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Dr. Karl Petersen brachte dem Geheimrat ein grosses, hübsch gebundenes Buch, das er in dessen Auftrag hatte anfertigen lassen. Der rote Lederband zeigte in der linken Ecke oben das alte Wappen der Brinken; in der Mitte leuchteten die grossen goldenen Lettern: A. T. B.
Die ersten Seiten waren frei; der Professor hatte sich selbst vorbehalten, hierhin die Vorgeschichte zu schreiben. So begann ein Abschnitt von Dr. Petersens Hand, der die kurze und einfache Lebensgeschichte der Mutter des Wesens enthielt, für dessen Leben dies Buch bestimmt war. Der Assistenzarzt hatte sich noch einmal der Dirne Lebenslauf erzählen lassen und dann gleich zu Papier gebracht. Sogar ihre Vorstrafen waren angegeben: Alma war bestraft zweimal wegen Vagabondage, fünf- oder sechsmal wegen Übertretung der ihrem Gewerbe auferlegten polizeilichen Vorschriften. Endlich auch einmal wegen Diebstahls – doch behauptete sie, in diesem Falle unschuldig zu sein: der Herr habe ihr die Brillantnadel geschenkt.
Weiter hatte Dr. Petersen auch den zweiten Abschnitt niedergeschrieben, der von dem präsumptiven Vater handelte, dem beschäftigungslosen Bergarbeiter Peter Weinand Noerrissen, im Namen des Königs zum Tode verurteilt durch das Urteil des Schwurgerichts. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm in liebenswürdiger Weise die Akten zur Verfügung gestellt; an deren Hand hatte er seine Auszüge machen können.
Danach schien der p. Noerrissen schon von Kindesbeinen an zu dem Schicksal vorbestimmt zu sein, das ihm werden sollte. Die Mutter war eine notorische Trinkerin, der Vater, ein Gelegenheitsarbeiter, häufig wegen Roheitsdelikten vorbestraft; einer seiner Brüder sass schon seit zehn Jahren aus gleichem Grunde im Zuchthaus. Peter Weinand Noerrissen selbst war nach Beendigung seiner Schulzeit zu einem Schmied in die Lehre getan worden, der ihm übrigens im Laufe der Verhandlung wegen seiner Geschicklichkeit und auch wegen seiner ungewöhnlichen Stärke ein recht gutes Zeugnis ausstellte. Trotzdem habe er ihn wegjagen müssen, da er sich nichts habe sagen lassen wollen, auch die weiblichen Hausgenossen stets belästigt habe. Er arbeitete dann in einer Reihe verschiedener Fabriken, kam endlich auf die Zeche Phönix im Ruhrgebiet, nachdem er vom Militärdienst infolge eines Geburtsfehlers befreit war: an der linken Hand fehlten ihm zwei Finger. Irgendeiner gewerkschaftlichen Bewegung schloss er sich nicht an, weder dem Alten Sozialistischen Verbande, noch den Christlichen, noch endlich den Hirsch-Dunkerschen – – – was sein Verteidiger im Plädoyer als ein für ihn sprechendes Moment auszuschlachten versuchte. Er wurde entlassen, als er bei einem Streit mit einem Obersteiger sein Messer zog und diesen ziemlich gefährlich verletzte; hierfür erhielt er auch seine erste Strafe – ein Jahr Gefängnis. Von seiner Entlassung an fehlten begründete Angaben fast vollständig, man war hier lediglich auf seine eigenen Aussagen angewiesen. Danach war er auf die Landstrasse gekommen, hatte zweimal die Alpen überschritten und sich durchgeschlagen von Neapel bis Amsterdam. Gelegentlich hatte er auch gearbeitet, einige Male war er, meist wegen Landstreicherei und kleiner Eigentumsdelikte, festgesetzt worden. Doch schien, so war wenigstens die Ansicht der Staatsanwaltschaft, wohl anzunehmen zu sein, dass er auch im Laufe dieser sieben bis acht Jahre einige grössere Verbrechen auf dem Kerbholz hatte.
