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II. Die Grundlegung der universalen Religion.

Einleitende Erwägungen.

Eine ungeheure Krise unseres gesamten Lebensbestandes ist es, aus der wir das Problem der Religion hervorwachsen sahen, ein harter Kampf um das Ganze des Lebens drängt mit Notwendigkeit zu der Frage, ob zur Wiederbefestigung unserer geistigen Existenz nicht die Religion zur Hilfe kommen kann, zur Hilfe kommen muß, ob nicht lediglich die Anerkennung der lebendigen Gegenwart einer weltüberlegenen Wirklichkeit das Streben nach einem Gehalt und Sinn unseres Lebens möglich macht. Entspringt aber so das Problem der Religion aus dem Ganzen des Lebens, so wird nur eine solche Religion befriedigen können, die in dieses Ganze wirkt, so werden wir auch bei der Wendung zu dem besonderen Gebiet immer das Ganze im Auge behalten müssen. Wie solche Überzeugung bestimmte Forderungen an die Methode stellt, so treibt sie uns von vornherein über einen Gegensatz in der Begründung und Behandlung der Religion hinaus, der durch die Jahrtausende geht, über den Gegensatz einer Ableitung der Religion vom Intellekt und damit von der Welt her und einer aus besonderen Erfahrungen des menschlichen Kreises im Gefühl oder Wollen. Was dabei zunächst als eine bloße Verschiedenheit der Methode erscheint, das ist in Wahrheit ein Kampf um die Beschaffenheit der Religion; denn es entsprechen die verschiedenen Beweise verschiedenen Arten der Religion, sie entwickeln nur, was im Grunde schon angelegt war. So ist es nicht bloß der Weg zur Religion, sondern die Religion selbst, welche bei diesen Erörterungen in Frage steht.

In früherer Zeit, und zwar schon beim Griechentum, überwiegt die Begründung der Religion vom Denken her. Es war das auf seiner Höhe kein bloßes Reflektieren über die Welt, etwa ein Versuch, aus ihrer scheinbaren Zweckmäßigkeit eine weltüberlegene Intelligenz zu erschließen, vielmehr hoffte man zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen und hier eine lebendige Einheit zu finden, in die der Mensch sich versetzen könne; in der Erfassung dieser Einheit gewann die Denkarbeit einen religiösen Charakter, ja verwandelte sie sich schließlich in Religion. Am Ende dieses Weges liegt die Mystik mit ihrer völligen Versenkung aller Besonderheit in das All-Eine, ihrer Hingebung der ganzen Seele an das eine allumfassende Ziel.

Es wird sich zeigen, daß diese Denkweise eine Wahrheit enthält, von der die Religion nicht lassen kann ohne eng und starr zu werden. Aber das besagt nicht, daß sie von sich aus Religion begründen und mit ihr ein neues Leben eröffnen könne. In Wahrheit erreicht sie Religion nie aus der Kraft des Denkens allein, sondern immer nur, indem unvermerkt ein Fühlen und Aneignen einfließt und die an sich kalten Gebilde des Denkens erwärmt; ein lediglich auf sein eignes Vermögen gestelltes Denken würde sich nie über inhaltleere Formen, über höchst abstrakte Begriffe erheben; ja selbst bei der Ergänzung durch das Gefühl bleibt die Religion, die hier entsteht, gestaltlos und unfähig, aus der einen großen Intuition einen Lebenszusammenhang zu entwickeln. – Dazu kommt ein peinlicher Zweifel, den alle bloß intellektuelle Gestaltung der Religion nicht überwinden kann. Vermag denn das Denken aus eigner Kraft den Sonderkreis des Menschen zu durchbrechen und uns ins Göttliche zu heben? Sind unsere Begriffe mehr als Begriffe des bloßen Menschen? Muß nicht das Denken selbst einem weiteren Lebensgefüge angehören, um eine neue Welt eröffnen zu können?

Noch weniger kann nach den Erfahrungen der Jahrhunderte das reflektierende Verfahren genügen, das von dem besonderen Befunde der Welt eine überweltliche Intelligenz erschließt. In der Welt der Erfahrung schien solcher Denkweise zu viel Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit vorzuliegen, als daß die eigne Natur der Dinge sie hätte hervorbringen können; so dünkten jene Leistungen ein Zeugnis für die Macht, Weisheit und Güte eines weltüberlegenen Geistes. Dieser Gedankengang gewann viele Gemüter schon im späteren Altertum, er gewann sie im alten Christentum, er gewann sie auch in der Aufklärungszeit, er wird mit seiner Faßlichkeit nicht leicht allen Einfluß verlieren. Aber was immer hinter seiner anthropomorphen Form an Wahrheit stecken mag, den Zweifeln der Gegenwart ist er nicht gewachsen. Schon das empfindet unser wissenschaftliches Zeitalter als einen schweren Nachteil, daß jene Denkweise Religion und Wissenschaft miteinander unversöhnlich entzweit. Denn während die Wissenschaft mit höchstem Eifer bemüht ist, alle einzelnen Vorgänge in Verkettungen zu bringen und aus diesen zu verstehen, muß jene Denkweise die Religion für um so sicherer begründet halten, je unvermittelter sich das ausnimmt, was der Weltanblick an Zweckmäßigkeit zeigt, je schärfer sich einzelne auffallende Erscheinungen vom übrigen Geschehen abheben. Wenn damit jeder Gewinn an wissenschaftlicher und kausaler Erklärung sich der Religion zum Verlust gestaltet, so muß diese sich immer weiter in das noch Unerforschte, als unerforschlich Geltende zurückziehen, ohne doch je eine Gewißheit darüber zu erlangen, daß nicht auch das vermeintliche Mysterium sich schließlich dem aufklärenden Licht der Gedankenarbeit eröffnen werde. – Zugleich aber empfinden wir heute stärker als frühere Zeiten den Anthropomorphismus dieses Verfahrens, das unbesorgt die menschliche Denkform in das All hineinträgt und seinen Befund so erklärt, als hätte ein menschliches Wesen ihn hervorgebracht. – Sodann ist der heutigen Weltbetrachtung im Anblick der Dinge neben allem, was zweckmäßig scheinen mag, so viel Unzweckmäßiges gegenwärtig, so viel Kampf und Leid, so viel starre Gleichgültigkeit gegen menschliche Wohlfahrt und geistige Güter, auch in dem Zweckmäßigen selbst so viel Begrenztheit und Bedingtheit, daß uns der jene Zwecklehre begründende Tatbestand völlig erschüttert ist. – Wenn wir uns aber auch über alle Bedenken hinwegsetzen und das Wirken einer überlegenen Kraft in der Welt anerkennen wollten, hätten wir mit solcher religiösen Weltbetrachtung schon Religion, hätten wir damit ein neues Leben, eine Überwindung des inneren Zwiespalts erreicht? Mag uns also im Befunde der Welt noch so viel rätselhaft bleiben, mögen wir noch so bereitwillig dunkle Tiefen anerkennen, einen sicheren Standort für eine Begründung der Religion gibt uns das nicht. »Das Staunen des Weisen in den Tiefen der Schöpfung und sein Forschen in den Abgründen des Schöpfers ist nicht Bildung der Menschheit zu diesem Glauben. In den Abgründen der Schöpfung kann sich der Forscher verlieren und in ihren Wassern kann er irre umhertreiben, ferne von der Quelle der unergründlichen Meere« (PESTALOZZI).

Es war ein Rückschlag gegen die Überspannung des Intellekts, gegen eine Verwandlung der Religion in Spekulation und gegen ein Verfließen des Menschen in die Unendlichkeit, wenn eine Wendung zu den besonderen Erfahrungen des Menschen erfolgte: hier allein schien göttliches Leben unmittelbar hervorzubrechen, von hier aus allein die Religion eine leibhafte Gestalt, eine lebendige Kraft, eine volle Gewißheit zu gewinnen. – Aber auch hier ist das in seiner Wurzel berechtigte Streben bei der Ausführung ins Problematische geraten, es ist das namentlich dadurch, daß das menschliche Leben dabei vom All abgelöst und als ein Sonderkreis behandelt wurde. Denn dann wird nicht nur zu einer schweren, ja unlösbaren Frage, wie etwas einem solchen Sonderkreis Angehöriges über diesen hinausreichen könne, – und dessen bedarf es notwendig zur Religion –, sondern es entstand auch die Gefahr, daß eine derart begründete Religion viel zu sehr den Menschen bei sich selbst festhalte und nicht die nötige Gegenwirkung gegen das Bloßmenschliche übe. Eine nähere Betrachtung der Verzweigung, in die jenes Streben sich spaltet, wird das deutlicher zeigen.

Es ist nämlich entweder die weichere Art des Gefühls oder die kräftigere des Wollens, mittels derer diese Wendung zum Göttlichen zu gelangen sucht. Der Mensch vermag sich auf sein Gefühl zurückzuziehen, alle Bindung an die Umgebung abzustreifen, in reinem Fürsichsein, in freischwebender Zuständlichkeit sich allem Weltbefunde weit überlegen und zugleich einer unsinnlichen Ordnung angehörig zu wissen. Schon die bloße Tatsache, daß er sich von aller Verwicklung mit den Dingen befreien und auf eine lediglich bei sich selbst befindliche Innerlichkeit stellen kann, scheint eine größere Tiefe der Wirklichkeit zu erweisen, ein seelisches Reich hinter aller Härte und Sinnlosigkeit der nächsten Welt zu bezeugen. Solches bei sich selbst befindliche Gefühl schien zugleich einen sicheren Prüfstein zu bieten, um über Wahrheit oder Unwahrheit alles Erlebnisses zu entscheiden, hier allein schien das Leben volle Unmittelbarkeit zu gewinnen, hier erst ganz und gar eignes Leben zu werden. So soll an dieser Stelle alles, was sich für Religion ausgibt, seine Echtheit erweisen, auch von hier aus im eignen Bestände Kern und Zutat scheiden. Ja die Ansprüche des Gefühls gehen noch weiter dahin, nicht nur der unfehlbare Prüfstein, auch die schaffende Quelle der Religion zu sein. Bei sich selbst enthält es Wünsche und treibt es Entwicklungen hervor, in denen eine neue, eine göttliche Welt aufzusteigen und uns von aller »Angst des Irdischen« zu befreien scheint. Bei der hier gewonnenen Selbständigkeit des Innern scheint das Verlangen durch sein bloßes Dasein zugleich seine Wahrheit zu erweisen, die Sehnsucht nach Unendlichkeit und Ewigkeit, nach Freiheit, Frieden und Seligkeit unmittelbar die Wirklichkeit solcher Größen und Güter zu zeigen. So erhebt sich ein Reich der Ideale und erklärt sich als die echte Wirklichkeit gegenüber aller bloßen Erfahrung, in der Religion aber faßt es sich zu einem Ganzen zusammen und ergreift allererst die innerste Seele des Menschen; erst damit scheint ein volles Fürsichsein erreicht und durch ein freies Schweben im Äther der Unendlichkeit höchste Seligkeit gewonnen.

Gewiß enthält das alles viel Wahrheit, nur ist diese Wahrheit mit manchem Bestreitbaren verquickt, und, nur eine gründliche Klärung kann beides voneinander scheiden. Vor allem ist bloßes Gefühl noch keineswegs selbständiges Innenleben, in sich ruhende Tiefe, die aus eignem Vermögen einer Wahrheit gewiß ist. Vielmehr bezeugt das Gefühl nur die Erregung des Subjekts, den Grad der subjektiven Aneignung des Lebensprozesses; nicht nur bleibt der Wahrheitsgehalt dieses Prozesses dabei in Unsicherheit, es hat jene Aneignung auch verschiedene Grade: bei starker subjektiver Aufregung kann das Gefühl flach und matt verbleiben, kann es sich in flüchtiger Wallung vergeuden und verzehren. Ist es aber wert- und gehaltvoll weniger durch sein unmittelbares Dasein, als durch das, was es von wesenhafterem Leben entfaltet, so kann es nicht selbst den entscheidenden Prüfstein bilden, so ist eine Kritik der Gefühle ebenso nötig wie eine Kritik der Begriffe. Man wird, ohne dem Intellektualismus HEGELS zu huldigen, seinem Worte zustimmen müssen: »Der wahrhafte Nerv ist der wahrhafte Gedanke; nur wenn er wahr ist, ist das Gefühl auch wahrhafter Art.« Gewiß überschreitet das Sehnen und Verlangen des Menschen oft die vorhandene Welt, aber geht nicht auch der Traum über die Wirklichkeit oft hinaus?

Im Gebiet der Religion begann die Wendung zum Gefühl gewöhnlich innerhalb einer festen Überlieferung und gemeinsamen Ordnung; der Anschluß des subjektiven Erlebens an ihren Bestand ließ es zugleich einen Halt wie einen Gehalt gewinnen. So geschah es bei PASCAL, so auch bei SCHLEIERMACHER, namentlich in seinem späteren Schaffen. Hier wie da gab die unmittelbare Beziehung auf die Seele des Einzelnen der Religion unvergleichlich mehr Wärme und Innerlichkeit. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn das Gefühl unter Abweisung aller Zusammenhänge von sich aus Religion erzeugen will. Denn beschränkt es sich bei solchem Streben wirklich auf das eigne Vermögen, so fällt das Ergebnis unvermeidlich sehr dünn und dürftig aus. Dies bloße Gefühl ist so flüchtig und zart, so halt- und gestaltlos, daß es unmöglich den Menschen über das Bloßmenschliche hinausführen und in ein Verhältnis zur Gottheit bringen kann.

So war denn auf geschichtlichem Boden gewöhnlich die Ausrufung der Alleinherrschaft des Gefühls ein Stück des inneren Auflösungsprozesses der Religion. Der überkommenen Gestalt innerlich entfremdet, aber einen vollen Bruch mit ihr scheuend, suchte man im Subjekte festzuhalten, was in der Substanz verneint war, begrüßte man solche Wendung wohl gar als einen Gewinn an Weite und Freiheit und übersah dabei, daß, wenn die Sache wegfällt, früher oder später auch ihr Reflex in den Gemütern verschwinden muß. So pflegte eine solche Religion des bloßen Gefühls immer schattenhafter zu werden, bis sie dem Menschen gänzlich zerrann. Demnach ist die Wendung zum bloßen Gefühl ein Weg, auf dem Religionen nicht sowohl entstehen als vergehen.

Bei der Begründung der Religion auf das Wollen ist es namentlich die Tatsache des eignen Entscheidens, das Aufbringen eines Handelns aus eignem Vermögen, was mit der Erhebung über allen bloßen Naturmechanismus den Menschen als Glied einer neuen Welt zu zeigen, scheint. Aber zunächst kann Zweifel darüber entstehen, ob der Mensch die Freiheit in Wahrheit habe, die er zu haben vermeint, dann aber auch, ob die Entwicklung jener Freiheit schon ein Reich der Religion eröffne. Könnte die vermeintliche Freiheit nicht bloß ein Übersehen vorhandener Bindung sein? Fühlen doch die Menschen sich oft um so freier, je weniger sie die Ursachen ihres Handelns durchschauen. Nach SPINOZA würde auch der geworfene Stein sich frei fühlen, wenn er Bewußtsein erhielte.

Alle Erregung affektiven Lebens in Wollen und Fühlen nimmt namentlich da eine Wendung zur Religion, wo sie einen moralischen Charakter entwickelt, sei es in dem Phänomen der inneren Beurteilung unseres Handelns, der Billigung oder Verwerfung, sei es in der Aufrufung unseres Wollens, sich einem Soll zu unterwerfen und der Pflicht gemäß zu handeln. Hier wie da scheint eine höhere Macht in den menschlichen Kreis hineinzuragen und das Leben über die natürliche Selbsterhaltung hinauszuführen. Sicherlich liegt hier etwas vor, das größere Tiefen des Lebens verrät und unsichtbare Zusammenhänge ahnen läßt, alle verstandesmäßige Erklärung vom bloßen Dasein aus erreicht nicht die Höhe der Sache. Aber die Anerkennung dessen schließt die Frage nicht aus, was in jenen Phänomenen reiner Tatbestand, und was menschliche Deutung sei; denn das Bild, in dem sie sich darzustellen pflegen, ist durch Gedankenarbeit hindurchgegangen, und diese Arbeit kann manches hervorgebracht haben, was die naive Betrachtung als unmittelbares Erlebnis nimmt. Würden die Behauptungen der Individuen, Völker und Zeiten über religiöse Erfahrung soweit auseinandergehen wie sie es tun, wenn nicht die Grenze zwischen Tatsache und Deutung hier überaus unsicher wäre? Drängen wir aber dieses Bedenken zurück, so bleibt noch eine andere Frage. Gelangt auf diesem Wege, gelangt von den Phänomenen des Fühlens und Wollens aus, und seien sie noch so sehr ins Geistige vertieft, die Religion zu einem selbständigen Reich, kann von hier aus eine Wirkung entstehen, welche den Menschen von den Verwicklungen des Daseins befreit und ihm ein neues Leben eröffnet? Ahnungen, Regungen, Antriebe in Hülle und Fülle, aber keine gehaltvolle Wirklichkeit, zu welcher der Mensch sich flüchten, und bei welcher er Rettung finden könnte. Nicht ein Sehnen und Hoffen einer neuen Welt, sondern nur die Wirklichkeit einer neuen Welt kann den Verwicklungen gewachsen sein; bloße Ausblicke und Stimmungen genügen nicht, sondern es bedarf einer Umkehrung des Lebens, des Gewinns eines neuen Standorts und zugleich einer gründlichen Scheidung dessen, was hierher, und dessen, was dorthin gehört. Das aber fordert unbedingt eine Zusammenfassung des Lebens ins Ganze und eine Umwandlung im Ganzen, von einzelnen Seiten der Seele aus ist es schlechterdings nicht zu erreichen. Diese gewähren nur Flächenansichten des Lebens, intellektuelle, ästhetische, praktische, aber sie bilden keine Tiefe, die ursprüngliche Lebensquellen eröffnen könnte.

Demnach besteht keine Möglichkeit, von einzelnen Seiten des Seelenlebens her zur Religion zu gelangen. Dazu traten diese Versuche untereinander in einen schroffen Gegensatz: ging auf der einen Seite die Sorge vornehmlich auf den Weltcharakter der Religion und auf den Ausbau eines entsprechenden Gedankenreiches, so bestand man auf der anderen vornehmlich auf der seelischen Nähe und Anregung. Das eine ist so notwendig wie das andere, aber auf den hier versuchten Wegen läßt beides sich nicht zusammenbringen: beim Intellekt gefährdet der Weltcharakter die innere Nähe und seelische Wärme, beim Fühlen und Wollen die erstrebte Unmittelbarkeit des Erlebnisses die Gültigkeit über den Menschen hinaus. Zugleich ist ohne weiteres klar, daß bei solcher Gespanntheit des Gegensatzes ein unmittelbares Zusammenschieben, ein friedliches Sichvertragen der verschiedenen Formen das Unmöglichste von allem ist. Nach den Erfahrungen der Geschichte läßt sich nicht wohl aus Denken, Fühlen, Wollen Religion zusammensetzen.

So gilt es einen neuen Weg zu suchen, zunächst vor allem darauf bedacht, nicht von vornherein unter die Macht jenes Gegensatzes zu kommen. Wir brauchen aber Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, Tätigkeit und Gegenstand nicht auseinanderfallen zu lassen, wenn wir nicht von irgendwelchem als fertig gedachten Sein, sondern wenn wir vom Lebensprozesse beginnen und von ihm aus die Begriffe vom Sein erst zu entwickeln suchen, wenn wir zugleich nach einem den einzelnen Seiten überlegenen Ganzen streben. Daß ein solches Ganzes besteht, das hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, denn selbst die Widersprüche unseres Daseins wären von uns nicht miteinander zu erleben, bestünde nicht irgendwelche Einheit, die sie umspannte. Aber wo sich eine solche Einheit findet, und ob sie ohne eine Umkehrung des ersten Anblicks erreichbar ist, das ist eine andere Frage. Als sicher darf jedenfalls gelten, daß kein Aufweis der Religion in der Weise möglich ist, wie eine einzelne Tatsache innerhalb des Weltzusammenhanges dargetan wird. Schon Meister ECKHART spottet darüber, daß manche Leute Gott sehen wollen »wie man ein Rind sieht«. Sicher ist jedenfalls auch, daß nur das Ganze des Lebens an den Punkt führen kann, wo die Erfahrung einer höheren Welt hervorbricht. Der Weg zur Religion führt durch die Widersprüche des Lebens hindurch, sie wollen erst gründlich aufgedeckt sein, ehe sich nach ihrer Überwindung fragen läßt. Das ist das Einzigartige des religiösen Problems, daß es hier einen durchgehenden Widerspruch sowohl zu eröffnen als zu überwinden gilt, daß innerhalb unseres Kreises etwas aufzuweisen ist, was über diesen Kreis hinausführt. Ohne deutliche Scheidungen und wesentliche Abstufungen wird das schwerlich gelingen können. Das erste Bild muß sich auseinanderlegen, es muß im Bestande unseres Lebens weit mehr aufgedeckt werden, als unmittelbar vor Augen liegt. So kämpfen wir bei der Frage der Religion zugleich um das Gesamtbild der Wirklichkeit und unseres eignen Wesens. Es könnte sehr wohl sein, daß wir dieses Bild recht unfertig, ja voller Widersprüche finden. Aber wer hat uns denn die Gewißheit gegeben, daß die Welt bei uns und wir in ihr fertig sind, daß nicht vielleicht darin der Hauptwert unseres Lebens liegt, uns in Weltbewegungen hineinzuversetzen?

a. Die Verwicklung des menschlichen Lebens.

1. Die Zweiheit im menschlichen Leben.

Eine Durchforschung des Lebensprozesses in der Richtung auf das religiöse Problem hat vor allem danach zu fragen, ob jener ein einziges, fortlaufendes Ganzes bildet, oder ob er wesentliche Unterschiede, ob er im besondern eine durchgehende Zweiheit aufweist. Eine solche Zweiheit würde vielleicht einen Faden bieten, der weiterleitet. Nun zeigt jede unbefangene Betrachtung, daß unser Leben in der Tat zweierlei enthält, daß es, so sei unter Vorbehalt einer näheren Erläuterung gesagt, die beiden Stufen von Natur und Geist umfaßt. Das ist ein anderer Gegensatz als der von Körper und Seele, von Äußerem und Innerem, von räumlicher Ausdehnung und bewußter Tätigkeit, wie die Aufklärung ihn in den Vordergrund rückte. Denn unser Gegensatz liegt gänzlich innerhalb der Seele: ihr eignes Leben zeigt insofern eine zwiefache Art, als es einmal die uns sinnlich umfangende Natur bloß fortführt und sich damit einem weiteren Rahmen der Natur einfügt, als es zugleich aber neue Kräfte, Ziele, Formen entfaltet, die miteinander eine neue Stufe gegenüber aller bloßen Natur erweisen. Dieser Unterschied ist für das Ganze unserer Untersuchung viel zu wichtig, um nicht eine deutliche Beleuchtung und genaue Begründung zu fordern.

Die sinnliche Natur, aus der auch unser Leben hervorwächst, hat sich der neueren Wissenschaft als ein ins Unermeßliche verlaufendes Gewebe von lauter einzelnen Elementen oder Kräften dargetan. Die durchgängige Wechselwirkung dieser Elemente und das Verlaufen alles Geschehens in einfachen Grundformen mag die Spekulation irgendwelchen inneren Zusammenhang, irgendwelchen alle Mannigfaltigkeit tragenden Grund fordern lassen: die Naturwissenschaft kann diese Frage zurückschieben und lediglich von den einzelnen Elementen her erklären. Denn auf dem Boden der Erfahrung erwächst alles Geschehen aus den Beziehungen von Punkt zu Punkt, im Austausch der Wirkungen erhält sich lediglich der eine gegen den anderen; nirgends erscheint eine Lenkung der Bewegung von einem Ganzen her, nirgends geht das Leben auf ein jener Selbsterhaltung überlegenes Ziel gemeinsamer Art. Was sich an Verbindung findet, ist nichts anderes als eine Zusammenfügung im räumlichen Nebeneinander. Nur die äußere Berührung bringt hier die Elemente zusammen, ein inneres Teilhaben aneinander ist hier unmöglich, ja undenkbar. Wiederum mag die Spekulation dies Bild durch die Bemerkung ergänzen, daß die Elemente nicht ganz und gar in die gegenseitigen Beziehungen aufgehen können, daß irgendwelches Ansich erforderlich ist. Aber ein solches Ansich liegt unzugänglich hinter dem Geschehen und bleibt unerforschlich für alle Zeiten. Wie damit jegliche Frage nach letzten Gründen entfällt, so gibt es hier auch kein Ergrübeln des Warum und Wofür; der Naturprozeß erscheint der wissenschaftlichen Forschung als eine reine und bloße Tatsächlichkeit.

Wie uns nun ein derartiges Sein von draußen her umfängt, so erstreckt es sich auch weit in das eigne Gebiet der Seele. Auch das menschliche Handeln wird zunächst vom Drange individueller Selbsterhaltung getrieben, nur die Leistung dafür macht Menschen und Dinge uns wertvoll; es gibt hier kein Handeln für fremde Zwecke, für ein jenseit der Individuen befindliches Ganzes. Seinen Inhalt schöpft unser Leben zunächst aus den äußeren Beziehungen und Berührungen, es ist nichts anderes als ein Verkehren mit der Umgebung, und was innerlich heißt, ist nur ein Nachklang und Niederschlag dessen, was an der Berührungsfläche entstand. Die Begriffe z. B. sind verblaßte sinnliche Vorstellungen, gut kann nur heißen, was unserer Stellung im sinnlichen Dasein nützt, alles Glück wurzelt schließlich in sinnlichen Reizen; was immer unsinnlich oder geistig heißt, ist in Wahrheit nur ein Sinnliches feinerer Art. Auch der Zusammenhang der seelischen Vorgänge entspricht der Ordnung der Natur. Einzelnes und Einzelnes trifft zusammen, verkettet sich gemäß dem Neben- und Nacheinander, erregt und verdrängt sich gegenseitig; es ist die Assoziation mit ihrem Mechanismus, welche zunächst unser Leben beherrscht und aus ihm ein verwickeltes Räderwerk macht, das mehr an uns vorgeht als unser Wesen bildet. Keine überlegene Einheit umspannt und bewegt die Mannigfaltigkeit, weder für Zwecke noch für ein Handeln gibt es hier einen Platz.

Wie aber unser Zustand an die Berührung gebunden bleibt, so erschließen sich uns auch die Dinge nicht über diese hinaus. Was sie bei sich selbst sein mögen, davon können wir nichts wissen und davon brauchen wir nichts zu wissen; ein solches Jenseits kann uns weder erwärmen noch sich uns eröffnen. Auch insofern steht dies anfängliche Seelenleben innerhalb der Natur, daß es den Charakter bloßer Tatsächlichkeit trägt: ein Kommen und Gehen, ein Aufsteigen und Versinken, eine Gebundenheit durch Trieb und Mechanismus, ein Leben ohne Ziel und Zweck, ohne Sinn und Vernunft, völlig aufgehend in die Zustände des bloßen Daseins. Überblicken wir dies Seelenleben in seiner Ausdehnung über die Weite der Natur bis in den Menschen hinein, so sehen wir es nirgends in sich selber ruhen, nirgends für sich etwas bedeuten, sondern mit allen seinen Leistungen erscheint es als ein bloßes Mittel zur natürlichen Erhaltung der Wesen. Wozu anders dient auch die reichste seelische Ausstattung in der Tierwelt als dazu, die Individuen und mit ihnen die Arten für den Kampf ums Dasein zu rüsten? Auch dem Menschen leistet das Seelenleben zunächst nicht mehr, auch hier bleibt es zunächst ein bloßes Stück des natürlichen Lebensprozesses.

Aber mag diese Art des Lebens die geschichtlichen Anfänge des Menschen fast ausschließlich eingenommen haben und auch heute noch den Durchschnitt beherrschen, sie bleibt nicht allein, neben ihr entwickelt sich eine neue Art von anderer Gestalt und anderer Richtung. Punkt für Punkt erscheinen Wandlungen und bilden miteinander eine wesentlich höhere Stufe. Das menschliche Tun wird nicht gänzlich von der Selbstbehauptung festgehalten, sondern auch darüber hinaus auf das Wohl der anderen gerichtet; innere Zusammenhänge menschlicher Gemeinschaft entstehen und gewinnen das Individuum bis zur völligen Aufopferung für ihre Zwecke; in anderer Weise zieht die geistige Arbeit den Menschen an sich und unterwirft sein Streben einer sachlichen Notwendigkeit; in Kunst, Wissenschaft, Recht, Technik usw. erwachsen ausgedehnte Zusammenhänge und zwingen den Menschen in ihren Dienst.

So in ein Ganzes zusammenschließen könnte uns aber die Arbeit nicht, wenn uns nicht eine Veränderung im inneren Gewebe der Seele aus dem Ganzen denken und leben ließe. Jene Zusammenhänge müssen sich auch innerlich vergegenwärtigen lassen, der Gedanke eines Ganzen muß die Mannigfaltigkeit umspannen und das bloße Nebeneinander in ein System verwandeln. So erweist es in Wahrheit der Aufbau einer zusammenhängenden Gedankenwelt, ein alle Kultur durchdringendes Streben nach innerer Gliederung.

Stärker noch fällt ins Gewicht, daß der Lebensprozeß sich der bloßen Berührung mit den Dingen entwindet, indem er sowohl das Seelenleben in sich selbst vertieft als auch über alle Erscheinung hinaus ein Wesen der Dinge erstrebt. Das von draußen Empfangene wird weitergeführt und umgebildet; dabei erscheinen neue Kräfte und Formen, und es erweist das Innere ein eignes Vermögen, wie z. B. auf der Höhe der Wissenschaft die Begriffe nicht einen bloßen Niederschlag der sinnlichen Vorstellungen bilden, sondern Schöpfungen des Denkens sind. Mehr und mehr schließt das innere Leben sich zu einer Einheit zusammen, sucht und findet eigne Bahnen, übt eine Gegenwirkung gegen alle bloße Umgebung. Zum Geschehen an uns gesellt sich nunmehr ein Handeln aus eigner Kraft und Entscheidung. Solcher Selbständigkeit der Einzelseele entspricht eine größere Selbsttätigkeit der Menschheit; sie bereitet gegenüber der Natur ein eignes Reich, das Reich der Kultur; ein gemeinsames, in sich selbst gegründetes Leben umspannt hier alle Verzweigung und bietet dem Menschen ein neues Dasein gegenüber der bloßen Natur.

Zugleich wird ein neues Verhältnis zu den Dingen ausgebildet. Nicht mehr genügt uns die bloße Berührung mit ihnen; wir möchten darüber hinausdringen, uns in ihren eignen Bestand versetzen, an ihrem eignen Leben teilgewinnen. So nicht bloß im Erkennen mit seinem Verlangen nach Wahrheit, sondern in allem Geistesleben. Denn was unterscheidet echte Liebe von dem sinnlichen Reiz als ein solches Aufnehmen des anderen in die eigne Seele, und wie könnte uns ein Gegenstand anziehen und bewegen, wäre er nicht in den eignen Lebenskreis aufgenommen? Das besagt eine Durchbrechung der Enge des natürlichen Seins und die gründlichste Umwandlung aller Größen und Güter. Erst jetzt, wo der Lebensprozeß das scheinbare Jenseits in sich zieht, entsteht ein Problem der Wahrheit in strengerem Sinne, erst jetzt erwächst gegenüber dem Nützlichen und Angenehmen ein Gutes, einer der rätselhaftesten aller Begriffe. Und was uns früher als Glück befriedigte, die Erhaltung und Erhöhung des Individuums, das wird durch jene innere Erweiterung des Lebens klein, leer, ja ein Hemmnis echten Wohlseins.

Diese Wendung des Lebens zur Gegenständlichkeit entwickelt und erweist eine andere Art seelischer Tätigkeit, als die frühere Stufe sie kannte. Eine Selbständigkeit und eine innere Gegenwart gewinnt das Objekt nie vom sinnlichen Eindruck her, sondern nur unter Ablösung davon; diese aber ist ein Werk der Gedankenarbeit, nur das Denken versetzt uns in die Dinge, nur als Gedankengrößen bewegen sie uns. So besagt jenes Weitwerden des Lebens zugleich eine Verschiebung ins Gedankenhafte, Unsinnliche, Ideelle; ja es erfolgt eine Umkehrung, indem jene Gedankenarbeit sich für das Frühere und das Begründende erklärt, während das Sinnliche an die zweite Stelle rückt und zu einer Außenseite des Lebens sinkt. – Diese Begründung des Lebens auf Denken ist zugleich ein Gewinn an Durchsichtigkeit und Freiheit. Wohl übt der Gegenstand, den wir uns aneignen, einen starken Zwang gegen uns und vertreibt mit seiner Notwendigkeit alle vorhandene Willkür. Aber dieser Zwang der Sache wirkt nicht mit physischem Drucke, sondern nur durch die Vermittlung eigner Tätigkeit hindurch; indem er die Willkür aufhebt, bestätigt er die Freiheit. Alle Forschung untersteht den Notwendigkeiten der Sache, aber eine Wendung zur Forschung zwingt uns auch die stärkste äußere Gewalt nicht auf; das künstlerische Schaffen könnte nicht innere Notwendigkeiten des Vorwurfs empfinden und befolgen, hätte ihn nicht zuvor unsere Phantasie mit uns verbunden; der Gedanke der Pflicht ist ein Unding ohne ein Aufnehmen der sittlichen Ordnung in das eigne Wollen.

Demnach entfaltet sich in mannigfachen Zügen ein neues Leben; zu seinem Gesamtbilde gehört namentlich eine Zweiseitigkeit, ein Auseinandergehen nach widerstreitender Richtung. In der einen wird unser Tun mehr und mehr auf sich selbst zurückgeworfen und in sich selbst vertieft bis zur Ausbildung einer selbständigen Innerlichkeit; in der anderen wird es möglichst in das Objekt versetzt, von ihm erfüllt und bewegt. So ist das Zusammenrinnen, das die Naturstufe bot, gänzlich aufgehoben: Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Tätigkeit und Vorwurf haben sich geschieden und wirken wie selbständige Mächte aufeinander. Aber die Scheidung, die unser Leben von dumpfer Gebundenheit befreit, kann nicht den letzten Abschluß bedeuten; je schärfer und klarer sie wird, desto mehr empfinden wir sie als einen unerträglichen Spalt im eignen Wesen und zugleich als einen Sporn, die verlorne Einheit irgendwie in höherer Gestalt wiederherzustellen. So geht hier der Weg zum Ja durch ein Nein, wir müssen scheiden, um wieder zu verbinden, uns entfernen, um wieder zurückzukehren. Damit kommt in alle Lebensarbeit ein negatives Element, aller echte Fortgang erfolgt durch Mühe und Kampf, durch Zweifel und Schmerz, aber die Erschwerung des Daseins ist zugleich Erhebung auf eine höhere Stufe, durchgehende innere Veredlung.

So eingreifende Bewegungen und Umwälzungen brechen auch den Bann der starren Tatsächlichkeit, der auf dem naturhaften Dasein lag. So vieles dunkel und rätselhaft bleibt, ja es immer mehr wird, schon die starke Empfindung des Dunkels bezeugt den Beginn einer Aufhellung. Nicht mehr läßt sich jetzt das Geschehen hinnehmen, wie es uns zufällt, ein Messen und Beurteilen, ein Billigen und Verwerfen tritt dem entgegen; über alle einzelnen Fragen hinaus aber erhebt sich die Frage nach einem Ziel alles Tuns, einem Sinn unseres Lebens, alle Mannigfaltigkeit muß sich dafür in einen einzigen Anblick zusammenfassen.

So ist darüber kein Zweifel, daß unser Seelenleben nicht bloß eine von der Natur überkommene Bewegung fortsetzt, sondern daß es eine neue Art zu erkennen gibt; unser Leben bildet nicht eine einzige Fläche, sondern es enthält zwei Stufen grundverschiedener Art. Daß dadurch sein Bild minder einfach wird und der wissenschaftlichen Forschung größere Mühe macht, das darf die Anerkennung dieser Tatsache keineswegs hindern. Oder sollten wir sie umbiegen, abschwächen, zurechtlegen, damit sich nur alles recht bequem in unsere Begriffe füge?

2. Der Widerspruch im menschlichen Leben.

Das Zusammentreffen zweier Stufen innerhalb eines Lebens besagt an sich keinen Widerspruch; ein solcher würde erst dann entstehen, wenn Verwicklungen zwischen jenen erschienen und das vorgefundene Verhältnis der beiden Stufen ein anderes wäre, als ihre innere Bedeutung es fordert. Dies aber geschieht in Wahrheit. Das geistige Leben gibt sich als das Überlegene und zur Herrschaft Berufene, in Wirklichkeit muß es sich bei uns mit einem bescheidenen Platze begnügen; es will seiner inneren Art nach in sich selber ruhen und ein eignes Reich entfalten, beim Menschen aber bleibt es an die Natur gebunden und erscheint als ein bloßer Anhang zu ihr. Eine solche Einschränkung hemmt nicht nur das Wirken nach außen, es läßt auch die innere Bewegung stocken; bei jener Abhängigkeit von fremder Gewalt scheint das Geistesleben sich selbst nicht erreichen zu können und in allem scheitern zu müssen, was es der Natur gegenüber an Neuem versucht. So wird es ein Widerspruch in sich selbst, und was unser Dasein aufzuhellen versprach, das erweist sich selbst als ein schweres Rätsel.

α. Die Ohnmacht der geistigen Triebkräfte.

Dem geistigen Leben wesentlich war eine Ablösung des Handelns vom Naturtriebe der Selbsterhaltung, ein Freiwerden für Zwecke gemeinsamer und sachlicher Art. Besonders deutlich zeigt das die Moral. Denn wie verschieden sie gefaßt und erklärt werden mag: daß sie eine Einschränkung jenes Triebes und eine Richtung auf Gesamtziele fordert, das leidet keinerlei Zweifel. Wie aber steht es in Wirklichkeit mit der Entwicklung einer derartigen Gesinnung? Wohl breitet das ganze Kulturleben einen Schein von Moral, von Selbstlosigkeit und Opferwilligkeit über sich aus, die gemeinsamen Einrichtungen bekennen hohe Ziele, und das gesellschaftliche Zusammensein trieft von unablässiger Versicherung gegenseitiger Teilnahme, Hochachtung, Liebe. Aber wer jenen Schein für Wahrheit nimmt, den pflegt das Leben rasch zu enttäuschen, die vermeintlichen Goldstücke erweisen sich bald als bloße Rechenpfennige; was Lebenserfahrung heißt, ist im Grunde nichts anderes als ein Durchschauen und Auflösen jenes Scheins. So galten von alters her als bessere Menschenkenner vor den Optimisten die Pessimisten. Die Organisation des gemeinsamen Lebens aber behandelt durchgängig das eigne Wohl der Individuen als die treibende Kraft alles Wirkens; sie gewinnt jene nicht durch die Aufsteckung hoher Ziele jenseit ihrer Lebenskreise, sondern durch Vorteile, die sie ihnen verheißt, und Nachteile, die sie ihnen androht. Je fester sich diese individuellen Zwecke mit der gesellschaftlichen Ordnung verketten, desto sicherer ist sie ihres Bestandes; wie schlecht würde sie fahren, wollte sie sich auf die Liebe zum Guten, den Haß gegen das Böse verlassen! Auch die Religionen sind bei aller Verschiedenheit einig in der Geringschätzung der moralischen Art des Menschen. Denn auch die optimistischer gesinnten Gesetzesreligionen vertrauen nicht seiner natürlichen Güte, sondern sie erwarten eine Befolgung der göttlichen Gebote erst von einer Vorhaltung großes Lohnes, einer Androhung schwerer Strafe. Auch die Philosophie befaßt sich unablässig mit dem weiten Abstände zwischen der moralischen Anlage und dem wirklichen Verhalten des Menschen; je tiefer die Denker das Leben faßten, wie ein PLATO und ein KANT, desto stärker empfanden sie jenen Widerspruch; aber selbst diejenigen, welche, wie ein ARISTOTELES und ein LEIBNIZ, die Sache minder schwer nahmen, wurden bei näherer Entwicklung ihrer Gedanken Zeugen für jene andere Schätzung. Denn sobald sie sich zur Breite des Lebens wenden und dem Eindruck der Erfahrung folgen, verkehrt sich jenes günstige Bild in das Gegenteil und fehlt es an scharfen Urteilen nicht; so sind die Denker in der Beurteilung des Menschen weit einiger, als der Streit ihrer Lehren erwarten läßt, sie geben dieselbe Wahrheit nur verschieden gefärbt. Zu solchen Überzeugungen der Religion und der Philosophie stimmt auch die Kunst, sofern sie nicht in flacher Verschönerung die Wirklichkeit verfälscht, sondern sie klar beleuchtet und in ihrer Wahrheit sehen lehrt. Wie schwere Verwicklungen hat eine solche Kunst vor Augen gestellt, unter wie starken Kontrasten zeigt sie das menschliche Dasein!

Wohl haben in einzelnen Augenblicken Individuen und ganze Völker eine selbstlose Gesinnung und eine heroische Aufopferung gezeigt. Gewiß, in einzelnen Augenblicken, unter besonders starken Anregungen, in seltenen Ausnahmefällen. Enthält aber nicht eben der Umstand, daß jene Leistungen als wunderbar gepriesen und als übermenschlich angestaunt werden, das vernichtendste Urteil über den Durchschnitt des menschlichen Tuns?

