!« rief Gräfin Olga.
Da lachte der Spitzenknabe. »Ich will die Aebtissin – und die Tosca auch.«
Und er lief lachend hinüber zu dem blonden Teutonen, der als roter Henkersknecht daherstolzierte mit einem gewaltigen Richtbeil aus Pappe.
»Du, Schwager,« rief sie, »ich habe zwei Mamas bekommen! – Willst du sie hinrichten, alle beide?«
Der Student reckte sich und streifte die Aermel hoch. »Wo sind sie?« brüllte er.
Aber Alraune fand keine Zeit zu antworten, der Oberst des 28. Regiments holte sie zum Two-Step.
– – Der Chevalier de Maupin trat an den Tisch der Professoren.
»Wo ist dein Albert?« fragte der Literarhistoriker, »Und wo ist deine Isabella?«
»Mein Albert läuft überall herum, Herr Examinator,« antwortete Alraune, »in zwei Dutzend Exemplaren springt er im Saal! Und Isabella – –« sie liess ihre Augen suchend herumschweifen. »Isabella,« fuhr sie fort, »die will ich dir auch gleich zeigen.«
Sie trat auf das Töchterlein des Professors zu, ein fünfzehnjähriges, verschüchtertes Ding, das sie mit grossen blauen Augen verwundert ansah. »Willst du mein Page sein, kleine Gärtnerin?« fragte sie.
Da sagte das flachshaarige Mädel: »Ja – gerne! – Wenn du mich willst!«
»Du musst mein Page sein, wenn ich eine Dame bin,« belehrte sie der Chevalier de Maupin, »und meine Zofe, wenn ich als Herr gehe.« Und die Kleine nickte.
»Bestanden, Herr Professor?« lachte Alraune.
»Summa cum laude!« bestätigte der Literarhistoriker. »Aber lass mir doch lieber meine kleine Trude.«
»Jetzt frage ich!« rief das Fräulein ten Brinken. Und sie wandte sich an den kleinen, runden Botaniker. »Welche Blumen blühen in meinem Garten, Herr Professor?«
»Rote Hibiskus,« antwortete der Botaniker, der Ceylons Flora gut kannte, »Goldlotos und weisse Tempelblumen.«
»Falsch!« rief Alraune. »Ganz falsch! Weisst du es, Herr Schützenbruder aus Haarlem? Welche Blumen wachsen in meinem Garten?«
Der Professor der Kunstgeschichte sah sie scharf an, ein leichtes Lächeln zuckte um seine Lippen.
»Les fleurs du mal.« sagte er. »Stimmt es?«
»Ja!« rief Mlle. de Maupin. »Ja, es stimmt gut. Aber nicht für euch blühen sie, meine Herren Gelehrten – – ihr müsst hübsch warten, bis sie verdorrt und gepresst in den Büchern liegen, oder auf Bildern unter dem Firnis trocknen.«
Sie zog ihren hübschen Degen, verbeugte sich, schlug die hohen Stöckel zusammen und salutierte. Drehte herum auf dem Absatz, tanzte ein paar Schritte mit dem Baron v. Manteuffel von den Preussen, hörte die helle Stimme Ihrer Kgl. Hoheit und sprang rasch heran an den Tisch der Prinzessin.
»Gräfin Almaviva,« begann sie, »was begehrt Ihr von Eurem treuen Cherubin?«
»Recht unzufrieden bin ich mit ihm,« sagte die Prinzessin, »er hätte wirklich die Rute verdient! Strolcht herum im Saale mit einem Figaro nach dem andern!«
»Die Susannen nicht zu vergessen!« lachte der Prinzgemahl.
Alraune ten Brinken zog die Lippen zum Pfännchen. »Was soll so ein armer Junge auch machen,« rief sie, »der nichts weiss von der bösen Welt?« Sie lachte, nahm dem Adjutanten, der als Frans Hals vor ihr stand, die Laute von der Schulter, präludierte, ging ein paar Schritte zurück und sang:
»Ihr, die ihr Triebe
Des Herzens kennt,
Sagt, ist es Liebe,
Das hier so brennt?«
»Bei wem willst du dir Rat erholen, Cherubin?« fragte die Prinzessin.
»Weiss meine Gräfin Almaviva nicht Bescheid?« gab Alraune zurück.
Da lachte die Kgl. Hoheit. »Du bist sehr keck, mein Page!« sagte sie.