Die Tat, wegen der er nun verurteilt war, war in ihrer Entstehung nicht so ganz klar, namentlich blieb die Frage völlig offen, ob ein Raubmord oder ein Lustmord beabsichtigt war. Die Verteidigung suchte es so darzustellen, als ob der Angeklagte auf den Ellinger Rheinwiesen, als er in der Abenddämmerung die neunzehnjährige, gut gekleidete und sehr gut gewachsene Hausbesitzerstochter Anna Sibilla Trautwein habe kommen sehen, zunächst nur eine Notzucht habe begehen wollen. Dass er dann, während er das recht kräftige Mädchen zu vergewaltigen versuchte, lediglich, um ihrem wilden Geschrei ein Ende zu machen, zum Messer gegriffen und sie niedergeschlagen habe. Weiter die Ohnmächtige gewaltsam genommen, und ihr endlich, aus Furcht vor Entdeckung, ganz den Garaus gemacht habe. Wobei es dann natürlich gewesen sei, dass er, um die Mittel zur Flucht zu gewinnen, sie auch ihrer geringen Barmittel und wenigen Schmuckgegenstände beraubt habe. Dieser Darstellung stand allerdings der Befund der Leiche einigermassen entgegen, der eine schreckliche Zerstückelung des Opfers durch zum Teil fast kunstgerechte Schnitte nachwies. Der Bericht endete damit, dass die Revision vom Reichsgericht zurückgewiesen sei, dass die Krone von dem ihr zustehenden Rechte der Begnadigung keinen Gebrauch gemacht habe und dass die Hinrichtung auf den morgigen Tag, frühmorgens um sechs Uhr festgesetzt sei. Zum Schlusse war noch gesagt, dass der Delinquent auf den ihm von Dr. Petersen vorgebrachten Wunsch bereitwillig eingegangen sei, nachdem er ihm dafür zwei Flaschen Kornbranntwein, die er abends um acht Uhr erhalten solle, zugesagt habe.
Der Geheimrat beendete die Lektüre, gab dann das Buch zurück. »Der Vater ist billiger wie die Mutter!« lachte er. Er wandte sich an seinen Assistenzarzt. »Sie werden also der Hinrichtung beiwohnen. Vergessen Sie nicht, sich mit physiologischer Kochsalzlösung zu versehen, nicht wahr? Und beeilen Sie sich nach Möglichkeit – jede Minute ist kostbar. Besondere Anordnungen hier brauchen ja wohl kaum getroffen zu werden. Ich erwarte Sie morgen früh in der Klinik. Es ist nicht nötig, eine der Wärterinnen zu bemühen: die Fürstin wird uns assistieren.«
»Die Fürstin Wolkonski, Exzellenz?« fragte Dr. Petersen.
»Gewiss,« nickte der Professor. »Ich habe Grund, sie zu der kleinen Operation zuzuziehen – für die sie übrigens viel Interesse hat. Übrigens – wie benimmt sich unsere Patientin heute?«
Der Assistenzarzt sagte: »Ach, Exzellenz, es ist das alte Lied. Immer dasselbe seit den drei Wochen, die sie nun hier ist. Sie weint und schreit und tobt – kurz, sie will hinaus. Heute hat sie wieder zwei Waschschüsseln zerschlagen.«
»Haben Sie ihr nochmal ins Gewissen geredet?« fragte der Professor.
»Versucht hab ich's, aber sie liess mich kaum zu Worte kommen,« antwortete Dr. Petersen. »Es ist ein Glück, dass wir morgen endlich so weit sind. – Wie wir es dann freilich anstellen wollen, sie so lange zu halten, bis das Kind zur Welt kommt, ist mir ein Rätsel.«
»Das Sie nicht zu lösen brauchen, Petersen.« Der Geheimrat klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Da werden wir schon Mittel finden. – Tun Sie nur Ihre Pflicht.«
Und der Assistenzarzt sagte: »Darauf können sich Exzellenz fest verlassen.«
Die frühe Morgensonne küsste die Geisblattlaube des sauberen Gartens, in dem des Geheimrats weisse Frauenklinik lag. Schmeichelte leicht über bunte taufrische Dahlienbeete, liebkoste an den Mauern grosse, tiefblaue Klematis. Bunte Finken und grosse Drosseln liefen über die glatten Wege, huschten durch die geschorenen Rasenflächen. Flogen schnell auf, als acht eiserne Hufe aus dem Steinpflaster der Strasse helle Funken schlugen –
Die Fürstin stieg aus dem Wagen, kam mit raschen Schritten durch den Garten. Ihre Wangen glühten, ihr starker Busen atmete heftig, als sie die hohen Stufen hinaufstieg zu dem Hause.