Dazu beschränkt das Problem sich nicht auf das moralische Gebiet im engeren Sinne; nicht nur, wo dem Menschen eine Aufopferung zugemutet wird, auch wo er nur irgendwelche ernstliche Teilnahme für Angelegenheiten jenseit seines Ich aufbringen soll, da versagt meistens sein Vermögen. Mag es sich um Staat und Gesellschaft oder um Kunst und Wissenschaft oder um andere gemeinsame Aufgaben handeln, überall zeigt der Durchschnitt eine klägliche Stumpfheit und Gleichgültigkeit, überall geht sein Streben nicht sowohl auf die Sache als auf die Vorteile, die sie dem Individuum verspricht. Um für die Sache irgendwelche Kraft zu gewinnen, pflegt es mühsamer Umwege und verzweifelter Künste, scheint es bald brutaler Einschüchterung, bald dreister Reklame zu bedürfen; wird dagegen das eigne Interesse berührt, so verwandelt sich sofort die träge Gleichgültigkeit in gespannteste Aufmerksamkeit und eifrigste Beteiligung. Daß es auf der Höhe des geistigen Schaffens besser stand, wird wieder deutlich als Ausnahme empfunden, und es bestätigt daher die Behauptung mehr, als es sie widerlegt.

So ist die Schwäche der geistigen und moralischen Triebkräfte unbestreitbar. Aber merkwürdig genug sträubt sich der Mensch mit Hand und Fuß gegen ein Eingeständnis dessen. Durch alles Leben und alle gemeinschaftlichen Einrichtungen geht ein Streben, sich in besserem Lichte darzustellen, sich edler und größer zu zeigen, als es in der Tat der Fall ist; ein offnes Aussprechen und ruhiges Anerkennen jenes Sachverhaltes wird geflohen; so treibt der Mensch Heuchelei nicht nur gegen andere, sondern mehr noch gegen sich selbst, auch vor seinem eignen Bewußtsein redet und empfindet er sich in die Höhe. So jene unablässige Schauspielerei, die von alters her den bitteren Spott der Satiriker, den glühenden Zorn der Wahrheitsfreunde, den tiefen Schmerz der ethischen Naturen erregt hat. Hier steckt ein Problem: warum scheuen wir uns etwas zuzugeben, dessen Tatsächlichkeit unleugbar ist, warum beruhigen wir uns nicht bei einem Stande der Dinge, der uns von allen Seiten umfängt? Es muß wohl irgendwelche verborgene Gegenwirkung vorhanden sein; woher sie aber komme und worin sie bestehe, das liegt einstweilen im Dunkeln. So verbleibt unser Dasein zunächst unter der Macht des Gegensatzes, und wir sehen nicht, wie jenes Geistige durchdringen mag, bei dem uns eine Notwendigkeit unserer eignen Natur auch gegen unseren Willen festhält.

β. Das geistige Unvermögen des Menschen.

Bis dahin handelte es sich um die Stärke der geistigen Triebkraft im Menschen, den Forderungen der neuen Stufe entsprach weitaus nicht das Wollen. Aber es fragt sich, ob das Wollen vornehmlich die Schuld trägt, ob nicht die Verwicklung darüber hinaus bis in den Grund unseres Wesens reicht. Vermag der Mensch überhaupt etwas seinem Zustande Jenseitiges zu erstreben, kann geistiges Leben in der ausgeprägten Art, wie es sich uns darstellt, in der Enge und Subjektivität seiner Natur je zur Verwirklichung kommen? Wird nicht alles, was ihn bewegen soll, auf den Stand dieser Natur herabgezogen und zugleich in dem zerstört, was an ihm Versetzung in ein naturüberlegenes Reich, Leben aus der Weite und Wahrheit der Dinge, Eingehen in die Seele anderer war?

Das Erkenntnisstreben will Wahrheit, die eigne Wahrheit der Dinge jenseit der bloßen Eindrücke, welche die Seele in Empfindungen umsetzt und in Vorstellungen niederlegt. So entwand sich der sinnlichen Vorstellung der Begriff, um den eignen Bestand der Sache zu erschließen. Aber wie gelangen wir über das Gebiet der Vorstellungen hinaus, und wird nicht der Begriff, je mehr er sich davon ablöst und auf sein eignes Vermögen stellt, desto leerer und schattenhafter? Auch in die sublimsten Begriffe hinein verfolgt uns das sinnliche Vorstellen. Mit wie viel Eifer und Mühe hat von alters her die Religion reine Begriffe von der Gottheit erstrebt, und wie sehr hat sie dabei immer von neuem die Schranken unseres Vermögens empfunden! Mußte sie doch gerade im höchsten Aufschwung bekennen, daß alles menschliche Erkennen nicht mehr erreicht als ein Gleichnis; das heißt aber doch, daß den Menschen sein besonderer Vorstellungskreis mit unerbittlicher Strenge festhält.

Was aber vom Begriff, das gilt vom Erkennen überhaupt. Auf einem Ansich der Wirklichkeit muß es bestehen, und die Subjektivität der Seele hält es fest; das Subjekt bleibt immer bei sich selbst, es kann den eignen Kreis ausdehnen und weiter ausdehnen, nie aber ihn durchbrechen und sich in das Objekt versetzen; womit wir uns beschäftigen, sind nie die Dinge, sondern nur unsere Vorstellungen, unsere Bilder von den Dingen; selbst der Begriff des Dinges wird nicht von draußen dargeboten, sondern er entstammt unserem eignen Denken. So steht zwischen uns und der Wirklichkeit immerfort das Gespenst unseres eignen Gedankens, unserer eignen Reflexion, und droht auch die Welt in Schatten zu verwandeln; statt der Dinge sehen wir nur den Schleier, mit dem wir sie umkleiden, und wir vertauschen nur einen Schleier mit dem anderen, wenn wir sie selbst zu enthüllen glauben.

Daher war allen tieferen Denkern das schwerste der Probleme und ein geheimnisvolles Rätsel der Begriff der Wahrheit, und es nahm sich ihnen die Erkenntnisarbeit nicht aus wie ein Wandeln auf gebahnter Heeresstraße, sondern wie ein unablässiges Ringen um das Gesamtziel und die Hauptrichtung des Weges. So mußte die Philosophie die Frage nach der Möglichkeit einer Wahrheit immer von neuem stellen und alle bisherige Leistung als nicht vorhanden betrachten. Durch alle Mühe aber schien das Ziel nur in immer weitere Ferne zu rücken. Die Griechen hatten es noch leicht: sie konnten, bei noch ungebrochenem Zusammenhange des Menschen mit der Welt, die Wahrheit als eine Übereinstimmung von Subjekt und Objekt verstehen ( adaequatio rei et intellectus im Mittelalter) und solche Übereinstimmung, bei angenommener Wesensverwandtschaft beider Seiten, ganz wohl erreichbar finden. Die wachsende Verinnerlichung des Lebens lockerte und löste einen so engen Zusammenhang mit der Umgebung; so entsprach es der weltgeschichtlichen Lage, wenn DESCARTES das Subjekt der Vermengung entwand und von ihm aus die Wirklichkeit aufzubauen wagte. Aber da er zugleich das Dasein einer unabhängig vom Menschen vorhandenen Welt im Denken festhielt, so galt es für einen Zusammenhang beider in neuer Weise zu sorgen; das geschah bei seinen Nachfolgern durch die Lehre vom Parallelismus zwischen Denken und Sein; jedes sollte sich unabhängig bei sich selbst entfalten, eine überlegene Macht – sei es innerweltlicher, sei es überweltlicher Art – aber eine Übereinstimmung der Ergebnisse hier und dort bewirken. Aber so die Wahrheit fassen heißt das Problem weniger lösen als verlegen; auch wurde es bald zu einem unerträglichen Widerspruch, daß hier zugleich das Subjekt der Welt gegenübergestellt und auch wieder auf sie bezogen wird. Solche Kritik vollzog mit einschneidender Schärfe KANT; eine Wahrheit schien ihm nur insofern möglich, als von aller Beziehung auf Dinge abgesehen und die Aufgabe gänzlich in den eignen Gedankenkreis des Subjekts verlegt wird. Aber wenn sich zugleich nicht verkennen ließ, daß neben diesem Gedankenkreise eine Welt der Dinge beharrt und ohne sie auch das Subjekt nichts vermag, so verwandelt sich unsere Welt in ein Reich der Erscheinungen, und es fragt sich, ob dabei noch eine Wahrheit in strengerem Sinn verbleibe, ob wir nicht vielmehr in eine unhaltbare Mittelstellung zwischen Erkennen und Nichterkennen geraten. Einen Ausweg und zugleich einen Abschluß der weltgeschichtlichen Bewegung versuchte die deutsche Spekulation, indem sie die Dinge gänzlich aufgab und unser Denken alle Wirklichkeit hervorbringen ließ. Daß aber ein solcher Versuch eine Überspannung des menschlichen Vermögens bedeutet, daß er zugleich der Wirklichkeit allen lebendigen Inhalt raubt, darüber besteht nach erfolgter Ernüchterung kein Zweifel. Was hat nun das Ganze der weltgeschichtlichen Bewegung erreicht? Nichts anderes scheint es zu lehren, als daß die Wahrheit dem Menschen unzugänglich ist, und daß die Summe alles Wissens das Bekenntnis des Nichtwissens bildet. Denn aus allem Wechsel und Wandel der Zeiten scheint deutlich nur das eine Dilemma hervor: entweder geht das Wahrheitsstreben auf etwas jenseit des menschlichen Kreises Befindliches, – dann muß sich unser Unvermögen eines direkten Verkehrs mit den Dingen immer von neuem und immer deutlicher zeigen –, oder wir vermessen uns, aus unseren Gedanken die ganze Wirklichkeit zu erzeugen, – dann wird solches titanenhafte Wagnis bald in sich zusammenbrechen und die Überspannung des menschlichen Vermögens sich durch ein zunehmendes Leerwerden unseres Daseins rächen.

Mit solchen Zweifeln verträgt sich ganz wohl das Bestehen einer Wissenschaft, wie sie im gemeinsamen Leben vorliegt und in unermüdlicher Arbeit Ergebnis an Ergebnis reiht. Denn so sich ausbreiten und unablässig zusammenschichten kann sie nur, sofern sie sich auf einer mittleren Höhe hält und wie die höchsten Gipfel, so auch die tiefsten Abgründe meidet, sofern sie mit anderen Worten das Problem einer letzten und echten Wahrheit ablehnt oder zurückschiebt. Das ist ein für die Gemeinschaft der Arbeit und den Bestand des Lebens unentbehrlicher Kompromiß, aber auch nicht mehr; in ihm die Lösung des Hauptproblems sehen kann nur eine selbstzufriedene Flachheit. Sobald wir über bloßes Wissen hinaus wahrhaftiges Erkennen begehren, empfinden wir unsere Armut und müssen wir zugestehen, daß, strenger geprüft, auch was uns sicher heißt, unsichere Grundlagen hat.

Womöglich noch gespannter als beim Denken gestaltet sich die Sache beim Handeln. Die moralische Unzulänglichkeit des Menschen war, wie wir sahen, von früh an ein Gegenstand der Klage, aber die Klage ließ oft die Frage vergessen, ob dem Menschen seine gegebene und starre Natur anders zu handeln gestatte. Wir können nicht handeln ohne Beweggründe, diese bemessen sich nach den erstrebten Gütern, ein Gut aber kann uns nur sein, was unser eignes Wohl befördert; so können wir nur für uns selbst, nie für etwas draußen Befindliches streben. Im besonderen ist es unser subjektives Befinden, unsere eigne Zuständlichkeit, welche uns das eine suchen, das andere fliehen heißt; von der Wirkung auf dies Befinden ist unser Handeln ebensowenig ablösbar wie unser Erkennen vom sinnlichen Vorstellen. Lust und Unlust treiben und lenken unser Leben; sie mögen über die rohsinnliche Form weit hinaus verfeinert werden, auch in der größten Verfeinerung bindet uns unsere Subjektivität, und handeln wir für nichts anderes als für unser eignes Befinden. Auch mag sich dieses Befinden mit der Welt und den Menschen um uns aufs mannigfachste verflechten und verketten, wir mögen nicht sowohl unser eignes Wohl als das der anderen zu erstreben meinen, wir mögen zur Bekräftigung dessen die vielfache Selbstbeschränkung und Opferwilligkeit des Individuums anführen: eine genauere Prüfung pflegt herauszustellen, daß wir das andere wollten, weil es uns Freude verhieß, uns wertvoll war, daß wir auch in dem scheinbar Fremden schließlich immer uns selber wollten, daß auch in der weitesten Entfernung vom Ausgangspunkt das Handeln immer an das Ich mit seinem subjektiven Zustand gekettet blieb und zu ihm zurückgezogen wurde. Alle Verwandlung und scheinbare Veredlung ergibt daher nun und nimmer eine Durchbrechung jener Enge, eine Versetzung in ein überindividuelles und übersubjektives Handeln. Dies Unmögliche aber ist die unabweisbare Forderung der Moral, sie kann jene Einspinnung des Menschen in sein kleines Ich unmöglich dulden, sie unterwirft nicht nur sein Handeln gemeinsamen Zwecken, sie ruft ihn auf zu einer echten, selbstverleugnenden Liebe, sie hält ihm das vor nicht als ein angenehmes Spiel der Phantasie, sondern als eine strenge Aufgabe, deren Lösung über den Gehalt und Wert seines Daseins entscheidet. So dünkt unerläßlich, was sich nicht findet und, wie es scheint, nicht finden kann.

Jahrtausende haben daran gearbeitet, dies Rätsel aufzulösen, aber die Befreiung des Menschen von sich selbst wollte nicht gelingen, alle eifrige Bemühung hat das Problem mehr verwickelt als entwirrt, das Ziel ist immer weiter vor uns zurückgewichen. Auf der Höhe des griechischen Lebens sollte das Gute den Menschen anziehen wegen der ihm innewohnenden Schönheit, als ein Gegenstand selbstlosen Wohlgefallens; nicht durch den Nutzen oder den Genuß, sondern lediglich durch seine anschauliche Gegenwart schien das Schöne die Seelen zu gewinnen; die Glückseligkeit (εὐδαιμονία) schloß Empfinden und Tun, Zustand und Gegenstand untrennbar miteinander zusammen. Aber diese Lösung hatte Voraussetzungen sehr bestreitbarer Art: sie rechnete mit einer großen und edlen Natur, und sie ließ das Bewußtsein den Seelenstand in Gutem und Bösem treuer und reiner widerspiegeln, als es in Wahrheit der Fall ist; auch war die Frage nicht abzuweisen, ob eine Veredlung der Natur genüge, ob sie von der selbstischen Enge gründlich befreie, ob nicht schließlich immer wieder die Neigung des Menschen den Ausschlag gebe. So hart und unbillig das Wort sein mag »die Tugenden der Alten sind glänzende Laster« ( virtutes veterum splendida vitia), unbegreiflich ist es nicht.

Das Christentum hat, eine seiner größten Leistungen, die Moral von der bloßen Natur befreit, aber es hat zugleich die Aufgabe eher erschwert als erleichtert. Versagte ihr gegenüber alles menschliche Vermögen, so blieb nur die Zuflucht zu einem Wunder göttlicher Gnade; nur ein solches konnte einen neuen Menschen schaffen. Aber fällt damit nicht der Schwerpunkt des Handelns aus uns heraus, und werden wir nicht bloße Werkzeuge, willenlose Gefäße göttlicher Ratschlüsse? Auch wird nicht genügend aufgehellt, wie dieser neue Mensch der Enge unserer Natur entgehen, wie sein Leben und Handeln sich vom subjektiven Zustande befreien könne. Die christliche Liebe wird viel gepriesen, aber über dem Preisen oft die Frage vergessen, wie sie denn möglich sei, und ob sie auch wirklich ist. So scheint hier der Knoten nicht sowohl gelöst als zerhauen; solche Gewaltsamkeit hat zur Folge ein Hin- und Herschwanken zwischen einer supranaturalen Ansicht, die bei strenger Durchführung alles eigne Handeln und zugleich die Moral aufheben müßte, und einer Anpassung an die selbstische Natur des Menschen, die in Gefahr gerät, hinter der antiken Lösung noch zurückzubleiben. Oder ist es kein Zurücksinken in eine niedere Art, wenn innerhalb der christlichen Welt die Frage nach Lohn und Strafe hier oder dort so viel Platz einnimmt?

Auch die Neuzeit hat in ihrer Weise den Kampf gegen die Kleinheit der natürlichen Lebensform aufgenommen: durch eine Verwandlung des ganzen Menschen in Denken, in gegenständliches, weltumspannendes Denken, glaubte sie ihn in ein Weltwesen verwandeln und ihn aller Enge entwinden zu können. Auch hier aber stieß die Durchführung auf unüberwindliche Schranken. Ein Denken und Leben aus den Dingen heraus verlangt ein Eindringen in ihr eignes Wesen und unterliegt damit allen Verwicklungen des Wahrheitsproblems; andererseits erhebt sich der Zweifel, ob das Denken, selbst bei Überwindung jener Widerstände, die ganze Seele des Menschen einnehmen könne, ob nicht das Gedankenreich bei aller Weite und Fülle ein selbstisches Triebleben ungebrochen lasse. So pflegte es wenigstens im Durchschnitt der modernen Kultur zu stehen.

Alles in allem enthüllte die weltgeschichtliche Bewegung auch hier ein schroffes Dilemma. Wird das Ziel des Guten scharf gefaßt, so entwächst es der menschlichen Kraft; eine Anpassung an unsere Natur aber ist eine innere Zerstörung. So verwandelte sich jeder vermeintliche Abschluß rasch in ein schweres Problem, und es wuchs unablässig der Abstand zwischen uns und unseren Zielen.

Das alles läßt die Tatsache unangetastet, daß die menschliche Gesellschaft bei sich selbst eine gewisse bürgerliche Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit aufgebracht hat. Aber es fragt sich, wie viel Gutes echter Art darin steckt, und ob jene Leistung nicht vornehmlich darin besteht, die Interessen der Individuen in einem wohlberechneten System so miteinander zu verschränken und gegenseitig in Schach zu halten, daß ein leidliches Zusammenleben möglich wird. So viel ist gewiß, daß wo diese gesellschaftliche Ehrbarkeit sich für wahre und vollendete Tugend ausgab, sie zu allen Zeiten von tieferen Naturen als ein Trug und Schein hart angegriffen und als Pharisäismus gebrandmarkt wurde. Befriedigt von der menschlichen Leistung waren durchgängig nur solche, welche das Ziel recht niedrig steckten, während nach echter Liebe und Gerechtigkeit dürstende Seelen den Durchschnittsstand wie ein schmähliches Zerrbild empfanden. Was aber vom Wahren und Guten, das gilt vom Ganzen des geistigen Lebens. Wohl entwirft es uns eine neue Art des Seins, aber eine Kraft sie zu erreichen gewährt es nicht, scheint es in keiner Weise gewähren zu können; mit solcher Überzeugung müssen die vorgehaltenen Ziele sich in bloße Illusionen verwandeln und alle ihnen gewidmete Arbeit erlahmen. Steht es wirklich so, oder gibt es noch irgendwelche Hilfe, irgendwelchen gangbaren Ausweg?

γ. Das Ungenügen einer vermeintlichen Hilfe.

Einen Ausweg aus den dargelegten Verwicklungen hält das moderne Leben in Wahrheit bereit: auf dem eignen Boden der Erfahrung, ohne irgendwelche Umwälzung der Wirklichkeit, hofft es den Problemen gewachsen zu werden durch eine Zusammenfassung und feste Verklammerung der Kräfte, die vereinzelt an der Aufgabe scheiterten; es ist der Glaube an die Macht einer fortschreitenden Evolution der Menschheit mit Hilfe der Gesellschaft und der Geschichte, den der moderne Mensch jenen Zweifeln entgegenhält und aus dem er freudigen Mut zum Leben schöpft. Sehen wir, wie es mit dem Recht dieses Glaubens steht.

Die Denkweise, die hier waltet, läßt das Zusammenwirken von Gesellschaft und Geschichte alles Geistesleben erzeugen. Die Gesellschaft bereitet, so meint sie, aus dem Chaos der individuellen Meinungen eine zusammenhängende Gedankenwelt, und ebenso entwickelt sie gegenüber den individuellen Zwecken gemeinsame Ziele und Güter; so vollzieht sie eine Wendung zum Wahren und Guten. Wie aber das Nebeneinander die Kräfte verbindet und summiert, so tut es auch das Nacheinander; die spätere Zeit übernimmt die Leistung der früheren, die Bausteine fügen sich zu einer Pyramide der Kultur zusammen; die Folge der Geschlechter scheidet Flüchtiges und Nebensächliches aus, befestigt und verknüpft das Wesentliche und mehrt damit unablässig den Grundstock unseres Besitzes. So vermag die Menschheit weit über das Vermögen der bloßen Individuen und der bloßen Augenblicke hinaus ein Reich der Vernunft aufzubauen, das die Ziele freilich nicht mit Einem Schlage erreicht, aber sie doch allmählich näherrückt.

Diese Steigerungsfähigkeit der Erfahrungswelt scheint alle Spaltung der Wirklichkeit in zwei Welten überflüssig zu machen; wozu bedarf der Mensch der Religion, wenn seine Wünsche und Hoffnungen nach und nach schon hier zur Verwirklichung kommen? So wird der Evolutionsgedanke ein schroffer, ja der gefährlichste Gegner aller Religion.

Schwerlich hätte dieser Gedanke mit solcher Siegeskraft die Überzeugung des modernen Menschen gewonnen, stünden nicht hinter ihm bedeutende Wendungen des Kulturlebens selbst. Das 19. Jahrhundert hat mit besonderer Energie eine geschichtliche Betrachtung ausgebildet, es dürfte gegenüber dem philosophischen 18. Jahrhundert ganz wohl das geschichtliche Zeitalter heißen. Nicht nur beschäftigen wir uns als Forscher weit mehr mit der Vergangenheit, wir verbinden sie auch enger mit der eignen Arbeit, wir suchen den Gesamtertrag der Jahrtausende in diese einzuführen und sie dadurch zu bereichern. So in Recht und Religion, in Kunst und Wissenschaft. Zugleich ist, schon durch den leichteren und rascheren Verkehr, mehr gegenseitige Beziehung und mehr Zusammenwirken der Menschen entstanden, wir fühlen uns einander eng verbunden und verhaftet, wir erfahren in solchem Zusammenschluß eine gewaltige Steigerung unseres Vermögens gegenüber allen früheren Zeiten. Solche kräftigere Entfaltung und auch die deutlichere Bewußtheit einer gesellschaftlich-geschichtlichen Lebensführung macht begreiflich, wie sich von ihr die Lösung des Problems erwarten läßt, das uns an dieser Stelle beschäftigt.

Aber schon eine nur etwas tiefer dringende Erwägung genügt, um jene Meinung der Zeit als eine Selbsttäuschung zu durchschauen und zu erkennen, daß Geschichte und Gesellschaft bei allen Leistungen an der Peripherie des Lebens im Zentrum das Problem eher steigern als mindern. Mit zwingender Kraft erhebt sich hier folgendes Dilemma: Geschichte und Gesellschaft sind entweder, als bloße Erfahrungsgrößen, Erzeugnisse der verworrenen und widerspruchsvollen Lage, die uns bisher vor Augen trat; dann werden sie auch die Verwicklungen dieser Lage teilen, nicht aber wesentlich darüber erheben, noch innerlich davon befreien. Oder aber es erfolgt in ihnen eine solche Erhebung und Befreiung; dann wirken sie nicht aus eigner Kraft, sondern es steckt in ihnen mehr, es wirkt in ihnen eine überlegene Macht und benutzt sie als ihr Mittel und Werkzeug. Dann aber sind es nicht die Geschichte und die Gesellschaft, sondern es ist jenes einstweilen Unbekannte, von dem die Umbildung ausgeht.

Was sollte wohl an wesentlichem Gewinn daraus erwachsen, daß der Mensch, wie er leibt und lebt, sich mit seinesgleichen zusammenschließt? Die Kräfte finden sich allerdings zusammen bei der Arbeit an den Dingen; indem sie das tun und sich dabei gegenseitig ergänzen und verschränken, sich verästeln und verfeinern, wachsen durchgängig Leistung und Arbeit und schlagen auch festere Wurzeln. Mit solchem Anschwellen hat die Arbeit unser Dasein verwandelt und unser Leben mehr und mehr an sich gezogen. Aber bedeutet dies Vordringen der Arbeit schon einen Gewinn an innerer Gemeinschaft, sind die Menschen sich auch in Überzeugung und Gesinnung, sind sie im Ganzen ihrer Seele einander näher getreten, so daß alles was an Wahrem und Gutem in den Einzelnen aufstrebt, sich leicht zusammenfindet und miteinander die Vernunft zu immer vollerem Siege führt? Die Erfahrung zeigt das gerade Gegenteil. Der Verbindung durch die Arbeit zur Seite geht eine wachsende Entzweiung der Gemüter; immer mehr Gegensätze sehen wir unter den Menschen aufschießen, zu immer größerer Leidenschaft und Gehässigkeit ihren Streit anschwellen; dabei stehen Individuen gegen Individuen, Berufe gegen Berufe, Völker gegen Völker, Rassen gegen Rassen, Weltteile gegen Weltteile; wann war die Menschheit je innerlich so zerworfen als heute inmitten aller Verklammerung durch die Arbeit? Auch hat sich nicht die Annahme und der Glaube bewährt, daß das Zusammentreten der Individuen ohne weiteres eine Summierung der Vernunft ergibt, daß dabei leicht und rasch eine sichere Wahrheit hervorspringt. Blicken wir doch auf unsere Parlamente und unsere Volksversammlungen, vergegenwärtigen wir uns, wie wenig die sog. öffentliche Meinung Echtes und Unechtes unterscheidet, und wie wehrlos sie nicht bloß dem Starken, sondern auch dem Kecken, ja Frechen zur Beute fällt, und wir werden über die vermeintliche Summierung der Vernunft minder zuversichtlich denken. Gewiß gibt es kein freudiges Wirken zur Menschheit ohne ein Vertrauen auf irgendwelchen Sieg des Guten auch in ihrem Kreise, aber dieser Sieg muß etwas anderes sein als eine Steigerung des Durchschnitts, und wenn er irgend zustande kommen soll, so muß in der Menschheit noch eine andere Kraft der Wahrheit walten, als sie in den Meinungen und Strebungen der Individuen und Massen vorliegt. Auch gibt die Befestigung von Überzeugungen und Einrichtungen in der menschlichen Gesellschaft nicht die mindeste Gewähr für ihre sachliche Wahrheit. Auch starke Irrtümer können hier feste Wurzeln schlagen und wie mit heiliger Autorität sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben. Späteren Zeiten dünkt dann leicht heilige Wahrheit, was die Tradition der Jahrhunderte sanktionierte. Aber diese Sanktion war bloßmenschlicher Art; stand hinter ihr nicht etwas Mehralsmenschliches, so kommt früher oder später der Tag, wo die Anmaßung durchschaut und die vermeintliche Wahrheit ihres Scheins entkleidet wird. Dann aber wird eine um so schwerere Erschütterung erfolgen, dann leicht alle und jede Wahrheit in Zweifel geraten.

Diese Betrachtungen leiten schon hinüber in das Gebiet und Problem der Geschichte. Auch hier ist eine bedeutende Leistung unverkennbar, es fragt sich nur, ob sie dessen fähig ist, was ihr die Evolutionslehre zutraut: einer deutlichen Scheidung von Vernunft und Unvernunft und der Sicherung eines wachsenden Vernunftbesitzes. In gewisser Hinsicht erfolgt augenscheinlich eine Ansammlung, auch eine allmähliche Berichtigung der Arbeit, so zeigt es z. B. die exakte Wissenschaft, so auch die Technik. Was hier der einzelne Augenblick erringt, das ist für die Dauer gewonnen, die Zeiten verbinden sich in Wahrheit hier zu einer fortlaufenden Kette des Schaffens. Aber wird dieser Zusammenschluß nicht bloß deshalb erreicht, weil sich hier vom innersten Sein und Befinden des Menschen absehen läßt, weil die Frage letzter Wahrheit im Hintergrunde verbleibt, weil es sich hier nur um die Peripherie, nicht um das Zentrum des Lebens handelt? War denn die geschichtliche Bewegung auch ein fortschreitender Gewinn an geistiger Tiefe, hat sich unser Grundverhältnis zur Wirklichkeit unablässig geklärt, sind die vorhin dargelegten Widersprüche unseres Wesens mehr und mehr überwunden, sind wir größere, edlere, glücklichere Menschen geworden, hat sich das gemeinsame Leben immer mehr in ein Reich der Vernunft verwandelt? Unsere eigne Betrachtung des Strebens nach Wahrem und Gutem gab darauf schon eine deutliche Antwort: indem scheinbar naheliegende Lösungen sich als unzulänglich erwiesen, gerieten wir immer tiefer in die Verwicklung hinein, erschien eine immer weitere Kluft zwischen unseren Wünschen und unserem Vermögen. Immer mehr riß sich unser Leben von einem naiven Stande los und suchte neue Wege. Aber der Kraft der Verneinung entsprach nicht die der Bejahung, immer unsicherer und schwankender wurde unser Lebensstand; Kräfte und Bewegungen in Hülle und Fülle, aber kein deutliches Ziel, das sie beherrschte, zusammenfaßte und richtete!

Die eifrigere Beschäftigung mit der Vergangenheit und die Ausbildung eines historischen Bewußtseins müssen den Eindruck dessen noch steigern; was sie an Wissen gewinnen lassen, das droht das Leben zu schädigen. Denn wenn uns der geschärfte Blick für die Vergangenheit die bunte Fülle der menschlichen Bestrebungen vor Augen führt, wenn er den bald langsamen, bald raschen Wechsel und Wandel der Ideale zeigt, zeigt, wie immer wieder hinfällig wurde, was mühsam errungen war und was die Seele des Menschen erfüllte, so entsteht unvermeidlich die Frage, ob denn nicht alles menschliche Mühen um Wahrheit und Vernunft vergeblich sei. Mit welchem Rechte dürfen wir die von uns verfochtene Wahrheit für echter und beständiger halten als die Wahrheiten der früheren Zeiten, die wir jetzt als Irrung durchschauen? »Wir waren, was ihr seid, ihr werdet sein, was wir sind,« dies indische Wort der Abgeschiedenen könnten jene jetzt überholten Wahrheiten an uns richten.

Betrachten wir unbefangen die Lage der Gegenwart! Die historische Forschung steht in herrlicher Blüte, immerfort erweitert sie ihr Reich, immer sorgsamer durchforscht sie seine Verzweigung. Genauer als je wissen wir, was den anderen für Wahrheit galt. Aber gewinnen wir mit all dieser Einsicht irgend einen sicheren Anhalt dafür, was uns selbst als Wahrheit gelten darf, bleiben wir nicht innerlich arm in aller überströmenden Fülle? Oder man zeige uns eine einzige positive Wahrheit, eine Grundwahrheit für Leben und Sein, die uns durch die Geschichte zugeführt wird. Die Einsicht, daß sich alles verändert, kann wohl nicht als eine solche Wahrheit gelten.

Es hat jener freudige Glaube an die Geschichte eine Voraussetzung, die er nicht erweisen kann, und deren Erschütterung ihn rasch entwurzelt. Das ist die Annahme, daß sich die Bewegung der Menschheit von vornherein im Element der Vernunft befinde, daß sie damit eine unangreifbare Grundlage habe und sich auf dieser sicher von Stufe zu Stufe erhebe. In Wahrheit aber ist uns die Vernunft nicht »gegeben«, sondern »aufgegeben«, greift der Zweifel und Streit immer von neuem in die Grundlagen zurück, wird der Vernunftcharakter des Ganzen immer wieder in Frage gestellt. Und damit zerfällt jener Glaube an die Evolution. Solche Verneinung bedeutet keineswegs eine völlige Auslieferung der Geschichte an die Unvernunft. Aber wenn irgendwelche echte Vernunft in der Geschichte waltet, so muß sie aus überempirischen und übergeschichtlichen Quellen stammen; auf sich selbst angewiesen bleibt die Geschichte ein trübes Gemisch von wenig Vernunft und viel Unvernunft.

Gegen den Anspruch jener Evolutionslehre zeugt auch ihre eigne Geschichte. Denn diese zeigt sie als aus verschiedenartigen Quellen entsprungen und dadurch mit einem inneren Widerspruch behaftet. In aufsteigendem Lebensdrange glaubte die Neuzeit eine absolute Vernunft unmittelbar ergreifen und ihr den menschlichen Kreis vollauf gewinnen zu können. Das stellte sich zuerst zur Geschichte feindlich, und es lud die Aufklärung ihren ganzen Befund zur Erweisung seines Rechtes vor ein strenges Forum der Vernunft; bei beruhigter Stimmung aber erfolgte eine Ausgleichung dahin, daß die Geschichte selbst als eine Offenbarung der Vernunft, ja schließlich als eine allmähliche Entwicklung einer Allvernunft verstanden wurde. Dabei erschien sie zunächst nicht sowohl aus sich selbst die Vernunft zu erzeugen, als von einer zeitlosen Vernunft umfaßt und getragen zu werden, das Leben fand seinen Hauptstandort nicht innerhalb, sondern über der Zeit. Dann aber kam im 19. Jahrhundert die Wendung des Lebens zum unmittelbaren Dasein; ihr wurde jenes übergeschichtliche Leben zu einer bloßen Illusion, einer baren Unmöglichkeit; so stellte sie die Geschichte ganz und gar auf den Boden der unmittelbaren Erfahrung. Und nun geschah auch an dieser Stelle, was durch die ganze moderne Lebensgestaltung geht: die alte Anschauung wird im Grunde verworfen, ihr Anspruch aber aufrecht gehalten und damit dem Neuen weit mehr zugetraut, als es in Wahrheit zu leisten vermag. Die geschichtliche Bewegung sollte von der bloßen Erfahrung aus verstanden werden, zugleich aber erschien sie als eine Erzeugerin von Vernunft, wurde der Glaube an eine strenge Gesetzlichkeit, ein unablässiges Aufsteigen, einen fortschreitenden Sieg des Guten unbeirrt festgehalten. Eine solche Vermengung verschiedenartiger Denkweisen muß das Problem abstumpfen und das Entweder – Oder verdunkeln, das hier in Wahrheit vorliegt; so schädigt sie die Kraft wie die Wahrheit des Lebens. Diese Gefahr schwillt äußerlich noch immer an, dringt doch jene empiristische Evolutionslehre mit ihrer Überschätzung der geschichtlichgesellschaftlichen Kultur jetzt erst recht in die Massen ein. Aber auf der Höhe der geistigen Arbeit ist sie gebrochen und überwunden. Denn die Unzulänglichkeit, ja die Zerstörungskraft einer Beschränkung des Lebens auf den bloßmenschlichen Kreis tritt uns immer klarer vor Augen. Wo der Mensch ganz in das Verhältnis zur menschlichen Umgebung aufgeht, wo ihn die Sorge um seine Stellung im Nebeneinander und Nacheinander alles übrige vergessen läßt, da muß er immer mehr an innerer Selbständigkeit, an seelischer Tiefe, an geistiger Größe verlieren, da wird er unvermeidlich ein bloßes Oberflächen- und Schablonenwesen, da muß schließlich alles eigne Leben, alle wahrhaftige Gegenwart verschwinden. Ein starker Niedergang innerer Kultur tritt uns heute schon peinlich vor Augen, immer kleiner werden die Menschen in aller Größe der Arbeit, immer mehr fehlen schaffende Geister, immer weniger echte Befriedigung findet der Mensch in allem wilden Getriebe, immer mehr wird das innere Leben auf einen niedrigen Durchschnitt herabgestimmt, immer deutlicher erhellt, daß aller Gewinn an der Peripherie des Lebens den Verlust im Zentrum nicht aufwiegt. Denn schließlich leben wir unser Dasein vom Zentrum aus und können uns in die Umgebung wohl zeitweise vergessen, nicht aber dauernd verlieren. – Versagt aber die von der Evolutionslehre dargebotene Lösung, so tritt die Hauptfrage wieder mit greller Klarheit vor Augen: entweder völlige Preisgebung der Vernunft und damit eine innere Zerstörung des Lebens, oder eine Erhebung über die nächste Lage und damit eine Wendung, die den Widerspruch zwar nicht aufhebt, aber innerlich über ihn hinaushebt und ihm entgegenzuarbeiten gestattet. Das ist in allen Wirren der gegenwärtigen Lage ein großer Gewinn, daß alle Versuche, diesem Dilemma auszuweichen, mehr und mehr als trügerische Zwittergebilde befunden werden.

b. Das Selbständigwerden des Geisteslebens.

Bis dahin erschien die Bewegung zum Geistesleben als ein einziger schwerer Widerspruch. Dies Leben stellte große Aufgaben, und bei uns fand sich keine Kraft der Lösung, es forderte einen Weltcharakter, und uns band zwingend die Enge des Ich, es verhieß eine Aufhellung des Daseins und ließ sein Dunkel erst recht empfinden. Ein Widerspruch, der so sehr den Kern unseres Lebens und Wesens trifft, läßt sich nicht ruhig ertragen, wenigstens nicht für eine kräftigere Natur und ein ihr entsprechendes Denken; müßten die Ziele als schlechthin unerreichbar, müßte jede Annäherung an sie als unmöglich gelten, so könnten sie uns nicht weiter beschäftigen, sondern müßten als ein bloßer Wahn aus unserem Dasein verschwinden. Wenn nur nicht zugleich so viel hinfällig würde, das wir nicht wohl aufgeben können, alles auszeichnend Menschliche, alles, was unser Leben an Wahrem und Gutem, an Edlem und Großem aufweist, alle innere Weiterbewegung der Menschheit, aller Sinn und Gehalt unseres Lebens! Ist ein solcher völliger Zusammenbruch in Wahrheit unvermeidlich, bietet sich gar kein Weg ihm zu entgehen?

Es gibt nur eine Möglichkeit und keine andere. Der letzte Grund des Widerspruches war der, daß das Geistesleben als eine Betätigung des bloßen Menschen erschien und es damit an seine Art und Lage völlig gebunden wurde. Der Mensch des nächsten Daseins aber bildet einen Sonderkreis gegenüber dem großen All, die Wirklichkeit steht ihm fremd gegenüber, das Leben erscheint als ein Hin- und Hergehen, ein Mitteilen vom einen zum anderen. Heißt dann das Geistesleben die Kluft von innen her überbrücken, die Welt ohne Fälschung aneignen, am einzelnen Punkt unendliches Leben entfalten, so ist das Unmögliche solcher Forderung offenbar, und es muß alle Arbeit an der Härte des Widerspruchs scheitern. Der unerträglichen Lage wäre also nur zu entrinnen, wenn das Geistesleben nicht schlechthin an den Stand des Menschen gebunden wäre, wenn es sich von ihm irgend abzulösen, eine Selbständigkeit zu gewinnen und zugleich die Wirklichkeit an sich zu ziehen, sich von innen her zu einer Welt zu erweitern vermöchte. Denn damit würde es über jenen schroffen Gegensatz hinausgehoben; der Mensch aber würde mit der Teilnahme an dem neuen Leben eine Befreiung von der Enge einer Sonderexistenz gewinnen und, soweit jene reicht, in dem, was ihn zunächst wie eine unerfüllbare Forderung bedrängte, sein eigenstes Wesen und Streben erkennen. Dann brauchte das Handeln geistiger Art nicht mehr seine Triebkräfte einem starren und gleichgültigen Sein mühsam abzuringen, sondern es könnte als ein Streben des Menschen zur Tiefe des eignen Wesens die Gewalt und Glut einer Selbstbehauptung erlangen; dann könnte der Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit in den Lebensprozeß selbst aufgenommen und hier vielleicht überwunden werden; dann wäre auch eine Aufhellung über den Sinn des Geisteslebens zu hoffen, die versagt blieb, solange es nur ein an einzelne Punkte verstreutes Geschehen bedeutete. Kurz es eröffnet sich die Aussicht auf eine völlige Wendung, falls jene Möglichkeit mehr ist als eine bloße Möglichkeit, falls sich eine ihr entsprechende Wirklichkeit aufdecken läßt.

An dem Aufweis einer solchen Wirklichkeit liegt also alles Gelingen. Was immer sie an Problemen und Verwicklungen bringt, und wie sie den Gesamtanblick unseres Daseins verändert, das ist eine weitere Frage; zunächst verwirre uns nicht die Sorge darum den Tatbestand. Auf ihn allein sei fest das Auge gerichtet und etwaigen Bedenken gegen das Einschlagen dieses Weges entgegengehalten, daß auf ihn uns nicht eine kecke Lust an Abenteuern treibt, sondern dasjenige, was Goethe den besten Ratgeber nennt: die Notwendigkeit.

Daß aber in Wahrheit eine neue Tatsächlichkeit selbständiger Art in uns aufsteigt, das sei nunmehr gezeigt, indem wir zunächst eine Ablösung des Lebens vom kleinen Ich und dem bloßmenschlichen Lebensstande, sodann eine Überwindung des inneren Gegensatzes, darauf den Gewinn eines neuen Selbst im Geistesleben aufzuweisen suchen; dann aber gilt es das Ganze dieses neuen Lebens zu überschauen, seine Bedeutung zu ermessen, die Wandlung des Welt- und Lebensbildes zu erwägen.

1. Die einzelnen Stufen.

α. Die Ablösung des Lebens vom kleinen Ich und der bloßmenschlichen Art.