Cherubin antwortete: »Das ist Pagenart.«
Er streifte die Spitzen von dem Aermel der Prinzessin und küsste ihr die Hand – ein wenig zu hoch am Arme und ein wenig zu lange. »Soll ich dir Rosalinde bringen?« flüsterte er. Und er las die Antwort aus ihren Augen.
Rosalinde tanzte vorbei - nicht einen Augenblick gönnte man ihr Ruhe an diesem Abend. Der Chevalier de Maupin nahm sie ihrem Tänzer fort, führte sie die Stufen hinauf zu dem Tische der Hoheiten. »Gebt ihr zu trinken,« rief sie, »meine Liebste verschmachtet.« Sie nahm das Glas, das ihr die Prinzessin reichte und führte es Wolf Gontram an die roten Lippen.
Dann wandte sie sich zu dem Prinzgemahl. »Willst du tanzen mit mir, wilder Raugraf bei Rhein?«
Er lachte derb, wies ihr die riesigen braunen Reiterstiefel mit den ungeheuren Sporn. »Glaubst du, dass ich damit tanzen kann?«
»Versuch es!« drängte sie und zog ihn am Arme von seinem Sitze auf. »Es wird schon gehen! Nur tritt mich nicht tot und zerbrich mich nicht, du rauher Jägersmann!«
Der Fürst warf einen bedenklichen Blick auf das zarte Ding in dem duftigen Spitzengewebe, dann streifte er die mächtigen Wildlederhandschuhe über. »Also komm, kleiner Page!« rief er.
Alraune warf eine Kusshand hinüber zu der Prinzessin, walzte durch den Saal mit dem schweren Fürsten. Die Leute machten ihnen Platz und es ging gut genug, quer hinüber und wieder zurück. Er hob sie hoch, wirbelte sie durch die Luft, dass sie laut aufschrie, da verwickelten sich seine langen Reitersporen – plumps, lagen sie beide auf dem Parkett. Im Nu war sie wieder auf, streckte ihm ihre Hand hin.
»Aufstehen, Herr Raugraf,« rief sie. – »Ich kann dich doch wirklich nicht aufsammeln.«
Er hob den Oberkörper, aber wie er den rechten Fuss aufsetzte, fuhr ein rasches »Au« aus seinem Munde. Er stützte sich auf die linke Hand, versuchte wieder sich aufzurichten. Aber es ging nicht, ein heftiger Schmerz nahm ihm die Herrschaft über den Fuss.
Da sass er, gross und stark, mitten im Saale, konnte sich nicht erheben. Einige kamen heran, mühten sich, ihm den mächtigen Stiefel abzuziehen, der das ganze Bein deckte. Aber es ging nicht, so schnell schwoll ihm der Fuss auf; sie mussten mit scharfen Messern das harte Leder herunterschneiden. Prof. Dr. Helban, der Orthopäde, untersuchte ihn, er stellte einen Knöchelbruch fest.
»Für heute ist's aus mit dem Tanzen!« brummte der Prinzgemahl.
Alraune stand in dem dichten Kreise, der ihn umgab, neben ihr drängte sich der rote Henkersknecht. Ihr fiel ein Liedchen ein, das sie die Studenten zur Nachtzeit durch die Strassen hatte johlen hören.
»Sag doch,« fragte sie, »wie geht das Lied von den Feldern und den Wäldern und der Muskelkraft?«
Der lange Teutone, der einen tüchtigen Schwips hatte, reagierte, als ob man einen Groschen in einen Automaten geworfen hätte. Er schwang sein Henkerbeil hoch in der Luft und brüllte los:
»Er fiel auf einen Stein.
Er fiel auf einen – kille, kille, kille –
Er fiel auf einen Stein!
Zerbrach drei Rippen im Leibe,
Und die Felder und die Wälder und die Muskelkraft –
Dazu das rechte – kille, kille, kille –
Dazu das rechte Bein!«
»Halt's Maul!« raunte ihm ein Korpsbruder zu, »Bist du ganz verrückt geworden?«
Da schwieg er. Aber der gutmütige Fürst lachte: »Danke für das passende Ständchen! Aber die drei Rippen hättest du dir sparen können – – ich habe vollständig genug mit dem Bein da!«
Sie trugen ihn hinaus auf einem Sessel, schafften ihn in seinen Schlitten. Mit ihm verliess die Prinzessin den Saal – sie war gar nicht zufrieden mit diesem Zwischenfall.