Der Geheimrat kam ihr entgegen, öffnete selbst: »Nun, Durchlaucht, das nenne ich pünktlich! Treten Sie näher; ich habe Tee für Sie machen lassen.«
Sie sagte – und ihre Stimme überschlug sich, hastete und sprang –: »Ich komme von – dort. Ich sah es. Es – es war – fabelhaft – aufregend.«
Er führte sie ins Zimmer: »Woher kommen Sie, Durchlaucht? Von der – Hinrichtung?«
»Ja,« sagte sie. »Ihr Doktor Petersen wird auch gleich hier sein. – Ich hatte eine Karte bekommen – gestern abend noch. Es war – ungeheuer – ganz ungeheuer –«
Der Geheimrat bot ihr einen Stuhl. »Darf ich Ihnen einschenken?«
Sie nickte. »Bitte, Exzellenz, sehr liebenswürdig! – Ein Jammer, dass Sie das versäumt haben! – Es war ein Prachtkerl – gross – stark –«
»Wer?« fragte er. »Der Delinquent?«
Sie trank ihren Tee. »Ja gewiss, der! Der Mörder! Sehnig und stramm – eine mächtige Brust – wie ein Ringkämpfer. Er trug eine Art blauen Sweater – sie hatten ihm den Nacken freigelegt. Kein Fett – nur Muskeln und Sehnen. Wie ein Stier –«
»Und konnten Durchlaucht die ganze Exekution gut sehen?« fragte der Geheimrat.
»Aber ganz ausgezeichnet!« rief sie. »Ich stand an einem Fenster im Gang, gerade vor mir war das Gerüst. Er schwankte ein wenig, als er hinaufschritt – sie mussten ihn stützen. – Bitte, noch ein Stück Zucker, Exzellenz.«
Der Geheimrat bediente sie. »Sprach er etwas?«
»Ja,« sagte die Fürstin. »Zweimal. Aber jedesmal nur ein Wort. Das erstemal, während der Staatsanwalt das Urteil vorlas. Da rief er halblaut – aber ich kann es wirklich nicht wiederholen –«
»Aber Durchlaucht!« Der Geheimrat grinste, tatschte ihr leicht auf die Hand. »Vor mir brauchen Sie sich doch gewiss nicht zu genieren.«
Sie lachte auf. »Nein, natürlich nicht. Also – – Aber reichen Sie mir eine Scheibe Zitrone. Danke – geben Sie sie nur gleich in die Tasse! – Also er sagte – nein, ich kann es nicht wiedergeben.«
»Durchlaucht!« sagte der Professor mit leichtem Vorwurf.
Und sie sagte: »Sie müssen die Augen zumachen.«
Der Geheimrat dachte: »Alte Äffin!« Aber er schloss die Augen. »Nun?« fragte er.
Sie zierte sich noch immer. »Ich – ich will es französisch sagen.«
»Also gut – französisch!« rief er ungeduldig.
Da zog sie die Lippen zusammen, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Merde!«
Der Professor bog sich zurück, das starke Parfüm der Fürstin irritierte ihn. »So, also das sagte er?«
»Ja,« nickte sie, »und er sprach es so, als ob er sagen wolle, dass ihm das alles gleichgültig sei. Ich fand das hübsch von ihm, fast kavaliermässig.«
»Gewiss,« bestätigte der Geheimrat. »Schade nur, dass er es nicht auch – französisch sagte. Na, und was war das andere Wort?«
»Ach, das war übel.« Die Fürstin schlürfte ihren Tee, knabberte dazu ein Cake. »Es verdarb völlig den guten Eindruck, den er auf mich gemacht hatte! Denken Sie nur, Exzellenz, als ihn die Henkersknechte recht packten, da begann er plötzlich zu schreien, zu flennen, wie ein kleines Kind.«
»Ach!« sagte der Professor. »Noch ein Tässchen, Durchlaucht? – Und was schrie er dann?«
»Erst wehrte er sich,« erzählte sie, »so gut er konnte, schweigend und stark, obwohl ihm beide Hände eng auf dem Rücken gefesselt waren. Drei Gehilfen waren da, die warfen sich auf ihn, während der Henker im Frack und in weissen Handschuhen ruhig dastand und zusah. Anfangs gefiel es mir, wie der Mörder die drei Fleischer abschüttelte von sich, wie sie immer von neuem an ihm rissen und stiessen, ohne ihn nur einen Fussbreit weiter bringen zu können. Oh, es war ungeheuer aufregend, Exzellenz.«
»Kann ich mir denken, Durchlaucht.« warf er ein. !' |
»Dann aber,« fuhr sie fort, »dann änderte es sich. Einer hatte ihm ein Bein gestellt, riss ihm zugleich von hinten die gefesselten Arme hoch, dass er nach vorne stolperte. In der Sekunde fühlte er wohl, dass sein Widerstand nichts nutze, dass er verloren sei. Vielleicht – vielleicht war er auch trunken gewesen – und wurde nun plötzlich hell nüchtern. – Pfui – und da schrie er –«
Der Geheimrat lächelte. »Was schrie er? Muss ich wieder die Augen dazu schliessen?«
»Nein,« rief sie, »Sie können sie ruhig offen lassen, Exzellenz. – Er war feige geworden, jämmerlich feige, und voll von Angst. Und er schrie: Mama – Mama – Mama! – Oh, Dutzende von Malen! Bis sie ihn auf den Knien hatten, herangezerrt unter das Fallbeil, den Kopf hineingezwängt in die kreisrunde Oeffnung des Bretts.«
»Also bis zum letzten Augenblick rief er nach seiner Mama?« fragte der Geheimrat.