So sehr alle geistige Betätigung zunächst als an die einzelnen Individuen zerstreut erscheint, wir brauchen sie nur auf ihren Inhalt zu betrachten, um zu gewahren, daß sie eigne Zusammenhänge bildet und mit ihnen auf das Individuum zurückwirkt. Denn durchgängig sehen wir das Geistesleben zu Komplexen zusammenschießen, deren Bestandteile sich nicht nur von außen berühren, sondern sich innerlich verbinden und ergänzen; innerhalb eines umfassenden Ganzen hat hier jede besondere Leistung ihre Stellung zu suchen und ihren Wert zu erweisen. So ist es am deutlichsten bei der Wissenschaft, so zeigt es sich aber überall da, wohin die Denkarbeit reicht: überall eine Wendung von einem bloßen Aggregat zu einem System, überall durchgehende Bewegungen, überall eine Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen. Mit dem Ausbau dessen verändert sich auch das Leben an der einzelnen Stelle. Denn es erscheint, soweit es geistiger Art, nicht als eine Sache des bloßen Individuums und als auf seinen Bereich beschränkt, sondern was der Einzelne erringt, das trägt in sich die Behauptung für alle zu gelten, allen zu nützen, alle zu seiner Anerkennung zwingen zu können. Die Wahrheit ist immer Sache der ganzen Menschheit, kein bloßer Privatbesitz; daß in der Arbeit für sie der Einzelne sich als einen Vertreter, ja als ein Werkzeug des Ganzen fühlen darf und durch die innere Gegenwart des Ganzen über alle Zufälligkeit der individuellen Lage hinausgehoben wird, daß aus seinem Werk eine innere Notwendigkeit für alle spricht, und daß allen zugeht, was er mühsam errang, das vornehmlich gibt der Arbeit Spannung und dem Gelingen Freudigkeit.

Über die Sonderung nach Individuen hinauswachsen könnte aber der Lebensprozeß schwerlich, läge in ihm nicht auch eine Erhebung über die bloßmenschliche Art überhaupt, über das Gewebe ihrer Vorstellungen und Begehrungen. Das Denken mit seiner Wahrheit könnte nicht die Gewißheit haben für alle Menschen zu gelten, wenn es nicht gegenüber allen Menschen gülte; es könnte keine innere Gegenwart beim Menschen gewinnen, ohne bei ihm selbst eine Wandlung, wenn nicht zu vollziehen, so doch einzuleiten. Die Unabhängigkeit der Wahrheit von allem menschlichen Meinen und Mögen bildet seit Plato das Grundbekenntnis der Wissenschaft; so rätselhaft die Sache sein mag, die Überzeugung läßt sich nicht aufgeben, daß Wahrheiten bestehen und gelten in einer dem menschlichen Vorstellungsgetriebe überlegenen Sphäre, daß der Mensch sie nicht erzeugt, sondern findet, daß nicht sie von ihm, sondern er von ihnen gemessen wird. Nur von hier aus erklärt sich der freudige Glaube an die Macht der Wahrheit, der alles Streben nach ihr beseelt, und nur aus solchem Glauben die Kraft, nötigenfalls der ganzen Umgebung zu widersprechen, sich im Recht gegenüber allen anderen zu fühlen, mutig den Kampf auch gegen tiefeingewurzelte Irrung aufzunehmen. Ja auch sich selbst wird der Mensch von hier aus zum Problem, den eignen Lebensstand kann er prüfen und sichten, mit Eifer und Kraft nach einer Umwandlung streben. So bewirkt die lebendige Macht der Wahrheitsidee eine Verschiebung im Gesamtbild des Menschen. Einerseits soll die Wahrheit unabhängig vom Menschen »an sich« gelten, andererseits ist sie uns nur zugänglich innerhalb des eignen Lebens; nun wohl, so besteht und wirkt im Menschen etwas Mehralsmenschliches, so geht er nicht darin auf, ein abgeschlossener Sonderkreis zu sein.

Ähnliches wie die Bewegung von der bloßen Meinung zur Wahrheit zeigt die vom Nützlichen zum Guten. Das Nützliche entspricht der Stufe der natürlichen oder auch sozialen Selbsterhaltung, dabei gilt es, innerhalb eines gegebenen Getriebes den eignen Platz zu behaupten und möglichst zu verbessern, augenscheinlich beherrscht das Streben danach den Durchschnitt des menschlichen Daseins. Aber es beherrscht ihn nicht ohne allen Widerspruch. Der Mensch kann nicht umhin, das Nützliche mit seiner natürlichen und sozialen Selbsterhaltung als unzulänglich zu empfinden, das hier gebotene Glück als eng und klein zu durchschauen und sich darüber hinaus nach edleren Zielen zu sehnen. Das aber ist es, was der Begriff des Guten zum Ausdruck bringt; in ihm wird etwas erstrebt, was den Menschen über sein bloßes Behagen hinaushebt, was ihm wertvoll ist selbst durch Kampf und Schmerz hindurch, was den Zwecken des natürlichen Wohlseins oft schnurstracks widerspricht. Soll es aber zugleich den Menschen anziehen, soll es seine Kraft und Gesinnung gewinnen, so muß es irgendwie in seinem Wesen begründet sein, so ist dies Wesen mehr als eine mit etwas mehr Intelligenz ausgestattete Tierheit. Was hier an Ablösung vom Sonderkreise und an Befreiung vom Kleinmenschlichen vorgeht, das findet seinen reinsten Ausdruck in der Tatsache der Moral. Wohl wird heute über den näheren Gehalt der Moral viel gestritten, und es steht uns heute ihr langsames Werden auf dem Boden der Menschheit deutlich vor Augen, aber das Urphänomen der Moral behauptet sich trotzdem siegreich sowohl gegen das eine als gegen das andere. Denn mag die genauere Fassung des Guten sich nicht leicht finden, und mag sie die Völker und Zeiten bis zu schroffem Gegensatz entzweien, Tatsache bleibt, daß an allen Orten und zu allen Zeiten der geschichtlichen Erinnerung irgend etwas als gut und verbindlich, als überlegenes Gesetz anerkannt und damit der Standort der bloßen Nützlichkeit verlassen wurde. Was man aber als gut bezeichnete und verehrte, das hat man nicht als etwas Beliebiges neben anderem, sondern das hat man als etwas Überlegenes erachtet und dafür allgemeine Schätzung verlangt. Wenn ferner das Gute bei uns Menschen langsam aus verschwindenden Anfängen zu leidlicher Klarheit emporklomm, was ändert das an seiner Natur? Gewiß wird es in jener Bewegung oft dem Nützlichen nahe gerückt und scheint wohl gar ihm zu entspringen. Aber alles Durcheinanderlaufen der beiden Größen beim Menschen verringert in keiner Weise den Abstand ihres Wesens; mag das Nützliche noch so oft den Schein des Guten erschleichen, ein Gutes wird es damit nicht. Gewiß geht auch beim Guten die Bewegung oft von außen nach innen, manches von ihm, was nach dem unmittelbaren Eindruck von innen kommt, hat uns nachweislich die soziale Umgebung, die Erziehung, die Gewöhnung usw. zugeführt. Aber auch dann bleibt die innere Aneignung, die Aufnahme in das eigne Wollen, ein besonderer Akt, eine selbständige Tat; alle Wirkung von draußen würde wie an einem harten Felsen abgleiten oder nicht mehr sein als eine geschickte Dressur, vermöchte sie nicht eine der menschlichen Natur innewohnende Anlage zu erwecken. Was anfänglich nur Gewohnheit war, kann zur moralischen Handlung werden; solange es aber Gewohnheit bleibt, ist es noch lange nicht moralisch; was aber als moralisch galt, das verliert diese Schätzung in dem Augenblick, wo es als ein Erzeugnis bloßer Gewöhnung durchschaut wird.

So verbleibt die Moral ein unbestreitbares Urphänomen des geistigen Lebens. In ihr liegt aber eine völlige Umwandlung des menschlichen Wesens, die gründlichste Befreiung von der Kleinheit der bloßen Natur. Mit ihrer Wendung gegen die Zwecke der natürlichen Selbsterhaltung und in der Unbedingtheit ihrer Forderung erscheint die Moral zunächst wie ein überlegenes Gebot, und erzeugt sie eigentümliche Größen wie Sollen, Pflicht und Gesetz. So galt sie der religiösen Überzeugung gewöhnlich als eine Offenbarung einer jenseitigen Welt, als ein göttliches Geheiß an den Menschen. Aber diese Fassung enthält nur die eine Seite der Sache und bedarf notwendig einer Ergänzung; wird das Jenseits nicht irgend in ein Diesseits verwandelt, so ist die Reinheit der Moral schwer gefährdet. Was nur von draußen zu uns wirkte, könnte die Seele nicht anders bewegen als durch die Vorhaltung der Folgen, sei es Lohn, sei es Strafe. Damit aber wäre der Mensch auf eben den Stand zurückgeworfen, von dem die Moral befreien sollte; der enge Kreis wäre innerlich nicht durchbrochen. So kann jene zu echtem Wirken nur gelangen, sofern sie auch dem eignen Wesen des Menschen angehört; das Gesetz, in dem sie erscheint, muß ein inneres, selbstgewolltes, ja selbstgegebenes Gesetz sein. Es läßt sich aber die Moral in unser eignes Sein nicht aufnehmen, ohne daß dieses über das kleine Ich hinauswächst, jene aber zugleich den bisherigen Zwangscharakter ablegt. Denn ein Sollen, das wir selbst mit begründen helfen, muß ein Wollen, wenn auch vielleicht ein weit zurückliegendes Wollen, in sich tragen; es darf nicht bloß eine Bindung und Begrenzung, es muß auch eine Befreiung und Erweiterung des Lebens bringen. Wie jedes kräftige Nein ein Ja enthält, so ist auch die Moral in der Verneinung des alten Lebens zugleich die Bejahung eines neuen; mit der Hervorkehrung dieser positiven Art aber wächst sie zu einer Selbstbehauptung und gewinnt sie Teil an allen einer solchen innewohnenden Affekten kräftiger und freudiger Art.

So bestätigt es mit deutlicher Stimme das Zeugnis der Geschichte. Sie widerlegt aufs gründlichste diejenigen, welche in dem moralischen Handeln nur ein Verzichten und Entsagen, nur eine Verkleinerung und Herabdrückung des Daseins erblicken und zugleich den von ihr gestifteten Schaden beklagen. Denn die Entsagung war gar nicht echtmoralischer Art, wo sie aus unwilliger und gedrückter Stimmung entsprang; fehlten ihr Liebe und Freude, so war sie innerlich wertlos. In Wahrheit fühlte bei starker moralischer Bewegung die Menschheit sich keineswegs beengt und bedrückt, eingeschüchtert und erniedrigt, sondern sie erfuhr und empfand in allen Kämpfen und Sorgen eine Erhöhung ihres Wesens; wie auf den Urgrund ihrer Kraft zurückgeworfen, konnte sie sich sicher fühlen inmitten ungeheurer Zweifel, reich bei äußerer Armut, ein freier Herr der Dinge bei harter Unterdrückung; in dem scheinbaren Niedergange, ja Untergange brach ein neuer Geist, ein neues Leben, eine neue Welt hervor.

Wie stehen vor der Erinnerung der Menschheit die Männer, denen die Ausbildung der moralischen Gedankenwelt das meiste verdankt, und die darin den Kern ihrer Arbeit fanden, Männer wie Plato, die Stoiker, Luther, Kant, Fichte? Waren es kleine, ängstliche, gedrückte Existenzen, waren es nicht vielmehr große, freie, kräftige Naturen, Helden des Geistes? Brutale Gewaltmenschen waren sie freilich nicht, denn ihre Freiheit trug in sich eine Selbstbeschränkung, und ihnen stand außer Zweifel, daß es keine Bejahung geistiger Art ohne eine Verneinung der bloßen Natur gibt.

Nur mit solcher Kraft der Bejahung konnte die Moral eine Macht und Wirklichkeit im gemeinsamen Leben werden. Und sie ist das geworden inmitten alles Widerspruches des Alltags, inmitten alles Hohnes der Gegner. Denn mag sie gewöhnlich im Hintergrunde bleiben, es bedarf nur starker Aufregungen, Nöte, Erschütterungen, damit sie als eine selbständige Macht erscheine und sich dem Menschen als eine Quelle der Kraft erweise, ihm einen sicheren Halt gewähre. Über die Menschheit kamen solche Zeiten namentlich zusammen mit Umwälzungen des religiösen Lebens; die Nichtigkeit alles bloß natürlichen und gesellschaftlichen Daseins wurde dann mit greller Deutlichkeit empfunden, der tiefe Abgrund, an dem sich alles menschliche Leben und Streben bewegt, trat sichtlich vor Augen. Aber eben in dem Versagen aller gewohnten Hilfen, ja in dem Versinken der ganzen bisherigen Welt erwuchs mit überwältigender Kraft die Überzeugung von der Unzerstörbarkeit eines innersten Kernes, und aus dem Zusammenbruch aller landläufigen Glücksbestrebungen erhob sich die Hoffnung, ja die Gewißheit eines neuen, echteren und reineren Glückes. In verwandter Richtung zeigten sich die einzelnen Nationen einer Vertiefung und Umwandlung fähig, wo ihre Selbständigkeit in Gefahr kam und um Sein oder Nichtsein zu kämpfen war. Aber auch in die kleinen Kreise des privaten Lebens hinein erstreckt sich die Bewegung und Erneuerung; ja hier, wo aller äußere Glanz und Ruhm der geschichtlichen Taten, wo alle bestärkende Kraft der Gemeinschaft fehlt, mag sich in eifriger Liebe und freudiger Hingebung das echteste Heldentum entwickeln. So haben die Skeptiker und Pessimisten Unrecht, wenn sie mit der Zerstörung des gleißenden Scheins, in den das Tagesleben und das gesellschaftliche Getriebe seine Selbstsucht hüllt, die Sache beendigt und erledigt glauben. Denn hinter der Stufe, welche jenes Streben beherrscht, liegt noch eine weitere, eine dritte Stufe; hinter jenem Lebensgetriebe liegt eine Tiefe, die sich allem Aufstöbern von Kleinem und Gemeinem gegenüber behauptet, und ohne deren lebendige Gegenwart das menschliche Dasein zusammenbrechen müßte. Dieser Tiefe vertraut und den Glauben an die Möglichkeit einer inneren Erneuerung enthält alles kräftige Wirken zur Menschheit, alle praktische, politische, soziale, pädagogische Betätigung größeren Stiles; sie allein gibt dem Menschen einen unverlierbaren Stammbesitz, auf den sich in aller Not zurückgreifen läßt. Alle Kultur, welche mit der Geringachtung der Moral jene Tiefe aufgibt, beraubt sich damit nicht nur unentbehrlicher Kräfte, sie wird auch im Ganzen ihres Seins, bei sonst noch so glänzenden Leistungen, flach und hohl; sie droht in Fäulnis zu geraten ohne jenes, was allein dem Leben Salz zuführt und das Wollen dem bloßen Naturtrieb entwindet.

So ist die Moral in scheinbarer Schwäche eine gewaltige Macht und in scheinbarer Fremdheit die ursprünglichste Kraft unseres Lebens. Wenn aber so, was sonst jenseits stand, in das eigne Wollen aufgenommen wird, wenn eine neue Ordnung der Dinge, eine Unendlichkeit den Menschen von innen her treibt, und er nie mehr bei sich selbst zu sein scheint, als wenn er sich diesem überlegenen Lebensstrom ergibt, so ist augenscheinlich eine Ablösung von der Enge des kleinen Ich erfolgt und ein Weltleben, ein übermenschliches Leben, als unmittelbar in uns wirksam erwiesen.

Die Moral ist uns in dem allen nicht ein Sondergebiet, sondern das Zeugnis eines neuen Lebens aus dem Ganzen, ja aus der Unendlichkeit. Denn sonnenklar liegt vor Augen, daß die geistige Betätigung keinerlei Grenzen kennt, daß sie gar nichts außer sich duldet, daß sie alles noch Unergriffene als einen Widerspruch und einen Vorwurf empfindet. Ein allumfassendes Leben steigt somit im Menschen auf, und zugleich zeigt die Moral, daß er nirgends mehr als in ihm sich bei sich selbst befindet; muß das nicht das bisherige Bild vom Menschen gründlich verändern?

β. Die Überwindung des inneren Gegensatzes.

Ein unendliches Leben sahen wir im Menschen aufsteigen und sein Streben vom kleinen Ich und der bloßen Menschlichkeit befreien. Aber es kann sich der Zweifel erheben, ob diese Wandlung bis zur Wurzel des Lebens durchgreift, ob nicht die oben geschilderte Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Zustand und Gegenstand sie an die bloße Oberfläche bannt, sie bei bloßsubjektiver Stimmung und Regung festhält. So wird es zur nächsten Sorge und Frage, ob diese Spaltung irgendwie überbrückt und das Leben damit dem zerstörenden Widerspruch entwunden wird.

Es besitzt aber jener Gegensatz seine Schroffheit nicht von Anfang an, sondern er hat sie erst im Verlauf der Geschichte erlangt. Denn die sinnlichen Anfänge des Lebens lassen Zustand und Gegenstand ungeschieden zusammenrinnen, die seelischen Eindrücke verschwimmen mit der Umgebung, und auch der menschliche Kreis faßt Individuen und Gesellschaft noch eng zusammen. Das Wachstum der geistigen Bewegung aber wirkt überall zur Scheidung und Klärung; indem das Subjekt sich zu fühlen beginnt und seine Kräfte freier bewegt, erlangt zugleich das Objekt mehr Härte und Selbständigkeit; so findet sich das Leben mehr und mehr unter einem Gegensatz und wird durch ihn immer weiter auseinandergetrieben. Aber die Ablösung des Gegenstandes von der unmittelbaren Empfindung ist keineswegs eine völlige Vertreibung aus dem Leben, vielmehr bleibt jener in einer freieren Weise gegenwärtig; ja wir sahen eine gegenläufige Bewegung entstehen, indem dasselbe, was einerseits ferngerückt wird, andererseits wieder angeeignet werden soll. Wie könnte ohne eine solche Festhaltung und Wiederannäherung des Gegenstandes das Denken sich gegen das bloße Vorstellen abgrenzen, wie könnte sich der Begriff über den sinnlichen Eindruck, das Urteil über die Assoziation, die Kausalverbindung über das Vorstellungsgetriebe hinausheben, vermöchten sie sich nicht in die Sache zu versetzen, ihren Bestand zu entwickeln, ihre Notwendigkeit zu verfechten? So fällt das geistige Leben nie bloß auf die eine Seite, auch die andere bleibt zugegen und beschäftigt uns, auch sie gehört demnach zu unserem Sein, und aus beiden zusammen entsteht ein eigentümlicher Lebensraum.

Nun aber entwickelt dies Leben eine weitere Bewegung, die beiden Seiten wieder enger zusammenzubringen, sie zu irgendwelcher Gemeinschaft zu führen und dabei die eine durch die andere zu steigern. Solches Aneignen des Gegenstandes ist es, was die bloße Betätigung in Arbeit oder, wie es auch heißen könnte, die äußere Arbeit in eine innere verwandelt. Nur solche Verinnerlichung, solche Aufnahme in das eigne Leben macht begreiflich, wie uns die Arbeit zu einem Selbstzweck werden kann, wie wir sie liebgewinnen, ihr Opfer bringen, über ihr Gelingen alle Sorgen und Nöte vergessen mögen. Die Arbeit wird uns meist durch eine äußere Notwendigkeit auferlegt und zunächst oft als eine drückende Last empfunden. Wenn sie uns dann aber innerlich zu fesseln und bei sich selbst wertvoll zu werden vermag, wenn aus dem Zwange Freiheit und Freude entspringt, so erweist sich deutlich genug das scheinbar Fremde als ein Stück unseres eignen Lebens; wir bejahen und erhöhen uns selbst, indem wir der Notwendigkeit der Sache dienen.

So zeigen es die verschiedensten Gebiete mit gleicher Deutlichkeit, jedes aber zeigt es in seiner besonderen Weise. Daß es keine echte Erkenntnis gibt ohne ein Denken aus der Natur und der Forderung des Gegenstandes, das wurde schon öfter erwähnt und bedarf keiner weiteren Erklärung; so sei lieber an der Kunst gezeigt, wie der Lebensprozeß geistiger Art beide Seiten umspannt und zusammenführt, wie aus der Berührung eine innere Fortbildung wird. – Auf ihren Gipfelpunkten, etwa in der Lebensarbeit eines Goethe, ist die Kunst weder ein bloßes Aufnehmen und Abbilden einer uns umfangenden Außenwelt, noch auch ein bloßes Subjektivieren dessen, was an uns kommt, sondern Äußeres und Inneres wird in einen neuen, gemeinsamen Lebensraum gehoben und hier miteinander und durcheinander weitergeführt. Erst an dem Gegenwurf erringt das Innere eine feste Gestalt und eine unterscheidende Besonderheit; der Gegenstand aber könnte dem Lebensprozeß nicht so viel sein, wenn er nicht selbst eine Beseelung empfinge und sie mitteilen könnte. Das alles liegt so fern wie nur möglich von einem Zusammenrinnen beider Seiten, denn erst wo das anfängliche Durcheinander überwunden und eine klare Scheidung erfolgt ist, kann die Kunst ihr Werk beginnen, sie findet sich zunächst zwischen einen Gegensatz gestellt und arbeitet an der Berührungsfläche beider Gebiete. Aber diese Arbeit überwindet den Gegensatz, indem sie ihn festhält, und wenn auf einer niederen Stufe das eine das andere unterdrücken mochte, so wird auf der Höhe ein Verhältnis der Wechselwirkung erreicht; dabei weicht der Gegensatz einer subjektivistischen und einer objektivistischen, einer idealistischen und einer realistischen Art einer Behandlung, welche souverän heißen könnte, sofern hier der Lebensprozeß von aller Abhängigkeit hierher oder dorthin befreit und zur vollen Selbständigkeit erhoben ist. Goethes Schaffen wird gepriesen wegen seiner gegenständlichen Art, aber diese Gegenständlichkeit bedeutet keine sklavische Unterwerfung unter eine draußen befindliche Sache, sondern an der Sache selbst erweist der Geist seine Überlegenheit, indem er sie auf den Boden des Innenlebens verpflanzt und hier mit Leben erfüllt. Damit erst kann sie ihre Natur erschließen und zugleich das Ganze des Lebens bereichern. Denn das ist das Wunderbare und Weiterbildende, daß der Gegenstand in der Aneignung seine Selbständigkeit und Eigentümlichkeit nicht aufgibt, sondern sie erst recht entfaltet; so wächst die Seele selbst durch den Gegenstand, und es gewinnt das Ganze des Lebens, in Hinaushebung über den Gegensatz von leerer Stimmung und totem Stoff, einen gegenständlichen oder vielmehr einen eigenständlichen Charakter. Nun kann es heißen:

»Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen«.

In anderer Färbung erscheint die Doppelseitigkeit und innere Wechselwirkung des Lebens beim Verhältnis vom Menschen zum Menschen, im Aufbau eines sozialen und politischen Zusammenseins. Aus äußerer Berührung würde nun und nimmer eine innere Gemeinschaft und ein Austausch des Lebens werden ohne ein Vermögen des Menschen, sich in die Seele des anderen zu versetzen, mit ihm zu denken und zu fühlen, ihm eine Selbständigkeit zu lassen und sich selbst durch deren Vergegenwärtigung innerlich zu begrenzen. Ohne solche innere Gegenwart des anderen gibt es kein Wohlwollen, keine Sympathie, kein echtes Mitleid, ohne sie auch keine gegenseitige Zuerkennung von Recht und Pflicht. Mit besonderer Anschaulichkeit zeigt die Rechtsidee unser Vermögen, zugleich den anderen von uns zu unterscheiden und uns auf seinen Standort zu versetzen, von ihm aus zu denken und zu messen; das Jenseits ist hier zugleich ein Diesseits, die Scheidung ist nicht aufgehoben, wohl aber das Leben über sie hinausgehoben. Nur ein solches Heraustreten aus dem Sonderkreis gestattet eine gemeinsame Ordnung der menschlichen Verhältnisse und ein Streben nach einem Reich der Gerechtigkeit.

Alle diese einzelnen Gebiete umfassend, vollzieht die Arbeit eine innere Abstufung des Lebens, für das Individuum wie für das Ganze der Menschheit. Wenn alles, was wir in unsere Arbeit aufnehmen, uns unvergleichlich näher tritt und ein Stück unseres Lebens wird, so mag sich auch das Ganze der Arbeit zu einem selbständigen Lebenskreise verbinden und uns das werden, was Beruf genannt wird; ein Stück Wirklichkeit wird damit von uns innerlich angeeignet, das dem Leben einen Halt in sich selbst und gegen sich selbst gewährt, eine Überlegenheit gegen flüchtige Launen und Stimmungen, das Bewußtsein eines unangreifbaren Wertes, alles das in Abgrenzung gegen die Unermeßlichkeit, welche fremd und unergriffen draußen bleibt. Ähnlich bereitet sich die Menschheit in fortschreitendem Aufbau durch die Jahrhunderte und Jahrtausende aus der fremden Welt ein Arbeitsreich, eine Arbeitswelt. Was dieser Arbeitswelt angehört, das mag noch so viele Probleme enthalten, es behauptet allen Zweifeln gegenüber eine Tatsächlichkeit, es bildet einen Ausgangspunkt für alles weitere Streben, es hält die Dinge wie die Menschen fester zusammen und verbindet auch die einzelnen Zeiten zu einer fortlaufenden Kette, es widersteht einem Verfallen ins Kleine und Selbstische, es widersteht zugleich dem Wechsel der Strömungen an der Oberfläche der Zeiten, indem es aller Willkür einen weltgeschichtlichen Stand der Dinge entgegenhält, mit dem sich alles auseinandersetzen muß, was tief und dauerhaft wirken möchte. Und in aller solcher Erweiterung befindet sich der Mensch bei sich selbst, unvergleichlich mehr bei sich selbst als in der Pflege seines natürlichen Ich; er ist sich weit mehr erschlossen, weit mehr sein eigen, als er es unter der Herrschaft der dunklen Naturtriebe war. Nun wohl, so ist der Mensch mehr, und so enthält sein Leben mehr als der erste Anblick zeigt, so muß dieser sich eine tiefgreifende Umwandlung gefallen lassen.

Erst die Arbeit gibt dem Menschen eine sichere Wirklichkeit, ohne sie zerrinnt ihm das Leben wie ein Schatten und Traum. Solche Befestigung aber gewährt die Arbeit nur beim Fortgang zum Werke als einer den beiden Seiten überlegenen und sie zusammenhaltenden Macht. Das Werden eines solchen Werkes ist ein höchst eigentümlicher Vorgang; in voraneilendem Entwurfe entsteht zunächst ein Kern, eine Idee, ein beherrschender Mittelpunkt, wie mit einer Kernbildung ja auch der Aufbau der Weltsysteme und die Gestaltung des organischen Lebens beginnt. Dann schießt um den Mittelpunkt weiteres zusammen, der Entwurf wächst und gestaltet sich, er steht dabei vor unserem Denken wie ein selbständiges Wesen, das aus dem Zustande der Halbexistenz heraus nach voller Wirklichkeit dürstet und mit solcher Forderung eine treibende und richtende Macht innerhalb des Lebens wird. Nun ist die anfängliche Unsicherheit überwunden, nun kann die Mannigfaltigkeit der Kräfte sich zusammenfinden, gegenseitig begrenzen, durcheinander bestimmen; die verschiedenen Möglichkeiten, die zunächst einander friedlich vertrugen, werden jetzt zur Entscheidung gedrängt, das Leben als Ganzes in eine sichere Bahn geleitet. Das Werk entwickelt eine Erfahrung bei sich selbst, ja nun erst, wo beide Seiten umspannt und aufeinander bezogen werden, entsteht eine echte Erfahrung gegenüber der bloßen Empirie. Auch seine Wahrheit braucht das Werk sich nicht von draußen bestätigen zu lassen, es hat sie in seinem eignen Gelingen, seinem eignen Zusammenschluß, der von ihm bewirkten Erhöhung des Lebens. In dem allen tritt das Leben aus sich heraus und kehrt es zu sich zurück, zugleich aber wird es innerlich fest und bildet es bei sich selbst eine beharrende Wirklichkeit. Eine solche Konzentration und Kristallisation des Lebens erhebt den Menschen über alles Tasten und Zögern der Reflexion und unterwirft ihn der Gewalt dessen, was Notwendigkeit der Sache heißt, in Wahrheit aber ein Festwerden des eignen Lebens ist.

So viel sein kann das Werk freilich nicht, solange es vereinzelt und abgesondert neben anderen Werken liegt. Aber je mehr es einen geistigen Charakter erreicht, desto mehr entwächst es jener Vereinzelung, desto mehr wird es zum Ausdruck einer durchgehenden Art, zum Stück eines allumfassenden Werkes. Oder ist nicht jedes große Kunst- und Gedankenwerk in seiner Besonderheit zugleich ein Bekenntnis vom Ganzen, wird nicht in ihm trotz äußerer Begrenztheit eine Unendlichkeit erfaßt und im Kampf um sein Recht eine durchgehende Wahrheit, eine Weltanschauung verfochten? So werden schließlich bei echter geistiger Arbeit alle einzelnen Werke von einem Gesamtwerk, einem Lebenswerk umspannt; erst mit der Erreichung eines solchen gewinnt das Leben als Ganzes eine innere Einheit und Festigkeit, wird es volle Wirklichkeit. Denn eine solche Wirklichkeit fällt nie von draußen her zu, sie wird errungen in der Zusammenschweißung von Subjekt und Objekt, die mit der Wendung zum Werke erfolgt. Diese Zusammenschweißung aber geschieht nicht zwischen Innen- und Außenwelt, sondern lediglich in einer Innenwelt, die den Gegensatz in sich aufnahm.

Bei solcher Innerlichkeit des Werkes, namentlich des umfassenden Lebenswerkes, ist es unmittelbar auch Bildung der geistigen Art des Menschen, arbeitet er an ihm sein eignes Wesen in die Höhe und erringt er eine geistige Individualität. Denn es ist, was einerseits als Aufbau einer Welt erscheint, zugleich Bildung des eignen Lebens, ein gegen sich selbst gerichtetes Werk. Das Wirken ins Weite ist gar nicht rechter Art, wenn dabei nicht der Mensch zugleich sein eignes Wesen erkämpft, und jenes damit die Kraft und Wucht einer Selbstbehauptung gewinnt. Umgekehrt erreicht das Innere seine eigne Art nicht durch peinliches Grübeln und Sorgen, sondern nur durch ein mutiges Heraustreten aus der bloßen Subjektivität, ein mannhaftes Ringen mit den Dingen, eine Klärung und Weiterbildung durch ihren Widerstand. Wir suchen dabei uns selbst, aber wir finden uns nur in der Gestaltung der Dinge, im Aufbau einer Welt. So sind wir gerade dann recht bei uns selbst, wo wir aus uns herauszutreten scheinen, in Wahrheit aber einen weiteren Lebensraum bilden.

Aus solcher Begründung der einzelnen Werke in einem Gesamtwerke und einer geistigen Individualität erklärt sich vollauf, daß Werke großer Geister einen Wert behalten, auch wenn alle nähere Gestaltung der unablässig fortrinnenden Zeit verfällt; es erklärt sich weiter auch, daß jene Geister die jeweilige Art der Betätigung mit großer Gleichgültigkeit zu behandeln pflegten. »Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln,« so bekennt von sich ein GOETHE.

Wie sich aber die geistige Individualität an einem Lebenswerk entwickelt, wie sie mit ihm heraustritt und wächst, das zeigen wiederum die führenden Geister mit einleuchtender Klarheit. So besaß z. B. die Arbeit eines KANT ihre volle Eigentümlichkeit und zugleich den Charakter der Größe nicht von Haus aus als eine natürliche Eigenschaft, sie erlangte ihn erst, als nach langem und mühsamem Ringen das Streben in ein einziges Werk zusammenschoß, das aller Bewegung ein festes Ziel und aller Mannigfaltigkeit eine beherrschende Einheit vorhielt; das führte die Kräfte zu höchster Spannung, vertrieb alles Fremde und Schwankende, gab dem Eignen erst seine Ausprägung. Nun erst konnte die Eigentümlichkeit des Ganzen sich auch den kleinsten Elementen mitteilen und jeden Punkt gemäß der Gesamtart gestalten.

Bedeutet das Werk für das geistige Werden des Menschen so viel, so liegt die Entscheidung über Gelingen oder Mißlingen der Lebensarbeit vornehmlich daran, ob der Aufstieg zu einem solchen Werke erreicht wird oder nicht. Auch der innere Verlauf des Lebens, wie die Beschaffenheit der letzten Überzeugungen wird durch nichts mehr bestimmt als dadurch, wie jener Aufstieg zustande kommt, ob leicht oder schwer, ob in ruhiger Weiterbildung natürlicher Anlagen oder unter schmerzlichen Erschütterungen und Erneuerungen. Je nachdem hier die Entscheidung fiel, wird das Leben bald mehr als eine Gabe des Schicksals, bald mehr als ein Werk freier Tat erscheinen, wird die Gesinnung bald mehr von der Harmonie des Daseins erfüllt, bald mehr von seinen Widersprüchen bewegt sein.

Was aber beim Werk von den Einzelnen gilt, das gilt nicht minder von den Völkern. Zur Teilnahme an der Arbeit sind viele von ihnen berufen, zur Förderung echter Kultur nur wenige auserwählt. Erst die geistige Individualität mit ihrem Lebenswerke gibt der Kultur einen inneren Zusammenhang, eine volle Selbständigkeit, eine belebende Seele; so erst vermag sie alle Gebiete zu umspannen und mit aufrüttelnder und fortbildender Kraft zum ganzen Leben zu wirken.

Was die Völker unterscheidet, unterscheidet auch die Zeiten: groß sind nur die, deren Streben sich zu einer einheitlichen Aufgabe zusammenfaßt, in welche der Mensch sein ganzes Wesen hineinzulegen vermag; wo dies nicht gelingt, da kann alle Fülle von Arbeit, alle Erregung und Bewegung der Individuen wie der Massen weder Festigkeit der Gesinnung noch Freudigkeit der Stimmung erzeugen, noch auch dem Vordringen kleinmenschlicher Art genügend widerstehen, da schwankt das Leben unsicher zwischen seelenloser Leistung und leerer Stimmung hin und her. Nur mit einem lebenumspannenden Werke erlangt die sonst flüchtige und nichtige Zeit das Bewußtsein einer ihr innewohnenden Ewigkeit und eines unangreifbaren Wertes.

Schließlich geht auch durch das Gesamtstreben der Menschheit das Verlangen, die ganze Unendlichkeit des Daseins in eine einzige Wirklichkeit zusammenzufassen, in ein Gesamtwerk zu verwandeln, zugleich aber für sich selbst eine charakteristische geistige Art zu gewinnen. Alle echte Kultur ist unmittelbar auch ein Streben der Menschheit nach einer inneren Einheit ihres Lebens und Wesens; ohne das bleibt die Kultur auch bei fieberhafter Geschäftigkeit etwas, das uns nur äußerlich anhängt und daher im letzten Grunde gleichgültig ist. Wird aber jene Beziehung zur eignen Art und Selbsterhaltung gefunden, so ist das Leben über alle natürliche und auch über alle gesellschaftliche Existenz sicher hinausgehoben, so hat es in sich selbst eine Welt errungen.

So steigt in Arbeit und Werk eine reiche Tatsächlichkeit auf, eine Tatsächlichkeit auch in den Problemen und Kämpfen. Der Lebensprozeß vollzieht bei sich selbst eine Hinaushebung über den Gegensatz und verleiht dem Menschen, soweit er ihn an sich zieht, ein überlegenes Sein, von dem aus, als von einem festen Kern, sich aller Spaltung entgegenwirken läßt. Deutlich hat diese sich als nur einer gewissen Stufe des Lebens angehörig gezeigt, die nicht seinen Abschluß bildet.

γ. Der Gewinn eines universalen Selbst.

So bildet das Werk als Vollendung der Arbeit einen Gipfel des Lebens wie einen Abschluß des Strebens; es bleibt die Achse, um die sich alle weitere Entwicklung zu bewegen hat. Aber bei aller Leistung ist es noch nicht das letzte Ziel. Denn gerade was dem Werk seine Größe gibt, bezeichnet zugleich seine Grenze, und die Größe selbst scheint nicht wohl erreichbar ohne die Hilfe von Kräften, die das Werk nicht sowohl erzeugt als voraussetzt. Im besonderen fordert das geistige Leben mehr Einheit, mehr Freiheit, mehr Seele, als das Werk von sich aus aufbringen kann.

1. Kraft und Gegenstand gelangten im Werk zu enger Verbindung und gegenseitiger Durchdringung. Aber solche Zusammenschließung ist zugleich eine Abschließung nach außen hin; nirgends mehr als hier gilt das Wort, daß alle nähere Bestimmung eine Verneinung ist ( omnis determinatio negatio). Auch als Verkörperung allgemeiner Überzeugungen und Ausdruck einer Weltanschauung behält das Werk einen unterscheidenden und absondernden Charakter, die Versetzung des Lebens in Arbeit und Wirken ist daher immer eine Zuspitzung, die gefährlich wird, wenn sie das letzte sein soll. Gefährlich zunächst für die Gesinnung. Denn die völlige Versenkung des Menschen in die Arbeit ergibt unvermeidlich eine Enge und leicht einen Egoismus; auch die geistige Individualität enthält ein stolzes Beisichselbstsein, das leicht zu schroffer Ablehnung und Ausschließung wird. Daß das Werk, indem es verbindet, zugleich trennt, das zeigt deutlich die Vereinigung der Menschen zu großen Arbeitsgruppen; hier entsteht eine Eifersucht der Berufe, eine Leidenschaft der Klassenkämpfe, die auch den wildesten Haß gegen Draußenstehende durch die Verfechtung gemeinsamer Zwecke gerechtfertigt glaubt. Ähnlich steht es, wenn die Nationen um den Sieg ihrer Arbeit und die Weltherrschaft kämpfen.

Solche Scheidung und Spaltung reicht über die Gesinnung hinaus in das Ganze der Denkart. Die Besonderheit der Arbeit läßt das eine vor dem anderen sehen, sie kann nicht gewisse Kräfte entwickeln, ohne andere zu unterdrücken, sie bereitet den Individuen, den Völkern, den Zeiten in ihren Lebenskreisen eine besondere Welt, ein besonderes Sein. Und doch können und dürfen wir nicht darauf verzichten, uns in einem gemeinsamen Lebensraume zusammenzufinden, unser Wirken auszutauschen, für einander zu denken und zu leben. Ja die Menschheit als Ganzes darf nicht den Gewinn einer geistigen Individualität für das Höchste erachten, wenn sie nicht auf eine universale Wahrheit verzichten will.

2. Ein weiterer Ertrag des Werkes war eine Befestigung und Beruhigung des Lebens. Aber ohne ein Gegenwirken befreiender Kräfte ergibt das eine starre Festlegung und unerträgliche Bindung; das Schicksal, das dem Werke innewohnt, droht den Menschen zu überwältigen und zu unterdrücken. Oder enthält das Werk nicht ein Schicksal? Bedarf es doch zu seinem Gelingen nicht nur äußerer Bedingungen und günstiger Umstände, sondern vor allem eines inneren Vermögens, das nicht von unserem Wollen abhängt, sondern uns als Gunst und Gabe zufällt. Dies Fremde aber entscheidet über den Erfolg unseres Strebens, über Glück und Wert unseres Lebens, soweit es in Arbeit und Wirken aufgeht. Wieviel Härte, wieviel Unbill, ja Grausamkeit damit droht, wird nicht empfunden, solange beim Werk nur der glückliche Erfolg, nur das siegreiche Durchdringen vor Augen steht. Aber ein reiner Erfolg ist selten genug, und selbst unter den bevorzugten Geistern, deren Gelingen alle preisen, war kaum jemand wahrhaft groß, der nicht mit Schmerz eine weite Kluft zwischen dem Wollen und dem Vollbringen empfand, der nicht weit mehr sagen wollte, als ihm zu sagen vergönnt war. Ist nun dieser Überschuß in jeder Hinsicht nichtig und wertlos? Und sind alle jene weit überwiegenden Existenzen, alle die Völker und Zeiten verloren, denen ein erfolgreiches Wirken versagt war? Wir sträuben uns dagegen und begrüßen freudig jenes Gleichnis Jesu von den Talenten, das über alle Unterschiede und zugleich über das ganze Gebiet der bloßen Leistung hinaushebt, indem es zur Hauptsache macht, was bei der Gesinnung und der Entscheidung jedes Einzelnen steht. Aber verlangt dies selbst nicht ein neues Leben, und wie läßt sich ein solches begründen, wie auch wissenschaftlich rechtfertigen?