Alraune suchte Wolf Gontram, fand ihn noch immer an dem verlassenen Tisch der Hoheiten.
»Was hat sie getan?« fragte sie rasch. »Was hat sie gesagt?«
»Ich weiss es nicht,« antwortete Wölfchen.
Sie nahm seinen Fächer, schlug ihn heftig über den Arm. »Du weisst es wohl,« beharrte sie. »Du musst es wissen und musst es mir sagen!«
Er schüttelte den Kopf. »Aber ich weiss es wirklich nicht. Sie hat mir zu trinken gegeben, hat mir die Locken aus der Stirne gestrichen. Ich glaube, sie hat auch meine Hand gedrückt. – Aber ich kann es nicht genau sagen, weiss auch nichts von alldem, was sie gesagt hat. Ich habe ein paarmal »Ja« gesagt, aber ich habe gar nicht auf sie hingehört. – Ich habe an ganz was anderes gedacht.«
»Du bist schrecklich dumm, Wölfchen.« sagte das Fräulein vorwurfsvoll. »Du hast wieder geträumt! – An was hast du denn eigentlich gedacht?«
»An dich,« erwiderte er.
Sie stampfte ärgerlich mit den Füssen auf. »An mich! Immer an mich! – Warum denkst du eigentlich immer nur an mich?«
Da blickten sie seine grossen, tiefen Augen bittend an. »Ich kann doch nichts dafür.« flüsterte er.
Die Musik fiel ein, unterbrach die Stille, die der Weggang der Hoheiten verursacht hatte. Weich und lockend klangen die »Rosen des Südens«. Sie nahm seine Hand, zog ihn mit sich fort: »Komm, Wölfchen, wir wollen tanzen!«
Sie traten an, drehten sich, noch allein in dem grossen Saal. Der graubärtige Kunsthistoriker sah sie, kletterte auf seinen Stuhl und schrie hinab: »Silentium! Extrawalzer für den Chevalier de Maupin und seine Rosalinde.«
Viele hundert Augen ruhten auf dem hübschen Paar. Alraune bemerkte es wohl und jeder Schritt, den sie tat, geschah in dem Bewusstsein, dass man sie bewundern müsse. Aber Wolf Gontram bemerkte nichts, er fühlte nur, dass er in ihren Armen lag und von weichen Klängen getragen wurde. Und seine grossen, schwarzen Brauen senkten sich halb, beschatteten die traumtiefen Augen.
Der Chevalier de Maupin führte. Sicher, selbstbewusst, wie ein schlanker Page, der das glatte Parkett gewohnt ist von der Wiege an. Leicht vorgebeugt den Kopf, die Linke, die zwei Finger Rosalindens hielten, zugleich an dem goldenen Knauf des Degens, den er hinabdrückte, so dass das Ende hinten den Spitzenschoss hob. Seine gepuderten Locken sprangen wie silberne Schlänglein, ein Lächeln öffnete die Lippen und zeigte die blanken Zähne.
Und Rosalinde folgte dem leichten Drucke. Die goldrote Schleppe glitt über den Boden, wie eine holde Blüte wuchs ihre Figur daraus hervor. Ihr Kopf lag weit im Nacken, schwer fielen die weissen Straussenfedern von dem grossen Hute. Weltfern, weit entrückt von allem, was da war, schwebte sie unter den Rosengirlanden. Rund durch den Saal, wieder und wieder.
Die Gäste drängten sich am Rande, hinten stiegen sie auf Stühle und Tische. Sahen herüber, atemlos.
»Ich gratuliere, Exzellenz,« murmelte die Fürstin Wolkonski. Und der Geheimrat antwortete: »Danke, Durchlaucht. Sie sehen, dass unsere Mühen damals nicht ganz vergebens waren.«
Sie changierten, der Chevalier führte seine Dame quer durch den Saal. Und Rosalinde schlug die Augen weit auf, warf schweigende, erstaunte Blicke auf die Menge ringsum.
»Shakespeare würde knien, wenn er diese Rosalinde sähe,« erklärte der Literaturprofessor. Aber am Nebentische kläffte von seinem Stuhle herunter der kleine Manasse den Justizrat Gontram an. »Stehen Sie doch auch mal auf, Herr Kollege! Sehen Sie doch! Wie Ihre selige Frau blickt der Junge herum – genau so!«
Der alte Justizrat blieb ruhig sitzen, prüfte eine neue Flasche Uerziger Auslese. »Ich kann mich nicht mehr besonders erinnern, wie das war.« meinte er gleichgültig. Oh, er wusste es gut – aber was gingen seine Gefühle andere Menschen an?