»Nein,« antwortete sie, »nicht bis ganz zuletzt. Als das harte Brett den Hals fest umschloss und der Kopf auf der anderen Seite herausragte, da schwieg er. Irgend etwas schien in ihm vorzugehen.«
Der Professor wurde aufmerksam. »Konnten Sie sein Gesicht gut sehen, Durchlaucht? Konnten Sie irgendwie erraten, was in ihm vorging?«
Die Fürstin sagte: »Aber so deutlich, wie ich Sie jetzt vor mir sehe. Was in ihm vorging – – ja, das weiss ich nicht. Es war ja auch nur ein Augenblick – während der Scharfrichter noch einmal sich umsah, ob alles in Ordnung sei, während seine Hand schon nach dem Knopfe suchte, der das Messer herunterfallen liess. – Ich sah die Augen des Mörders, die weit offen standen, wie in wahnsinniger Lust, sah den aufgerissenen Mund, der zu schnappen schien, und die gierigen, verzerrten Züge –«
Sie stockte. »Das war alles?« forschte der Geheimrat.
Sie schloss: »Ja. – Dann fiel das Beil. Und der Kopf sprang in den Sack, den einer der Knechte offen hielt. – Bitte, reichen Sie mir doch die Marmelade, Exzellenz.«
Es klopfte; Dr. Petersen öffnete die Tür und trat ein. Er schwang in der Hand ein langes Glas, wohl verkorkt und in Watte gewickelt.
»Guten Morgen, Durchlaucht,« sprach er. »Guten Morgen, Exzellenz. – Hier – hier ist es.«
Die Fürstin sprang auf: »Lassen Sie sehen –«
Aber der Geheimrat hielt sie zurück. »Gemach, Durchlaucht, Sie werden es noch früh genug sehen. – Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gleich an die Arbeit gehen.« Er wandte sich an seinen Assistenzarzt. »Ich weiss nicht, ob es nötig sein wird, aber jedenfalls werden Sie guttun –« Seine Stimme sank, er näherte seine Lippen dem Ohr des Arztes.
Der nickte. »Gut, Exzellenz. Ich werde sofort die Anweisungen geben.«
Sie gingen durch den weissen Korridor, hielten ganz hinten vor Nr. Siebzehn.
»Hier liegt sie,« sagte der Geheimrat und öffnete behutsam die Türe.
Das Zimmer war ganz weiss, strahlte von Licht und Sonne. Das Mädchen lag tief schlafend in dem Bett; ein heller Strahl huschte herein vom engvergitterten Fenster, zitterte auf dem Boden, kletterte auf goldener Leiter hinauf, schlich sich über die Linnen, schmiegte sich zärtlich an ihre süssen Wangen, tauchte die roten Haare in glühende Flammen. Ihre Lippen standen halb offen, bewegten sich – es schien, als ob sie leise Liebesworte flüsterte.
»Sie träumt,« sagte der Geheimrat. »Wohl von ihrem Prinzen!« Dann legte er seine feuchte, kalte Hand auf ihre Schulter, schüttelte sie. »Wachen Sie auf, Alma.«
Ein leichter Schreck flog durch ihre Glieder; sie richtete sich auf, schlaftrunken.
»Wa–as – Was denn?« stotterte sie. Dann erkannte sie den Professor, warf sich zurück in die Kissen. »Lassen Sie mich.«
»Kommen Sie, Alma, machen Sie nun keine Faxen,« ermahnte sie der Geheimrat. »Es ist endlich soweit. Seien Sie vernünftig und machen Sie uns keine Schwierigkeiten.« Und er zog ihr mit einem schnellen Ruck die Leintücher weg, warf sie auf den Boden.
Die Augen der Fürstin weiteten sich. »Sehr gut!« rief sie aus. »Das Mädchen ist sehr gut gewachsen. – Das wird schon passen.«
Aber die Dirne strich ihr Hemd herunter, bedeckte sich, so gut es gehen mochte mit den Kissen. »Weg! Fort!« schrie sie. »Ich will nicht.«
Der Geheimrat winkte dem Assistenzarzt. »Gehen Sie,« befahl er. »Beeilen Sie sich, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Dr. Petersen verliess rasch das Zimmer.