3. Am meisten Verwicklungen entstehen aus dem Verhältnis von Werk und Seele. Das Werk war uns keine äußere Leistung, es befand sich innerhalb der Seele und war gerade darin groß, bei ihr selbst eine Befreiung von bloßer Zuständlichkeit und Subjektivität zu vollziehen, hier etwas aller menschlichen Betriebsamkeit und Eigennützigkeit Überlegenes, in sich selbst Beruhendes, durch eigne Kräfte Getriebenes zu entwickeln. Das konnte das Werk nur, sofern es seelisches Leben an sich zog, um es dann, durch seine Besonderheit eigentümlich gestaltet, zurückzustrahlen. Aber diese notwendige Emanzipation des Werkes bringt schwere Gefahren mit sich. Die Ablösung kann starr und ausschließlich werden, der Zusammenhang mit dem Ganzen der Seele sich lockern und lösen, das Werk eine Selbstherrlichkeit usurpieren und damit das Leben nicht nur verengen, sondern auch seine Freiheit einem Mechanismus, das eigne Tun einem undurchsichtigen Naturprozeß, wenn auch geistiger Art, aufopfern. Indem sich nämlich das Werk vom Menschen losreißt und gegen den eignen Urheber kehrt, verwandelt sich das Leben in ein bei aller Anspannung der Kräfte seelenloses Getriebe, die Gesinnung weicht zurück vor der Werktätigkeit, die Arbeit überwältigt den Menschen und macht ihn zu ihrem Sklaven. So geschah es, wo das ganze Geistesleben in einen einzigen durch seine logische Notwendigkeit getriebenen Gedankenprozeß verwandelt wurde; so geschieht es noch augenscheinlicher und empfindlicher, wo die technische Arbeit mit ihrem unablässigen Vordringen alles Denken und Sinnen einnimmt; so geschieht es überall, wo der Mensch ein bloßes Mittel für die Kulturbewegung wird und die Wogen der weltgeschichtlichen Bewegung ihn ohne sein Zutun tragen und treiben.

In Wahrheit will das Werk, indem es sich vom unmittelbaren Seelenleben ablöst, immer wieder zum Ganzen der Seele zurückgezogen, von ihm aus geprüft, bewertet, belebt sein; nur bei steter Zurückführung auf seinen Ursprung und fortwährender Überwindung durch eine überlegene Geistigkeit kann es einen geistigen Charakter bewahren und zum inneren Aufbau des Lebens dienen. Wenn das Wort richtig ist, daß der Mensch mehr ist als seine Arbeit, so muß auch das Ganze des Menschenlebens mehr sein als ein Produzieren von Werken, als das Erzeugen einer Kultur und geistigen Individualität.

So erhebt sich mit Notwendigkeit ein Verlangen nach einer Weiterbildung des Lebens über die Stufe des Werkes hinaus, nach einem Leben, das aus der Versenkung in das Werk zu sich zurückkehrt, um bei sich selbst zu verweilen, das dabei aber jenes festhält und ein überlegenes Selbst sich in ihm entfalten läßt. Entspricht solchem Verlangen irgendwelche Wirklichkeit innerhalb unserer Erfahrung? Wir meinen ja; denn über die Stufe der Arbeit und der Gerechtigkeit, der Kultur und der geistigen Individualität hinaus schreitet die Bewegung fort zu einer Stufe des Schaffens und der Liebe, der geistigen Persönlichkeit und eines reinen Beisichselbstseins des Lebens. Den Begriff des Schaffens verwenden wie ein Bekenntnis namentlich die Religion und die Kunst, jene, um alle Bindung des göttlichen Wirkens an einen fremden Stoff und an ein dunkles Schicksal auszuschließen, diese, um ihr Werk als ein Geschenk freischwebender Phantasie und zugleich als einen Erweis ureigner Art des Künstlers darzustellen; beide könnten den Begriff nicht verwenden, wurzelte er nicht im Ganzen des Lebens, wäre nicht überhaupt eine Vertiefung dahin möglich, daß das Werk, das zunächst das Leben beherrschte und band, vom Leben wieder überwunden wird; das aber geschieht durch seine Verwandlung in die freie Entfaltung, den lauteren Widerschein eines geistigen Selbst. Damit entwächst das Leben der Schwere und Starrheit, die seine bisherige Entwicklung bedrückte; nun kann aller dunkle Rest verschwinden, nun allererst das Fremde vollauf ein Eignes, das Äußere ein Inneres werden. Mit solcher Zurückführung auf eine tiefere Quelle erscheint das Werk zugleich als ein Fall von unbegrenzten Möglichkeiten, indem jene immerfort neues Leben erzeugen kann. Erst in solcher Erhebung über die Sphäre des Werkes und solcher Befreiung von allem Drucke starrer Gegebenheit wird das Leben ein volles Beisichselbstsein und echte Selbstbetätigung; hierher gehört alles, was es an erhöhender Kraft, an Genialität in sich trägt. Daher erstreckt sich das Schaffen in alle einzelnen Gebiete hinein, die zum Aufbau des Geisteslebens dienen, auch in die Wissenschaft, die sich ihm gegenüber zunächst besonders spröde zu verhalten pflegt. Sie müßte ihr höchstes Ziel: das Erkennen, aufgeben, wollte sie auf alles und jedes Schaffen verzichten. Denn ohne ein solches läßt sich nie über das bloße Kennen hinaus zu einem Erkennen gelangen. Echtes Erkennen gibt es nie von Fremdem, sondern immer nur von Eigenem, echtes Erkennen ist immer ein Entdecken eignen Lebens, ein Sichselbsterkennen in dem, was zunächst etwas Fremdes dünkte; wie aber wäre das möglich ohne ein Vordringen des Lebens dahin, wo sich der Vorwurf als ein eignes Erzeugnis erweist, in ihm eine Selbstbetätigung aufgedeckt wird. Wie weit und unter welchen Bedingungen der Mensch dazu fähig sei, ist eine Frage für sich; aber nicht einmal beschäftigen könnte ihn jene Höhe, wäre er ganz und gar an die niedere Stufe gebannt.

Eine größere Anschaulichkeit erlangt die höhere Stufe im Gebiet der Gesinnung, denn dem Fortgang von der Arbeit zum Schaffen entspricht ein solcher von der Gerechtigkeit zur Liebe. So abweichende Höhenlagen dieser Begriff hat und so verdrießlich das Alltagsleben verschiedenartigstes bei ihm durcheinanderwirft, inmitten aller Vermengung behauptet sich echte Liebe als eine Wendung des Lebens, die zugleich ein unbestreitbares Faktum und ein geheimnisvolles Rätsel ist. Denn Liebe in diesem Sinne bringt nicht nur die einzelnen Elemente in feste Beziehung und leitet Leben von einer Seite zur anderen, sondern sie reißt jene ganz und gar aus der Sonderung heraus und entfacht ein neues gemeinsames Leben, in dem die Besonderheit nicht verschwindet, in dem sie aber über den anfänglichen Stand hinausgehoben und verwandelt wird. Keine echte Liebe, die nicht Neues und Besseres aus dem Menschen macht. Mit ihr erlangt das Sein des anderen eine volle innere Gegenwart und wird unmittelbar ein Stück des eignen Lebens. Alle Erhöhung aber erfolgt dabei durch eine Hingebung, ja Aufopferung hindurch. »Das erste Moment in der Liebe ist, daß ich keine selbständige Person für mich sein will, und daß, wenn ich dies wäre, ich mich mangelhaft und unvollständig fühle. Das zweite Moment ist, daß ich mich in einer anderen Person gewinne, daß ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht. Die Liebe ist daher der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann, indem es nichts Härteres gibt, als diese Punktualität des Selbstbewußtseins, die negiert wird, und die ich doch als affirmativ haben soll. Die Liebe ist das Hervorbringen und die Auflösung des Widerspruchs zugleich: als die Auflösung ist sie die sittliche Einigkeit« (Hegel).

Das geht zunächst auf das Verhältnis von Einzelnem zu Einzelnem, aber die Liebe kann auch weitere Kreise, große Völker, das Ganze der Menschheit zusammenschmieden, überall Erzeugerin eines Lebens, das nicht bloß vorhandene Elemente in Wechselwirkung setzt, sondern mit schaffender Kraft und umwandelnder Flut das ganze Dasein erneuert. Nur das Vertrauen auf solche Schöpferkraft der Liebe gestattet es, den vorhandenen Stand der Menschheit klar zu durchschauen und doch an freudigem Wirken für sie festzuhalten, und es konnte den ungeheuren Verwicklungen der Menschenseele und ihrer Hilflosigkeit gegenüber der Enge und Kleinheit des eignen Wesens die Religion nichts anderes entgegenhalten als die Hoffnung auf eine unendliche Liebe, welche im Menschen ohne sein Verdienst ein neues Leben schafft und ihn damit über das Gebiet der Hemmung hinaushebt.

Was aber nach besonderen Richtungen so reiche Entfaltungen hervortreibt, das muß sich auch zum Ganzen einer neuen Lebensform zusammenfassen; ein Verlangen nach einer solchen erscheint deutlich in dem Eifer und der Zähigkeit, womit die letzten Jahrhunderte und mit ihnen die Gegenwart an dem Begriff der Persönlichkeit hangen. Seit LEIBNIZ gab jeder der großen Denker hier etwas Eignes, alle aber suchten dabei eine neue, abschließende Höhe des Lebens. Der Zusammenhang unserer Betrachtung verlangt eine Weiterbewegung zunächst deshalb, weil der Mensch nicht in die Stufe der geistigen Individualität aufgeht, die uns bis dahin beschäftigte. Auch bei glänzendster Leistung umfängt diese Stufe ihn nicht ganz und gar, er kann darüber hinausblicken, sich in andere Individualitäten versetzen und durch sie ergänzen, er muß das tun, um dem Zufälligen und Problematischen seiner eignen Natur überlegen zu werden, um bei sich selbst das Unechte ausscheiden, das Echte stärken zu können. Von hier aus gelangt das Leben auf einen Standort, wo es die verschiedenen Kreise überschaut und ihrer aller Gehalt in eignen Besitz verwandelt, wo sich ihm die ganze Unendlichkeit zusammenfaßt und zu einem Beisichselbstsein wird. Hier bleibt das Leben auch in scheinbarer Wendung nach außen immer mit sich selbst befaßt, hier ist die Stufe der bloßen Leistung sicher überwunden, und es bildet die eigne Erhöhung des Lebens das beherrschende Ziel alle Mühens. Das entspricht der christlichen Überzeugung von einem unermeßlichen Werte des Menschen in seiner reinen Innerlichkeit, der Überzeugung, »daß für den Preis der ganzen Welt nicht eine einzige Seele erkauft werden kann« (LUTHER); wie aber ließe sich solche Schätzung rechtfertigen, stiege nicht in jener Tiefe der Seele eine neue Art des Lebens auf, erhöbe sich hier nicht ein neues Reich, das den innersten Kern der gesamten Wirklichkeit bildet? Wie die Sache gewöhnlich gefaßt wird, als Empfehlung einer bloß subjektiven, von der großen Welt sich in eine private Klause zurückziehenden und dort tatlos verharrenden Gesinnung, hat sie keinen genügenden Grund, ja droht sie zu einer leeren Floskel und Phrase zu werden. Jene Schätzung erlangt ein gutes Recht nur, wenn in der Tiefe des Seelenlebens eine neue Stufe der Wirklichkeit aufgeht, und dies kann nicht aus der Kraft des bloßen Punktes, sondern nur dadurch geschehen, daß hier unendliches Leben unendlichem Leben begegnet, daß sich an dieser Stelle ein Kreuzungs- und Konzentrationspunkt unendlichen Lebens bildet. Ähnliches scheint Goethe in jenen merkwürdigen Worten vorzuschweben: »Gott begegnet sich immer selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen die Größten gering zu achten.«

Handelt es sich also nicht darum, das Leben auf einen besonderen Punkt zu beziehen und dessen Eigentümlichkeit zu unterwerfen, sondern darum, es auf seine eigne Tiefe zu bringen und ihm einen Halt in sich selbst zu geben, so wird die Sache gewaltig schwer. Vollauf eignes Leben kann nur entstehen, wenn sich die Tätigkeit in Selbstbetätigung verwandelt, wenn sie ein lebendiges Selbst zum Ausdruck bringt, wenn die umfassende Einheit durch Herausarbeitung eines durchgehenden und beharrenden Lebens einen Kern, ein Wesen gewinnt und damit zum übrigen Leben wirkt, es darauf bezieht, es daran mißt. Nur eine solche Scheidung und Wiederverbindung, eine solche innere Abstufung und Zurückbeziehung des Lebens läßt die Frage nach einem Inhalt entstehen, nur wenn das umfassende Ganze sich die zerstreute Mannigfaltigkeit unterwirft und sich selbst in sie hineinlegt, erwächst eine in sich selbst beruhende Wirklichkeit.

Ob solches Leben persönliches Leben heißen darf, darüber läßt sich streiten. Jedenfalls müßte dann die beherrschende Einheit nicht neben, sondern innerhalb des Lebens liegen und mit ihrer Herausbildung dieses selbst vertiefen und weiterbilden; es könnte am einzelnen Punkte nur sein, wenn es zuvor und zugleich im Ganzen wäre; es wäre also keine Absonderung, sondern das gerade Gegenteil: innerste Verbindung mit den Dingen, ja mit der Unendlichkeit. Der Sprachgebrauch großer Denker zielt nach dieser Richtung, das tägliche Leben dagegen verbindet mit dem Begriff zu sehr die Vorstellung eines Sichabschließens und Entgegensetzens, auch zieht es ihn zu oft zur Bezeichnung bloßer Naturkraft herab, als daß sich ohne stete Verwahrung dagegen auskommen ließe. So empfiehlt es sich vielleicht mehr, von autonomem Leben und von Autonomien zu sprechen; uns liegt vornehmlich an der Tatsache, daß im Geistesleben selbst eine Bewegung zur Bildung eines Kernes und zur Verwandlung in Selbstleben im Gange ist, und daß mit solcher Wendung des Lebensprozesses eine Innenwelt entsteht, die etwas ganz anderes bedeutet als die schattenhafte Innerlichkeit des auf sich beschränkten Subjekts.

Solcher Stufe des autonomen Lebens entspricht in der weltgeschichtlichen Arbeit ein Hinausgehen der geistigen Bewegung über alle bloße Kultur. So notwendig die Kultur auch für den letzten Abschluß des Lebens ist, seinen Hauptstandort hat der Mensch nicht in ihr, sondern über ihr zu nehmen. Denn wäre die Kultur sein höchstes Ziel, so bliebe sein Leben letzthin auf eine Leistung gerichtet, so würde er selbst ein bloßes Werkzeug dafür; die Kultur aber ohne ein überlegenes und beseelendes Leben könnte keinen Sinn mehr bewahren und müßte mehr und mehr zu einem geistlosen Mechanismus sinken. Als ein Ringen des Geisteslebens mit der zunächst entgegenstehenden und scheinbar feindlichen Welt kommt die Kultur zu ihrer eignen Wahrheit nur, wenn sie in ein geistiges Selbstleben mündet.

Mühsam genug ist auf dem Boden der Geschichte solche Überlegenheit gegen die bloße Kultur errungen, sie ist vornehmlich errungen in den Jahrhunderten des Zusammenstoßes des Altertums mit dem Christentum, in einer Zeit, wo eine alte Kultur versank und eine neue noch nicht geboren war. In solcher Lage wäre das Leben ins Leere gefallen, hätte es nicht bei sich selbst, in Befassung mit sich selbst und Vertiefung in sich selbst eine Welt und zugleich innere Festigkeit gefunden. So zeigen es vor allem PLOTIN auf griechischer und AUGUSTIN auf christlicher Seite, beide einig darin, die Kulturarbeit über sich hinauszuweisen und sie an einen Punkt zu führen, wo sie umschlägt in die Ergreifung der ewigen Einheit und die Entfaltung eines aller Gestaltung überlegenen, nur mit sich selbst befaßten Lebens. In diesen Zusammenhängen leuchtete zuerst der Gedanke auf, daß jedes Vernunftwesen nicht ein bloßer Teil der Welt, sondern das Ganze der Welt, ein Mikrokosmos sei. »wir sind jeder eine geistige Welt« (PLOTIN). – Freilich verblieb jene Zeit zu sehr bei der Ablösung von der Welt, sie kehrte nicht aus ihr zur Weltarbeit zurück, um das gewonnene Leben durchzubilden und auszufüllen. So mußte ein Umschwung kommen. Aber unverloren blieb der Gewinn eines reinen Beisichselbstseins des Geisteslebens als einer eignen Welt, die innere Überlegenheit über alle bloße Kultur; das ergibt ein Ziel und ein Maß, dem alles entsprechen muß, was den Menschen fernerhin geistig befriedigen soll.

Gewiß ist diese letzte Stufe, dies völlige Zusichselbstkommen des Lebens, für uns seiner vollen Durchbildung nach mehr Ziel als Besitz, mehr Aufgabe als Leistung, aber zugleich ist dieser Abschluß der Grund, der das ganze Leben trägt und eine unerläßliche Voraussetzung auch der früheren Stufen bildet. Wir sahen das Streben sich vom natürlichen Ich befreien und in der Ablösung neue Kräfte entwickeln, neue Ziele entwerfen; woher sollten diese Kräfte kommen und wie sollten sich die neuen Ziele rechtfertigen, wenn nicht im Geistesleben ein eignes Sein aufstiege, ein neues Selbst entstünde, das sich in den Lebensbewegungen entfaltet und behauptet? Der Fortgang zu einem eigenständigen Leben überwand die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt; ist eine solche Überwindung denkbar, wenn das Leben nicht zu sich selbst aus aller Arbeit zurückkehrt und die Leistung in eine Selbsterhöhung verwandelt? – Daß wir in der geistigen Arbeit ein innerstes Wesen entfalten und ein wahres Selbst erkämpfen, das bestätigt auch ihr unmittelbarer Anblick. Warum lassen wir z. B. die Flut der Erfahrung, die auf unser Vorstellen eindringt, nicht ruhig über uns ergehen, warum leisten wir Gegenwehr und suchen die Eindrücke zu bewältigen, indem wir sie in unsere Begriffe verwandeln, warum genügt uns nicht, was uns im natürlichen Laufe der Dinge berührt, warum treibt es uns zwingend, der Unendlichkeit des Alls bis in die fernste Verzweigung nachzugehen? Jene Umwandlung und Ausdehnung muß doch wohl zur Vollendung unseres eignen Wesens gehören, und ihr Fortgang muß eine Bewegung dieses Wesens in sich tragen. Auch die Kunst wäre nun und nimmer die große Lebensmacht geworden, und ihre Gestalten hätten sich nicht in überlegene Gewalten verwandelt, hätte es den Menschen in der Arbeit an ihr nicht letzthin zu sich selbst, zur Ergründung seines eignen Wesens getrieben. Daß das wissenschaftliche und künstlerische Streben eine solche Höhe des Kampfes um ein geistiges Selbst nur an einzelnen Höhepunkten gewann, das ändert nichts an der Sache. Was erreicht ist, wäre nicht erreicht ohne solche Höhepunkte, nicht ohne daß einzelne Persönlichkeiten die Sache in jenem großen Sinne nahmen und an sie ihr Leben wandten. Nur solches Einsetzen der ganzen Seele ließ jene Gebiete eine Selbständigkeit erreichen und bereitete den Boden für die Alltagsarbeit mit ihrer Summierung der Leistungen; rasch sinkt die Arbeit zu einem seelenlosen Mechanismus, wenn sie den Zusammenhang mit jenem Schaffen verliert und dessen Ursprünglichkeit durch bloße Emsigkeit ersetzen möchte.

Alle diese Bewegungen können, vom unmittelbaren Dasein des Menschen aus angesehen, bloße Möglichkeiten dünken. Aber es sind Möglichkeiten nicht im Sinne vager Einfälle, sondern in dem unabweisbarer Aufgaben und treibender Kräfte; sie könnten nicht so stark zu uns wirken, nicht uns das Dasein ungenügend machen, das uns bis dahin befriedigte, wären sie nicht Wirklichkeiten des tiefsten Grundes, kämpften wir nicht bei ihnen um den Gewinn eines geistigen Selbst und zugleich um einen Sinn und Gehalt unseres Lebens.

2. Zusammenfassungen und Ausblicke.

α. Der Sinn des Geisteslebens.

In drei Stufen sahen wir das Geistesleben seine Eigentümlichkeit entfalten. Über die Vereinzelung und Zerstreuung wuchs es hinaus zur Universalität und entwand sich zugleich dem kleinmenschlichen Getriebe; in Überwindung der Spaltung von Subjekt und Objekt errang es einen eigenständigen, einen souveränen Charakter; in Zusammenfassung der Unendlichkeit zu einem Selbst gewann es im eignen Bereich einen festen Grund und zugleich eine Weltüberlegenheit, wurde es autonomes Leben. Alles dies wirkt miteinander, stützt und erhellt sich gegenseitig, verbindet sich zu einem zusammenhängenden Bilde. Dies Bild aber entfernt sich weit von der üblichen Fassung des Geisteslebens. Denn dieser erscheint jenes Leben als von Haus aus an einzelne Punkte verstreut und erst später leidlich zusammengefügt, es erscheint zugleich als eine Eigenschaft und Betätigung eines dahinterliegenden Seins und daher auch als einer gegebenen Welt angehörig und nur mit dieser beschäftigt. Unserer Betrachtung hat sich das wesentlich umgestaltet. Deutlich wurde vor allem, daß Geistesleben nur als ein innerer Zusammenhang, nur als ein Leben aus dem Ganzen bestehen kann; nur die Teilnahme an diesem Ganzen verleiht den einzelnen Stellen einen geistigen Charakter; nun und nimmer kann die Welt, zu der sich das Geistesleben erweitert, durch Zusammensetzung entstehen. Dies Gesamtleben aber entsprang nicht aus einem dunklen Sein, sondern es erzeugte bei sich selbst einen Mittel- und Konzentrationspunkt, alle Begriffe vom Sein entstanden hier innerhalb des Lebens und erhielten aus ihm eine volle Durchleuchtung. So hatte denn auch der Lebensprozeß nicht eine Leistung nach außen hin zu verrichten, sondern er fand seine Aufgabe in sich selbst, in der Vollendung des eignen Wesens, die zugleich eine Überwindung und Aneignung alles dessen verlangte, was zunächst wie fremd und scheinbar feindlich draußen lag. In solcher Bewegung wurde nicht innerhalb einer gegebenen Wirklichkeit dieses oder jenes verschoben und verbessert, sondern es galt ein Ganzes der Wirklichkeit erst aufzubringen, und diese Wirklichkeit fühlte sich nicht als eine neben anderen, sondern als die abschließende Wirklichkeit, als das, was in strengerem Sinne allein Wirklichkeit zu heißen verdiene und daher nichts anderes außer sich dulden könne.

Dies Geistesleben mit seiner Wirklichkeit umfängt aber den Menschen nicht nur als seine Umgebung, es erlangt in ihm als Ganzes eine unmittelbare Gegenwart und wird damit in all seiner Unendlichkeit zu seinem eignen Leben und Wesen. Nur solches Innewohnen der geistigen Welt läßt verstehen, daß die geistigen Aufgaben direkt zum Menschen wirken, nicht durch die verfälschende Vermittelung seiner besonderen Zwecke hindurch, daß sich die Individuen bei aller Verschiedenheit zu einer inneren Gemeinschaft der Arbeit zusammenfinden, daß sich von aller bloßen Subjektivität ein selbständiges Innenleben, ein Reich der Innerlichkeit abhebt. So gewinnt der Mensch bei sich selbst ein kosmisches Leben; der Inhalt wie das Geschick des Ganzen kann nun unmittelbar seine eigne Sache werden. Demnach vollzieht sich eine große Umwälzung, die alle üblichen Begriffe bis zum Grund verwandeln muß.

So erweist sich das Geistesleben als ein selbständiger Lebenskreis, als eine eigne Welt und Wirklichkeit. Wie aber steht diese Welt, dieser Lebensprozeß, an dem wir teilgewinnen, zum All, und was bedeutet sie ihm? Gewiß erfassen wir sie nur innerhalb des Bereichs des Menschen, aber dieser Bereich braucht keineswegs einen geschlossenen Sonderkreis zu bilden, ganz wohl könnte in ihn sich unendliches Leben erstrecken, und etwas, das in ihm vorgeht, zugleich eine Bewegung des Alls bedeuten. Unsere Entscheidung darüber ist schon durch das Ganze der bisherigen Erörterung bestimmt, es gilt nur deutlich herauszuheben und vollauf anzuerkennen, was durch alle verschiedenen Stufen sich schon erwiesen hat. Denn durchgängig war das Geistesleben nicht ein Ausspinnen bloßmenschlicher Art, sondern das Aufnehmen eines harten Kampfes gegen diese, eine Befreiung von ihr als einer unerträglichen Enge; der Welt aber wurde nicht ein menschliches Gewand nur umgelegt, sondern sie sollte ihre eigne Tiefe erschließen, durch die Umsetzung in Geistesleben ihr eignes Wesen erreichen. Ohne das wäre die ganze Bewegung eine große Verfälschung und Irrung. So zeigen es auch die Hauptrichtungen der geistigen Arbeit. Eine Wahrheit mit der Einschränkung, nur für den Menschen zu gelten, wäre keine echte Wahrheit, sondern ein schillerndes Zwitterding; treibt doch zur Forschung vornehmlich das Verlangen, die Enge des bloßmenschlichen Vorstellungskreises zu durchbrechen und eine Gedankenwelt allgemeingültiger Art zu erringen. Auch zur Würde und Hoheit des Guten gehört, daß es alle menschlichen Zwecke zurückdrängen und den Menschen bei sich selbst über sich hinausheben kann.

Schließlich sei auch erwogen, daß das Geistesleben beim Menschen nun und nimmer gegen die Natur aufkommen könnte, wenn es dem bloßen Menschen angehörte. Denn die Natur umfängt uns als ein unermeßliches Reich von Kräften und Gesetzen, sie umfängt uns nicht nur von außen, sondern sie erstreckt sich tief in unsere eigne Seele mit tausendfacher und unablässiger Wirkung hinein. Wie könnte das Geistesleben, das bei uns doch erst aufzustreben hat, dem gewachsen werden, stünden wir nicht in inneren Zusammenhängen, und wirkte nicht gegenüber der nächsten Welt die Kraft einer neuen Welt?

Nach dem allen kann die Bewegung zur Geistigkeit keineswegs als ein Werk des einzelnen Punktes und des bloßen Menschen gelten, sondern sie ist eine Bewegung des Alls, die freilich an unserer Stelle unserer Aneignung bedarf, die aber zugleich uns in sich aufnimmt und aus uns etwas anderes macht. Wir sehen nun in der Bewegung zur Geistigkeit das Weltall selbst seine Tiefe finden und damit erst aus einem Reich der Beziehungen eine echte Wirklichkeit werden. Das Innenleben, sonst eine bloße Begleiterscheinung, gewinnt nun eine Selbständigkeit und entwickelt ein eignes Reich, eine Innenwelt. Der Gehalt dieser Welt erschöpft sich nicht in allgemeinen Begriffen wie Beisichselbstsein, Selbstbetätigung usw., sondern diese geben nur den Rahmen, innerhalb dessen allein die vordringende Lebenserfahrung die nähere Beschaffenheit zu entfalten vermag. Größen z. B. wie Gut und Schön sind eigentümliche Entfaltungen und Offenbarungen des Lebens, die eine unvergleichliche Individualität besitzen und in dieser aufzudecken sind. So bereitet das Geistesleben einen neuen Standort, der unbegrenzte Ausblicke eröffnet, es macht aus uns Entdecker und Eroberer, aber nicht einer fremden, sondern unserer eignen Welt.

LEIBNIZ meinte, kein Wesen könne bestehen ohne irgendwelches Fürsichsein, daher suchte er alle Wirklichkeit auf beseelte Monaden zurückzuführen. Ob der Gedanke in solcher Wendung zu den Einzelwesen richtig sei, darüber läßt sich streiten, nicht aber darüber, daß es keine echte Wirklichkeit gibt, ohne daß ein einheitliches Gesamtleben alle Mannigfaltigkeit durchdringt und zusammenhält. Ein Geschehen, das sich nicht darin begründet, wird ein bloßes Zwischengeschehen, etwas, das den Dingen nur nebensächlich anhängt und in raschem Fluge vorüberzieht. Erst ein Gesamtleben kann festhalten und verbinden, eine Selbstbetätigung der bloßen Tätigkeit entgegenhalten und damit ein Wesen erreichen, das nicht einem unzugänglichen Jenseits angehört, wie bei dem wissenschaftlichen Bilde der Natur, sondern das im Fortgang des Lebens immer klarer heraustritt und einen immer reicheren Gehalt gewinnt. Ein solches Wesen als beseelende Kraft des Lebens liegt nicht hinter uns, sondern vor uns, zu ihm als höchstem Ziel scheint die Bewegung des Alls jetzt gerichtet.

Solche Bewegung zum Wesen bewirkt im eignen Gebiet des Menschen eine Scheidung der Tätigkeit in leere und wesenhafte, in Kraftentfaltung und Selbstbetätigung. Augenscheinlich entsteht viel Tätigkeit, die nicht auf ein Ganzes des Selbst zurückgeht, sondern bloß Kräfte in Bewegung setzt; eine solche wesenlose Tätigkeit beherrscht das gewöhnliche Tun und Treiben. Aber es gibt auch eine Tätigkeit, in die sich das Ganze des Lebens hineinlegt, und durch die es zu wachsen vermag; nur solche Selbstbetätigung gibt dem Leben einen Halt und einen Sinn in sich selbst, nur sie erzeugt Größen wie Gesinnung und Überzeugung, die zugleich der bloßen Subjektivität und Passivität entwachsen. An solcher Selbstbetätigung gemessen, muß jene andere Tätigkeit als leer und haltlos erscheinen; es entsteht damit ein neuer Begriff der Wahrheit über die gewöhnliche, bloß intellektuelle Fassung hinaus, indem jetzt als wahr nur das Tun gilt, welches jenes Gesamtleben gegenwärtig hält, es ausdrückt und fördert, während alle Einzeltätigkeit, die sich davon ablöst und sich selbst genügen will, zur Unwahrheit herabsinkt. Die Hauptbewegung des Lebens, alle Gebiete umfassend und sich in jedem eigentümlich gestaltend, im besonderen auch dem Gegensatze der theoretischen und der praktischen Vernunft überlegen, wird damit das Streben, aus dem Stande der Unwahrheit, der uns zunächst umfängt, zu dem der Wahrheit vorzudringen; das Verlangen nach Wahrheit und Wesenhaftigkeit wird damit zur Haupttriebkraft des geistigen Lebens; wie im Gebiet der Natur, so ist es auch hier das Verlangen nach Selbsterhaltung, das alle Bewegung beherrscht, aber nach Selbsterhaltung in einem völlig anderen Sinne.

Mit allen diesen Wandlungen ist unser anfängliches Problem in eine neue, weit aussichtsvollere Lage getreten. Die Bewegung zu einer naturüberlegenen Stufe, die als eine Sache des bloßen Menschen scheitern mußte, hat sich nun von ihm abgelöst, ohne doch die Verbindung mit ihm zu verlieren. Sie arbeitet nun mit eignen Größen und Kräften; für ihn aber liegt alles daran, an jenem überlegenen Leben teilzugewinnen. Auch das enthält der Gefahren genug, aber solcher Gefahren, denen sich entgegenwirken läßt, die daher nicht von vornherein abschrecken können. – Sehen wir nun etwas näher, wie jene Wandlung den Anblick der Welt und die Aufgabe des Lebens umgestaltet.

β. Das Weltbild.

Unser Hauptgedanke von einem Selbständigwerden, einem Zusichselbstkommen aller Wirklichkeit im Geistesleben stößt mit dem gewöhnlichen Weltbilde hart zusammen und muß ihm gegenüber eine eingreifende Umwandlung fordern. Denn dort gilt die sichtbare Welt als die Hauptwelt, und was sich an Innenleben findet, das dünkt nur eine gelegentliche Begleiterscheinung, die nichts Neues aufzubringen vermag; nach unserem Gedankengange hingegen erschließt sich erst in der Innenwelt der Kern der Wirklichkeit und wird alles übrige zur bloßen Umgebung oder Vorbereitung; so gilt es die gewöhnliche Betrachtung vollständig umzukehren, und die Frage wird unabweisbar, ob sich das gegenüber dem überwältigenden Eindruck der Außenwelt durchsetzen kann? Es kann das natürlich nur für den Standort des Denkens, es kann das nur, wenn das Innenleben seiner Selbständigkeit bewußt geworden ist und von ihr aus die Arbeit aufnimmt; dann ist allerdings auf der Forderung zu bestehen, nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen zu sehen und zu erklären, dann vollzieht sich für das Ganze der Gedankenwelt eine Umkehrung von einem ptolemäischen zu einem kopernikanischen Standort.

Selbständiges Innenleben ist da; wäre es auch – was höchst unwahrscheinlich – in der ganzen Weite unseres Weltalls nirgend anders als beim Menschen vorhanden, es bedeutet doch eine Welttatsache, erscheint doch in ihm gegenüber der bloßen Natur eine Tiefe der Wirklichkeit. Von hier aus mag die ganze Natur ein großer Widerspruch dünken. Ihre unermeßliche Lebensfülle dringt nirgends zu einem Selbstleben vor, so stellt sie sich, allein für sich betrachtet, als leer und sinnlos dar. Wohl quillt auch in der Natur bei der Wendung zur tierischen Stufe Seelenleben in Hülle und Fülle auf, aber dies tierische Seelenleben steigert den Widerspruch eher, als daß es ihn minderte. Denn dies Seelenleben, dem übrigens auch der größte Teil des menschlichen Daseins angehört, bleibt gebunden an den Mechanismus der Natur, es entwickelt ihm gegenüber keine selbständige Art. Soweit wir sehen, dient alle seelische Leistung dieser Stufe lediglich der Selbsterhaltung der Individuen und zugleich der Arten im Kampf ums Dasein. So läßt sich hier ganz wohl die seelische Leistung durch eine physische ersetzen: was den einen Wesen eine höhere Intelligenz oder ein engeres Zusammenhalten der Individuen gewährt, das gewährt anderen die Stärke des Körperbaus, die Schnelligkeit der Bewegung usw. Nirgends erreicht hier das Innenleben eine Selbständigkeit und bildet es ein eignes Reich, nirgends vermag es der Umgebung gegenüberzutreten und sie als ein Ganzes zu überschauen, sowie als ein solches zu behandeln, vielmehr bleibt dies Leben zerstreut und gebunden, ein bloßes Stück einer andersartigen Welt, leer inmitten aller Leidenschaft des tierischen Lebensdranges. Wenn nun – nicht beim Menschen an sich, aber doch innerhalb des Bereiches der Menschheit – eine Aufhellung und Befreiung erfolgt, wenn hier das Innenleben selbständig wird und eine Tiefe des Daseins eröffnet – daß das von verschwindenden Anfängen her und in sehr langsamem Aufstieg geschieht, ändert an der Hauptsache nicht das Mindeste –, so kann die Natur nicht mehr das Ganze der Wirklichkeit, sondern sie kann nur noch eine besondere Stufe bedeuten, eine Stufe, über die sich der Weltprozeß zu einem Beisichselbstsein hinausarbeitet.

Dies Neue ist viel zu eigentümlich, es enthält viel zu viel Verwandlung und Umkehrung, als daß es als eine bloße Weiterbewegung der Natur zu verstehen wäre; es muß ein der Natur überlegenes Weltleben sein, das in ihm hervorbricht, ein Weltleben, das auch die Natur umfaßt, das aber über sie hinaus eine neue Stufe der Selbstvollendung erklimmt. In solchem Zusammenhang erscheint das Geistesleben nicht bloß als Ergebnis, sondern auch als schaffender Grund; Ziel und Höhe des Weltprozesses kann es nur sein, wenn es auch seine Grundlage und Voraussetzung bildet, wenn das, was zunächst als Ergebnis erscheint, irgendwie von Anfang an durch die ganze Bewegung hindurchwirkt. Eine Kraft des Ganzen muß von vornherein tätig sein, wenn die Mannigfaltigkeit sich zum Ganzen zusammenfinden und in solcher Verbindung so wesentlich erhöhen soll; wie könnte ein All, das von Haus aus seelenlos wäre, ein selbständiges Innenleben erzeugen? Natur und entwickelter Geist werden damit zu Stufen eines Weltprozesses, der über das Nebeneinander der Natur mit seinen bloßen Beziehungen zu einem Gesamtleben fortgeht, in dem die Kluft zwischen dunklem Sein und wesenlosem Geschehen überwunden und im Lebensprozeß selbst ein Wesen entwickelt wird. Zugleich kann das Allleben nicht mehr ein Strom sein, der ins Unbestimmte dahinwallt und den niemand erlebt; indem sich Anfang und Ende zusammenfassen, ergibt sich eine Überlegenheit gegen die Bewegung und erscheint ein Ewiges als die Grundlage alles dessen, was in der Zeit geschieht. Das allein ergibt einen Standort, der Wahrheit, ja selbst ein Streben nach Wahrheit erst möglich macht; als die unerläßliche Voraussetzung alles Strebens nach einer Innenwelt erweist sich hier ein kosmisches Innenleben, mag uns alle nähere Vorstellung davon versagt sein. Aber wer das Gedankenreich der Menschheit auf das Vorstellbare einschränkt, der hat auf Erkenntnis und Wahrheit von vornherein zu verzichten.

Die Anerkennung eines solchen kosmischen Innenlebens bedeutet keineswegs eine Einführung innerer Kräfte und Bewegungen in das Gebiet der Naturforschung; mit Recht verwirft diese das als eine unliebsame und gefährliche Störung ihrer Arbeit. Wohl aber besagt jene Anerkennung, daß die Forschung mit ihren Mitteln nicht die ganze Tiefe der Natur erschöpft. Die höhere Stufe kann jetzt auf die niedere Licht zurückwerfen; sie tut das z. B., indem sie in philosophischer Betrachtung das Grundgefüge der Natur untersucht und zwischen ihm und der geistigen Organisation irgendwelche Verbindung herstellt; sie tut es ferner, indem sie im Schaffen und Schauen der Kunst ein inneres Leben der Dinge ahnen läßt. Grundtatsachen des Naturlebens, die sonst selbstverständlich dünkten, werden nun zum Problem und wirken zur Vertiefung des Gesamtanblicks, so die durchgehende Gleichförmigkeit des Grundgeschehens, die Wechselwirkung der Elemente, das Aufkommen von Gestalten mit seinem allmählichen Aufstieg. Vermengen wir nirgends exakte und spekulative Betrachtung, lassen wir aber auch dieser ihr Recht.

In solchem Zusammenhange ergibt sich zwischen Natur und Geist ein eigentümliches Verhältnis, ein Verhältnis des Gegensatzes sowohl als der Verbindung. Zunächst des Gegensatzes. Denn wo Natur und Geist so zueinander stehen, wie es sich aus unserer Betrachtung ergab, die ein gebundenes und ein selbständiges Leben deutlich voneinander scheidet, da können unmöglich die geistigen Größen einfache Steigerungen der natürlichen sein, da wird auch die Fassung unzulänglich, welche unsere klassische Literaturepoche beherrschte, daß auf der höheren Stufe das Bilden und Gestalten – denn so verstand man das Leben – nur zu voller Bewußtheit und damit zu größerer Freiheit gelange, während es auf der niederen unbewußt und gebunden geschehe. Denn dabei scheint das Geschehen hier und dort nur durch die Höhe der intellektuellen Leistung unterschieden; bei uns dagegen greift der Unterschied über den Intellekt hinaus in das Ganze, das Reich der Beziehungen und das des Gesamt- und Selbstlebens treten uns weiter auseinander. So müssen die Größen hier und dort, welche die übliche Vorstellung und auch die Sprache leicht zusammenrinnen läßt, vor allem deutlich geschieden und gegeneinander abgegrenzt werden; es gilt einen unablässigen Kampf gegen die Vermengung, aus der leicht eine Erschlaffung hervorgeht. Daher kann auch der Fortgang vom einen zum andern nicht ein ruhiges und sicheres Wachstum sein, wie eine pantheistische Entwicklungslehre ihn versteht, sondern das Höhere muß sich zunächst losreißen, entgegensetzen und bei sich selbst befestigen, dann erst kann es zum Niederen zurückkehren und in ihm eine Verwandtschaft suchen. Denn die Sache darf allerdings nicht bei dem vollen und schroffen Gegensatz verbleiben, wenn das All nicht auseinanderfallen soll. Auch die Natur muß irgendwie den Zielen dienen, die im Geistesleben deutlich erhellen, die gewaltige Aufrüttelung der Kräfte, die sich in ihr vollzieht, muß irgendwie auch die Entfaltung des Selbstlebens fördern, der Aufstieg in ihr zu einer Vorbereitung und Annäherung wirken; so entstehen Berührungs- und Durchbruchspunkte, wo das Niedere unmittelbar in das Höhere überzugehen scheint. Nur hat solche Anerkennung einer Kette des Lebens die Selbständigkeit des Höheren zu wahren, und darf ein Entgegenkommen der niederen Stufe nicht als ein Hervorbringen der höheren verstanden werden.

Der Gesamtanblick zeigt im Verhältnis beider Reiche mehr Verwicklung und mehr Unsicherheit als die pantheistische Überzeugung des modernen Kulturlebens zugesteht, aber er zeigt auch mehr Spannung und mehr eigne Tat. So läßt er mehr Bewegung und auch mehr Tiefe gewinnen.

γ. Die Stellung des Menschen.