Die beiden tanzten, hin durch den Saal und zurück. Schneller hoben und senkten sich Rosalindens weisse Schultern, röter färbten sich ihre Wangen. Aber gleich zierlich, gleich sicher und gewandt lächelte unter dem Puder der Chevalier de Maupin.
Gräfin Olga riss die roten Nelken aus dem Haare, warf sie dem Paare zu. Und der Chevalier de Maupin haschte eine in der Luft, drückte sie an die Lippen, grüsste hinüber. Da griffen auch die andern nach bunten Blumen, nahmen sie aus den Vasen der Tische, trennten sie von den Kleidern, lösten sie aus der Frisur. Und unter einem Regen von Blüten walzten die beiden daher, links herum, leicht getragen von den ›Rosen des Südens‹.
Immer von neuem setzte die Kapelle ein. Die Musiker, abgestumpft, übermüdet durch das allnächtliche Spiel in der Saison, schienen wach zu werden, bogen sich über die Brüstung der Galerie, blickten hinunter. Schneller flog der Taktstock des Dirigenten, heisser rauschten die Bogen der Geigen. Und unermüdlich in tiefem Schweigen glitt das Paar durch ein Rosenmeer von Farben und Klängen: Rosalinde und der Chevalier de Maupin.
Dann klappte der Kapellmeister ab – da brach es los. Der Freiherr von Platen, Oberst der Achtundzwanziger, schrie mit Stentorstimme herab von der Gallerie: »Ein Hoch dem Paare! Ein Hoch dem Fräulein ten Brinken! Ein Hoch der Rosalinde!« Und die Gläser klangen und die Leute schrien und johlten. Drangen auf das Parkett, umringten die beiden, erdrückten sie fast.
Zwei Korpsburschen von Rhenania schleppten einen mächtigen Korb voller Rosen, den sie unten irgendwo einer Blumenfrau abgehandelt hatten, ein paar Husarenoffiziere brachten Champagner. Alraune nippte nur, aber Wolf Gontram, überhitzt, glühend durstig, schlürfte gierig den kühlen Trank, einen Kelch um den andern. Alraune zog ihn fort, bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Mitten im Saale sass der Henkersknecht. Er streckte den langen Hals weit vor, hielt mit beiden Händen ihr sein Richtbeil entgegen. »Ich hab keine Blumen,« schrie er. »Ich bin selbst eine rote Rose! Schneid sie dir ab!«
Alraune liess ihn sitzen. Führte ihre Dame weiter, an den Tischen unter der Gallerie vorbei, in den Wintergarten. Sie sah sich um: hier war es nicht weniger voll von Menschen und alle winkten, riefen ihnen zu. Da sah sie, hinter einem schweren Vorhange, die kleine Türe, die zum Balkon führte.
»Oh, das ist gut!« rief sie. »Komm mit, Wölfchen!« Sie schlug den Vorhang zurück, drehte den Schlüssel um, drückte die Hand auf die Klinke. Aber fünf plumpe Finger legten sich auf ihren Arm. »Was wollen Sie da?« rief eine rauhe Stimme. Sie wandte sich um; es war Rechtsanwalt Manasse in seinem schwarzen Domino. »Was wollen Sie da draussen?« wiederholte er.
Sie schüttelte seine hässliche Hand ab. »Was geht Sie das an?« antwortete sie. »Ein bisschen frische Luft schöpfen wollen wir.«
Er nickte eifrig. »Das dacht ich mir doch! Grade darum kam ich Ihnen nach. – Aber Sie werden es nicht tun, werden es nicht tun!«
Das Fräulein ten Brinken reckte sich, sah ihn hochmütig an. »Und warum sollte ich es nicht tun? Wollen Sie uns vielleicht daran hindern?«
Er duckte unwillkürlich unter ihrem Blicke. Aber er liess nicht los. »Ja, ich will Sie hindern, gerade ich! Begreifen Sie denn nicht, dass es Wahnsinn ist? Sie sind überhitzt alle beide, fast gebadet in Schweiss – und da wollen Sie auf den Balkon hinaus bei minus zwölf Grad!?«
»Wir werden doch gehen,« beharrte Alraune.