Die Fürstin kam vor, setzte sich auf das Bett, redete dem Mädchen zu. »Kleine, seien Sie doch nicht töricht. Es tut ja gar nicht weh.« Sie versuchte sie zu streicheln, strich ihr mit den dicken, beringten Fingern schwer über Hals und Nacken, hinunter zu den Brüsten.
Alma stiess sie fort. »Was wollen Sie denn? – Wer sind Sie? – Weg, weg – ich will nicht!«
Die Fürstin liess sich nicht abweisen. »Ich will ja nur dein Bestes, Kindchen. – Werde dir auch einen hübschen Ring schenken und ein neues Kleid –«
»Ich will keinen Ring,« schrie die Dirne. »Ich brauche kein Kleid. Ich will fort von hier, man soll mich in Ruhe lassen!«
Der Geheimrat öffnete in lächelnder Ruhe das Glas. »Man wird Sie später in Ruhe lassen – und später können Sie auch fortgehen. Einstweilen müssen Sie nur die kleinen Verpflichtungen erfüllen, die Sie uns gegenüber eingegangen sind. – Ah, da sind Sie, Doktor.« Er wandte sich dem Assistenzarzt zu, der eben hereintrat, die Chloroformmaske in der Hand. »Kommen Sie schnell her.«
Die Dirne starrte ihn an, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. »Nein!« jammerte sie. »Nein! Nein!« Sie machte Miene aus dem Bett zu springen, stiess den Assistenzarzt, der sie zurückzuhalten versuchte, mit beiden Händen vor die Brust, so dass er zurücktaumelte, beinahe niederfiel.
Da warf sich, mit ausgebreiteten Armen, die Fürstin auf das Mädchen, drückte es mit dem mächtigen Gewicht ihres Körpers zurück in das Bett. Umfasste es rings, krallte die Finger in das leuchtende Fleisch, griff mit den Zähnen eine lange rote Haarsträhne. Die Dirne strampelte, schlug mit den Beinen in die Luft, unfähig, ihre Arme zu gebrauchen, ihren Leib zu rühren unter dieser wuchtigen Last.
Sie sah, wie der Arzt die Maske niedersenkte auf ihr Gesicht, hörte ihn leise zählen: »Eins – zwei – drei – –« Sie schrie, dass es widergellte von den Wänden: »Nein! Nein! Ich will nicht, ich will nicht! – Ach – ah – ich ersticke –«
Dann erstarb ihr Schreien. Wich einem kläglichen, elenden Wimmern. – – »Mutter – ach – Mut–ter –«
Zwölf Tage später wurde die Prostituierte Alma Raune dem Gerichtsgefängnis zur Untersuchungshaft eingeliefert. Der Haftbefehl wurde verhängt, weil die des Einbruchsdiebstahls Beschuldigte ohne feste Wohnung und somit fluchtverdächtig war. Die Anzeige war von Seiner Exzellenz dem Wirkl. Geh. Rat ten Brinken erstattet worden.
Gleich in den ersten Tagen hatte der Professor seinen Assistenzarzt wiederholt befragt, ob er nicht diese und jene Sache gesehen habe, die er vermisse. So fehlte ihm ein alter Siegelring, den er beim Waschen abgelegt und dann habe liegen lassen, fehlte ihm eine kleine Geldbörse, die er, wie er sich genau erinnere, in seinem Überzieher hatte stecken lassen. Er bat Dr. Petersen, doch ganz unauffällig ein scharfes Auge auf die Angestellten zu haben.
Dann war die goldene Uhr des Assistenzarztes aus seinem Zimmer in der Klinik, aus einer verschlossenen Schublade seines Schreibtisches heraus verschwunden. Und zwar war die Schublade mit Gewalt geöffnet worden. Eine eingehende Untersuchung der Klinik, zu der alle Angestellten sich sofort bereit erklärten, lieferte ein völlig negatives Resultat.
»Es muss eine der Patientinnen gewesen sein,« schloss der Geheimrat und ordnete eine Untersuchung aller Krankenzimmer an.
Auch diese leitete Dr. Petersen, auch hier ohne jeden Erfolg. »Haben Sie keinen Raum vergessen?« forschte sein Chef.
»Keinen, Exzellenz!« antwortete der Assistenzarzt. »Bis auf das Zimmer der Alma.«
»Und warum haben Sie dort nicht nachgeforscht?« fragte der Geheimrat weiter.