Auch die Stellung des Menschen verändert sich wesentlich, wo alle Größe und alles Gelingen seines Lebens von der Teilnahme an einem übermenschlichen Geistesleben abhängt. Zunächst erscheint er stark gegen die übliche Fassung herabgesetzt. Pflegten wir bei ihm den Scheidepunkt der Welten anzunehmen und ihm in seiner eignen Natur einen unvergleichlichen Wert beizumessen, so wird das nun hinfällig. Denn das Neue und Höhere liegt in dem Geistesleben, als der Eröffnung einer selbständigen Innenwelt, nicht in dem Menschen als solchem. Lange, lange Zeiten verläßt er kaum den Bereich der Natur, und wenn schließlich Geistesleben bei ihm erscheint, so ist es nicht sowohl sein eignes Werk als die Mitteilung jener überlegenen Stufe. Wenn sich ferner Geistesleben im Bereich des Menschen entwickelt, so wird keineswegs dieser ganze Bereich dafür gewonnen. Vielmehr verbleibt die niedere Art, leistet hartnäckigen Widerstand und zieht das Geistesleben zu sich herab; so wird der Durchschnittsstand der einer Halbgeistigkeit, dem eben das Große und Eigentümliche des Geisteslebens fehlt. Solche schärfere Scheidung des Menschen vom Geistesleben stellt auch die einzelnen Aufgaben in eine neue Beleuchtung und steigert überall die Spannung der Arbeit. So darf z. B. nun und nimmer die Moral als eine natürliche Eigenschaft des Menschen gelten; was das Durchschnittsleben davon aufweist, erhebt sich nicht weit über die tierischen Triebe; echte Moral mit ihrer Verlegung des Schwerpunkts des Lebens ist grundverschieden davon; sie aber wird erst möglich vom Geistesleben aus, und der Aufstieg zu ihr bleibt eine fortwährende Aufgabe, die nur zum kleinsten Teile gelingt. So erfolgt durchgängig die entscheidende Wendung innerhalb des Menschenlebens, nicht schon mit seinem ersten Erscheinen.

Das alles besagt ohne Zweifel eine Demütigung des Menschen als bloßen Menschen. Aber der Herabsetzung entspricht eine Erhöhung, insofern sich ihm die Möglichkeit des Teilhabens an einer neuen Stufe der Wirklichkeit und zugleich an einem Gesamtleben eröffnet, das über den Verwicklungen des menschlichen Kreises liegt. Nun kann alles, was das Geistesleben auszeichnet: die Universalität, die Souveränität, die Autonomie, auch zum Besitze des Menschen werden, der zu ihm vordringt; nun können die geistigen Inhalte sich abheben von der bloßmenschlichen Lebensform; nun läßt sich der Anthropomorphismus, der die ganze Wirklichkeit zum Abglanz menschlicher Gedanken, Gefühle, Bestrebungen machte, wenn auch nicht einfach vertreiben, so doch von einem überlegenen Standort bekämpfen; überhaupt kann der Mensch sich nun dem Bloßmenschlichen entwinden, im eignen Kreise Welterfahrungen machen, mit dem eignen Wirken den Stand der Welt verändern. Vom Geistesleben, nicht vom Menschen her, sind nun alle Aufgaben anzugreifen und alle Gebiete zu gestalten. Als geistige sind sie, z. B. Recht und Moral, Kunst und Wissenschaft, nicht Entwicklungen des bloßen Menschen, sondern Entwicklungen des Geisteslebens beim Menschen. So muß sich von hier aus auch das religiöse Problem wesentlich umgestalten, indem es sich bei ihm jetzt nicht um die Erhaltung des bloßen Menschen, sondern um die Erhaltung seiner geistigen Art, um die Erhaltung des Geisteslebens beim Menschen handelt.

Auch das Leben als Ganzes erhält einen eigentümlichen Charakter dadurch, daß seine Hauptbeziehung, sein Grundverhältnis nunmehr das zum Geistesleben wird. Diese Eigentümlichkeit erhellt namentlich durch Vergleichung mit den geschichtlich überkommenen Lebenstypen. Der religiöse Typus, den wir empfingen, gab dem Leben die Hauptbeziehung zu Gott und ließ alle Gebiete in die Religion einmünden; es kam eine Zeit, die das als zu eng empfand, jene Grundbeziehung selbst aber ins Unsichere geraten ließ. Indem das Leben sich darauf vom Jenseits zum Diesseits wandte, schied es sich in zwei Hauptarten, die kosmische und die soziale. Dort sollte vornehmlich die Kraft des Intellekts die Tiefen der Welt eröffnen und dadurch das ganze Dasein erweitern; hier galt es ein Ausbilden der Beziehungen zur menschlichen Umgebung, einen engeren Zusammenschluß, ein kräftigeres Zusammenwirken der Menschheit; das sollte mehr Wärme in die Gesinnung und mehr Vernunft in die menschlichen Verhältnisse bringen. Eine energische Verfolgung beider Richtungen hat Großes erreichen lassen, aber keine von ihnen befriedigt den ganzen Menschen, und unmittelbar zu verbinden sind sie nicht; die kosmische Lebensführung droht bei ihrer Weite kalt und leer, die soziale bei ihrer Nähe und Wärme eng und dumpf zu werden. Alle diese Lebensführungen aber leiden an dem Mangel, daß die Grundbeziehung nicht innerhalb des eignen Lebens liegt, sondern über es hinausweist; nur bei der Richtung auf das Geistesleben befindet sich der Lebensprozeß auch in dem Aufstreben bei sich selbst, denn er geht ja auf nichts anderes als auf das eigne innerste Wesen des Menschen. Zugleich wird hier ein umfassender Grundprozeß gewonnen, von dem aus sich die Beziehung zu Gott, zur Welt, zur menschlichen Gesellschaft zu begründen und zu gestalten haben, von dem aus sich auch eine Gegenwirkung gegen einseitige Bildungen aufnehmen läßt. So allein findet der Mensch in sich etwas, was zugleich über ihm ist, etwas, das sein ganzes Leben aufzurütteln und in Bewegung zu setzen vermag.

Ist doch durchgängig hier das, worin wir das eigenste Wesen des Menschen erkennen, von seinem unmittelbaren Dasein aus angesehen ein fernes Ziel. Und da im Menschen verschiedene Stufen der Wirklichkeit, verschiedene Welten zusammentreffen, so bedarf es einer Entscheidung seinerseits. Nur liegt solche Entscheidung nicht in einzelnen Entschlüssen und Taten, sondern sie geht durch das ganze Leben. Auch ist sie nicht so zu verstehen, daß dem einzelnen Punkte verschiedene Welten von draußen her sich zur Wahl anbieten, und er von sich aus beliebig diese oder jene Entscheidung treffen könnte. Denn ohne daß das Gesamtleben des Alls an der einzelnen Stelle wirksam ist, ist sie der neuen Stufe nicht zu gewinnen. Aber so rätselhaft das ist, es schließt dies Wirken des Ganzen die Belebung und eigne Entscheidung des Punktes keineswegs aus, sondern es vollzieht sich die Bewegung des Alls nur durch unsere Aneignung hindurch, nur durch eine freudige Bejahung dessen, was zu uns gehört, aber ohne unsere Anerkennung nicht voll unser eigen wird. Werden wir damit zu freien Mitarbeitern, ja zu Mitträgern des Alls berufen, so gewinnt unser Leben von Grund aus einen ethischen Charakter, das Ethische selbst aber den Sinn der Ergreifung des Geisteslebens als unseres wahren Wesens, eines Aufsteigens des Menschen zu seiner eignen Höhe und Unendlichkeit; es ist dann nicht mehr ein besonderes Gebiet, sondern es umfaßt den ganzen Umfang des Lebens und stellt überall das Handeln vor ein Entweder – Oder. Zugleich fällt der starre Determinismus, ohne daß die Entscheidung auf den Zufall des Augenblicks gestellt wird. Denn der Determinismus erscheint nur als sicher und selbstverständlich, weil er den Menschen einer einzigen Weltordnung einfügt und von ihr vollständig umfangen sein läßt. Denn das legt allerdings sein Handeln für alle Folge fest und nimmt dem Leben alles Entscheiden. Das Zusammentreffen zweier, einander unvergleichlicher Welten gibt der Sache ein anderes Licht, nun vermag sich das Leben seiner Gesamtrichtung nach in freie Tat zu verwandeln und damit allererst eine wahrhaftige Gegenwart zu gewinnen.

Daß sich aber bei unserer Fassung das Geistesleben aus einem vermeintlichen Besitz in ein schweres Problem verwandelt, das stellt nicht nur die Hauptrichtung des Lebens auf eigne Tat, das macht auch die nähere Beschaffenheit des Geisteslebens zu einer Sache unsäglicher Arbeit, das ergibt allererst eine wahrhafte Geschichte für die Menschheit wie für den Einzelnen. Geistesleben ist uns nicht eine bloße Lebensform, die ein rascher Entschluß leicht aneignen könnte, sondern es gilt hier eine neue Wirklichkeit als die allein echte zu erringen und den ganzen Umfang des Lebens in sie hineinzuziehen; jedes einzelne Gebiet hat sich damit umzugestalten. So wird die Aufgabe groß und schwer, aber erst mit ihr gewinnt die geschichtliche Arbeit eine Seele. Wir Menschen befinden uns nicht von vornherein in geistigen Zusammenhängen und damit auf sicheren Wegen, sondern überall gilt es die Hauptrichtung erst zu suchen, zu suchen durch mühsame Erfahrung und oft schwere Irrung hindurch. Vor allem muß sich aus der anfänglichen Zerstreutheit irgendwelcher Lebenszusammenhang, irgendwelches beherrschende Ziel herausheben; es sind das Vorstöße, man könnte sagen Hypothesen des Lebens, voll Wagnis und Gefahr, aber unentbehrlich, weil nur so das Leben als Ganzes in Fluß kommt, nur so Fragen über das Ganze möglich werden, nur so Erfahrungen vom Ganzen entstehen und sich eine Prüfung am Gesamtbestande des Lebens vollziehen kann. Von diesem her mögen Widerstände kommen, die Bewegung hemmen und in andere Bahnen drängen. Dann mögen sich neue Lebenskonzentrationen bilden und einen neuen Aufbau der Wirklichkeit unternehmen. Dabei wächst aber nicht – sei es durch ruhigen Fortgang, sei es durch eine Spirale gegenläufiger Bewegungen – das eine aus dem andern mit sicherer Notwendigkeit hervor, und es fügt sich nicht wie beim Bau einer Pyramide das eine leicht zum anderen, sondern immer wieder greift der Zweifel und die Erschütterung in das Ganze zurück, immer wieder ist um das Ganze zu kämpfen; was aber an geistigen Zusammenhängen möglich, das scheint uns nicht aus vorgefundener Lage entgegen, sondern das kann nur aus unserer eignen Arbeit entspringen. In dieser Weise zu einem Kampf um den Inhalt des Geisteslebens kann aber die Geschichte nicht werden, ohne daß der Hauptstandort des Lebens sich über die bloße Folge der Zeiten hinaus in eine zeitlose Ordnung verlegt; die Forderung des sub specie aeternitatis gilt nicht nur für das Erkennen, sondern an erster Stelle für das Ganze des Lebens. Das Geistesleben könnte in der Geschichte nicht sich selbst, die Herausbildung seines eignen Wesens suchen, wäre es nicht in seinem Kerne übergeschichtlicher Art. Die Zeit wird etwas Gespenstisches und alles Leben in ihr bloßer Schein und Schatten, wenn ihr die Grundlage der Ewigkeit fehlt, wenn sich aus ihrem Wechsel und Wandel nichts heraushebt zu einem ewigen Sein, sondern alles an dem dünnen Faden einer flüchtigen Gegenwart hängt und nach dem Aufleuchten im Augenblick sofort in den Abgrund des Nichts dahinsinkt; alles Leben wäre dann ein bloßes Hervorgehen zu raschem Sterben. Daher ohne Ewigkeit keine Geistigkeit, kein Zusammenhang, kein Inhalt des Lebens. Aber das seinem Wesen nach Zeitüberlegene wird für den Menschen, welcher der Geistigkeit erst zu gewinnen ist, eine unermeßliche Aufgabe, die nur auf dem Boden der Zeit sich angreifen läßt; auch was an Ewigem in uns wirkt und uns an Ewigem vorschwebt, kann nur durch die Bewegung der Zeit hindurch uns zu vollem Besitze werden. Diese Bewegung hemmen und den Lauf der Zeit anhalten wollen, wie es starre Gläubigkeit tut, das heißt nicht der Ewigkeit dienen, sondern der Zeit beilegen, was allein der Ewigkeit gebührt.

Wir sehen demnach unsere Fassung des Geisteslebens die Bedeutung und die Spannung der Geschichte erheblich steigern, das aber immer nur unter Voraussetzung einer ewigen Ordnung, von der aus die Geschichte erlebt wird. Die volle Hingebung an die Geschichte als an unseren einzigen Lebenskreis wird hier zu einer inneren Zerstörung; bei aller Bedeutung kann die Geschichte, dieser Schauplatz des Kampfes um ein Geistesleben, stets nur das Zweite, nie das Erste sein. Aber an zweiter Stelle wächst sie beträchtlich dadurch, daß sie nicht die Fortführung eines gegebenen Fadens, sondern einen Aufstieg zu einem neuen Leben bedeutet, und daß es bei diesem Leben sich nicht um die Entwerfung bloßer Umrisse, sondern um den Aufbau einer vollen Wirklichkeit handelt. Was aber so von der Menschheit gilt, das gilt auch von jedem Einzelnen: auch sein Leben enthält eine durchgehende Aufgabe und eigne Entscheidung, auch ihm fallen Größen wie Persönlichkeit und geistige Individualität nicht einfach zu, sondern sie wollen in innerer Erhöhung des Lebens mühsam errungen sein; auch er wird allen diesen Bewegungen einen geistigen Charakter nur geben und wahren können, wenn er einen Standort über der bloßen Zeit erreicht und von ihm aus durch alle bunte Mannigfaltigkeit der äußeren Lagen und Aufgaben hindurch vor allem sich selbst, sein eignes Wesen sucht.

δ. Konsequenzen für Methode und Lebensarbeit.

Geistiges Leben kann sich im Menschen nicht entwickeln, ohne daß sich auch im inneren Gewebe seines Lebens bedeutende Wandlungen vollziehen und zugleich neue Betrachtungsweisen notwendig werden. Wir verfolgen diese Veränderungen hier nur so weit, als es das religiöse Problem verlangt, dem diese Arbeit zugewandt ist.

Die Wissenschaft kann, was an Geistesleben im Menschen vorgeht, nicht ergreifen ohne eine neue Methode auszubilden und sie gegen andersartige abzugrenzen. Es ergibt sich aber solche Doppelheit aus der eigentümlichen Art, wie sich Geistigkeit im menschlichen Bereich entwickelt. Sie tut das nämlich unter den Bedingungen und mit den Kräften des empirischen Seelenlebens. Aber nun und nimmer ist sie ein bloßes Erzeugnis des empirischen Seelenlebens. Denn wie dieses körperlich gebunden, an die Individuen verstreut, in unablässigem Wandel begriffen ist, so gelangt es aus eignem Vermögen nie zu einer zusammenhängenden Welt, nie zu einer beharrenden Wahrheit, ohne die es doch kein geistiges Leben, noch geistige Inhalte gibt. Das Geistesleben lediglich auf das seelische Dasein stellen, das heißt es von Grund aus zerstören. Das Geistesleben muß aber nicht nur eine Selbständigkeit und einen Selbstwert von Haus aus besitzen, es muß sie auch behaupten, wenn es sich unter den Bedingungen des empirischen Seelenlebens entwickelt, es muß eine unerschütterliche Natur aller Besonderheit und Zufälligkeit des menschlichen Seelenlebens entgegenhalten. Zugleich wirkt jedoch unbestreitbar bei uns die Geistigkeit anfänglich nur als eine unbestimmte und schwache Potenz, sie muß die eigne Natur, die einerseits die Grundlage bildet, andererseits erst finden, sie kann sie aber nur finden in Auseinandersetzung mit jenem seelischen Bestande, in dem Gewinn seiner Kräfte für die höheren Zwecke. Jenen Bestand ruhig liegen lassen, das heißt sich mit einer blassen und matten Geistigkeit begnügen. So ist beides deutlich zu scheiden und zugleich in lebendiger Beziehung zu halten.

Dieser Zweiseitigkeit des Lebens muß eine zwiefache Methode entsprechen, sie sei als eine noologische und eine psychologische bezeichnet. Noologisch erklären das heißt eine besondere geistige Betätigung dem Ganzen des Geisteslebens einordnen, seine Stellung und Aufgabe in ihm ermitteln, es durch solche Einfügung in das Ganze durchleuchten und auch im eignen Vermögen stärken; psychologisch erklären dagegen heißt untersuchen, wie der Mensch zur Erfassung und Aneignung geistiger Inhalte und überhaupt des Geisteslebens gelangt, mit welchen seelischen Hilfen dieser Inhalt herausgearbeitet, wie das Streben des Menschen dafür geweckt, seine Kraft dafür gewonnen wird. Hier gilt es von einem kaum merklichen Anfangsstande auszugehen und Schritt für Schritt die Wege des Aufstiegs zu ermitteln; so wird die psychologische Methode zugleich eine psychogenetische. Beide Methoden so weit zu scheiden, daß die Betrachtungen nicht zusammenrinnen, und sie so aufeinander zu beziehen, daß sie sich fruchtbar ergänzen, das ist die Hauptbedingung einer glücklichen Behandlung dieser Fragen.

Solche Scheidung und Verbindung der beiden Methoden und der ihr entsprechenden Wirklichkeiten macht es möglich, den alten Gegensatz von Idealismus und Realismus sowohl zu verstehen als innerlich zu überwinden. Daß die geistigen Inhalte eine Selbständigkeit und einen Selbstwert gegenüber dem Menschen besitzen, daß sie ihn mit überlegener Kraft zu sich heranbilden, nicht bloße Mittel zu seinem Wohle sind, das ist die Grundwahrheit des Idealismus. Die noologische Methode bringt diese Wahrheit zur vollen Anerkennung. Der Realismus aber hat sein Recht in der Hervorkehrung der eigentümlich menschlichen Seite des Lebens mit ihrer Zerstreuung, ihrer Gebundenheit, ihrem vorwiegenden Naturcharakter. Von hier aus angesehen erscheint als die erste Forderung, daß das Leben aus der trägen Ruhe und stumpfen Gleichgültigkeit des Anfangs überhaupt herausgerissen werde und in Fluß gerate; dazu aber ist für den Menschen vieles unentbehrlich, was vor der geistigen Wertschätzung nicht bestehen kann, was ihn aber wie er ist in Bewegung zu setzen vermag; so die Sorge für die äußere Existenz, die Scheidung in Parteien, der Ehrgeiz usw., so in einer anderen Richtung der Mechanismus des Seelenlebens mit seiner Assoziation, Reproduktion usw. Diese Triebkräfte würden freilich aus eignem Vermögen nie einen geistigen Inhalt erzeugen; er ist nur erreichbar, wenn die Bewegung des Lebens den Menschen über die Anfangsleistung und die Anfangsmotive hinaushebt. Das aber vermag kein Mechanismus weder der Seele noch der Gesellschaft, sondern nur eine dem Menschen innewohnende Geistigkeit. Bei solcher Fassung sind Realismus und Idealismus nicht mehr unversöhnliche Gegner, sondern Seiten eines umfassenden Lebens; das eine vermag mit dem anderen, nicht auf seine Kosten, zu wachsen. Je mehr Gehalt das Geistesleben gewinnt, desto mehr wird auf der Seite des seelischen Daseins nötig, und je mehr wir uns in die Erfahrung versenken, desto größer erscheint die Überlegenheit des Geisteslebens.

Neu ist die noologische Methode nur der Zusammenfassung und dem Namen nach, tatsächlich verwandt wurde sie überall, wo eine logische, eine ethische, eine ästhetische Behandlung von der empirischpsychologischen unterschieden wurde, wie das namentlich durch KANT und seit KANT mit voller Klarheit geschehen ist; die Zusammenfassung aber ist unentbehrlich, weil sich keine Selbständigkeit einzelner Gebiete behaupten läßt ohne eine Selbständigkeit des Geisteslebens als eines Ganzen. Diese aber gelangt zum Ausdruck in der noologischen Methode. Sie ist durchaus verschieden von dem älteren Verfahren einer ontologischen Metaphysik. Diese nämlich suchte die Erscheinungen durch Weltbegriffe verständlich zu machen, welche aus freischwebender, daher starksubjektiver Theorie gewonnen wurden; es war ein Deuten mit Hilfe abstrakter Begriffe, meist zum Schaden eines lebendigen Inhalts und der Fülle der Wirklichkeit. Die noologische Methode dagegen versteht das Besondere aus einem es umfassenden und begründenden Ganzen des Lebens; das Erklärungsprinzip wird nicht von draußen herangebracht, sondern es ist innerlich gegenwärtig oder läßt sich doch zu innerer Gegenwart bringen, es ist letzthin, bei aller Vermittlung durch Freiheit, eine Tatsache und eine Erfahrung. Damit wird nicht nur ein höherer Grad der Sicherheit gewonnen, sondern die Verknüpfung mit dem Ganzen muß auch zur inneren Belebung und Vertiefung, sowie zu schärferer Ausprägung der Eigentümlichkeit führen. So müßte auch die Begründung der Religion an erster Stelle nicht spekulativer, sondern noologischer Art sein; die psychologische Ableitung kommt erst an zweiter Stelle.

Es ist aber das Geistesleben nicht nur schärfer vom empirischen Seelenleben abzuheben, auch innerhalb seiner bedarf es einer Scheidung. Denn im Geistesleben erkannten wir ein Gesamtleben, eine Welt; dabei verläuft unser unmittelbares Leben in lauter einzelnen Akten, als ein Nacheinander einzelner Vorgänge und Betätigungen; so scheint es von aller echten Geistigkeit ausgeschlossen. Diesen Widerspruch überwinden kann nur eine innere Abstufung des Lebens: im einzelnen Akte muß ein Ganzes gegenwärtig sein können, er aber einen völlig anderen Charakter erhalten, je nachdem solche Gegenwart stattfindet oder nicht. Zugleich wäre dann das Leben hinter die Fläche der einzelnen Vorgänge zurückzuverlegen; was nur im Einzelnen greifbar wird, das muß darüber hinaus irgendwie vorhanden, wirksam und auch zugänglich sein. Jene Möglichkeit aber findet sich in Wahrheit und erscheint in deutlichen Wirkungen. Nur die Gegenwart eines Ganzen läßt den einzelnen Gedanken zum Ausdruck einer Weltanschauung, die einzelne Handlung zum Ausdruck eines moralischen Charakters werden, nur eine fortlaufende Einbildung eines überlegenen Gedankens in den Stoff ergibt eine systematische Ordnung ganzer Gebiete. Jene Gegenwart des Ganzen im Einzelnen kann sehr verschiedene Grade haben, groß aber sind nur die Denker, deren Gesamtart in jede einzelne, auch die kleinste Leistung hineinreicht, groß nur der moralische Charakter, der sich in jeder einzelnen Handlung ausprägt. So scheiden sich im Leben Substanz und Existenz, Substanz nicht als ein unzugängliches Sein, sondern als ein Kern des Lebensprozesses selbst, auch nicht als etwas ein für allemal Abgeschlossenes, sondern als etwas, das erst in der Bildung begriffen und einer Veränderung fähig ist. Denn die Entwicklung, in der sich überhaupt beim Menschen das Geistesleben befindet, erstreckt sich auch in jene Substanz, ja das gibt dem Leben seine Hauptspannung, daß in seinen Bewegungen auch um die Substanz gekämpft wird; die ersten Leistungen sind bloße Versuche, welche die Probe der Erfahrung erst zu bestehen haben und durch sie zwingend zu einer Fortbildung, ja Umwandlung getrieben werden können. Solche Prüfung und Erfahrung bedarf aber der Entfaltung zu einzelnen Tätigkeiten; so ist die Substanz für sich selbst auf die existente Seite des Lebens angewiesen. Um aber für jene Aufgabe etwas leisten zu können, muß diese eine gewisse Unabhängigkeit auch gegenüber der Substanz besitzen; wäre sie nichts anderes als ihr unmittelbarer Ausdruck, so bliebe das Leben für immer an einen einmal erreichten Stand gebunden, es könnte nie sich selber zum Probleme werden, nie die Beweglichkeit erlangen, ohne die es für den Menschen mit seiner Unfertigkeit kein Weiterkommen gibt.

So wiederum eine Doppelseitigkeit des Lebens, die eine unablässige Aufgabe und zugleich einen Keim von Verwicklungen entgegengesetzter Art in sich trägt. Was an Substanz im Leben steckt, ist immerfort in Tätigkeit umzusetzen und durch Tätigkeit zu entfalten; die freischwebende Tätigkeit aber bedarf einer Zurückbeziehung auf die Substanz, um nicht ins Vage zu fallen. Sowohl das individuelle als das gemeinsame Leben zeigen Abirrungen davon in entgegengesetzter Richtung. Menschen und Zeiten können ihr Leben lediglich in eine Bewegung, ein Spiel freischwebender Kräfte verwandeln, ohne auf einen Grundstock zurückzugreifen oder einen solchen auch nur zu erstreben. Dann entstehen jene hohlen Menschen, die in aller Gewandtheit und Geschäftigkeit keine Naturen, sondern nur Existenzen, ja bloße Kreaturen der Umgebung sind, dann jene Zeiten, denen in überströmender Fülle von Anregungen und Betätigungen ein geistiger Grundstock fehlt, und die solchen Mangel an Gehalt durch immer neue Variationen und Kombinationen freischwebender Tätigkeit vergeblich zu ersetzen suchen.

Aber auch das Gegenteil ist möglich: eine vorhandene Substanz kommt nicht zu kräftiger Entfaltung und wird daher dem Menschen nicht zum Vollbesitz. So bei Individuen, so auch bei Zeiten. Nicht selten ist ein geistiger Grundstock vorhanden, aber ihm fehlt die Herausarbeitung; obschon in eignem Besitz, bleibt er wie fremd und verschlossen. Das sind die schwerfälligen und unbehilflichen Menschen wie Zeiten, welche keinen Weg zur eignen Tiefe finden, bei denen daher die Oberfläche des Lebens andere Richtungen verfolgen mag, als sie der Grundstock enthält. Auch bei geistigen Gebieten, am meisten wohl bei der Religion, kann die Entfaltung dem Kern nicht entsprechen, ja widersprechen; das Wollen des Grundes unterliegt bei der Entwicklung dem Einfluß fremder Gedankenmassen. Durch die ganze Geschichte des Christentums zieht sich ein solcher Zwiespalt zwischen Kern und Entfaltung; immer von neuem galt es diese zu prüfen, jenen zu suchen.

Wer solche Zerlegung in Substanz und Existenz anerkennt, der wird den Kern des Lebens nicht in den sog. Seelenvermögen, wie Denken, Fühlen, Wollen suchen, weder in einzelnen von ihnen noch in ihrer Gesamtheit; denn diese gehören in das Gebiet der Entfaltung und können nun und nimmer aus sich selbst geistige Inhalte bilden. Solche Vertiefung der Wirklichkeit vermag allein von dem Intellektualismus gründlich zu befreien, den wir heute als ungenügend empfinden, und der trotz alles Widerstandes uns immer von neuem gefangen nimmt. Denn er bleibt unüberwindlich, solange die existenten Tätigkeiten das ganze Leben bedeuten. In ihrem Bereiche steht einmal die Intelligenz voran; was immer an geistigen Inhalten aufstrebt, das stellt sich zunächst in Gedanken dar, das wirkt vom Gedanken aus zu den anderen Gebieten. Erst wenn zur Anerkennung gelangt, daß das Denken selbst, sofern es produktiver, nicht bloß reflektierender Art ist, eine begründende und richtende Tätigkeit des Ganzen hinter sich hat und aus ihr schöpft, läßt sich mit Sicherheit dem Intellektualismus überlegen werden. Auch wird dann klar, daß in der Bewegung des Lebens es sich nicht um die Aneignung einer gegebenen, sondern um ein Vordringen zu echter Wirklichkeit handelt, daß nicht Deutungen, sondern Inhalte in Frage stehen.

Wird so das Lebensproblem über die Spaltung der Seelenvermögen hinausgehoben, so lassen sich Intellekt und Wille, Größen, die nicht einmal den Kern des Menschen bilden, noch weniger in das Weltall versetzen und zu seinem Kern erheben. Nicht von den Erscheinungsformen, sondern nur von der Substanz des Lebens her ist irgendwelche Erhellung des Dunkels zu hoffen, das über unserem Leben und unserem Grundverhältnis zur Wirklichkeit liegt. Alle Weltbilder von jenen Erscheinungsformen her sind dagegen bloßmenschliche Projektionen, geistreiche Spiele freischwebender Phantasie.

Wenn aber die Anerkennung jener Tiefe die Aufgabe des Lebens gewaltig steigert, so steigert sie zugleich seine innere Bewegung, da sich nun die Spannung seiner ganzen Weite mitteilt. Denn jetzt wird die Wahrheit des Ganzen an jeder einzelnen Stelle neu zum Problem, jetzt hat jeder Punkt jene Wahrheit zu prüfen, zu bestärken, zu berichtigen. Das ergibt auch eine eigentümliche Organisation der Kulturarbeit. Denn nun wird nicht in einem einzelnen Gebiete, etwa in der Religion oder in der Metaphysik, das Gesamtbild des Lebens abgeschlossen, um sich den anderen Gebieten nur zu dienstbarer Ausführung mitzuteilen, sondern wie das Hauptproblem jenseit aller Verzweigung liegt, so geht es durch sie alle hindurch; jedes einzelne Gebiet kann die Gesamtfrage bei sich aufnehmen, an seiner Erfahrung prüfen, in seiner Weise beantworten. Alle große Leistung der einzelnen Gebiete enthält ein solches Zurückgreifen ins Ganze und zugleich eine Förderung des Ganzen. Das aber besagt eine Gleichberechtigung der verschiedenen Zweige, es verbietet alle hierarchische Abstufung und Unterordnung mittelalterlicher Art. So wirkt die Scheidung von Substanz und Existenz dahin, das Leben bewegter, freier, reicher zu machen.

 

Demnach sehen wir das Leben durchgängig eine eigentümliche Gestalt annehmen und diese Eigentümlichkeit vom Gesamtumriß bis in das innerste Gewebe erstrecken. Was immer sich dabei an Einzelnem ergab, das zog seine Kraft und das fand seinen Zusammenhang aus einem einzigen beherrschenden und durchgehenden Gedanken, dem Gedanken der Eröffnung einer neuen Stufe der Wirklichkeit, eines Reiches selbständiger Innerlichkeit, im Kreise des Menschen. Dieser Gedanke wird uns auch beim Problem der Religion weiterführen, das zum Gewinn einer sicheren Grundlage der bisherigen Vorbereitung bedurfte, das sich nun aber endlich direkt angreifen läßt.

c. Die Tatsache der universalen Religion.

1. Die Wendung zur Religion.

α. Das Problem der Religion im allgemeinen.

Bei der Wendung zur Religion gilt es vor allem festzustellen, was der Religion, der Religion in allen ihren Arten, wesentlich und unentbehrlich ist. Vor allem ist es dieses, daß sie der uns zunächst umfangenden Welt eine andere Art des Seins, eine neue überlegene Ordnung der Dinge entgegenhält, daß sie die Wirklichkeit in verschiedene Reiche und Welten zerlegt. Ohne einen Gottesglauben kann Religion bestehen, das zeigt der alte und echte Buddhismus; ohne eine Zweiheit der Welten, ohne Ausblicke in ein neues Sein, wird sie ein leeres Gerede. Aber auch die bloße Anerkennung einer höheren Ordnung ergibt keineswegs schon Religion. Jene Ordnung muß nicht bloß an sich vorhanden, sie muß auch für uns wirksam sein, sich in unser Leben erstrecken, unser Dasein auf eine neue Grundlage stellen, auch von uns selbst als eine Hauptsache ergriffen werden; sonst bleibt sie uns auch bei äußerer Anerkennung innerlich fremd und gleichgültig. Das bloße Dasein von Gottheiten ließen auch die Epikureer sich gern gefallen. Und wie unfruchtbar für die Religion war alles Grübeln über die letzten Gründe der Dinge, waren alle sog. Beweise für das Dasein Gottes! Also gibt es keine Religion ohne die lebendige Gegenwart einer höheren Welt in unserem Bereiche, ohne einen Zusammenstoß zweier Welten mit all seiner Verwicklung und Irrationalität. Aber eben in diesem Irrationalen erscheint besonders deutlich der eigentümliche Charakter, die umwälzende und erneuernde Kraft der Religion.

Solches Hineinragen einer neuen Welt in unsere Wirklichkeit ist eine Frage der Tatsächlichkeit, als eine fundamentale Tatsache will es nicht abgeleitet, sondern aufgewiesen sein. Aber bei dieser Tatsächlichkeit handelt es sich nicht um etwas Einzelnes, das man jemandem handgreiflich zeigen kann, sondern um etwas Ganzes und Unsichtbares; ein solches kann dem Menschen nicht von draußen her zugehen und mit sinnlicher Eindringlichkeit überwältigen, erst innere Bewegungen können ihn hier an den Punkt bringen, wo sonst verborgene Wahrheiten sichtbar werden und sonst zerstreute Daten sich zum Ganzen einer Wirklichkeit verbinden. Wohl verlangen solche Bewegungen auch die Hilfe begrifflicher Arbeit, aber immer bleibt diese im Dienst der einen Hauptfrage tatsächlicher Art.

β. Die nähere Gestaltung des Problems.

Der Gesamtverlauf der Untersuchung zeigte alle Eigentümlichkeit und Größe des Menschen als die Wirkung eines in ihm gegenwärtigen Geisteslebens, einer höheren Stufe der gesamten Wirklichkeit; das Geistesleben wurde damit zum Mittelpunkt aller Untersuchung. Das muß sich auch bei der Wendung zur Religion bewähren. Nicht die Verwicklungen des bloßen Menschen, sondern die des Geisteslebens müssen zu ihr drängen, nicht die Rettung des Menschen zu menschlichem Glück, sondern die Selbsterhaltung des Geisteslebens ist dabei die entscheidende Frage. Das besagt so eingreifende Wandlungen gegen das übliche Verfahren, das den Menschen voranzustellen pflegt, daß es eine etwas genauere Auseinandersetzung verlangt.

Jenes Verfahren ist nicht nur unfähig, die Wahrheit der Religion zu sichern, es gerät auch bei der Gestaltung ihres Inhalts in arge Verwicklung. – Solange der Mensch als besondere Existenz dem All gegenübersteht, kann nun und nimmer aus seinen Antrieben und Bedürfnissen die Gewißheit einer neuen Welt entspringen. Was immer er davon erschließt und entwickelt, das könnte immer nur gelten für seinen Vorstellungskreis, das wäre immer der Gefahr ausgesetzt, für ein Hirngespinst des bloßen Subjekts erklärt zu werden. Wird nicht im Menschen vor allem die Gegenwart einer Welt erkannt und er in ein Leben des Alls gehoben, so gelangt er nie zu sicheren Überzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit, nie zur Gewißheit einer neuen Welt.

Verlangt schon die erste Frage der Wahrheit einen noozentrischen, nicht einen anthropozentrischen Standort, so wird auch die Gedankenwelt der Religion dem Anthropomorphismus verfallen bleiben, so lange nicht geistiges Leben und menschliche Existenzform deutlich auseinandertreten. Sonst behält der alte Denker Recht mit dem Worte, daß die Menschen nach sich selbst ihre Götter bilden, auch dann, wenn dieses Bild sich verfeinert und mehr und mehr ins Gedankliche verschiebt. Denn die Verfeinerung der Begriffe macht leicht den Irrtum nur noch gefährlicher und verstrickt die Gedankenwelt noch tiefer in die Vermenschlichung. Diese Vermenschlichung begegnet aber einem immer stärkeren Widerstande, je mehr der Fortschritt der Erkenntnis den Menschen über seine Stellung im All aufklärt. Denn je mehr seine Abhängigkeit von der Natur und zugleich die Besonderheit seiner Art einleuchtet, desto verfehlter muß es dünken, diese Art ins All zu versetzen und den Grund der Wirklichkeit mit menschenähnlichen Gebilden auszufüllen.

Schwerer noch wiegt die Gefahr, die solche anthropozentrische Fassung der Religion ihren inneren Triebkräften bringt. Eine Religion des bloßen Menschen macht unvermeidlich die Frage seines Glücks zum Mittelpunkt aller Arbeit, sie schmiedet ihn auch da an seine Zuständlichkeit, wo er sich unterzuordnen, ja aufzuopfern scheint. Denn was hilft aller Gehorsam und alles Opfer, wenn der Mensch nur verzichtet, um desto mehr für sich zu gewinnen? Im landläufigen Betriebe der Religion droht die Vorhaltung eines großen Lohnes die Gesinnung vornehmlich auf die Folgen der Handlung zu richten, sie damit vom eignen Werte der Dinge abzulenken, die reine Freude am Guten und Wahren zu schädigen und zugleich die innere Unabhängigkeit zu gefährden. Es sieht oft aus, als sei die ganze Weltordnung nur da, um das liebe Ich mit aller seiner Kleinheit und Unlauterkeit durch alle Fährnisse glücklich hindurchzuleiten und zu vollem Genusse zu bringen, es scheint, »daß Gott aller Kreatur vergessen habe bis auf uns allein« (ECKHART). Gewiß widerstand der tiefere Zug aller Religionen solcher Beschränkung auf das eigne Ich und führte dagegen einen eifrigen Kampf zur Läuterung und Veredlung der Seele. Aber in diesen Kampf läßt sich nicht die volle Kraft einsetzen, solange nicht eine gründliche Befreiung des Lebens vom bloßen Menschen und der Sorge um sein kleines Glück erfolgt ist. Und dazu bedarf es jener durchgreifenden Wandlung, wie sie die Anerkennung des Geisteslebens in unserem Sinne mit sich bringt; es gibt keine Vertreibung der kleinmenschlichen Größen aus dem Weltbild ohne ein neues Bild von uns selbst, keine Selbstlosigkeit der Gesinnung ohne ein dem bloßen Ich überlegenes Wesen. Der Mensch darf nicht bloßer Mensch, ein etwas besser ausgestattetes Tier, ein besonderer und verschwindender Punkt in der Unendlichkeit bleiben, es gilt in ihm die innere Gegenwart einer Welt zu erkennen und diese Welt gegen die bloße Besonderheit festzuhalten. Von der Sorge um das bloße Glück kann nur das Mühen um die Rettung des geistigen Lebens befreien, nur die Verlegung des Schwerpunktes dahin macht es möglich, von der bloßen Zuständlichkeit abzusehen und dem Handeln auch dann eine Kraft zu wahren, wenn es dem Einzelwesen nicht nützt, ja sein Weiterbestehen gefährdet.

Durchgängig also ist nach Inhalt und Ziel die Gedankenwelt der Religion nicht vom Menschen, sondern vom Geistesleben her zu ermitteln. So schwierig das ist, und so gewiß die Vorstellungsweise des Menschen alle Arbeit begleitet und in sie einzudringen sucht, bei energischer Scheidung von Bloßmenschlichem und Mehralsmenschlichem läßt sich ein Kampf für die Reinerhaltung der geistigen Substanz aufnehmen, sind wir der niederen Art nicht wehrlos ausgeliefert. Wie im Kulturleben überhaupt, so erscheint auch bei der Religion der Fortschritt der Gedankenentwicklung dann nicht mehr als eine bloße Auflösung der anfänglichen kindlichen Art, als eine Zerstörung des Anthropomorphismus, sondern auch als ein Wiederaufbauen unter Erringung eines neuen Lebens und Wesens im Menschen. Gäbe es keine solche Wendung von der Verneinung zur Bejahung, so müßte die Gedankenarbeit immer mehr der Wirklichkeit ihren lebendigen Gehalt entziehen; je energischer sie bis zu Ende ginge, desto sicherer müßte sie einen vollständigen Agnostizismus mit all seiner Leere erzeugen.

Wenn aber eine Religion des Geisteslebens das Bloßmenschliche hinter sich läßt, so muß sie bei sich selbst universaler Art sein. Denn zur Religion treibt hier nicht der Wunsch, diese oder jene Seite des Geisteslebens durch Einführung einer neuen Welt zu fördern, sondern vor allem das unabweisbare Verlangen, das Geistesleben als Ganzes aufrecht zu halten und gegen scheinbar unüberwindliche Hemmungen durchzusetzen; eine Religion, die das leisten sollte, dürfte sich nicht als ein Sondergebiet vom übrigen Leben abschließen, sondern sie müßte das Ganze umfassen und durchdringen. Daß diese universale Art nicht den Abschluß der Religion bedeutet, ja daß sie für sich nicht einmal eine selbständige Religion ergibt, daß dazu vielmehr die Wendung zu einer charakteristischen Religion gehört, das wird sich später zeigen, aber es wird zugleich sich zeigen, daß diese charakteristische Art jene universale voraussetzt, aus ihren Erfahrungen hervorgeht und sich mit ihr zu verbinden hat.