»Gehen Sie doch.« kläffte er. »Es ist mir ganz gleichgültig, was Sie tun, Fräulein. – Nur den Jungen will ich zurückhalten, Wolf Gontram, ihn allein.«
Alraune mass ihn vom Kopf zu den Füssen. Sie zog den Schlüssel aus dem Schlosse, öffnete die Türe weit.
»So!« machte sie. Sie trat hinaus auf den Balkon, hob die Hand und winkte ihrer Rosalinde. »Willst du mit mir hinauskommen in die Winternacht?« rief sie, »Oder willst du drinnen bleiben im Saale?«
Wolf Gontram stiess den Rechtsanwalt zur Seite, trat rasch durch die Türe. Der kleine Mahasse griff nach ihm, klammerte sich fest an seinen Arm, aber er stiess ihn wieder zurück, schweigend, dass er unbeholfen gegen den Vorhang fiel.
»Geh nicht Wolf!« schrie der Rechtsanwalt, »Geh nicht!« Er jammerte fast, seine heisere Stimme überschlug sich.
Aber Alraune lachte laut. »Adieu, du getreuer Eckart! Bleib hübsch draussen und bewach unseren Hörselberg!« Sie schlug ihm die Türe dicht vor der Nase zu, steckte den Schlüssel ein und drehte ihn zweimal im Schloss.
Der kleine Rechtsanwalt versuchte durch die gefrorenen Scheiben zu sehen. Er riss an der Klinke, stiess mit beiden Füssen wütend auf den Boden. Dann, langsam, beruhigte er sich. Ging zurück hinter dem Vorhang her, trat in den Saal.
»So ist es Fatum,« brummte er. Er biss die starken wirr stehenden Zähne übereinander, kam zurück an den Tisch der Exzellenz, liess sich schwer auf einen Stuhl fallen.
»Was haben Sie, Herr Manasse?« fragte Frieda Gontram. »Sie sehen aus wie sieben Tage Regenwetter!«
»Nichts!« kläffte er, »Gar nichts. – Ihr Bruder ist ein Esel. – Uebrigens – trinken Sie doch nicht alles allein aus, Herr Kollege! Geben Sie mir doch auch was mit!«
Der Justizrat goss ihm sein Glas voll. Frieda Gontram aber sagte überzeugt: »Ja, das glaube ich, dass er ein Esel ist.«
Die beiden traten durch den Schnee, lehnten sich über die Brüstung, Rosalinde und der Chevalier de Maupin. Der volle Mond fiel über die breite Gasse, warf sein süsses Licht auf die barocken Formen der Universität, den alten Palast des Erzbischofs. Spielte über die weiten weissen Flächen da unten, warf phantastische Schatten quer über die Bürgersteige.
Wolf Gontram trank die eisige Luft. »Das ist schön,« flüsterte er, wies mit der Hand hinunter auf die weisse Strasse, deren tiefe Stille kein kleinster Laut störte. Aber Alraune ten Brinken sah hinauf zu ihm, sah wie seine weissen Schultern im Mondlichte strahlten, sah seine grossen Augen, die tief leuchteten wie zwei schwarze Opale. »Du bist schön,« sagte sie ihm, »du bist schöner noch, als die Mondnacht.«
Da lösten sich seine Hände von der steinernen Brüstung, griffen nach ihr und umschlangen sie. »Alraune,« rief er, »Alraune –«
Einen kleinen Augenblick duldete sie es. Dann machte sie sich los, schlug ihn leicht auf die Hand. »Nein!« lachte sie, »nein! Du bist Rosalinde – und ich bin ein Knabe: so will ich dir den Hof machen.« Sie sah sich um, griff aus der Ecke einen Stuhl, schleppte ihn her und klopfte mit ihrem Degen den Schnee herunter. »Hier, setz dich, mein schönes Fräulein – du bist leider ein wenig zu gross für mich! So ist's recht – nun gleicht es sich aus!«
Sie verbeugte sich zierlich, liess sich dann nieder auf ein Knie. »Rosalinde,« zwitscherte sie, »Rosalinde! Darf dir ein fahrender Ritter einen Kuss rauben –«
»Alraune –« begann er. Aber sie sprang auf, schloss ihm die Lippen mit der Hand. »Du musst ›Mein Herr‹ sagen!« rief sie. »Also – darf ich dir einen Kuss rauben, Rosalinde?«
»Ja, mein Herr.« stotterte er. Da trat sie hinter ihn, nahm seinen Kopf in beide Arme. Und sie begann, zögernd, der Reihe nach. »Die Ohren zuerst,« lachte sie, »das rechte und nun das linke! Und die Wangen alle beide – und die dumme Nase, die hab ich schon oft geküsst. Und endlich – pass auf, Rosalinde – deinen schönen Mund!« Sie beugte sich nieder, drängte ihren Lockenkopf über seine Schulter, unter dem Hute her. Aber sie fuhr wieder zurück. »Nein, nein, schönes Mädchen, lass deine Hände! Die müssen fein sittsam im Schosse ruhen.«
Da legte er die zitternden Hände auf die Knie und schloss die Augen. So küsste sie ihn, küsste ihn lange und heiss. Aber am Ende suchten ihre kleinen Zähne seine Lippe, bissen rasch zu, dass die roten Blutstropfen schwer hinabfielen in den Schnee.