»Aber, Exzellenz!« entgegnete Dr. Petersen. »Das ist doch völlig ausgeschlossen. Das Mädchen ist ja Tag und Nacht bewacht, ist nicht einmal herausgekommen aus ihrem Zimmer. Und seitdem sie nun auch weiss, dass unser Eingriff geglückt ist, ist sie erst völlig ausser Rand und Band. Sie heult und schreit den ganzen Tag, droht uns völlig verrückt zu werden, denkt nur daran, wie sie hier herauskommen kann, und wie sie es anstellen soll, um unsere Bemühungen nachträglich wieder zu vereiteln. – Geradeheraus gesagt, Exzellenz, es scheint mir völlig unmöglich, das Mädchen die lange Zeit über hier zu halten.«
»So?« Der Geheimrat lachte. »Nun, Petersen, zuerst werden Sie einmal in Zimmer Siebzehn nachforschen. Die Täterschaft der Dirne scheint mir doch nicht so ganz ausgeschlossen.«
Nach einer Viertelstunde kam Dr. Petersen zurück, brachte ein zusammengeknüpftes Taschentuch. »Hier sind die Sachen,« sagte er. »Ich fand sie versteckt, tief unten in dem Wäschesack des Mädchens.«
»Also doch!« nickte der Geheimrat. »Nun, telephonieren Sie gleich der Polizei.«
Der Assistenzarzt zögerte. »Verzeihen Exzellenz, wenn ich mir eine Einwendung erlaube. Das Mädchen ist sicher unschuldig, wenn auch der Schein vielleicht gegen sie spricht. Exzellenz hätten sie sehen sollen, als ich mit der alten Wärterin das Zimmer durchsuchte und schliesslich die Sachen fand. Sie war völlig apathisch, alles das berührte sie gar nicht. Sie hat ganz sicher nichts mit dem Diebstahl zu tun. Irgend jemand vom Personal muss die Gegenstände genommen, und dann, als eine Entdeckung drohte, in ihrem Zimmer versteckt haben.«
Der Professor grinste. »Sie sind sehr ritterlich, Petersen. – Aber – einerlei! Telephonieren Sie.«
»Exzellenz,« bat der Assistenzarzt, »vielleicht könnten wir doch noch etwas warten. Vielleicht noch einmal das Personal eingehend verhören –«
»Hören Sie, Petersen,« sagte der Geheimrat.
»Sie sollten ein wenig mehr nachdenken. Ob die Dirne diese Sachen gestohlen hat oder nicht, ist doch ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, dass wir sie loswerden, und dass sie irgendwo durchaus sicher aufgehoben wird, bis ihre Stunde gekommen ist, nicht wahr? Im Gefängnis ist sie uns sicher – viel sicherer wie hier. Sie wissen, wie anständig wir sie bezahlen und ich bin sogar gewillt, ihr für dies kleine Missgeschick noch etwas zuzulegen – – wenn alles glücklich vorüber ist. – Schlechter hat sie es im Gefängnis auch nicht, wie hier: das Zimmer wird wohl etwas kleiner, das Bett etwas härter und das Essen etwas weniger gut sein, aber dafür hat sie dort Gesellschaft – und das ist viel wert in ihrem Zustand.«
Dr. Petersen sah ihn an, noch immer ein wenig schwankend. »Ganz recht, Exzellenz, aber – wird sie dort nicht schwatzen? Es wäre doch sehr unangenehm, wenn –«
Der Geheimrat lächelte. »Wieso denn? Lassen Sie sie schwatzen, soviel sie mag. Hysteria mendax – wissen Sie, sie ist hysterisch und eine Hysterische hat ja das Recht zu lügen! Kein Mensch wird ihr glauben. Nun gar eine hysterische Schwangere! – Und was wird sie dann erzählen? Die Geschichte von dem Prinzen, die ihr mein sauberer Neffe vorgeschwindelt hat? Ja, glauben Sie denn, dass der Richter, der Staatsanwalt, der Gefängnisdirektor, der Pastor, oder sonst ein vernünftiger Mensch überhaupt nur hinhören wird, wenn eine Dirne solch abstruses Zeug redet? – Übrigens werde ich selbst mit dem Gefängnisarzt sprechen – wer ist es zurzeit?«
»Kollege Dr. Perscheidt,« sagte der Assistenzarzt.