Das Geistesleben war uns nicht eine Eigenschaft eines anderen Seins, es erwies sich als ein bei sich selbst befindliches Leben, innerhalb dieses Lebens hatte sich alles Sein zu entwickeln. Das Problem der Wahrheit der Religion erhält also von da aus den Sinn, ob ein weltüberlegener, selbständiger Lebensprozeß als in unserem Bereiche wirksam anzuerkennen sei, der Begriff der Gottheit erhält zugleich den Sinn eines selbständigen, allumfassenden Geisteslebens. Das ergibt einen entschiedenen Bruch mit dem älteren Beweisverfahren, das vor allem ein Sein jenseit des menschlichen Kreises nachzuweisen bemüht war und es dann zu ihm in Beziehung setzte; dabei gewann unvermeidlich der Intellekt eine leitende Stellung, denn wodurch anders sollten wir sonst einer draußen befindlichen Wirklichkeit innewerden? Die Aufdeckung und Aneignung einer Wendung im Lebensprozesse dagegen ruft den ganzen Menschen auf und verlangt eine vordringende Tat der ganzen Seele; natürlich wird auch sie sich in Gedanken und Lehren umsetzen müssen, aber diese sind immer auf den Lebensprozeß zurückzubeziehen und an ihm zu bemessen, sie können nicht als starre Dogmen aus ihm heraustreten und ihn von sich aus beherrschen wollen. Von hier aus ergibt sich für die Religion ein eigentümliches Verhältnis von Ewigem und Zeitlichem, von Wesen und Gestaltung; als Grundwahrheiten können nunmehr nur solche gelten, welche zur Aufrechterhaltung des von ihnen vertretenen Lebensprozesses notwendig sind. Ob das, was sich im vorgefundenen Bestande als unumstößliche Wahrheit gibt, nach diesem Maßstabe in der Tat unentbehrlich ist, das ist gegenüber dem Wandel der Zeit immer von neuem zu prüfen, das wird namentlich deshalb immer neu zum Problem, weil der geschichtliche Verlauf des kirchlichreligiösen Lebens das Bestreben hat, jene Lehren weiter und weiter in ihre Konsequenzen auszuspinnen und damit die Beziehung zum belebenden Grunde zu lockern oder aber ausschließlich eine einzige Seite auf Kosten des Ganzen zu entwickeln. So wird immer von neuem zur Aufgabe eine Rückkehr zum Grundprozeß, ein Ausscheiden alles Überflüssigen als einer Belastung und Hemmung; die großen Erneuerungen der Religion erscheinen damit als Vereinfachungen, als eine Rückkehr aus zeitlicher Verdunklung und Verwirrung zur alten und ewigen Wahrheit.

Endlich enthält unsere Fragestellung auch eine Erhebung der Religion über alle Verzweigung des seelischen Lebens, über die sog. Seelenvermögen; es handelt sich um eine Weiterbildung der geistigen Wirklichkeit, die sich in Denken, Fühlen, Wollen wohl entfaltet, nicht aber erschöpft, nicht aus ihrer einem oder aus einer Verbindung von ihnen hervorgehen kann. Alle Festhaltung der Religion im Gebiet der Seelenvermögen ergibt eine periphere Gestaltung, hinter der ein Zentrum des Lebens, die Werkstätte ursprünglichen Bildens und Schaffens, unergriffen und ungefördert liegen bleibt. So geschieht es oft in dem mittelalterlich-kirchlichen Religionssystem, das sich heute noch mit aufdringlichem Gebaren als die allein wahre Religion zu geben pflegt. Ein System von Lehren wird dem Individuum übermittelt, ein Komplex von Handlungen ihm auferlegt; auch die volle Hingebung des subjektiven Gefühles kann bei den Lehren und Vorschriften sein, so daß sie keineswegs als Druck und Zwang erscheinen. So scheint der ganze Mensch gewonnen und die Religion im vollen Besitz seiner Seele. Ist sie es wirklich? Oder bleibt hier nicht hinter aller Ausbreitung unergriffen liegen, was in Wahrheit die Hauptsache ist: der Mensch als überlegenes Ganzes, als Teilhaber der Unendlichkeit, als Kämpfer um ein geistiges Selbst? Diese Tiefe seines Wesens ist jetzt dem Menschen zu vollem Bewußtsein gekommen, und es ist damit klar geworden, daß sie allein ihm einen sicheren Halt gegen die Gefahren, Nöte und Zweifel gewährt; so will er auf diesen Fels auch die Religion begründet haben, nicht auf ein vermeintliches Bibelwort, aber auch überdrüssig des Streites, ob der Intellekt oder der Wille oder das Gefühl bei ihr die Hauptrolle spiele. Hier wie überall wollen wir in der Sache nicht etwas Neues, denn wo immer die Religion die bewegende Kraft des Lebens war, da stand hinter ihr die ganze Seele des Menschen. Aber diese alte Wahrheit war durch die menschlichen Begriffe, auch in der christlichen Kirche, arg verdunkelt und konnte daher im gemeinsamen Leben nicht zu voller Wirkung gelangen. So ist es doch etwas Neues, wenn sie vollauf anerkannt wird und sich damit kräftiger aller Entstellung zu erwehren vermag.

γ. Die Erhebung über die Welt.

Was treibt das Geistesleben auf den Weg der Religion? Das Geistesleben an sich ergibt nicht unmittelbar schon Religion. Denn so gewiß es gegenüber der Natur eine höhere Stufe der Wirklichkeit bildet, diese Stufe könnte sich in unserer Welt voll entwickeln und sie zu einem Reich lauterer Vernunft gestalten; stünde es so, so hätten wir mit dem Geistesleben wohl eine neue Stufe der Welt, nicht aber eine neue Welt, eine Überwelt gewonnen, es wäre damit wohl ein Idealismus – wenn die Verwendung dieses abgegriffenen Ausdrucks hier der Kürze halber gestattet ist –, aber es wäre nicht schon Religion begründet. Zur Frage nach einer Überwelt treibt es uns erst, wenn das Neue, das eine so eingreifende Wandlung bringt, in unserer Welt auf härteste Widerstände stößt und ihnen gegenüber nicht zu einem sicheren Bestande gelangt; denn dann gilt es allerdings, entweder das Ganze als ein Trugbild aufzugeben und alle Arbeit dafür einzustellen, oder aber ihm einen tieferen Grund zu suchen und dadurch zu stützen, was in unserem Kreise vorgeht. Aber auch wenn sich ein solcher Tatbestand aufweisen ließe, und er zur Anerkennung eines überweltlichen Lebens führte, eine Religion wäre damit erst dann gewonnen, wenn jenes Leben uns nicht nur mit seinen Wirkungen berührte, sondern wenn wir es als Ganzes ergreifen und uns aneignen, wenn wir uns von der Wirkung in die Ursache versetzen und unmittelbar an der Vollkommenheit göttlichen Lebens teilhaben könnten. Aber um zu diesem entscheidenden Punkt zu gelangen, müssen wir zuvor zu zeigen versuchen, daß das Geistesleben, auch bei der neu gewonnenen Fassung, in der nächsten Welt keinen sicheren Boden hat, vielmehr mit ihr in den härtesten Widerspruch gerät, darauf, daß es sich trotz dieses Widerspruchs behauptet und wirkt, um dann erst jene entscheidende Frage aufzunehmen.

aa. Die Gefährdung des Geisteslebens in der nächsten Welt.

Wie wenig das Geistesleben das unmittelbare Dasein beherrscht, das haben wir gleich zu Anfang gesehen, das war es ja, was uns trieb, es von jenem Dasein schärfer abzuheben. Aber auch die damit gewonnene Kräftigung ergibt noch keineswegs ein siegreiches Vordringen gegenüber jener Welt. Vielmehr ist der Zusammenstoß eher schroffer als milder geworden, indem der Widerspruch noch mehr in die Tiefe geht. Denn indem das Geistesleben von innen her eine neue Art des Seins erzeugt und dafür neue Formen verlangt, bleibt es bei uns an das Grundgefüge derselben Wirklichkeit gebunden, über die es hinausführen will, und trägt es so in sich einen Widerspruch, der seine Kraft wie seine Wahrheit schwer gefährdet. Es bedeutet von innen her ein Ganzes des Lebens und wird bei uns verstreut an lauter einzelne Wesen; es verlangt eine zeitlose Wahrheit und unterliegt bei uns der Macht der Zeit, wird wehrlos vom Strom des Werdens dahingetragen; es muß sich als die Hauptsache, als den Kern aller Wirklichkeit, als einen völligen Selbstzweck geben und wird bei uns als eine Nebensache, als ein bloßes Mittel für andere Zwecke behandelt. Da aber zugleich eine eigentümliche Scheu den Menschen davon abhält, seine innere Gleichgültigkeit gegen das Geistesleben offen zu bekennen, er vielmehr vom Schein eines Besseren nicht lassen will und kann, so entsteht eine durchgängige Unwahrhaftigkeit mit all der Ohnmacht, die einer solchen eigen ist, mit all dem hohlen Gepränge, das sie dem Menschen selbst widerwärtig macht. Dieser schroffe Konflikt zwischen Wesen und Existenzform des Geisteslebens ist der tiefere Grund der Heuchelei, die das menschliche Leben durchdringt und vergiftet, nicht nur in der Gemeinschaft des Kulturlebens, sondern bis hinein in das Innere der eignen Seele. Solcher Scheincharakter, solche Unwahrhaftigkeit erstreckt sich vom Ganzen des Lebens in alle einzelnen Betätigungen und Lagen hinein: Erkennen, Liebe, Glück, alles erhält eine schillernde Zwittergestalt, es möchte viel mehr sein als es ist und hier sein kann, es findet bei solchem Zwiespalt nicht den Mut zu entschiedener Bejahung oder Verneinung. Und ein solches Zwittergebilde sollte eine neue Welt der Natur gegenüber erbauen und aufrechthalten! Dazu überzeugte uns eine Durchmusterung des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, daß nicht die mindeste Hoffnung besteht, auf diesem Boden jenen Stand je wesentlich zu verändern. Entweder also ist die ganze Bewegung zum Geistesleben ein großer Irrtum, eine unerklärliche Irrung, oder es steckt mehr hinter ihr als unmittelbar vor Augen liegt.

bb. Die Behauptung des Geisteslebens gegenüber der Welt.

Daß in Wahrheit mehr dahinter steckt, das zeigt die Tatsache des Konfliktes selbst; denn es ist diese Tatsache zweiseitiger Art: sie zeigt die Hemmung, aber sie zeigt auch, daß etwas gehemmt wird und sich trotz aller Hemmung irgendwie behauptet. Wenn die nächste Welt mit ihrer Talmigeistigkeit das Ganze wäre, wie konnte dann überhaupt echtes Geistesleben entstehen, wie kann es selbst als Schein so viel Macht üben als es doch übt, woher auch das Streben nach dem Schein, die Heuchelei, wenn bloß ein Wahnbild in Frage steht? So muß dabei wohl etwas unserem eignen Vermögen und dieser ganzen Ordnung Überlegenes wirken; daß es so steht, das erhellt noch deutlicher aus der Erfahrung, daß das Geistesleben bei aller Hemmung und Zurückdrängung in dieser nächsten Welt sich ihr nicht einfach anpaßt und in sie auflöst, sondern daß es sich ihr gegenüber behauptet und seine Ziele festhält. Es sei das nach folgenden Richtungen etwas näher ausgeführt.

1. Inmitten aller Zerstreuung erhält sich eine vom Gebiet der Zerstreuung aus schlechterdings unbegreifliche Bewegung zur Einheit. Individuen, Völker, Zeiten glauben bei aller Spaltung an die Möglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses; durchgängig will alle Behauptung geistiger Art nicht bloß für das Individuum oder den besonderen Kreis, sondern für alle gelten; auch die einzelnen Zweige der Vernunftarbeit können wohl zeitweilig, nicht aber für die Dauer auseinandergehen, schließlich soll alle Mannigfaltigkeit des Strebens in eine umfassende Wahrheit münden und wird alles Besondere starr und geistlos, das sich von solcher Gemeinschaft ablöst. Das Streben zur Einheit inmitten aller Zerstreuung und gegenüber aller Zerstreuung ist es vornehmlich, welches das menschliche Leben aufrüttelt, in Bewegung setzt, in unsäglichen Streit verwickelt, sich selbst aber in dem allen als eine gewaltige Macht erweist. Denn woher anders kommt der Streit als daraus, daß ein jedes das Ganze, Herrschende, Allgemeingültige sein will, daß es selbst seinen Wert zu verlieren droht, wenn es anderes neben sich duldet? Solches eifrige, ja leidenschaftliche Streben nach einer einzigen Wahrheit ist ein unverwerfliches Zeugnis für das Wirken einer der Zerstreuung und damit der ganzen nächsten Ordnung überlegenen Macht.

2. Die Inhalte und Güter des geistigen Lebens mögen vom Menschen noch so sehr für seine Zwecke zugestutzt werden, sie widerstehen einer völligen Anpassung an die menschliche Lage, sie treten immer wieder aus der Verdunklung heraus und hören nicht auf gegen jene Lage zu wirken. Kein geringerer als KANT erklärte es für »höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird«. Wie aber rechtfertigt sich solche Überlegenheit der Normen des Handelns über den Stand des Menschen, wenn nicht seinem ganzen Wesen eine überlegene Ordnung innewohnt? Diese Ordnung erscheint in der Gesamtbewegung der Geschichte zunächst als eine Macht des Gerichts und der Auflösung. Die Menschen und Zeiten ziehen das Geistesleben an sich und erniedrigen es zu einem Mittel für ihre Zwecke, sie geben ihm die Gestalt, die ihren wechselnden Wünschen entspricht. So mögen sie es biegen und beugen als scheinbare Herren der Dinge. Aber das hat seine bemessene Zeit, früher oder später kommt eine Gegenwirkung, jene bloßmenschliche Gestalt lebt sich aus, ihre Leere und Dürftigkeit wird empfunden, und dann ist auch die Auflösung nicht mehr weit. So ein unablässiges Zurückkehren des Geisteslebens aus der menschlichen Verkehrung zu seiner eignen Natur, so ein energisches Zurückweisen der ihm vom Menschen angesonnenen Abhängigkeit.

Das ist eine Wirkung mehr negativer Art, positiver erweist das Geistesleben sein Vermögen auch im menschlichen Kreise durch ein unablässiges Aufrütteln aus der gegebenen Lage, durch ein Entwerfen und Vorhalten von Idealen, durch ein Verlangen nach vollem Glück und letzter Wahrheit. Warum begnügt der Mensch sich nicht bei der Bedingtheit, die seinem Dasein eigen ist, warum setzt er ihr ein Verlangen nach Unbedingtem entgegen und stürzt damit sich selbst in schwerste Sorgen und Nöte? Es geschieht das aber nicht bloß an einzelnen Stellen, sondern der Gesamtaufstieg der Kultur, ja die Ausbildung einer Kultur überhaupt wäre unmöglich ohne jenes Hinausstreben des Menschen über die gegebene Lage, ja über sich selbst. War nicht in den halbtierischen Anfängen des Daseins für ihn subjektive Befriedigung eher erreichbar als innerhalb der Kultur mit all ihren Mühen, macht der Fortgang der Kultur mit ihrer zunehmenden Verwicklung ihn glücklicher im bloßmenschlichen Sinn? Was anderes aber kann ihn zwingen, diese gefahrvolle Bahn zu betreten und zu verfolgen, als eine Notwendigkeit seines eignen Wesens, die zugleich die Gegenwart einer höheren Ordnung in diesem Wesen bekundet?

3. Das Geistesleben behauptet sich aber nicht nur im menschlichen Kreise, es erweist inmitten aller Hemmung auch ein Vermögen, das Niedere an sich zu ziehen, ihm seine Kraft zu entwinden, es vom Höheren aus zu veredlen. Es geht durch unser Leben eine Bewegung vom Äußeren ins Innere, vom Naturhaften ins Geistige. Was von geistiger Anregung an uns kommt, das mag zunächst nur von außen her zu uns wirken und als ein bloßer Zwang erscheinen. Aber was zu Beginn mehr an als in dem Menschen vorgeht, das schlägt dann in ihm selber Wurzel, das wird als seine eigne Sache ergriffen und in freie Tat verwandelt. Ohne ein solches Erwachen eines eignen Lebens, ohne eine solche Umkehrung der Bewegung bleibt alle Erziehung eine tote Dressur und alle moralische Bildung ein bloßer Schein; der Funke inneren Lebens aber wäre nun und nimmer im Menschen zu entzünden, wäre solches Leben nicht in seiner Natur angelegt, und vermöchte es ihn nicht auch gegen seine Absicht weiterzuführen. So allein, nicht durch die bloße Wirkung eines seelischen Mechanismus, der nie eine innere Einheit und eine tätige Gesinnung erzeugen könnte, erklärt sich der Fortschritt von der Sitte zur Sittlichkeit, vom äußeren Zusammensein zu einer inneren Gemeinschaft, von einer Verbindung äußerer Zwecke zu einer Vereinigung der Gemüter, erklärt sich die durchgehende Verinnerlichung des menschlichen Lebens und Seins. Es wird das Streben dabei über die anfänglichen Motive hinausgehoben, der Mensch über sich selbst hinausgeführt. Was ihm zunächst ein bloßes Mittel für seine selbstischen Zwecke war, das beginnt ihn durch seine eigne Beschaffenheit anzuziehen und in Bewegung zu setzen, das wird mehr und mehr in sein eignes Leben aufgenommen und erhöht damit dieses Leben. Die Not des Daseins pflegt den Menschen zur Arbeit zu treiben, und wieviel Segen, wieviel innere Erhöhung geht dann von der Arbeit aus! Alles das aber nur bei Voraussetzung einer wirksamen Gegenwart eines überlegenen Geisteslebens.

Was wir aber bei diesen drei Punkten und drei Richtungen sahen, das sind nur Entwicklungen ein und derselben Grundtatsache, das bezeugt miteinander, daß bei uns ein Geistesleben wirkt, welches sich nicht aus dem gegebenen Dasein erklärt, das weist über diese Weltordnung hinaus auf eine neue, höhere Ordnung. Damit ist freilich nur eine Voraussetzung der Religion, nicht schon Religion selbst gewonnen. Denn wenn das Bewußtsein des Wirkens einer höheren Ordnung in unserem Daseinskreise eine gewisse Zuversicht geben und das Vertrauen auf irgendwelchen Sieg des Guten zu stärken vermöchte, so bleibt jene Macht einstweilen ein dunkles Geheimnis, und ein inneres Verhältnis zu ihr ist noch keineswegs erreicht. Erst mit diesem aber würde Religion entstehen; sehen wir also, ob die Erfahrung des Lebens einen Fortgang dahin zeigt.

cc. Die Eröffnung eines absoluten Geisteslebens in unserer Welt.

Daß ein weltüberlegenes Geistesleben nicht bloß mit seinen Wirkungen an uns kommt, daß es uns auch als Ursache mit der Fülle seiner Kraft zugegen ist, das brauchen wir nicht in weitschichtiger Untersuchung abzuleiten, das eröffnet sich uns unmittelbar in der Tatsache, daß bei uns Geistesleben als unser eignes Leben aufkommen kann und in Wahrheit aufkommt. Die Bedeutung dieser Tatsache läßt sich erst voll ermessen, nachdem wir erkannt haben, daß im Geistesleben ein Gesamtleben vorliegt, daß in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit aufsteigt und eine Umkehrung des Weltprozesses erfolgt; konnte solche Wendung nicht aus dem Vermögen der einzelnen Punkte, sondern muß sie aus der Kraft des Ganzen hervorgehen, so muß dies Ganze unmittelbar in uns gegenwärtig sein, wenn auch bei uns jene große Wendung als eine Tatsache eignen Lebens erfolgen soll. Nun entwickelt sich bei uns geistiges Leben nicht nur in einzelnen Leistungen und in der Richtung nach außen, wir sahen es aus aller Leistung zu sich selbst zurückkehren und einen Kern ausbilden, der zum Träger aller Betätigung wird; so allein konnte sich autonomes Leben entwickeln; was immer Persönlichkeit und geistige Individualität bei uns an Bloßmenschlichem und Naturhaftem mitführen mögen, jene Lebensformen könnten nicht aufkommen und eine Bewegung erzeugen, wirkte nicht in ihnen irgendwelches autonome und ursprüngliche Leben.

Die große Wendung des Lebens von einem Gewebe der Beziehungen zu einem bei sich selbst befindlichen Ganzen, die Wendung der Wirklichkeit zu ihrer eignen Tiefe, sie geht nicht bloß an uns vor, sondern sie könnte uns gar nicht zugegen sein, wenn sie nicht auch aus uns hervorginge und uns damit zu selbsttätigen Trägern der Wirklichkeit machte. Dieses eben, das Durchbrechen einer neuen Welt inmitten unseres Kreises, das Hineinfallen der Umwälzung in das menschliche Dasein, ist das große Wunder, in dem sich die Gegenwart einer neuen Welt mit voller Klarheit bekundet. Wer das Wunder nicht an dieser Stelle erkennt, der wird es nirgend anders erkennen, der wird es vergeblich in weiter Ferne suchen, für den gilt das Wort des PARACELSUS: »Ihr seid übersichtig, sehet in die Weite und euch in der Nähe nicht.«

Daß uns die Tatsache eines autonomen Lebens in unserem Kreise als der entscheidende Beweis für die Gegenwart göttlichen Lebens gilt, das kann nur bei äußerlicher Fassung der Begriffe ein Widerspruch scheinen. »Autonomie«, so könnte man sagen und so sagt mittelalterliche Denkart, ist die Leugnung aller Abhängigkeit, aller Bindung an einen höheren Willen, Religion aber verlangt unbedingte Abhängigkeit, Gehorsam, Unterwerfung; so sind sie volle Gegensätze. Aber das sind sie nur, solange eine kindlich anthropomorphe Denkart Gottheit und Mensch wie zwei getrennte Wesen einander entgegenstellt und von außen her in Beziehung setzt, wenn zugleich der Gewinn der einen Seite ein Verlust der anderen dünkt. Möglichst niedrig vom Menschen zu denken, alles von außen her an ihn gelangen zu lassen, ihm alle innere Bewegung abzusprechen, das würde dann der Gipfel der Religion sein. Zugleich würde die neue Welt von unserer Welt gänzlich abgelöst und in die unzugängliche Ferne eines Jenseits zurückgeschoben.

Ganz anders, wenn bei tieferer und minder anthropomorpher Denkart die Autonomie nicht als ein Widerspruch zum Ganzen, sondern als ein Selbständigwerden aus der Kraft und der Gegenwart des Ganzen erscheint und zugleich als eine wesentlich neue Stufe des Lebens; denn bei solcher Begründung muß sie sich von aller eigenwilligen Selbstsucht, von aller trotzigen Selbstbehauptung aufs schärfste scheiden; die Erhebung zum geistigen Selbst ist unmittelbar eine Anerkennung unendlichen Lebens als des eignen Wesens. Gewiß ist es ein Mysterium, daß höchste Selbsttätigkeit Auslöschen aller bloßen Ichheit, Leben aus der Unendlichkeit ist, aber wer dies Mysterium ablehnt, der muß entweder alle Religion verwerfen oder sie ganz äußerlich, bloß verstandesmäßig gestalten.

Bei innerlicherer Fassung des Gesamtproblems bedeutet der Gedanke der Überwelt alles eher als die Flucht in ein Jenseits. Wohl erfolgt eine Scheidung, ein Auseinandertreten der Wirklichkeit; ohne solche Scheidung gibt es keine Religion. Aber jene besagt nicht, daß zur nächsten Welt, als der festen und unantastbaren Grundlage unseres Seins, ein Jenseits hinzugedacht werde, ein Jenseits, das uns erst wieder durch besondere Hilfe vermittelt werden müßte, sondern jene sinnlich nächste Welt rückt in die zweite Stelle zugunsten eines bei sich selbst befindlichen Geisteslebens, als des festen Standorts für alles Leben, und es wird in dem Neuen nicht irgendwelches Mehr einem schon vorhandenen Leben hinzugefügt, sondern es wird in ihm allererst eine Tiefe des Lebens, ein wesenhaftes und wahrhaftiges Leben gewonnen.

So war denn auch der Religion überall da, wo sie volle Ursprünglichkeit hatte, ihre eigne Wahrheit das gewisseste aller Dinge, das, was allem anderen erst eine Sicherheit gab. So flüchtete ein AUGUSTIN aus der völligen Erschütterung alles menschlichen Lebens zu dem in uns gegenwärtigen göttlichen Sein als zu dem, was allein uns der drohenden Vernichtung entwinde und uns für uns selbst gewinne, so konnte das Mittelalter die göttliche Ordnung Vaterland ( patria) nennen und das kühne Wort wagen, daß wir Gott besser kennen als die Kreatur ( Deus notior creatura).

 

Nach dem allen kann über das Wesen der Religion kein Zweifel sein. Sie beruht auf der Gegenwart des göttlichen Lebens im Menschen, sie entwickelt sich in Ergreifung dieses Lebens als des eignen Wesens, sie besteht also darin, daß der Mensch im innersten Grunde seines Wesens in das göttliche Leben gehoben und damit selbst einer Göttlichkeit teilhaftig wird. Mit Recht fand das Christentum in der Wesenseinigung von Göttlichem und Menschlichem den Kern der Religion, auch die unglückliche dogmatische Fassung von den beiden Naturen in Christus hebt die umwälzende und erhöhende Kraft dieser Wahrheit nicht auf.

Es kann aber die volle Belebung des Göttlichen im Menschen und der Gewinn eines neuen Lebensstandes unmöglich erfolgen ohne eine Anerkennung und Aneignung seitens des Menschen; Religion kann nicht entstehen, ohne daß das Göttliche auch die Gesinnung des Menschen gewinnt, ohne daß das Ganze seiner Seele die neue Welt ergreift. Denn in dieser Sphäre ist kein Platz für eine mechanische Einflößung, und gibt es für uns kein Wachstum ohne unser Entgegenkommen. Daher warben die Religionen stets so eifrig um die Zustimmung und Zuwendung des Menschen; der Adel der Seele, ihre Zugehörigkeit zu Gott, mußte anerkannt und in eignen Besitz verwandelt sein, um seine Kraft voll entfalten zu können. Denn »was hülfe es einem Menschen, wenn er ein König wäre und wüßte es nicht?« (ECKHART.) Daß damit die Religionen nicht das menschliche Vermögen zum Maße des göttlichen Wirkens machten, daß ihnen vielmehr letzthin die menschliche Leistung selbst als eine Wirkung göttlicher Kraft galt, daß der höchste Erweis der Gnade ihnen die Freiheit war, das wird unten weiter erörtert werden.

An jener Anerkennung könnte unmöglich so viel liegen, wenn sie bloß ein passives Geltenlassen, keine Umsetzung in Tat und Arbeit wäre. Ohne das wäre mit ihr für unser Leben nicht mehr gewonnen als ein bloßer Hintergrund oder auch ein schöner Aufputz. Um eine wahrhaftige Erneuerung zu bringen, muß jene Anerkennung des Göttlichen sich in ein energisches Sammeln und Scheiden umsetzen; das ist das Große der Wendung, daß das Geistesleben durch die Befreiung von der Verwicklung und Verkümmerung des Weltstandes zu reiner Ausprägung seiner Art und zu voller Selbständigkeit geführt wird, daß damit eine energische Scheidung von Wesenhaftem und Scheinbarem möglich wird, daß das ganze Leben durch solche Zerlegung in eine gewaltige Aufrüttelung und Bewegung gerät. Die Religion ist nicht bloß Kontemplation und ruhige Stimmung, sondern ihrem Kern nach ist sie höchste Aktivität, Scheidung des vorgefundenen Chaos, Konzentration des Geisteslebens bei sich selbst, Durchsetzung eines solchen Geisteslebens gegen alles, was ihm zunächst wie feindlich entgegensteht. Aber sie ist das alles freilich im Bewußtsein einer sicheren Begründung in ewiger Wahrheit.

2. Der Inhalt der Religion.

α. Die Gottesidee.

An die Spitze dieser Untersuchung gehört die Erörterung der Gottesidee. Nicht als ob sie als ein abgelöstes Stück der Entwicklung der Religion voranginge und allen weiteren Gehalt aus sich hervortriebe, sondern umgekehrt, weil sie vornehmlich die charakteristische Eigentümlichkeit der Religion zum Ausdruck bringt, die Hauptrichtung ihres Strebens greifbar macht. So stritt man in Wahrheit über den Inhalt der Religion, wo man über den Gottesbegriff stritt; insofern ist es allerdings dieser, an dem sich jede Gestaltung der Religion zu erweisen hat.

Uns zeigt der Weg, der uns zum Gottesbegriffe führte, zugleich den Inhalt, den dieser Begriff für uns haben kann. Er bedeutet uns nichts anderes als absolutes Geistesleben, das Geistesleben in seiner Erhabenheit über alle Beschränkung durch den Menschen und die Welt der Erfahrung, das Geistesleben, das zu vollem Beisichselbstsein und zugleich zur Umspannung aller Wirklichkeit gelangt.

Bevor wir prüfen, was solche Begründung und Entwicklung des Gottesbegriffes vom Geistesleben her an Eignem bringt, sei erörtert, wie sie sich gegen andere Fassungen abgrenzt, wie sie namentlich einen Gegensatz zu überwinden vermag, der das religiöse Leben entzweit und gefährdet. – Dieser Gegensatz ist der des Anthropomorphismus und der ontologischen Spekulation, von denen jener bestrebt ist, die Gottesidee dem Menschen möglichst nahe zu halten, diese aber, sie zu möglichster Höhe und Ferne über ihn hinauszuheben. Der Anthropomorphismus beherrscht von grauer Vorzeit her die Durchschnittsart der Religion; oder läßt sich leugnen, daß hier der Mensch sein vergrößertes und leidlich veredeltes Bild in das Weltall hineinsieht und dann mit der Gottheit wie mit einem menschenartigen Wesen verkehrt? Die Unzulänglichkeit dessen ward der Religion nicht nur von draußen vorgehalten, sie wurde auch in ihrem eignen Kreise mit voller Stärke empfunden; daraus erwuchs das Streben, jene menschliche Fassung, so weit irgend möglich, auszutreiben, und dies schien aufs gründlichste die ontologische Spekulation zu besorgen, die alle und jede nähere Bestimmung der Gottheit als ungehörig verwarf und nur das eigenschaftslose, allen Begriffen überlegene Sein als Wesen der Gottheit gelten ließ. Das zog mit besonderer Kraft philosophische Geister an; so schufen sie in dieser Richtung eine Art von esoterischer Religion, die alle Kleinheit und Selbstsucht des Menschen tief unter sich zu lassen schien. Aber eine derart vom Menschen abgelöste Religion verliert leicht nicht nur alle anschauliche Nähe, sondern auch eine genügende Kraft, sie gestaltet sich zu einer affektlosen, vornehmen, aber auch matten Kontemplation und damit zu einem direkten Gegenstück der anthropomorphen Religion, welche zu unmittelbar den Affekten des Menschen dient.

Bei solchem Gegensatz lassen die beiden Fassungen sich unmöglich als esoterische und exoterische Form der Religion zu gegenseitiger Ergänzung unmittelbar zusammenfügen, wie das meistens bei den geschichtlichen Religionen und auch im Christentum geschehen ist. In Wahrheit hat das kirchliche Christentum nicht einen, sondern zwei Gottesbegriffe, einen anthropomorphen und einen ontologisch-spekulativen; vertreten beide aber verschiedene Gestaltungen der Religion, so kann jenes Nebeneinander nicht eine Lösung der Frage, sondern nur einen leidlichen Kompromiß bedeuten, der zwei dem Gottesbegriffe und auch der Religion notwendige Forderungen gegenwärtig hält. Der Anthropomorphismus verficht mit Recht, daß die Religion, um eine Lebensmacht und nicht eine bloße Weltanschauung zu sein, dem Menschen nahe bleiben und ihn in der Kraft seines Lebens bestärken müsse; wie wenig der Ontologismus das aus eigner Kraft vermag, wie wenig er über die Spekulation hinaus zur Religion hinleitet, das würde deutlich zutage liegen, wenn jener sich nicht unvermerkt aus einer positiveren Art der Religion zu ergänzen und seinen formalen Begriffen lebensvollere Gestalten unterzuschieben pflegte, wie die Mystik das anschaulich zeigt. Andererseits hat der Ontologismus ein gutes Recht in dem Unternehmen, die Religion über die Vorstellungsweise und namentlich über die Zwecke des bloßen Menschen hinauszuheben, damit sie etwas wirklich Neues aus ihm mache und ihn nicht in seiner Kleinheit und Enge nur noch weiter bestärke.

Die beiden Forderungen nun: die seelische Nähe der Religion und ihre Ablösung vom bloßen Menschen werden vereinbar beim Ausgehen vom Geistesleben. Denn dann handelt es sich um die Erhaltung nicht des bloßen Menschen, sondern seiner geistigen Substanz, und es verbietet sich damit alle Festlegung der bloßmenschlichen Art, alle Bindung des Gottesbegriffes an bloßmenschliche Größen. Aber wenn zugleich feststeht, daß das geistige Leben uns erst unser wahres Selbst, die Tiefe unseres eignen Wesens gewinnen läßt, so kann die Religion bei aller Erhebung über das Bloßmenschliche eine seelische Nähe bewahren, so kann auch der Gottesbegriff einen positiven Inhalt gewinnen, ohne dem Anthropomorphismus zu verfallen. Das alles gemäß dem Grundgedanken, daß der Mensch nicht ein bloßes Sonderwesen bildet, sondern daß er auf ein Alleben angelegt ist und erst in Ergreifung dessen sein echtes Wesen findet. Auch so langen die höchsten Begriffe des Menschen zur Bezeichnung des absoluten Wesens nicht aus, da sie auch bei geistigster Fassung immer eine menschliche Färbung behalten; aber bei jener Aufhebung des schroffen Gegensatzes können sie als Hinweisungen und Symbole dienen und durch alle Unzulänglichkeit hindurch wahre Lebensinhalte gegenwärtig halten.

Solche Erwägungen entscheiden auch den Streit über die Persönlichkeit Gottes, welcher der Sache nach bis ins Altertum zurückreicht. Vieles dabei ist freilich nur Wortstreit. Denn in den Ausdruck Persönlichkeit läßt sich Verschiedenartigstes legen: der Gegner denkt an das menschliche Einzelwesen mit seiner Begrenztheit und Bedingtheit, der Freund an das Selbständigwerden und Sichzusammenfassen des Geisteslebens. Aber es handelt sich dennoch nicht um einen bloßen Wortstreit. Die direkte Verneinung einer Persönlichkeit Gottes pflegt die Leugnung einer Überlegenheit gegen den Weltprozeß, pflegt ein pantheistisches Verschwimmen des absoluten Lebens in die Welt mit sich zu bringen; die bedingungslose Bejahung dagegen wirkt zur Vermenschlichung und Herabziehung; es käme also darauf an, den vom Geistesleben geforderten Sinn genügend gegen alles Einfließen bloßmenschlicher Größen zu sichern, und das ist eingewurzeltem Sprachgebrauch gegenüber nicht leicht. So mag es sich für die wissenschaftliche Betrachtung empfehlen, den Ausdruck Persönlichkeit vom göttlichen Leben fernzuhalten oder ihn doch als ein bloßes Bild zu betrachten. Ja die Frage liegt nahe, ob nicht, um die Gefahren des Persönlichkeitsbegriffs zu vermeiden, die Religion universaler Art lieber den Ausdruck Gottheit als Gott verwenden solle. Daß der Fortgang von dieser Art zur charakteristischen darin eine Wendung bringt und zugleich dem Begriff der Persönlichkeit ein besseres Recht verleiht, das werden weitere Entwicklungen und Erfahrungen zeigen.

Diese Erwägungen enthalten auch die Entscheidung über unsere Stellung zur Mystik. Ist das Geistesleben seinem Wesen nach ein Ganzes des Lebens, so gibt es auch auf religiösem Gebiete kein rechtes Gelingen ohne eine Befreiung von der Enge des Punktes, ohne eine Gegenwirkung gegen alles Bloßmenschliche und die Versetzung in jenes Ganze als unser eignes Leben. Daß die Mystik das kräftig verficht, das ist ihr großes Verdienst; in Wahrheit fehlt aller Gestaltung der Religion, die nicht ein Element der Mystik enthält, die belebende Seele. Aber die Mystik macht oft mit Unrecht diesen notwendigen Bestandteil der Religion zu ihrem alleinigen Inhalt. Denn, soweit sie das tut und sich nicht aus der geschichtlichen Religion ergänzt, ist die Religion nichts anderes als volle Hingebung an das unendliche und ewige Sein, Auslöschen aller Besonderheit, Gewinnen einer stillen Ruhe mit der Aufhebung alles selbstischen Lebensdranges. So aber bleibt das Nein im Übergewicht gegen das Ja, es wird mehr der natürliche Lebensdrang gebrochen als ein neuer, naturüberlegener errungen; alsdann findet das Leben nicht den Fortgang zur tätigen Arbeit und zur gründlichen Umwandlung der Wirklichkeit. Demnach kann uns die Mystik wohl einen wichtigen und unentbehrlichen Bestandteil, nicht aber das Ganze der Religion bedeuten; wir können sie nicht entbehren, aber wir kommen mit ihr nicht aus.

 

Wenden wir uns nach solchen Abgrenzungen und Verwahrungen nunmehr zur positiven Bestimmung des Gottesbegriffes, so ist klar, daß eine solche nie aus freischwebenden Erwägungen, sondern nur aus den Erfahrungen des Geisteslebens heraus erfolgen kann; alle spekulative Gnosis wird hinfällig, wo der Lebensprozeß den Ausgangspunkt und auch die Grenze aller Betrachtung bildet. Nichts anderes bedeutete uns die Gottesidee als absolutes Geistesleben, das Geistesleben befreit von den Schranken und Verwicklungen unserer Erfahrung, das Geistesleben in seinem vollen Beisichselbstsein und als die Tiefe aller Wirklichkeit. Nur daraus also ergibt sich der Inhalt des Gottesbegriffes, daß die Charakterzüge des Geisteslebens hier zu reiner Gestalt gelangen, daß sie sich untereinander enger verbinden, daß was bis dahin als bloßes Wirken an uns kam, nunmehr ins Wesen gesetzt wird. Bei solcher Wendung von der Wirkung zur Ursache, von der Erscheinung zum Grunde hebt sich die Einheit des Gesamtlebens erst zu voller Klarheit heraus, nun erst führt die Zeitlosigkeit aller geistigen Inhalte zur Idee einer ewigen Ordnung, nun einigt sich vollauf Wesen und Wert, und wird das Gute die alles Leben beherrschende Macht. Indem aber das Geistesleben zur vollen und reinen Entwicklung seines Wesens gelangt, erlangt es zugleich gegenüber dem Menschen eine sichere Überlegenheit.

β. Gottheit und Welt.

Beim Problem des Verhältnisses von Gottheit und Welt stehen von alters her zwei Richtungen gegeneinander, deren jede ein gutes Recht für sich anrufen kann. Auf der einen Seite scheint es vor allem nötig, die Gottheit scharf von der Welt zu scheiden und hoch über sie hinauszuheben; nur so scheint ihr Begriff seine Reinheit wahren, und nur so scheint sie zu durchgreifender Erhöhung wirken zu können. Auf der anderen Seite waltet der Drang, die Gottheit möglichst tief in die Welt hineinzuziehen und möglichst eng mit dem eignen Wesen der Dinge zu verbinden, nur so scheint sie zur lebendigen Gegenwart und zu einem Wirken von innen heraus zu gelangen:

»Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen.«

So der Gegensatz von Transzendenz und Immanenz, von Dualismus und Monismus, von Supranaturalismus und Pantheismus. Die Namen besagen hier wenig und die gegenseitige Verketzerung ist wenig erfreulich; daß die Sache nicht ganz so einfach liegt, als die Parteigänger hüben und drüben wähnen, erhellt schon aus der Tatsache, daß ganze Zeiten dem Einfluß hier der einen, dort der anderen Richtung folgten: das sinkende Altertum konnte, matt und von Widersprüchen zerrissen, Gottheit und Welt nicht weit genug auseinanderhalten, die aufsteigende Neuzeit mit ihrem frischen Lebensdrange sie nicht eng genug verbinden; je nachdem bald der Eindruck der Schranken und Verwicklungen, bald der der Kraft und Schönheit der Welt überwiegt, ihr Unvermögen oder ihr Vermögen voransteht, wird die Neigung bald hierher bald dorthin gezogen. Sehen wir, ob die Entwicklung der Religion vom Geistesleben her solches Schwanken der Zeiten und Stimmungen zu überwinden vermag.

Augenscheinlich verbietet das Ausgehen vom Geistesleben einen krassen Dualismus, wie er die Volksvorstellung beherrscht. Denn das Geistesleben ist kein Sondergebiet, das den Dingen eine fremde Art aufdrängt, sondern es erwies sich uns als die eigne Tiefe der Wirklichkeit, als die Wendung des Lebens zu seinem eignen Wesen; entwickelt sich also der Begriff der Gottheit von dem des Geistes her, so muß auch die Gottheit dem Wesen der Dinge aufs engste verbunden sein, so muß dies Wesen in ihr begründet und enthalten, die Gottheit schließlich alles in allem sein. Solcher Überzeugung können sich auch die positiven Religionen, kann sich namentlich die Religion nicht entziehen, deren größter Apostel sich das Wort aneignete: »In ihm leben, weben und sind wir« und »wir sind seines Geschlechts.«

Wenn in Verkennung dessen der Dualismus die Gottheit der Welt möglichst gegenüberstellt, so kommt er in Gefahr, statt einer Vertiefung eine bloße Verdoppelung zu geben und für das göttliche Leben ein einigermaßen verklärtes Spiegelbild der nächsten Wirklichkeit einzusetzen. Dieser Projektion des Diesseits in das Jenseits, dieser Verdoppelung der Welt muß aber die Religion selbst widersprechen, weil dabei zu wenig innere Umwandlung erfolgt, der natürliche Lebenstrieb zu wenig gebrochen wird, der Religion das herbe Nein fehlt, ohne das ihr Ja keine Kraft und Tiefe erreicht. So erscheint es auch in den gewöhnlichen Unsterblichkeitshoffnungen, die den Menschen mit Haut und Haaren, in seiner ganzen natürlichen Enge, mit all seinem weltlichen Besitz, in die Ewigkeit retten möchten. Ist nicht auch eine religiöse Gesinnung denkbar, die an einer so zähen Festhaltung des lieben Ich Anstoß nimmt, ja sie unerträglich findet?