Sie riss sich los, stand vor ihm, starrte in den Mond mit weit offenen Augen. Ein rascher Frost fasste sie, warf ein Zittern über ihre schlanken Glieder. »Mich friert.« flüsterte sie. Sie hob einen Fuss auf und dann den andern. »Der dumme Schnee ist überall in meinen Spitzenschuhen!« Sie zog einen Schuh aus und klopfte ihn aus.
»Zieh meine Schuhe an,« rief er, »die sind grösser und wärmer.« Und schnell streifte er sie ab, Hess sie hineintreten. »Ist es besser so?«
»Ja,« lachte sie, »nun ist es wieder gut! Ich will dir noch einen Kuss dafür geben, Rosalinde.«
Und sie küsste ihn wieder – und wieder biss sie ihn. Dann lachten sie beide, wie der Mond leuchtete über den roten Flecken im weissen Grunde.
»Liebst du mich, Wolf Gontram?« fragte sie.
Und er sagte: »Ich denke nichts anderes, wie dich.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann fragte sie weiter: »Wenn ich es wollte – – würdest du hinabspringen vom Balkon?«
»Ja!« sagte er.
»Auch vom Dache?« Und er nickte.
»Auch von dem Turme der Münsterkirche?« Er nickte wieder.
»Würdest du alles für mich tun, Wölfchen?« fragte sie.
Und er sagte: »Ja, Alraune, wenn du mich liebst.«
Sie zog die Lippen hoch, wiegte sich leicht in den Hüften. »Ich weiss nicht, ob ich dich liebe,« sprach sie langsam. »Würdest es auch tun, wenn ich dich nicht liebte?«
Da leuchteten die herrlichen Augen, die ihm seine Mutter schenkte, leuchteten voller und tiefer, als sie es je getan. Und der Mond dort oben ward neidisch auf diese Menschenaugen, schlich davon, barg sich hinter dem Münsterturme.
»Ja,« sagte der Knabe, »ja – – auch dann.«
Sie setzte sich auf seinen Schoss, schlang ihm die Arme um den Nacken. »Dafür, Rosalinde – dafür will ich dich zum dritten Male küssen!«
Und sie küsste ihn – länger noch und heisser. Und sie biss ihn – wilder noch und tiefer. Aber sie konnten die schweren Tropfen nicht mehr sehen in dem weissen Schnee, da der missgünstige Mond seine Silberfackel versteckte –
»Komm,« flüsterte sie, »komm, wir müssen gehen.«
Sie wechselten die Schuhe, klopften den Schnee von ihren Kleidern. Sie schlossen die Türe auf, traten zurück, schlüpften hinter dem Vorhang her in den Saal. Grell strahlten die Bogenlampen über sie hin, heiss und stickig umfing sie die Luft.
Wolf Gontram schwankte, als er den Vorhang losliess, griff mit beiden Händen rasch an die Brust.
Sie merkte es wohl. »Wölfchen!?« rief sie.
Er sagte: »Lass nur. Es ist gar nichts – irgendein Stich! – Aber es ist schon wieder gut.«
– Hand in Hand schritten sie durch den Saal.
Wolf Gontram kam nicht ins Bureau am nächsten Tage. Stand nicht auf von seinem Bette, lag in wildem Fieber; neun Tage lang lag er so. Manchmal phantasierte er, rief ihren Namen – aber nicht einmal kam er zum Bewusstsein in dieser Zeit.
Dann starb er. Lungenentzündung war es.
Und sie begruben ihn draussen, auf dem neuen Friedhofe.
Einen grossen Kranz voll dunkler Rosen sandte das Fräulein ten Brinken.