»Ah, Ihr Freund, der kleine Perscheidt,« fuhr der Professor fort. »Ich kenne ihn auch. Ich werde ihn bitten, ein besonders wachsames Auge auf unsere Patientin zu haben. Ich werde ihm sagen, dass sie mir von einem Bekannten, der mit ihr ein Verhältnis hatte, in die Klinik geschickt wurde, und dass dieser Herr bereit sei, für das zu erwartende Kind in jeder Weise zu sorgen. Ich werde ihn dazu auf die ausserordentliche krankhafte Lügenhaftigkeit der Patientin aufmerksam machen und ihm gleich von vornherein erzählen, was sie ihm mutmasslicherweise vorschwatzen wird. – Ausserdem werden wir auf unsere Kosten Herrn Justizrat Gontram mit der Verteidigung betrauen und auch ihm den Fall so erklären, dass er den Reden der Dirne auch nicht eine Sekunde lang Glauben schenkt. – Befürchten Sie noch etwas, Petersen?«
Der Assistenzarzt sah seinen Chef voller Bewunderung an. »Nein, Exzellenz!« sagte er. »Exzellenz denken an alles. – Was in meinen Kräften steht, werde ich gewiss aufbieten, um Exzellenz behilflich zu sein.«
Der Geheimrat seufzte laut, dann reichte er ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, lieber Petersen. Sie glauben nicht, wie schwer mir diese kleinen Lügereien werden. Aber, was will man machen? Die Wissenschaft verlangt eben solche Opfer. Unsere tapfern Vorgänger, die Ärzte des späten Mittelalters, waren gezwungen, sich die Leichen von den Friedhöfen zu stehlen, wenn sie Anatomie lernen wollten, sie mussten allen Gefahren einer hochnotpeinlichen Verfolgung wegen Leichenschändung und ähnlichem Unsinn trotzen. – Da dürfen wir uns nicht beklagen. Müssen solche kleinen Schwindeleien schon mit in den Kauf nehmen – im Interesse unserer heiligen Wissenschaft. – Und nun gehen Sie, Petersen, telephonieren Sie!«
Und der Assistenzarzt ging, im Herzen eine grosse und ehrliche Hochachtung vor seinem Chef.
Alma Raune wurde verurteilt wegen Einbruchdiebstahls. Strafschärfend wirkte ihr hartnäckiges Leugnen, sowie die Tatsache, dass sie schon einmal vorbestraft war wegen Diebstahls. Trotzdem wurden ihr mildernde Umstände zugebilligt, wahrscheinlich weil sie wirklich sehr hübsch aussah und dann auch, weil sie Justizrat Gontram verteidigte. Sie erhielt nur ein Jahr sechs Monate Gefängnis, auf die dazu die Untersuchungshaft noch angerechnet wurde.
Aber Exzellenz ten Brinken erreichte es, dass ihr ein erheblicher Teil dieser Strafe geschenkt wurde, obwohl ihre Führung in der Anstalt durchaus keine mustergültige war. Es wurde jedoch in Erwägung gezogen, dass diese schlechte Aufführung wohl auf ihren hysterisch-krankhaften Zustand, den der Geheimrat in seiner Gnadeneingabe stark betonte, zurückzuführen sei; auch wurde berücksichtigt, dass sie nun bald Mutter werden sollte.
Sie wurde entlassen, als sich die ersten Anzeichen einer baldigen Geburt bemerkbar machten, wurde am frühen Morgen in die Klinik ten Brinken geschafft. Lag dort in ihrem alten weissen Zimmer, Nr. Siebzehn, am letzten Ende des Korridors. Schon auf dem Transport hatten die Wehen begonnen: es würde sehr schnell vorüber sein, hatte sie Dr. Petersen beruhigt.
Aber er irrte sich. Die Wehen hielten den ganzen Tag an, die Nacht und den nächsten Tag. Liessen bald ein wenig nach, setzten dann wieder ein mit erneuter Heftigkeit. Und das Mädchen schrie und wimmerte, wand sich in elenden Schmerzen.
– Von dieser merkwürdigen Geburt handelt der dritte kurze Abschnitt in dem Lederbande A. T. B., auch von der Hand des Assistenzarztes geschrieben. Er leitete, in Gemeinschaft mit dem Gefängnisarzte, die sehr schwere Entbindung, die erst am dritten Tage stattfand und mit dem Tode der Mutter endete. Der Herr Geheimrat selbst war nicht dabei zugegen.
In diesem Bericht betonte Dr. Petersen die überaus kräftige Konstitution und den ausgezeichneten Bau der Mutter, die eine sehr leichte Entbindung geradezu bedingten. Nur die äusserst seltsame Querlage des Kindes bewirkten die eintretenden Komplikationen, die es letzten Endes unmöglich machten, beide, Mutter und Kind, zu retten. Weiter war erwähnt, dass das Kind, ein Mädchen, sogleich, fast noch im Mutterleibe, ein ganz ausserordentliches Geschrei erhob, so heftig und so durchdringend schrill, wie es weder die beiden Herren noch die assistierende Hebamme je bei einem Neugeborenen erlebt hätten. Dies Geschrei habe beinahe etwas Bewusstes gehabt, als ob das Kind bei der gewaltsamen Lostrennung von dem Mutterschosse ausserordentliche Schmerzen empfunden habe; es sei so eindringend und entsetzlich gewesen, dass sie sich eines gewissen Grauens kaum hätten enthalten können, ja, dass sein Kollege, Dr. Perscheidt, sich habe niedersetzen müssen, während ihm ein kalter Schweiss aus den Schläfen gebrochen sei.