So wird nicht nur alle philosophische Denkweise, sondern auch eine echtere Religion jenem Dualismus widerstehen; seine Zurückweisung aber führt leicht zu einer Annäherung an den Pantheismus. Ein ausschließlicher und voller Pantheismus jedoch wird durch eine Entwicklung der Religion vom Lebensprozesse her auf sicherste ferngehalten. Einem solchen Pantheismus würde unsere Welt mit dem Ganzen ihres Seins zu einer Selbstdarlegung, Entfaltung, Emanation, oder wie die Fassungen lauten mögen, des absoluten Wesens; die Scheidung wäre ein bloßer Schein, eine Schwäche und Irrung menschlicher Denkart; in Wahrheit bestünde nur eine einzige Wirklichkeit, ein einziges Leben. Das Walten Gottes fiele völlig zusammen mit dem eignen Wirken der Dinge, und die Einheit wäre unmittelbar durch die ganze Mannigfaltigkeit ausgebreitet. Eine solche Gedankenrichtung wird den Menschen namentlich da gewinnen, wo ihn das Bewußtsein seiner Kraft erfüllt und ihm das Auge für die Lebensfülle und Schönheit der Welt eröffnet; über die Individuen hinaus ist es das Selbstbewußtsein der Kulturarbeit, welche sich selbst bekräftigt, indem sie den Pantheismus zu ihrer Religion erhebt. Ihn empfiehlt sein Zug zum Großen, sein Hinausstreben über die Gegensätze des Lebens, auch dieses, daß er der Wirklichkeit bei sich selbst eine Tiefe gibt.

Diese Vorzüge sind nicht gering. Aber mit allem Glanz können sie nicht einen Widerspruch im innersten Wesen verdecken, der den Pantheismus unhaltbar macht und seine Entwicklung in eine Selbstzerstörung verwandelt. Es bleibt eine Tatsache unbestreitbarer Art, daß alle Wendung zur Religion aus einem Gegensatz zur unmittelbaren Welt entspringt, daß der Gedanke einer Überwelt nur deshalb aufsteigt und eine Macht gewinnt, weil die nächste Welt eine Aufgabe nicht erfüllt, auf deren Lösung sich unmöglich verzichten läßt. Daher ist es der Religion eigentümlich und wesentlich, ihre Stärke im Gegensatz zu entfalten; wo der Gegensatz fällt oder nachläßt, da erlahmt alsbald ihre Kraft. Der Gottesbegriff wird haltlos, wenn kein innerer Widerspruch über die Welt hinaustreibt und ein überlegenes Leben fordert; alle Bewegungen innerhalb der Welt, auch alle Vertiefung des Befundes der Welt, können wohl ihren eignen Begriff erweitern, nicht aber einen Bruch mit ihr rechtfertigen, wie ihn die Idee der Gottheit vollzieht. Diese enthält eine durchgreifende Wendung des Lebens und eine Umwälzung der Wirklichkeit, sie enthält auch eine Aufrufung aller Vernunft zum Kampf gegen die Unvernunft und für eine Lebenserneuerung. Das aber liegt dem Pantheismus fern.

Jener Widerspruch beherrscht alle Entwicklung des Pantheismus und treibt sie zu voller Spaltung auseinander. Ziehen die Ideen Gott und Welt nach widerstreitender Richtung, so können sie unmöglich zusammentreffen, die eine wird die andere zu unterwerfen und in sich aufzusaugen suchen. Wo die Bewegung zur Gottheit voransteht, da verflüchtigt die Welt sich mehr und mehr zu bloßem Schein, so zeigt es die Mystik; wo die Bewegung zur Welt geht, da verblaßt die Gottesidee zusehends, bis sie schließlich zu einem leeren Worte wird und der Pantheismus zum Atheismus sinkt; das lehrt die Entwicklung des modernen Lebens bis zum neuesten Monismus. Dabei umkleidet oft der Pantheismus die Dinge mit einem unechten Schimmer der Göttlichkeit, der über die Schroffheit der Gegensätze wegtäuscht. Oft ist er nicht mehr als das Ausklingen einer wirklichen und kräftigen Religion, ihre Verwandlung in bloße Stimmung, der Prozeß ihrer Auflösung.

Da aber in menschlichen Dingen auch der schroffste innere Widerspruch eine gewisse Verwirklichung und Machtentfaltung nicht hindert, so bleibt trotz jenes Mangels der Pantheismus eine geschichtliche Tatsache und Macht. Als solche hat er das Verdienst, der Vermenschlichung der religiösen Begriffe entgegenzuwirken, den Blick auf die eignen Zusammenhänge der Dinge und die Ordnung innerhalb der Welt zu lenken, besonders aber dem Egoismus der Individuen nicht nur, sondern auch dem der Menschheit zu widerstehen, nicht durch Worte und Lehren, sondern durch die Eröffnung eines neuen Lebens aus dem Ganzen und der Unendlichkeit. Das aber ist sein Fehler, das höchste Ziel als schon erreicht zu betrachten und allen Abstand von ihm für bloßen Schein zu erklären. Dieses Fertigerklären der Wirklichkeit hat nach verschiedenen Richtungen hin Folgen mißlicher Art. Gilt es nur eine schon vorhandene Vernunft anzuerkennen, nicht durch Arbeit und Kampf die Vernunft nach Kräften zu steigern, so verwandelt sich das Leben in ein bloßes Betrachten, die Versöhnung mit der Wirklichkeit liegt dann bei der künstlerischen oder wissenschaftlichen Kontemplation. Das aber auf Kosten der Freiheit und eines ethischen Handelns, für die hier weder eine Aufgabe noch irgendwelcher Platz ist. Zugleich greift die Neigung um sich, das Böse, das der erste Weltanblick zeigt, wegzudeuten oder abzuschwächen; das aber ergibt einen quietistischen Optimismus. Das Ganze des Geisteslebens erhält damit zu sehr einen Naturcharakter; mag es als ruhende Substanz, mag es als fortlaufender Prozeß verstanden werden, es scheint nicht sowohl auf Freiheit als auf ein Schicksal gestellt. So gerät diese Denkweise, indem sie das Bloßmenschliche flieht, unter die Macht von Naturbegriffen, ein für die Echtheit und Tiefe des Geisteslebens schwerlich geringerer Mißstand.

In Wahrheit wirkt alles Verfließenlassen des Göttlichen in die Welt zur Verdunklung des Gegensatzes und zur Abschwächung der Kraft. Wohl muß die Religion das Göttliche auch in der Welt aufsuchen, aber sie kann es dort nur finden, wenn sie es zuerst ihr gegenüber entwickelt und ausgeprägt hat; nur das ergibt die Möglichkeit einer Scheidung von Vernunft und Unvernunft, einer Austreibung des Feindlichen, einer Weiterbildung des Verwandten. Das eben ist charakteristisch für die Religion, daß die göttliche Welt eine andere neben sich hat, die mit ihrer Wurzel irgend in das Göttliche hineinreichen muß, und der auch das Ziel der Vergöttlichung als ein Trieb zum eignen Wesen vorschwebt, die aber nicht aus eigner Kraft, sondern nur durch ein Gehobenwerden jenes Ziel zu erreichen vermag.

Im Urphänomen der Religion liegt ein Zwiefaches: das absolute Leben muß sowohl weltüberlegen als innerhalb der Welt wirksam sein, die Bewegung muß sowohl über die Welt hinaus- als in die Welt zurückgehen; das vornehmlich gibt der Religion ihre treibende Kraft und ein unablässiges Fortquellen ihres Lebens, daß beides nicht voneinander abgelöst wird, sondern miteinander gegenwärtig bleibt. So bedarf es einer fortwährenden Überwindung des Gegensatzes von Dualismus und Pantheismus, die nur eine der Richtungen verfolgen und damit notwendig bald auf einen Punkt starrer Ruhe kommen.

γ. Gottheit und Mensch.

Beim Problem des Verhältnisses von Gottheit und Mensch besteht vornehmlich die Gefahr, auf dem eignen Boden der Religion beides auseinanderzureißen und gegeneinander auszuspielen. Wird nämlich göttliches und menschliches Wirken in einen derartigen Gegensatz gebracht, daß der Gewinn des einen einen Verlust des anderen bedeutet, so wird alle Freiheit des Menschen, alle eigne Betätigung, zu einer Schädigung der göttlichen Allmacht und jener unbedingten Unterwerfung des Menschen, auf der alle Religion bestehen muß. Alsdann wird die Religion dahin neigen, die Freiheit möglichst einzuschränken bis zur völligen Vernichtung, wie denn solcher Gedankengang alle ausgeprägt religiösen Naturen in ihrem Bewußtsein zu Deterministen machte. Wenn die Sorge für die Praxis des Lebens eine Milderung erzwang und auch dem Menschen eine Mitwirkung zugestehen hieß, so erweist das mehr praktische Klugheit als religiöse Tiefe und logische Konsequenz. Werden aber die Konsequenzen ohne alle Rücksicht auf menschliche Meinung und eigne Erfahrung ausgedacht, so vernichtet jener Determinismus alle und jede eigne Tätigkeit, er zerstört allen moralischen Charakter des Lebens, er verfeindet schroff Religion und Moral. Alles Heil liegt dann an einem starren Wunder, das leicht das religiöse Leben materialisiert, indem hier das Gute uns nur eingeflößt, nicht in eigne Tat verwandelt wird. Auch führt es leicht zur Überspannung und Unwahrheit, wenn diese Gedankenrichtung den Menschen möglichst unfähig, schlecht und verwerflich zu schildern liebt, um auf so dunklem Hintergrunde die göttliche Gnade desto heller leuchten zu lassen. So jene unglückliche Lehre von der Erbsünde, welche das Christentum zum Manichäismus herabzieht, so jene bedenkliche Meinung Luthers, daß der Mensch die Gerechtigkeit nicht sowohl erlange als nur zugerechnet erhalte, eine Meinung, die, zu Ende gedacht, den großen Weltkampf in bloßen Schein und Spiel verwandeln würde.

Derartige ebenso unabweisbare wie unerträgliche Konsequenzen verraten deutlich einen Fehler im Grunde. Auch für die Religion selbst ist es eine verkehrte, im letzten Grunde anthropomorphe und daher unzulängliche Denkart, die Größe der Gottheit und des göttlichen Wirkens durch eine Herabsetzung des Menschen und seines Vermögens steigern zu wollen. Denn schließlich ist das nichts anderes als ein Messen der Gottheit am Menschen. In Wahrheit gibt es nur einen Weg zur Lösung des Problems: eine Entgegensetzung von Göttlichem und Menschlichem ist überhaupt zu verwerfen und in der Entwicklung des einen zugleich eine Bekräftigung des anderen zu sehen. Die Freiheit und Selbsttätigkeit des Menschen ist nicht ein Abzug von der göttlichen Macht und eine Minderung der göttlichen Gnade, sondern sie selbst ist ihre Bewährung, ihre allerhöchste Bewährung; Moral und Religion brauchen nicht um ihre Grenzen zu streiten, sondern recht verstanden ist die Moral selbst der Haupterweis der Religion, die Bekundung der Gegenwart eines absoluten Lebens. Daß der Mensch in den Stand echtgeistigen Lebens gegenüber der eignen Schwäche und dem Widerstande einer unermeßlichen Welt gehoben wird, das ist das größte aller Wunder, denn es trägt in sich das Wirken einer überlegenen Welt.

Wie das möglich sei, wie aus Gnade Freiheit, aus Abhängigkeit Selbstbetätigung entspringen könne, das übersteigt als ein Urphänomen alle Erklärung, es ist, als die Grundbedingung alles Geisteslebens, durchaus axiomatischer Art. Das aber läßt sich dartun, daß es kein isoliertes Problem, sondern nur die höhere Stufe jenes allgemeineren Problemes ist, wie aus den Zusammenhängen der Welt Einzelwesen seelischer Art, bewußte und fühlende Wesen hervorgehen und ihr Leben als ein eignes im Gegensatz zu aller Umgebung führen können; wäre dies Problem glücklich gelöst, dann ließe sich die Behandlung jenes anderen wagen.

Aber, was der Spekulation geheimnisvolle Rätsel stellt, das hat für die Religion das Leben durch seine eigne Leistung entschieden. Auch bei jenen großen Deterministen war es, seinem geistigen Kerne nach, eine Widerlegung der Lehre. Denn sie waren keineswegs untätige, auf Hoffen und Harren gestellte Naturen, sondern aufs hellste schlug in ihnen die Flamme des Lebens empor, sie wagten und bestanden den Kampf gegen die Welt und den schwereren gegen sich selbst, aber eben in der Aufbietung der höchsten Kraft und der Einsetzung des eigensten Wesens haben sie sich als von einer überlegenen Macht getragen und als ein Werkzeug ihrer Zwecke gefühlt. Die höchste Leistung der Freiheit trug in sich das stärkste Bewußtsein der Abhängigkeit. Paulus vor allem hat eine deterministische Denkweise in das Christentum gebracht, aber zugleich hat er mehr gearbeitet als die anderen alle, AUGUSTIN braucht man nur in sein Lebenswerk und in sein Verhältnis zur Zeit zu verfolgen, um in ihm eine höchst aktive Persönlichkeit zu erkennen, LUTHERS Kraft endlich bedarf keiner Versicherung. Daß aber auch in größeren Kreisen Freiheit und Abhängigkeit zusammengehen können, das erweisen jene Calvinisten, denen die Überzeugung, ganz und gar, lediglich und unmittelbar von Gott determiniert zu sein, der stärkste Antrieb zur Verfechtung der Unabhängigkeit und eifriger Arbeit wurde. So hat hier das Leben selbst das dem Denken unlösbare Problem gelöst.

Die Lösung sei aber nicht auf die Persönlichkeiten und Kreise beschränkt, deren ursprünglich aufquellendes Leben über alle Verwicklungen und Irrungen der Deutung und Fassung hinaushob; sie muß allgemein gelten und die gemeinsame Gestaltung der Religion beherrschen. Handelt es sich hier doch nicht um bloße Meinungen, sondern um den Gehalt des Lebens. Wo jene Gegensätzlichkeit zwischen Gottheit und Menschheit bestehen bleibt, da gerät das Leben notwendig in ein unstetes Hin- und Herschwanken zwischen unversöhnlichen Gegensätzen. Entweder beherrscht das Bewußtsein der Abhängigkeit ausschließlich die Überzeugung, dann muß alle eigne Tätigkeit als unnütz, ja ihr Versuch als eine Auflehnung gegen die göttliche Allmacht erscheinen, die Religion wird zu passiv und entbehrt rechter Männlichkeit, sie gefährdet dann leicht die Freiheit wie auch die Kraft des Lebens; auch erzeugt sie in einer Wendung zum Pietismus leicht eine zugleich gedrückte und hoffärtige Stimmung, jene traurige Unwahrhaftigkeit der Gesinnung, worin der Mensch mit seiner Nichtigkeit großtut und sich anderen um so überlegener dünkt, je stärker er das Gefühl seiner Verwerflichkeit entwickelt und zur Schau trägt. Wenn aber in notwendigem und erfreulichem Rückschlag gegen solchen Gemütsstand ein frischer und froher Lebensmut aufstieg, so war – bei Festhaltung jenes Gegensatzes – die Gefahr kaum zu vermeiden, daß dann der Mensch ausschließlich seine eigne Kraft empfand, entfaltete, genoß und solches Gefühl bis zu trotziger Selbstbewußtheit und zur Ablehnung alles Göttlichen steigerte; so nahm die Kultur eine Wendung gegen die Religion und behandelte sie als einen bloßen Ausdruck der Schwäche, als ein »Heilmittel kranker Seelen«. Auch das aber ruft immer wieder einen Rückschlag hervor. Denn je mehr jene Entwicklung alles Weltüberlegene aus unserem Leben streicht und den Menschen ganz in das unmittelbare Dasein aufgehen läßt, je mehr schließlich auch der Schimmer verblaßt, womit die Überwelt jenes Dasein umwob, desto flacher, kleiner, leerer muß bei aller Geschäftigkeit das Leben innerlich werden, desto zwingender treibt das Verlangen nach einem Inhalt, das Bestehen auf geistiger Selbsterhaltung, zur Religion zurück.

Solcher Wandel mag in den Verschiebungen der Zeiten nicht zu vermeiden sein; um so notwendiger ist es, daß die Religion ihrem Wesen nach darüber hinausgehoben werde, und daß sie diese Überlegenheit auch ihrer Gestaltung so weit mitteile, um die ewige Wahrheit gegen jene menschlichen Schwankungen und Irrungen behaupten zu können.

δ. Charakteristische Züge der Religion des Geisteslebens.

Daß es sich bei der Religion nicht um die Erhaltung des Menschen als solchen, sondern um die Erhaltung des Geisteslebens beim Menschen handelt, daß bei ihr der Gewinn eines echten Geisteslebens, eines kosmischen und wesenhaften Innenlebens, in Frage steht, das muß wie das Gesamtbild, so auch alle einzelnen Züge eigentümlich gestalten. Einiger dieser Züge sei hier Erwähnung getan.

1. Wo die Religion ein neues, allem menschlichen Getriebe überlegenes Leben erstrebt, da muß besonders kräftig ihre Erhabenheit über alle menschlichen Zwecke und Parteiungen verfochten werden. Nun und nimmer sei die Religion in Ja oder Nein mit politischen oder sozialen Problemen verquickt; ob Monarchie oder Republik, ob mehr individualistische oder sozialistische Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, damit hat die Religion als solche gar nichts zu tun; wer sie in diese Sphäre herabzieht, wenn auch in der Absicht, ihr bei den Menschen zu nützen, der denkt unwürdig von ihr und wird leicht das Gegenteil seiner Absicht erreichen. Nicht minder töricht ist es, die Religion zugunsten eines politischen oder sozialen Radikalismus anzugreifen, sie als eine Erfindung zugunsten privilegierter Klassen zu verschreien. Wie kläglich denkt man dabei nicht nur von der Religion, sondern vornehmlich vom Menschen und seinem Wesen; wie gering denkt auch von sich selbst, wem der Verzicht auf Geistigkeit und damit auf allen Gehalt und Sinn des eignen Lebens so leicht fällt!

2. Das Geistesleben mit seiner Bildung einer bei sich selbst befindlichen Wirklichkeit sahen wir hinter die seelische Lebensform mit ihrer Verzweigung zurückgehen und dies ganze Gebiet, soweit es am geistigen Leben Anteil hat, in eine bloße Existenzform verwandeln. Das greift besonders tief in die Gestaltung der Religion, indem hier alle Verdunklung jener Wahrheit schwere Verwicklungen und harte Kämpfe hervorruft.

So gibt namentlich der alteingewurzelte Intellektualismus den Größen der Religion eine schillernde Zwittergestalt: sie sollen eine Sache des ganzen Menschen und seiner Entscheidung sein und können doch einen bloßintellektuellen Charakter nicht verleugnen. Das heißt die Hauptsache verkümmern, sowie Gewissen und Überzeugung bedrängen. So am deutlichsten beim Begriff des Glaubens. Nun und nimmer ließ sich an ihn das Heil der Seele knüpfen, ohne daß er mehr sein sollte als die Annahme einer autoritativ übermittelten Lehre, ohne daß bei ihm der ganze Mensch und der Kern der Seele zu beleben war. Aber diese Fassung rein herauszuarbeiten, ist den kirchlichen Formen der Religion oft wenig gelungen, es konnte, bei Vermengung von Substanz und Existenzform des Geisteslebens, nicht wohl gelingen. Das göttliche Leben, dessen Ergreifung in Frage stand, verwandelte sich immer wieder in eine Lehre, eine Lehre vom Heil der Seele und den letzten Dingen, aber eine Lehre; je mehr solche Lehre alle Vernunft zu übersteigen, ja ihr zu widersprechen schien, desto größer dünkte das Opfer der Zustimmung, desto erhabener der Heroismus der Gesinnung. Nun gehört sicherlich zur Religion Heroismus, mehr Heroismus als zu irgendwelcher anderen Sache, aber dieser Heroismus hat an der richtigen Stelle einzusetzen, sonst wird die Tapferkeit zum Eigensinn und die Festlegung zur Erstarrung. Er tut jenes aber nur, wenn den Gegenstand des Glaubens nicht irgendwelche Lehren bilden, sondern die Gegenwart eines göttlichen Lebens in uns und damit eine Idealität, ja eine Göttlichkeit in unserem eignen Wesen; alsdann ist der Glaube kein bloßes Annehmen, sondern es liegt in ihm ein Aufklimmen des ganzen Seins, ein Verlangen nach Erhöhung und ein Gewißwerden solcher Erhöhung aus der Kraft des göttlichen Lebens. So geht der Glaube im Grunde auf ein Einziges, aber dieses Eine trägt in sich eine neue Welt. Daraus entspringen freilich auch besondere Überzeugungen, aber diese Überzeugungen wollen erst entwickelt sein und können sich nicht entwickeln ohne sich mit dem allgemeinen Stande des Geisteslebens auseinanderzusetzen und seine Erfahrungen zu verwerten.

Nur solche Beschaffenheit des Glaubens macht es begreiflich, daß sein Gegenstück, der Zweifel, in der Religion eine so große Rolle spielen konnte, wie er es in Wirklichkeit tat. Solange er auf bloße Lehren geht, bleibt unerfindlich, wie er die Seele so stürmisch erregen, so tief erschüttern kann. Ward doch in der antiken Welt, wo das religiöse Problem noch im Hintergrunde stand, der Zweifel, die Skepsis, von klugen Männern warm empfohlen als das beste Mittel zur seelischen Beruhigung. Im Christentum ist das deswegen völlig anders geworden, weil nun beim Verhältnis zu Gott der Gewinn eines neuen Wesens, die Rettung der bedrohten Seele in Frage kam. Handelte es sich aber um geistiges Sein oder Nichtsein, so mußte ein Überhandnehmen des Zweifels rasch zur Verzweiflung führen. Um so peinlicher wurde die Verengung, um so unerträglicher der Druck, wenn die Orthodoxie für das Leben die Lehre einschob und an das Verhalten zu den kirchlichen Dogmen Heil und Rettung des Menschen knüpfte.

So ist eine gründliche Austreibung des Intellektualismus aus diesen und aus anderen religiösen Begriffen, wie z. B. aus dem der Offenbarung, eine dringende Forderung der Religion. Aber eine solche Überwindung wird nur gelingen bei Anerkennung der Wahrheitselemente des Intellektualismus, namentlich seines Verlangens nach einer Gedankenwelt; sie kommt nicht schon dadurch zustande, daß wir uns in das volle Gegenteil werfen und die Religion auf bloßes Fühlen oder Wollen gründen. Hat es überhaupt die Vermutung gegen sich, daß Wahrheit einfach durch die Setzung des Gegenteils einer geltenden Lehre erreichbar sei, so ist im besonderen Falle leicht zu ersehen, daß bloßes Fühlen oder bloßes Wollen ebensowenig geistige Substanz enthalten als das bloße Erkennen. Subjektiv starke Gefühle, subjektiv starke Willensakte können wenig geistigen Gehalt besitzen. Der Schein eines Gelingens wird nur dadurch erreicht, daß jenen Begriffen unvermerkt etwas Wesenhafteres untergelegt wird, daß für Fühlen oder Wollen ohne weiteres ein fühlendes oder wollendes Wesen eintritt. Was dem Gegensatz von Intellektualismus und Voluntarismus in Wahrheit zugrunde liegt, sind Probleme innerhalb des Geisteslebens; es handelt sich um verschiedene Seiten und Aufgaben in ihm, die sich entzweien und gegeneinander ausgespielt werden können, während sie in der Tat aufeinander angewiesen sind und einem umfassenden Ganzen angehören. Käme bei all den »ismen« überhaupt etwas heraus, so würden wir sagen, daß weder der Intellektualismus noch der Voluntarismus, sondern allein ein Noetismus die Religion sicher zu begründen vermag; er aber wird sofort einen Kampf gegen jene Entzweiung beginnen.

3. Wir sahen, daß die Religion auf das Ganze des Lebens ging und dies Ganze zu erhöhen versprach; so kann sie nicht ein Sondergebiet entwickeln und dem übrigen Leben entgegenhalten, sondern sie muß nach allen Richtungen und auf alle einzelnen Gebiete wirken, sie wird das aber weniger direkt als durch die Umwandlung des Gesamtlebens tun. Alle direkte Wirkung der Religion, z. B. auf die Wissenschaft, die Kunst, das Staatsleben, hat große Gefahren und führt leicht zur Bedrückung und Verengung, die mit Recht abgelehnt wird. Aber die Abweisung solcher direkten Einwirkung der Religion sollte nicht auch die indirekte leugnen lassen. Indem die Religion das ganze Leben verwandelt, wird sie auch bei seiner Verzweigung Aufgaben wie Kräfte, Ziele wie Angriffspunkte verändern. Aber solche Veränderungen erfolgen nicht durch ein herrisches Gebot von außen her, sondern durch ein stilles, freilich um so mächtigeres Wirken von innen heraus. So in ihrer Universalität gefaßt – es wird sich zeigen, daß das nicht den letzten Abschluß bildet –, bedarf die Religion keiner besonderen Organisation, sondern kann sie mit unsichtbarem Walten die gesamte Lebensarbeit durchdringen. Ja hier mag sie um so tiefer wirken, je weniger sie in Erscheinung tritt, je mehr sie nichts anderes als die stille und doch starke Seele des Ganzen bildet. Daher hat bei den Geistern, deren Überzeugung von solcher universalen Art der Religion erfüllt war, die Unfaßbarkeit und Unerforschlichkeit des höchsten Wesens nicht abschreckend und niederdrückend, sondern anziehend und erhebend gewirkt. So jenes Wort des tiefreligiösen PLATO, daß Gott zu erkennen schwer und ihn allen mitzuteilen unmöglich sei, so auch die Art GOETHES, der seinen Glauben an ein göttliches Wesen und seine Allgegenwart kaum bekennen kann ohne zugleich seiner Unerforschlichkeit zu gedenken.

Demgemäß haben alle Begriffe der Religion den Charakter der Universalität zu tragen, sie müssen sich über das ganze Leben ausdehnen, dabei zusammenfassend und verstärkend, was in der Zerstreuung nicht zu voller Wirkung gelangt. Das menschliche Leben ist bis in die Abgründe von Leid und Schuld hinein voller Erweisung eines übermenschlichen göttlichen Lebens, an mannigfachsten Punkten erscheint eine Emporhebung über die Kleinheit, eine Verklärung des Dunkels, ein Durchbrechen von Liebe und Barmherzigkeit inmitten alles selbstischen Getriebes. Solche äußerlich zerstreuten Wirkungen hat die Religion kraft ihrer universalen Art zu sammeln und sie als Erweisungen eines durchgehenden Lebens zu verstehen und zu verehren. Es schließt das eine spätere Wendung zu eigentümlicherer Art nicht aus, aber die Religion kann nicht ihre Macht über das ganze Leben erstrecken, ohne daß ihre Größen volle Weite und eine Allgegenwart haben.

So zeigt es z. B. der Begriff des Opfers. Das ist für die Religion ein Hauptbegriff, da er allererst ihrer Sache den vollen Ernst verleiht. Denn ohne ein gründliches Verzichten, ja ohne ein scheinbares Untergehen gibt es keinen Aufstieg zu neuer Art, kein Erringen eines wahrhaftigen Lebens. Aber es sei das Opfer nicht auf besondere, spezifisch religiöse Leistungen beschränkt und damit verengt, sondern es sei in der ganzen Weite des Lebens aufgedeckt, zugleich aber zusammengefaßt und erhöht. Wie sich im menschlichen Kreise die Kraft der Liebe bemißt nach der Größe des Opfers, das sie aufzubringen vermag, so gibt es auch keine echte Bewegung zur Wahrheit ohne ein Entsagen und Verzichten, ohne ein innewohnendes Opfer. Eine Zusammenfassung des Ganzen aber läßt ersehen, daß das Opfer sich nicht auf die Preisgebung dieser oder jener Güter beschränkt, sondern daß es nicht weniger fordert als den ganzen natürlichen Lebenstrieb selbst. Wenn die Religion dahin wirkt, in dem Einzelnen das Ganze, in dem Kleinen das Große, im Menschlichen das Göttliche sehen und erleben zu lassen, so wirkt sie damit zur Veredlung, ja Heiligung des Lebens bis in die unscheinbarsten Züge hinein.

Ähnlich steht es mit dem Begriff des Glaubens. Was die übliche Art der Religion viel zu sehr auf ein besonderes Gebiet einschränkt, das erstreckt vielmehr seine befestigende und erhöhende Kraft über das ganze Leben. Der Glaube geht nach der Lehre der Religion auf etwas Unsichtbares und scheinbar Unmögliches. Wo aber gäbe es ein vordringendes Streben in geistigen Dingen, das sich nicht von der ersten Ansicht her als unmöglich ausnimmt, das daher nicht auf eine innere Erhöhungsfähigkeit der menschlichen Natur, auf einen neuen Menschen vertraut? Wie wäre ohne das irgendwelches wissenschaftliche oder künstlerische Schaffen erhöhender Art denkbar, wie eine vertrauende Liebe, wie gegenüber allem Schein und aller Unlauterkeit des Erfahrungsstandes ein freudiges Wirken zur Veredlung des Menschen? Dabei hat aller Glaube die Eigenschaft, daß wir ihn nicht durch Aufgebot eigner Mühe erringen können, daß er uns vielmehr als Gunst und Gabe zufallen, uns wie ein freies Geschenk geboten sein muß. So nicht nur der Glaube an andere, sondern auch der an uns selbst, an unsere Aufgabe, unser Lebenswerk. Nirgends kommen wir in echtes Wirken und Schaffen ohne eine Überzeugung axiomatischer Art, die sich aller Ableitung entzieht, ja aller Begründung vorangeht. Was aber an den einzelnen Stellen verlangt, und dort, wenn auch oft unbewußt und ungewollt, bejaht wird, das gewinnt volles Licht erst bei der Fassung ins Ganze, bei Anerkennung der inneren Gegenwart einer unendlichen Macht, aus der ein unerschütterliches Vertrauen und eine unbegrenzte Steigerungsfähigkeit hervorzugehen vermag. Wiederum ist es die Religion, welche zur Kraft und zur Klarheit eines Prinzips zu erheben hat, was das ganze Leben durchdringt, sich aber in seiner Breite vielfach zerstreut und verschleiert. – Indem so die Religion zusammenfaßt und als Ganzes zur Wirkung bringt, was an edlerer Art und erhöhender Kraft in unserem Leben steckt, vollzieht sie eine Verklärung dieses Lebens, ohne sein Dunkel zu leugnen, zeigt sie das Göttliche in unmittelbarster Nähe, ohne den Durchschnittsstand fälschlich zu idealisieren.

4. Immerhin würde diese sammelnde Kraft der Religion manche Gefahren bereiten, stünde ihr nicht eine scheidende zur Seite; eine solche scheidende Kraft entwickelt auch schon die Religion in dem weiteren Sinne, der uns hier beschäftigt. Denn so gewiß sie auf das Ganze des Geisteslebens geht, den Bestand des Geisteslebens will sie in voller Reinheit, und dieses Ziel erreichen kann sie nicht ohne im menschlichen Befunde eine energische Scheidung zwischen echter und bloß scheinender Geistigkeit zu vollziehen. Indem sie auf ein substantielles Geistesleben, auf eine Wesensbildung im Lebensprozesse dringt, muß sie vieles als unecht verwerfen, wird sie aber zugleich in dem, was sich als echt erweist, mehr Tiefe finden, und wird sie dieses Echte aus der Vereinzelung zur Verbindung, aus der Verworrenheit zur Klarheit, aus einer bloß anhängenden Eigenschaft zu eigner Tat und vollem Besitz erheben. Zugleich aber muß ein harter Kampf zur Durchsetzung echtgeistigen Lebens gegen jene Halbgeistigkeit entstehen, womit sich der Durchschnitt des menschlichen Lebens begnügt und bei der er sich wohlfühlt, ein Kampf für das Wesen gegen den Schein, für eine Geisteskultur gegenüber der bloßen Menschenkultur. Wohl schrumpft dabei der echte Bestand des Lebens stark zusammen, aber in dem, was bleibt, wird unvergleichlich mehr erkannt; es entsteht namentlich dadurch ein harter Zusammenstoß mit der üblichen Denkart, daß diese dem Menschen und seinen Lebensformen Geistigkeit und mit ihr Größe und Würde als einen natürlichen Besitz beilegt, während von der Religion aus erhellt, daß nur ein gewisser Keim der Geistigkeit oder auch eine Bewegung zu ihr gesetzt ist, die sich in hartem Kampfe erst aufringen muß. Aber zugleich erscheint im Geistesleben deutlich eine neue Ordnung und die Gegenwart einer neuen Welt. Nun ist der Mensch nicht mit seinem ganzen Dasein ohne weiteres Persönlichkeit, sondern es ist in ihn nur eine Kraft des Persönlichwerdens gepflanzt gegenüber einer andersartigen Natur, gegen die sie erst durchdringen muß; aber im Persönlichwerden ist dann auch die Befreiung von aller bloßen Punktualität und das Gehobenwerden in ein Selbstleben universaler Art erkannt. – Moral bedeutet hier nicht eine dem Menschen als Naturwesen zukommende Eigenschaft, denn was das Durchschnittsleben an sozialen Instinkten und gelegentlicher Teilnahme aufweist, bildet höchstens eine Vorstufe der Moral und darf unbedenklich als eine bloße Weiterführung des tierischen Standes gelten. Echte Moral entsteht erst auf der Stufe des Geisteslebens, und es läßt sich streiten, wie viel oder wie wenig im menschlichen Leben davon angetroffen wird; aber wie viel oder wie wenig, immerhin erscheint auch in unserem Kreise Moral und mit ihr ein Reich naturüberlegener Art; so mag bei der Wandlung der Mensch der Erfahrung verlieren, das Menschenwesen gewinnt an Tiefe und Weite.

Man hat wohl den Menschen ein geschichtliches Wesen genannt, aber das meiste, was bei ihm Geschichte heißt, unterscheidet sich wenig von dem, was auch die Natur in Aufeinanderfolge und Anhäufung besitzt. Geschichte in auszeichnend menschlichem und geistigem Sinne entsteht nie durch die bloße Folge der Zeiten, sondern nur dadurch, daß das Vergangene festgehalten, erlebt, auf sein Wesen und in einen inneren Zusammenhang gebracht wird; das aber kann nur von einem zeitüberlegenen Standort geschehen, das bezeugt das Wirken einer zeitüberlegenen Ordnung. Aber mit solcher Erhöhung wird Geschichte aus einem scheinbar sicheren Besitz zu einem schweren Problem. – Nicht anders steht es beim Problem der Gesellschaft. Auch Gesellschaft in auszeichnend menschlichem und geistigem Sinne ist nicht schon vorhanden, sondern erst herzustellen, denn zu ihr gehört eine innere Einheit des Lebens, ein Leben aus dem Ganzen; davon bietet unsere Erfahrung wenig genug; was sich aber findet, erweist wiederum eine der Natur mit ihrer Zerstreuung überlegene Ordnung.

So steckt durchgängig im Menschenleben etwas Tieferes, mag es zunächst nur in leisesten Anfängen erscheinen; die Religion ist es, die dieses Tiefere heraushebt, zusammenschließt und kräftigt. So vollzieht sie durchgängig eine Zerlegung des Lebens, sie versetzt es mit jener Herausarbeitung der Tiefe in unermeßliche Bewegung, sie ruft auf zu gewaltigem Kampf. Sie ist so fern wie möglich davon, das Leben, so wie es vorliegt, für vortrefflich oder auch nur erträglich zu erklären, vielmehr verdüstert sie durch ihre Steigerung aller Maße seinen Anblick, indem sie weit mehr Hemmung und Schein aufdeckt; aber aller Widerstand kann sie nicht erschüttern, da nunmehr die Gegenwart des göttlichen Lebens einen unantastbaren Kern und die Gewißheit des Sieges gewährt.

So steht die Religion über dem Gegensatze des Optimismus und Pessimismus; gerade dieses, daß sie die ganze Fülle des Leides anzuerkennen vermochte, ohne darüber die Freudigkeit des Glaubens einzubüßen oder nur irgend herabzumindern, hat ihr, namentlich in zerrissenen und gedrückten Zeiten, die Herzen der Menschen gewonnen. Die deutliche Vorhaltung eines göttlichen Lebens muß den weiten Abstand unseres Daseins erst recht zum Bewußtsein bringen und damit zur Steigerung des Schmerzes wirken. Viel zu schroff erscheinen von hier aus die Widersprüche des Daseins, viel zu mächtig in ihm die Unvernunft, als daß ein fröhlicher Optimismus aufkommen könnte. Aber auch die stärkste Empfindung des Leides erzeugt keinen verzweifelnden Pessimismus, wo es vornehmlich das Erscheinen einer neuen Welt, die Gegenwart ewigen Lebens ist, welche das Dasein unzulänglich macht.

Diese Zweiseitigkeit gibt dem Gesamtwirken der Religion einen Doppelcharakter: es ist ebenso ein Ablösen, Befreien, Erretten von der alten Welt als ein Erhöhen zu einer neuen; eine gleichmäßige Entwicklung und unablässige Wechselwirkung beider Seiten tut not, wenn nicht entweder das Leben ins Unfrohe und Gedrückte verfallen oder es die Sache zu leicht nehmen soll.

Auch insofern endlich erscheint die Religion als ein Reich fortlaufender Bewegung, als das, was nach der göttlichen Seite die begründende Tatsache bildet, und als solche auch der innersten Tiefe der menschlichen Seele gegenwärtig ist, für die Entwicklung des menschlichen Lebens erst mühsam gewonnen und daher immer von neuem gesucht, erkämpft, entwickelt sein will. So verwandelt sich die Tatsache in eine Aufgabe, der Besitz in ein Problem; die Verschiedenheit der Ausgangspunkte läßt in ein und demselben Leben Gewißheit und Zweifel, Ruhe und Unruhe, Seligkeit und Schmerz zusammentreffen.

Durchgängig erweist sich somit die Religion als ein Reich der Gegensätze. Mit der Herausarbeitung solcher Gegensätze zerstört sie sicher den trüben Dämmerstand des Alltags und zerteilt sie deutlich Licht und Schatten. Sie stellt unser Leben unter schroffe Kontraste und erzeugt die stärksten Gefühle und Bewegungen; in unserem eignen Wesen zeigt sie dunkle Abgründe, aber auch lichte Höhen, eröffnet sie damit unendliche Aufgaben und erweckt sie aus der Bewegung des Lebens gegen sich selbst immer neues Leben. Sie macht mit dem allen das Dasein nicht leichter, aber sie macht es reicher, bewegter und größer, läßt sie doch den Menschen bei sich selbst Weltprobleme erleben, eine neue Welt erstreben, ja eine Welt wahrhaftigen Lebens als eignes Sein gewinnen.

3. Die Erweisung und Bewährung der Religion.

α. Religion und Wissenschaft.

Wir verfolgten bisher die Hauptlinie unserer Untersuchung ohne irgend zur Seite zu blicken und unsere Behauptung mit der übrigen Gedankenwelt auseinanderzusetzen, wie sie namentlich durch die Wissenschaft vertreten wird. Unmöglich können wir uns aber dieser Aufgabe gänzlich entziehen und stillschweigend an der Tatsache vorbeigehen, daß die Religion allezeit bald offnen, bald versteckten Widerspruch fand, und daß nicht nur leichtfertiger Spott, sondern auch hoher Ernst sie als eine Verfälschung der Wirklichkeit und eine Entstellung des Lebens bekämpfte. Namentlich erscheinen Wissenschaft und Religion leicht als geschworne Gegner. Jede entwickelt von sich aus eine Wahrheit, und es kann doch nur eine einzige Wahrheit geben; jede entwirft ein Bild der Wirklichkeit, und diese Bilder scheinen einander gegenseitig auszuschließen; die eine ergreift besondere Erfahrungen der Menschheit und deutet von hier aus als dem beherrschenden Mittelpunkt alle Weite des Alls, die andere hält sich an das Ganze und will aus ihm auch allen Gehalt des menschlichen Lebens verstehen; die Religion ist geneigt, die Wissenschaft zu einer niederen, seelenlosen Sphäre herabzusetzen, die Wissenschaft erklärt leicht die ganze Religion für Anthropomorphismus, für ein ungebührliches Hineinspiegeln menschlicher Vorstellungen und Zwecke in die Wirklichkeit; die erstrebte Objektivität dieser erscheint jener als leblose Kühle, ihre eigne Verinnerlichung des Lebens aber der Wissenschaft als subjektive Einbildung. Die Religion glaubt ihre Selbständigkeit nicht wahren zu können, ohne sich ein eignes Erkenntnisorgan im Glauben zu schaffen, aber eben damit findet sie härtesten Widerspruch, und sie gerät auch im eignen Gebiet bei der Abgrenzung von Wissen und Glauben in viel Verwicklung. Die Anhänger der Religion entzweien sich selbst, indem die einen die religiöse Gedankenwelt dem Wissen möglichst nahe rücken, die andere aber Wissen und Glauben auf schärfste scheiden. So erstreckt sich der Kampf durch die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch bis in die Gegenwart.