Dann allerdings sei das Kind sofort ruhig gewesen und habe nicht einmal mehr gewimmert. Die Hebamme habe beim Baden sofort bei dem überhaupt sehr zarten und dürftigen Kinde eine aussergewöhnlich stark entwickelte Atresia vaginalis festgestellt, so zwar, dass auch die Haut beider Beine, bis oberhalb der Knie, zusammengewachsen sei. Diese merkwürdige Erscheinung sei aber nach eingehender Untersuchung nur eine oberflächliche Verbindung der Epidermis, die durch eine baldige Operation leicht behoben werden könne.
Was die Mutter betreffe, so habe sie gewiss sehr heftige Schmerzen und Qualen aushalten müssen. An eine Chloroformierung, oder eine Lumbalanaesthesie habe man ebensowenig denken können, wie an eine Injektion von Scopolamin-Morphium, da die nicht zu stillende Blutung eine grosse Herzschwäche hervorrief. Sie habe alle die Stunden über in der grässlichsten Weise geschrien und gejammert, sei hierbei nur in dem Augenblicke der Geburt selbst durch das entsetzliche Geschrei des Kindes übertönt worden. Später sei ihr Gestöhne langsam schwächer geworden, sie sei etwa zweieinhalb Stunden später, ohne Bewusstsein, entschlafen. Als direkte Todesursache müsse man einen Gebärmutterriss und die daraus resultierende Verblutung bezeichnen.
Der Körper der Dirne Alma Raune wurde der Anatomie überwiesen, da ihre benachrichteten Angehörigen in Halberstadt keinerlei Ansprüche darauf erhoben, auch erklärten, die Bestattungskosten nicht tragen zu wollen. Er diente dem Anatomieprofessor Holzberger zu Lehrzwecken und hat gewiss in allen seinen Teilen das Studium seiner Hörer wesentlich gefördert; mit Ausnahme des Kopfes, den der cand. med. Fassmann, i. a. C. B. der »Hansea« präparieren sollte. Er vergass ihn während der Ferien und liess sich dann, da er schon genug Schädel hatte und das Ding zu einem sauberen Präparat doch nicht mehr zu gebrauchen war, aus der Schädeldecke einen hübschen Knobelbecher machen. Er besass schon fünf Würfel aus Wirbelknochen des hingerichteten Mörders Noerrissen, und benötigte für diese nun einen geeigneten Becher. Herr cand. med. Fassmann war nicht abergläubisch, aber er behauptete, dass dieser Schädelbecher beim Ausspielen von Frühschoppen ganz ausserordentliche Dienste leistete. Er sang sein Lob in so hohen Tönen, dass der beinerne Becher und seine knöchernen Würfel im Laufe der Semester allmählich eine gewisse Berühmtheit erlangten, erst am Stammtische der Herren i. a. C. B. i. a. C. B., dann beim S. C. und schliesslich darüber hinaus in der ganzen Studentenschaft. Cand. med. Fassmann liebte seinen Becher und er sah es fast wie eine Art Erpressung an, als ihn – bei Gelegenheit seines Examenbesuches bei Exzellenz ten Brinken – der Geheimrat bat, ihm doch den berühmten Becher und die Würfel zu überlassen. Und er wäre ganz gewiss nicht darauf eingegangen, wenn er sich nicht gerade in Gynäkologie so ausserordentlich schwach gefühlt hätte und wenn nicht gerade dieser Professor ein so ausserordentlich scharfer und gefürchteter Examinator gewesen wäre. Tatsache ist, dass der Kandidat diese Station mit Glanz bestand: so brachte ihm sein Becher gutes Glück, solange er ihn besass.
Auch das, was sonst noch übrigblieb von den beiden Menschen, die, ohne einander je gesehen zu haben, Alraune ten Brinkens Vater und Mutter wurden, trat nach deren Tode miteinander in eine gewisse Beziehung: der Anatomiediener Knoblauch warf die Knochen und Fleischfetzen wie gewöhnlich in eine schnell aufgeworfene Grube des Anatomiegartens. Hinten an der Mauer, wo die weissen Kletterrosen so üppig wuchern –