Sicherlich hat die Religion sich von der allgemeinen Gedankenwelt nicht abzusondern. Sie darf es vor allem ihrer selbst wegen nicht. Denn wesentlich und unerläßlich für sie ist der Anspruch, die letzte und allbeherrschende Wahrheit zu bringen, sie kann unmöglich eins neben anderem, sie muß die Seele des Ganzen sein. Wie aber könnte sie sich als solche erweisen, ohne sich mit der übrigen Gedankenwelt gründlich auseinanderzusetzen? Ohne das bleibt nicht nur ihre Wahrheit peinigendem Zweifel ausgesetzt, auch ihrem Inhalt droht bei jener Absonderung die Gefahr, sich zu wenig von bloßmenschlicher Art und Selbstsucht zu befreien, bei allem Wogen und Wallen des Gefühls, bei aller Aufregung des Subjekts zu wenig geistige Substanz zu gewinnen und daher auch den Gesamtstand des Menschen zu wenig umzuwandeln. Eine solche Substanz ist nur erreichbar bei einem Ringen vom Ganzen zum Ganzen; dies kann aber die Religion nicht unternehmen, ohne sich mit der Wissenschaft über Ja und Nein zu verständigen.

Ob aber solche Verständigung möglich sei, hängt vor allem an der näheren Fassung von Religion und Wissenschaft; nur sie kann darüber entscheiden, ob der für den ersten Anblick unversöhnliche Konflikt sich irgendwie lösen läßt. Sehen wir also zunächst, was die Religion des Geisteslebens, die wir verfechten, über das Ganze der Wirklichkeit behauptet, um dann die Art des Beweises zu erwägen. Behauptet wird hier ein selbständiges und weltüberlegenes Geistesleben als Grund und Kern aller Wirklichkeit. Selbständig kann das Geistesleben nur sein als Gesamtleben, als ein innerer Zusammenhang; die Weltüberlegenheit aber kommt zu jener Selbständigkeit nicht nachträglich hinzu, sondern, so zeigte es der Gesamtlauf unserer Untersuchung, die Selbständigkeit trägt unmittelbar die Überlegenheit in sich, sie erweist sie durch ihre eigne Entwicklung gegenüber einer andersartigen Welt. Dieses absolute Geistesleben bedeutet nicht ein abgesondertes Gebiet, es will der Grund und die Vollendung aller Wirklichkeit sein. Damit wird die Natur und überhaupt das unmittelbare Dasein zu einer zweiten Welt, zu einer niederen Stufe herabgesetzt; es gibt keine Religion ohne eine Zerlegung der Wirklichkeit und ohne Überschreitung der bloßen Natur; nur eine bedauerliche Schwäche und Halbheit des Denkens kann eine »immanente« Religion verkünden. Mit jener Wendung gewinnt die ganze Wirklichkeit einen inneren Zusammenhang und eine Tiefe; der Fortgang unserer Welt aber erscheint, wenigstens in den entscheidenden Wendepunkten, nicht als ein einfaches Hervorgehen des Höheren aus dem Niederen, sondern als ein Weitergetriebenwerden und eine innere Erhöhung aus dem Ganzen des Alls. Mit solcher Behauptung von der Welt trifft die Religion mit der Wissenschaft unvermeidlich zusammen, und das Zusammentreffen wird leicht ein Zusammenstoß; nicht nur hält sie der Wissenschaft gewisse Behauptungen als unanfechtbar entgegen, stärker noch wirkt sie zu ihr dadurch, daß sie bei der Behandlung des Weltproblems ebenso entschieden eine gewisse Denkweise fordert als was davon abweicht verwirft und bekämpft. Die Religion ist eine unversöhnliche Feindin des Naturalismus, der die Natur für das Ganze der Wirklichkeit erklärt und alle Geistigkeit als ein bloßes Nebenergebnis behandelt; sie ist eine gleiche Feindin des Historismus, der die bloße Zeit nicht zu überwinden vermag und daher nicht über den Relativismus der Betrachtung hinaus zu einer ewigen und allgemeingültigen Wahrheit vordringt; sie ist es endlich auch des Psychologismus, der das Seelenleben in lauter einzelne Elemente auflöst und kein selbständiges Geistesleben anerkennt. Mit dem allen entwickelt die Religion einen durchaus affirmativen, ja aggressiven Charakter, sie weist das Denken wie das Leben in eine bestimmte Bahn; wer das abschwächt und geflissentlich darzutun sucht, daß die Religion sich mit den verschiedensten Gedankenmassen friedlich und freundlich zu vertragen vermöge, der zeigt nur eine Mattheit der eignen Fassung, eine Schwäche der eignen Gesinnung. Kein kräftiges Ja ohne ein entschiedenes Nein: das gilt vornehmlich für die Religion mit ihrer Behauptung vom letzten Kern und Sinn der Wirklichkeit; sie ist ihrem Wesen nach intolerant und muß intolerant sein, nicht gegen Menschen – denn jeder Mensch ist als Keim einer Unendlichkeit allen Formeln und Bekenntnissen überlegen –, wohl aber gegen Denkweisen flacher und in ihrer Flachheit selbstbewußter Art. Denn niemand ist selbstbewußter als wer nirgends Probleme sieht.

Worauf aber begründet die Religion, die mit so hohen Ansprüchen auftritt, ihr eignes Recht, womit erweist sie ihre eigne Wahrheit? Es handelt sich bei ihr um eine einzige Grundwahrheit: um die Wirklichkeit eines absoluten Geisteslebens im menschlichen Kreise. Augenscheinlich läßt sich eine solche nicht dartun aus einzelnen Daten, sei es der Natur, sei es der Geschichte, sie läßt sich überhaupt nicht dartun von der Welt her, sie ist nur innerhalb des Lebensprozesses selbst als seine eigne Begründung und Fortbildung aufzuweisen. Dabei gilt es, nicht sowohl neue Dinge zu finden, als in den Dingen, die wir kennen, Neues zu sehen, nicht sowohl, ein Ergebnis als eine Bewegung uns anzueignen; wir haben nicht eine neben der unsrigen gelegene Welt zu entdecken, sondern uns der Tiefe der Wirklichkeit, der uns dem Wesen nach nächsten Welt zu versichern, von der aus dann allerdings jene zur zweiten Welt herabsinkt.

Das Entscheidende dafür ist ein Vordringen des Lebens selbst, die Tat hat hier dem Erweise voranzugehen, den Haupterweis der Religion liefert die Wirklichkeit des von ihr vertretenen Lebens. Nicht nur einzelne Sätze oder Leistungen stehen dabei in Frage, sondern die Ergreifung des Geisteslebens als eines Ganzen, Selbständigen, Weltüberlegenen, ein eignes Stellungnehmen in diesem Geistesleben. Was ist es nun, was den Menschen dahin treibt? Nichts anderes als ein Anerkennen des Geisteslebens als seines eignen Wesens, als eine innere Einigung damit, als eine Verlegung des Schwerpunktes seines Lebens und Seins dahin. Denn sobald das geschieht, und wir damit ein inneres Verhältnis zur Welt und zu uns selbst gewinnen, kann der Mensch das Geistesleben gar nicht anders als ein Ganzes und Selbständiges fassen, und muß er zugleich seines Gegensatzes und seiner Überlegenheit gegen die nächste Welt innewerden. Daß autonomes Geistesleben im Menschen und der Menschheit aufkommt, daß wir darin ein Selbst zu finden und eine neue Welt in Sammlung und Scheidung auszubilden vermögen, das ist und bleibt der entscheidende Hauptbeweis. Dieser Beweis aber bedarf keiner umständlichen Vermittlung, er wird in jeder Seele unmittelbar durch die Möglichkeit eines Heraustretens aus den Weltverkettungen, einer Erhebung zu autonomem, zu »persönlichem« Leben geführt und gewinnt damit eine unbedingte Gewißheit; erst an zweiter Stelle läßt sich eine Bestätigung durch den Nachweis vollziehen, daß das Geistesleben auch in seiner Verzweigung unhaltbar wird, wenn es nicht als Ganzes in absolutem Leben wurzelt, daß es keine Kunst und keine Wissenschaft, kein Recht und keine Moral gibt ohne die Grundwahrheit, die in der Religion zum Ausdruck gelangt. Ein Ganzes ist das Geistesleben nicht in seinem unmittelbaren Dasein, sondern nur als eine überlegene Ordnung; ist es aber kein Ganzes, so bricht es unvermeidlich auch an der einzelnen Stelle zusammen. Damit wird aller Tatbestand des Geisteslebens ein Zeugnis für die Wahrheit der Religion. Wir können die Religion aufgeben, aber wir müssen dann auch unser Geistesleben, den geistigen Charakter unseres Daseins, unsere Persönlichkeit und geistige Individualität aufgeben; wer das vermag, der verzichte auf Religion, aber wird das jemand gänzlich vermögen?

Solche Sachlage macht es schlechterdings unmöglich, vom bloßen Intellekt her jemanden für die Religion zu gewinnen, da ihr Problem tiefer liegt und die Art der intellektuellen Arbeit bis in die Probleme hinein selbst von der des gesamten Lebensprozesses abhängt. Wer sich zur Welt nur äußerlich stellt und sein Leben hinnimmt wie ein zugefallenes Schicksal, wer keinen Kampf um ein Selbständigwerden und um ein inneres Verhältnis zu den Dingen unternimmt, dem kann sich die Weltbewegung nicht in eignes Leben verwandeln, der kann nicht das Ganze mit seinen Problemen auf sich nehmen, der kann der Religion keine kräftige Regung entgegenbringen. Wer aber ein inneres Verhältnis zur Welt und sich selber fand, wer von der Bewegung des Lebens erfaßt und einer inneren Einigung mit der Wirklichkeit zugeführt wurde, wem sich damit ein neues Leben und ein neuer Anblick der Wirklichkeit erschloß, der ist der Wahrheit dessen völlig gewiß, unvergleichlich gewisser als der aller Axiome der Wissenschaften. Denn bei ihnen handelt es sich immer um einzelne Richtungen des Lebens und der Gedankenarbeit, hier aber handelt es sich um die Aufrechterhaltung des Lebens als eines Ganzen. Nirgends mehr als hier erweist die Bewegung selbst die Wahrheit der Voraussetzung, auf der sie ruht.

Bei solcher Befestigung im tiefsten Grunde des Lebens kann die Religion einer Auseinandersetzung mit der Wissenschaft getrost entgegensehen. So einfach ist diese freilich nicht, wie sie heute oft einer schroff dualistischen Denkweise scheint. Diese glaubt das Problem in der Weise lösen oder vielmehr ihm ausweichen zu können, daß die Wissenschaft lediglich mit der Welt der Erfahrung befaßt und damit auf ein bloß relatives Erkennen eingeschränkt wird; da nun die Religion mit den letzten Gründen zu schaffen habe, so fielen die beiden Sphären völlig auseinander, und eine Verwicklung könne nur dadurch entstehen, daß entweder die Wissenschaft ihre empirische Lehre in eine metaphysische Behauptung verwandle, wie das neuerdings namentlich spekulierende Naturforscher tun, oder aber die Religion in das der Wissenschaft zustehende Gebiet eingreife. Das mag Wahres enthalten, aber es erschöpft die Sache nicht. Die Wissenschaft ist nicht bloß eine Summe einzelner Lehren, sondern sie entwickelt eine charakteristische Denkart und damit auch Weltanschauung, diese aber kann mit der Religion, oder doch mit einer besonderen Art der Religion, sehr wohl zusammenstoßen; die Religion aber kann den Standort, den sie einnimmt und für den sie ihre Beweise führt, nicht für das Zentrum des gesamten Lebens erklären, ohne sich mit dem Ganzen der Wissenschaft zu verständigen.

Die geschichtliche Lage vornehmlich gibt diesem Problem eine zwingende Kraft. Die überkommene Art der Religion, auch des Christentums, ist eng einem Weltbild verwachsen, das die moderne Forschung zerstört hat. Und zwar, wie uns die Einleitung zeigte, nicht nur in seinen einzelnen Sätzen, sondern auch im Ganzen seiner Denkart. Jene ältere Art erscheint der neueren Forschung als ein durchgängiger Anthropomorphismus, als ein Hineintragen menschlicher Größen in die Weltumgebung; indem die moderne Wissenschaft das, vor allem durch den Aufweis der strengen Gesetzlichkeit und kausalen Bedingtheit alles Geschehens, unmöglich machte, hat sie die Seele aus dem Bilde der Welt vertrieben und bedroht sie auch die Religion in allerhärtester Weise. So hat es namentlich der Positivismus mit seinen drei Stufen des religiösen, metaphysischen, positiven Denkens formuliert und damit die Religion zu einer kindlichen Stufe menschlicher Entwicklung herabgesetzt, die für uns nicht mehr gelten kann. Läßt sich leugnen, daß eine solche Ansicht weit über die besonderen Kreise des Positivismus hinausreicht, daß einem großen Zuge der Zeit die Religion lediglich eine von der Bewegung der Menschheit endgültig überwundene Stufe der Weltanschauung bedeutet? Nun ist sicherlich die Religion ihrem innersten Wesen nach keineswegs bloße Weltanschauung, sondern Entwicklung eines neuen Lebens, Vordringen zu einer neuen Stufe der Wirklichkeit; aber dies neue Leben trägt Überzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit in sich, und diese Überzeugungen wollen gegenüber jener positivistischen Denkweise auch wissenschaftlich gerechtfertigt sein. Eine solche Rechtfertigung aber vollzieht in Wahrheit die Philosophie, indem sie zur Anerkennung bringt, daß jene ganze Bewegung gegen das Kleinmenschliche innerhalb des Menschen vorging, und daß die Entwicklung der Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, innerlich angesehen, die Herausarbeitung einer geistigen Organisation bedeutet, daß also, wenn auf der einen Seite etwas verloren ging, auf der anderen dafür etwas gewonnen und zwar ungleich mehr gewonnen wurde.

Die Philosophie klärt uns darüber auf, daß die Wirklichkeit für uns nicht schon durch ihr bloßes Dasein vorhanden ist, sondern nur sofern sie uns zum eignen Erlebnis wird, auch daß eine wissenschaftliche und geistige Gestaltung nicht zustande kommt, ohne daß auch im Ganzen ein neuer Grundriß der Wirklichkeit abgesteckt, eine neue Grundlage gewonnen, nach Gesetzen des Geistes eine neue Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit vollzogen wird. So wird die Natur zu einem geistigen Erlebnis und einem Vorwurf wissenschaftlicher Arbeit nur, sofern sie uns nicht bloß von draußen her mit einzelnen Mitteilungen berührt, sondern in ein Gesamtbild gefaßt wird, und dies kann nur von innen her gemäß unserer geistigen Organisation geschehen; Geschichte im menschlichen und geistigen Sinne, so überzeugten wir uns öfter, entsteht keineswegs schon durch eine bloße Aufeinanderfolge von Ereignissen und eine Häufung von Wirkungen, sondern nur dadurch, daß das Geschehen von einem überlegenen Standort erlebt, zusammengefaßt, unter Scheidung von Wesentlichem und Nebensächlichem bewertet wird; selbst unser eignes Seelenleben wäre nicht zu überblicken und in einen Zusammenhang zu bringen, stünden wir nicht mit einem Kern unseres Wesens über dem bloßen Nebeneinander des Geschehens, hätte dies Nebeneinander keinen lebendigen Hintergrund. In dem allen entwickelt sich eine Innerlichkeit geistiger Art, die von der bloßsubjektiven grundverschieden ist; steht diese unter dem Gegensatz von Subjekt und Objekt, so sucht jene geistige ihn durch eine souveräne Gestaltung der Wirklichkeit zu überwinden; gehört diese dem bloßen Menschen, so gehört jene dem Geistesleben und erst durch es hindurch dem zum Selbstleben erhobenen Menschen. Augenscheinlich ist aber solche Wendung vom naiven Lebensstande aus angesehen kein bloßes Wachstum, sondern eine völlige Umkehrung; jener ganze Lebensstand erscheint hier wie ein Ptolemäismus der Lebensführung; statt mit diesem von außen nach innen, gilt es nunmehr von innen nach außen zu sehen.

In dem allen liegt eine Rechtfertigung des Standorts eines selbständigen Geisteslebens, wie die Religion ihn vertritt und zur Hauptsache macht; zugleich gewinnt sie selbst eine völlig andere geschichtliche Beleuchtung. Wohl wird die anfänglich anthropomorphe Gestalt mehr und mehr aufgelöst, aber dafür wird eine geistige gewonnen, und es wird die Bewegung zur Vergeistigung der Religion nicht von außen her aufgedrängt, sondern sie entspringt vor allem ihrem eignen Verlangen nach Wahrheit; so schreitet die Religion von äußerer Übung fort zu innerer Religiosität, von einer Selbsterhaltung des natürlichen Menschen zu einer Rettung der geistigen Güter und der Seele, von einer Pflege einzelner Seiten des Geisteslebens zu seiner Erhöhung als eines Ganzen. Die positivistische Denkweise sieht dabei nur den Verlust, nicht den Gewinn, nicht das Aufkommen einer geistigen Innerlichkeit gegenüber der subjektiven, weil sie nur das äußere Ergebnis, nicht das innere Erlebnis beachtet, weil sie über den Werken des Geisteslebens das Geistesleben selbst vergißt. Konsequenterweise müßte dann der Mensch eine bloße Maschine werden, wie es ja komplizierte Rechenmaschinen gibt; unerfindlich bliebe nur, wie eine solche den Umschwung von einem naiven zu einem wissenschaftlichen, von einem naturhaften zu einem geistigen Lebensstande hervorbringen könnte.

Sofern aber die Wissenschaft das Zentralgeschehen des Geisteslebens herausarbeitet und die Welt von ihm aus beleuchtet, wird sie zur Spekulation. So kann die Religion einer solchen zu ihrer wissenschaftlichen Entwicklung nun und nimmer entbehren. In der Sache aber bedarf noch mehr die Spekulation der Religion. Denn ihr Streben ist von Grund aus verfehlt, eine eitle Überhebung, wenn keine Hoffnung besteht, von der bloßmenschlichen Vorstellung ein allgemeingültiges Denken abzuheben; wie aber wäre ein solches möglich ohne ein Wirken eines überlegenen Lebens in unserem Kreise? So stand denn von alters her beides in enger Verbindung: in aller Spekulation ist ohne Mühe ein religiöses Element zu entdecken, die Religion aber verlor an Weite und Seele, wenn sie alle Spekulation verwarf. Wohl fehlte es bei der Verschiedenheit der Ausgangspunkte nicht an Zwist, aber es war der Zwist von Freunden, die in allem Streit nach schließlicher Verständigung streben, die einander unmöglich entbehren können. Spekulation wie Religion aber fordern eine innere Bewegung des Lebens, die sich niemandem aufdrängen läßt; wohl aber läßt sich zeigen, daß es ohne sie kein Geistesleben im Ganzen und damit überhaupt kein echtes Geistesleben gibt. Im übrigen gilt von allen diesen Dingen das Wort des PLOTIN: »Bis zum Wege und zur Fahrt geht die Lehre; das Schauen aber ist Sache dessen, der sehen will.«

β. Allgemeine Erwägungen.

Handelt es sich bei der Religion vornehmlich um ein inneres Vordringen des Lebens im Ganzen, um ein Ergreifen des Geisteslebens als unseres wahrhaften Selbst, so bildet ihren härtesten Widerstand, ihre schwerste Hemmung die innere Mattheit des Lebens, die sich bei der Zersplitterung und Zerstreuung begnügt, in einem äußerlichen Verhältnis zur Wirklichkeit bleibt und keinen Kampf um ihre innere Aneignung aufnimmt. So erklärt es sich leicht, wenn die Religion in einer Zeit überwiegender Expansion, wie es die Gegenwart ist, oft als ein Gewebe bloßer Einbildung erscheint; bei der heutigen inneren Mattheit würde das Gegenteil verwunderlich sein. – Aber diese innere Mattheit des Lebens würde nicht so selbstgefällig auftreten und aus der Not eine Tugend machen, wenn sich ihr nicht eine große Unklarheit des Denkens verbände, wenn eine solche nicht die geistigen Aufgaben auch ohne den Fortgang zum Ganzen und daher auch ohne Religion für ganz wohl lösbar hielte. Wunderlich genug wird hier oft gegen die Religion gekehrt, was ohne die von ihr verfochtene Selbständigkeit und Weltüberlegenheit des Geisteslebens schlechterdings haltlos wird; so soll die Moral die Religion ersetzen, obschon eine Moral ohne eine neue Welt noch unbegreiflicher wäre als die Religion; so preist man begeistert die Menschheit, ohne diesem Begriff irgendwelchen geistigen Gehalt zu geben; so beruft man sich auf die Unmittelbarkeit der Persönlichkeit und des persönlichen Lebens, als ob Persönlichkeit einen Sinn und Wert haben könnte ohne die Belebung einer neuen Welt an dieser Stelle. Persönlichkeit ist entweder eine leere und irreleitende Phrase oder ein Bekenntnis zu einer Welt selbständiger Geistigkeit.

Das Entweder-Oder, das hier in Wahrheit vorliegt – selbständige oder keine Geistigkeit –, mag sich uns eine Zeitlang verbergen, weil uns eine geistige Atmosphäre umfängt, die sich unter dem Einfluß der Religion gebildet hat. Aus ihr wird nämlich die der Religion feindliche Behauptung unvermerkt ergänzt und so jenen in der Mitte befindlichen Gebilden zugewiesen, was nur die ursprüngliche Kraft des Ganzen zu leisten vermag; damit entsteht der Schein, als ließe sich im Subjekt und in der Folge erhalten, was in der Substanz und im Grunde aufgegeben ward, als könne der bloße Mensch von sich aus aufbringen, was er nur in geistigen Zusammenhängen vermag. Es mag diese Wendung des Lebens zunächst als ein unermeßlicher Gewinn an Freiheit, Frische und Unmittelbarkeit erscheinen. Aber doch nur eine Zeitlang, das Leben selbst wird notwendig bald einen Rückschlag erzeugen. Je mehr nämlich jener Rest älterer Bildungen vertrieben wird, je mehr alle inneren Zusammenhänge fallen und der Mensch sich lediglich auf seine eigne Subjektivität stellt, desto mehr muß die Bewegung zu einer Auflösung werden, desto leerer das Leben als ganzes und inneres werden, desto schroffer werden die Subjekte sich entzweien bis zu einer babylonischen Sprachverwirrung. Anzeichen dessen sind schon genug vorhanden, aber einstweilen mag der Kampf gegen Religion und wesenhafte Geistigkeit noch als eine angenehme Beschäftigung, ja als ein Kampf für Freiheit erscheinen. Aber es wird die Zeit kommen, wo der Einzelne die innere Zerstörung, das völlige Leerwerden des Lebens auch bei sich selbst empfindet, wo ihm einleuchtet, daß er in jener Verneinung nicht fremde Gebilde, sondern den Kern seines eignen Lebens zerstört, soweit der Mensch ihn zu zerstören vermag. Dann werden – vielleicht durch schmerzliche Erschütterungen hindurch – neue Stimmungen und Strebungen über die Menschheit kommen und unser Problem in eine neue weltgeschichtliche Phase führen. Diesen indirekten Beweis liebt ja die Weltgeschichte.

Inzwischen sei aber auch der direkte Beweis nicht verkannt, den die Religion durch die von ihr bewirkte Aufrüttelung und Erhöhung des Lebens liefert; sie fügt ihm nicht sowohl etwas Besonderes hinzu, als sie eine Zusammenfassung, ein deutliches Sichabheben und Selbständigwerden dessen vollzieht, was im ganzen Leben schon steckt, aber ohne jene Konzentration nicht zu sich selber kommt. Erst mit dieser gewinnt das Geistesleben einen festen Kern und entringt es sich deutlich genug der Vermengung, um eine eigne Welt zu bilden und zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens zu werden.

Diese Zusammenfassung zum Ganzen und diese Erhebung zur Tat des ganzen Menschen mag so lange minder wichtig und minder dringlich scheinen, als das menschliche Dasein ohne schroffe Konflikte und in sicherem Fortgang begriffen dünkt. Sobald sich aber schwere Verwicklungen finden und zutage tritt, daß der Aufstieg des Geisteslebens ungeheure Hemmungen zu überwinden hat und unter ihren Widerständen zu erlahmen droht, wird ein Zurückgehen auf das Ganze, ein Einsetzen der Kraft des Ganzen unentbehrlich. Jene Hemmungen wurden uns deutlich genug, so kann auch über die Notwendigkeit der Religion kein Zweifel sein.

Darin eben findet die Religion einen Haupterweis ihrer Wahrheit, daß sie die unentbehrliche Vollendung des gesamten Geisteslebens bildet, daß sich ohne sie der Mensch wohl hie und da geistig betätigen, nicht aber als Ganzes das Geistesleben aufnehmen und in seine Tat verwandeln kann. Wir haben das im allgemeinen Umriß zur Genüge erörtert; wir möchten nun nur noch zeigen, wie alle einzelnen Hauptbewegungen, die unserem Leben einen geistigen Charakter verleihen, zu keinem Abschluß gelangen, ja ihren Halt und Grund verlieren, wenn nicht die Wendung zur Religion sie ins Ganze, Prinzipielle, Absolute erhebt, so daß schließlich die Wahrheit und das Recht unseres gesamten Geisteslebens an dieser Wendung hängt. Indem sich so einerseits die eigentümlich religiösen Begriffe über die ganze Weite des Lebens erstrecken, andererseits die aus jener Weite aufsteigenden Bewegungen, je mehr sie wachsen, desto entschiedener eine Erhebung in ursprüngliche Tat und damit eine Wendung zur Religion verlangen, vollzieht sie eine feste Verwebung mit dem Ganzen des geistigen Strebens. So spricht und wirkt das Ganze dieses Strebens für die Religion; je kräftiger sich das Geistesleben entfaltet, je enger es sich zusammenschließt, je mehr es sich des Gegensatzes seiner Wesenhaftigkeit zur Welt des Scheines bewußt wird, desto mächtiger muß auch der Antrieb zur Religion, desto gewisser ihre Wahrheit werden.

γ. Einzelne Ausführungen.

Wenn wir nun das Problem in die Verzweigung des Lebens verfolgen und darzutun suchen, daß seine Hauptbewegungen auf eine Religion universaler Art hinweisen, ja ohne sie zusammenbrechen müssen, so gilt uns dabei die Religion nicht bloß als der Abschluß einer vor ihr vorhandenen Bewegung, sondern zugleich als ihre begründende Voraussetzung; auch das Streben könnte nicht entstehen ohne die Gegenwart des absoluten Lebens, das in der Religion sich eröffnet. Indem aber die Religion jene Voraussetzung und den Lebenszusammenhang deutlich herausstellt und sie kräftiger in die eigne Tätigkeit aufnehmen heißt, wird sie aufhellend, befestigend, erhöhend auf alles übrige Leben wirken. Das sei nun an den einzelnen Punkten näher gezeigt.

aa. Das Streben nach Unendlichkeit.

Der Mensch der Erfahrung findet sich von allen Seiten fest umschlossen, als bloßes Stück eines Kausalgewebes ist er in Zielen und Kräften bedingt und begrenzt, ein geringes Maß hat auch die Ausdehnung seines Lebens, als ein endliches Wesen muß er durchgängig sich erkennen. In schroffem Widerspruch damit ist aber sein geistiges Leben voll des Verlangens nach Unendlichkeit. Die Idee der Unendlichkeit besagt nicht bloß, daß neben dem Kreise, den wir durchmessen, eine unabsehbare Fläche immer noch liegen bleibt. Denn ein solches Draußen möchte uns wenig kümmern, es erklärt nicht die aufrüttelnde und weitertreibende Kraft, welche jenem Gedanken innewohnt. Diese bezeugt augenscheinlich, daß die Unendlichkeit nicht erst an der Grenze unseres Lebens auftaucht, sondern daß sie ihm von Haus aus angehört; es ist der Zusammenstoß von Endlichem und Unendlichem in uns, der jene Wirkung erzeugt; nur von hier aus erklärt sich auch die Idee und das Gefühl des Erhabenen, das nicht von draußen stammt, sondern ein Werk der Seele ist.

Der Trieb zum Unendlichen geht aber nicht nur ins Quantitative, sondern mehr noch ins Qualitative; nicht die Weite genügt uns, wir möchten auch die ganze Tiefe der Wirklichkeit gewinnen. So jenes Streben nach letzten Gründen und abschließenden Zielen, das Bestehen auf dem Warum des Warum, das Verlangen nach Vollkommenheit und höchster Glückseligkeit gegenüber aller bloßen Zufriedenheit mit einer gegebenen Lage. Überall die Gefahr eines Sichverlierens ins Pfadlose, die Gefahr einer Überspannung des menschlichen Vermögens, aber zugleich ein rastloses Emporklimmen des Wesens, ein Wegebahnen und Weiterdringen, das Aufnehmen eines Kampfes gegen alles Eng- und Bloßmenschliche, das nun zu einer unerträglichen Schranke wird. Ein solches Verlangen war – bald augenscheinlich, bald versteckter – mit im Werke, wo irgend sich große Wandlungen des Lebens, innere Fortbildungen des Menschen vollzogen; selbst das Unmögliche mußte als möglich erscheinen, wenn erreicht werden sollte, was in Wahrheit erreicht ist; aus Genügsamkeit und Selbstbescheidung ist nie etwas Großes hervorgegangen.

Wie steht es nun mit der Begründung dieser Bewegung? Ist sie ein Werk des bloßen Menschen, so kann sie nicht mehr sein als ein leeres Sichaufbauschen in der eignen Einbildung, eine eitle Selbstüberhebung, ein trügerisches Irrlicht; zugleich fällt aller innere Ertrag der Kultur, und was immer geistige Erhöhung des Menschen dünkte, stellt sich als ein flitterhafter Aufputz alten Besitzes heraus. Oder aber jene Bewegung hat einen tieferen Grund in der inneren Gegenwart eines göttlichen Lebens; dann ist es die Religion, welche zusammenfaßt und verkündet, was das ganze Leben erfüllt; mit solchem Wirken aber wird sie alles Streben zur Unendlichkeit befestigen und verstärken, wird sie dafür die ganze Seele fordern und die volle Überzeugung gewinnen. So ist es auch an diesem besonderen Punkte die Religion, welche das Leben auf seine Tiefe bringt; damit wird, was immer das Streben nach Unendlichkeit an Wahrheit enthält, zu einem Zeugnis für die Religion.

Das bestätigt auch die Erfahrung der Geschichte. Das antike Geistesleben, das die Religion im Hintergrunde ließ, gibt die volle Herrschaft den Ideen von Maß und Grenze, begrenzt ist hier das All, zwischen festen Zielen und gegebenen Kräften bewegt sich das Leben des Menschen, kein Drang ins Unermeßliche, vielmehr eine fromme Scheu, die naturgewiesene Grenze zu überschreiten. Wann gewann die Idee der Unendlichkeit Anerkennung und Macht, wann trat sie in den Mittelpunkt des Lebens? Mit der Wendung zur Religion, die sich philosophisch vornehmlich in PLOTIN vollzog. Seitdem ist jener Gedanke oft genug verdunkelt, aber nicht wieder erloschen. Und was uns am modernen Leben neu und groß erscheint, ist untrennbar verbunden mit der Aufnahme der Unendlichkeit in das eigne Leben und Wesen. Denn woher sonst die stolze Weltüberlegenheit, das feste Insichselbstwurzeln der Persönlichkeit, nach der wir zum mindesten streben? Wollen wir diesem Streben entsagen, wollen wir uns möglichst in die alte Begrenztheit zurückbegeben, um nur ja nicht auf die Bahn der Religion zu geraten?

bb. Das Verlangen nach Freiheit und Gleichheit.

Die Erfahrung des Lebens zeigt den Menschen überall gebunden und in Verhältnissen der Abhängigkeit, gebunden an andere Menschen, gebunden an die Weltumgebung, gebunden vor allem an seine eigne Natur; mag solche Abhängigkeit dem Bewußtsein sich oft verhüllen, sie bleibt darum doch bestehen. Aber zugleich geht durch die Menschheit ein glühendes Verlangen nach Freiheit. So zunächst im Verhältnis vom Menschen zum Menschen, als die Forderung einer Unabhängigkeit jedes Einzelnen von seiner Umgebung oder auch der Selbständigkeit des einen Volkes gegenüber anderen. Mit solcher Freiheit schien der Mensch eine sonst ungekannte Würde und eine unvergleichlich größere Kraft zu erlangen, sein Leben eine gewaltige Erhöhung zu erfahren, ja erst wahrhaft lebenswert zu werden. So entzündete der Kampf um die Freiheit die stärksten Affekte und machte die schwersten Opfer leicht.

Wie erklärt sich das alles, wie kann etwas wesentlich Höheres dabei herauskommen, wenn bloß innerhalb eines gegebenen Bereiches die Bewegung von der einen Stelle zu einer anderen übergeht? Sie erklärt sich nur, wenn dabei eine neue Ordnung der Dinge durchbricht, wenn das Leben mit jener Wendung eine Ursprünglichkeit innerer Art, einen neuen Inhalt gewinnt. Wie kann es sie aber gewinnen, wenn es keine Tiefe, kein Beisichselbstsein der Wirklichkeit gibt, wenn dem Geistesleben jene Selbständigkeit und Weltüberlegenheit fehlt, welche die Religion vertritt? So zeigt in Wahrheit die Geschichte das Verlangen nach Freiheit gewöhnlich eng mit Überzeugungen von den letzten Dingen verknüpft: einen großen weltgeschichtlichen Kampf für Freiheit hat zuerst das alte Christentum mit seiner Verfechtung der Freiheit der religiösen Überzeugung ( libertas religionis) aufgenommen, aus den Kämpfen des Reformationszeitalters ist das Verlangen der Neuzeit nach bürgerlicher Freiheit hervorgegangen, ja es scheint kein Freiheitsstreben die ganze Seele erfüllen zu können, was nicht dem Menschen zu einer Art Religion wird und ihn über die bloße Erfahrung hinaushebt. Das gilt selbst von den radikalen Bewegungen der Gegenwart; sie könnten die Religion nicht so schroff bekämpfen, wenn sie nicht sich selbst zu einer Art Religion gestalteten. Wo das Freiheitsstreben nicht von neuen Idealen des gesamten Lebens getragen ward, da pflegte es rasch zu erlahmen und unter die Herrschaft des Egoismus, sei es der Individuen, sei es ganzer Klassen, zu kommen.

Aber das Verlangen nach Freiheit greift über das Verhältnis zu anderen Menschen hinaus, es erstreckt sich auch auf unser Grundverhältnis zur Welt und Wirklichkeit. Der Mensch sucht in der geistigen Arbeit eine andere Stellung zu den Dingen, ja zu sich selbst, als ihm die nächste Erfahrung gewährt. Hier ist alles gegeben und gebunden, undurchsichtig und fremd; auch seine eigne Natur ist dem Menschen etwas Äußerliches, solange sie ihm bloß wie ein Schicksal zufällt, solange sie sich nicht in eigne Tat verwandeln und damit erhöhen läßt. Und mag der Mensch noch so werkeifrig sein: solange er ein bloßes Stück einer natürlichen Verkettung bleibt, ist es nicht seine Entscheidung, welche das Handeln aufnimmt, und nicht sein Wollen, welches es trägt, sondern alle Betätigung ist durch den Zusammenhang des Ganzen bestimmt, und was heute geschieht, bildet nur einen Ring einer Kette, die ins Unabsehbare reicht.

Warum sträubt sich der Mensch dagegen, einen derartigen Stand der Dinge als letztgültig hinzunehmen, der ihn von allen Seiten umfängt, und den ihm der Determinismus mit alten und neuen Gründen unermüdlich als die einzige Möglichkeit darstellt? Wohl deshalb, weil die völlige Bindung an jenen Stand unsäglich viel preiszugeben zwingt, worauf sich nicht wohl verzichten läßt. Denn verloren geht mit jener Ergebung in ein dunkles Schicksal alles innere Verhältnis zur Wirklichkeit; verloren geht mit der Verwandlung der Handlung in eine auferlegte Notwendigkeit alle innere Verantwortung, ja aller ethische Charakter des Handelns – denn was der Determinismus, streng durchgedacht, davon übrig läßt, ist in Wahrheit nur ein leeres Wort –; verloren geht, wo das Jetzt nicht mehr ist als ein bloßes Glied einer Kette und sich gar nicht ursprünglich erzeugen läßt, alle lebendige Gegenwart; verloren geht auch alle Hoffnung auf eine sonnigere und edlere Zukunft, da alle Möglichkeit innerer Erneuerung fehlt, für den Einzelnen wie für die Völker und Zeiten, auch für das Ganze der Menschheit, das Leben vielmehr in seinem Fortgang immer starrer, immer greisenhafter werden müßte; verloren geht endlich alles Streben, unser Dasein von der Tiefe her durch eigne Arbeit aufzubauen und seine Grundlage selbst mit herzustellen, da es hier lediglich durch einen seelenlosen Mechanismus auf einer gegebenen Grundlage aufgeschichtet wird. Demnach verliert mit der völligen Ergebung in die Notwendigkeit das Leben alle innere Bewegung, alle Seele, allen Wert; es ist ein bloßes Geschehen an uns, kein eignes Leben.

Kein Wunder, daß der Mensch sich dagegen sträubt, daß er solchem Schicksal zu entgehen sucht. Aber entgehen kann er ihm nicht ohne eine Umwandlung des Gesamtanblicks der Wirklichkeit und seines eignen Wesens. Denn daß aller Versuch, innerhalb der gegebenen Welt der Notwendigkeit zu entrinnen, nur ein unklares Denken verrät, das hat der Determinismus überzeugend dargetan. Helfen kann nur die Erhebung in eine neue Welt und zwar in eine solche Welt, die nicht ein bloßes Gewebe von Verkettungen bildet, sondern ein inneres, immer neu aus der Tätigkeit hervorgehendes Ganzes ist, die damit zum eignen Leben des Handelnden, jedes Handelnden werden kann. Eine solche Welt aber wird das Geistesleben, sofern es eine volle Selbständigkeit gewinnt und wirklichkeitbildend wird; daß dies Weltwerden des Geisteslebens aber alles Vermögen des bloßen Menschen übersteigt und ihm nur als Eröffnung eines göttlichen Lebens zugeht, dieser Gedanke beherrscht unsere ganze Untersuchung. Wie nun beim Menschen Freiheit und Notwendigkeit zusammenstoßen und sich auseinandersetzen, das gehört nicht hierher; hier liegt nur an dem Einen, daß ohne die innere Gegenwart einer neuen Welt alle Möglichkeit der Freiheit, alle Verwandlung des Daseins in eignes Leben verloren geht, daß zugleich alle Ursprünglichkeit des Schaffens, alle wahrhaftige Gegenwart aus unserem Dasein verschwindet. Selbst das Aufkommen eines Verlangens danach bliebe rätselhaft. Und doch geht es in mächtigen Wogen durch die Menschheit und hat viel Großes und Edles hervorgebracht. So ist es wiederum die Religion, in der sich eine allgemeine Bewegung des Lebens zusammenfaßt, mit der etwas steht und fällt, worauf bis in die letzte Konsequenz hinein niemand verzichten kann. Wird aber jener tiefste Ursprung alles Freiheitsstrebens in die eigne Überzeugung und Lebensführung aufgenommen, so kann sich alle Betätigung nach jener Richtung läutern und veredlen, so können sich die einzelnen Bewegungen enger zusammenschließen, so kann an jeder einzelnen Stelle der ganze Mensch mehr in Tätigkeit treten. Ein breiter Strom der Zeit ist geneigt, Religion und Freiheit wie Todfeinde einander entgegenzusetzen; ein tieferes Eindringen widerspricht hier, wie so oft, einem solchen Befinden der Zeit: ohne Religion – Religion im universalen Sinne – wird Freiheit ein leeres Wort; keine echte Freiheit kann bestehen ohne Religion, freilich auch keine echte Religion ohne Freiheit.

Der Bewegung zur Freiheit sei hier die nach Gleichheit angeschlossen, die mit ihr oft zusammengeht. Die Erfahrung zeigt durchgängig die Menschen verschieden: ungleich, höchst ungleich stattet die Natur die Individuen aus; Unterschiede über Unterschieden treibt die Kultur hervor, je mehr sie sich entwickelt, ganz besonders auch die neuere Kultur mit ihrer wachsenden Differenzierung der Individuen und ihrer technischen Gestaltung der Arbeit; wohl läßt der Lauf der Geschichte manche Unterschiede, wie z. B. die ständischen Abstufungen, als künstlich gewordene fallen, aber er bringt dafür neue und größere hervor; alles in allem ist die Ungleichheit in stetem Wachstum begriffen.

Aber diesem Strom der Tatsächlichkeit gegenüber entsteht und behauptet sich eigentümlich genug ein starkes Verlangen nach Gleichheit. Steckt darin bloß die ordinäre Gesinnung des Pöbels, der nichts Überragendes duldet und alles auf das niedrige eigne Niveau herabziehen möchte? Doch wohl nicht: eine Ungleichheit ohne alle Gegenwirkung würde die innere Gemeinschaft der Menschen aufs schwerste gefährden, ja zerstören; sie wäre eine unerträgliche Härte für die, welche das Schicksal unten stellte, sie würde zu trotzigem Stolz berechtigen, die an der Spitze stehen. Aber wie läßt sich solchen Gefahren entgegenwirken, wie ohnmächtig sind ihnen gegenüber alle abstrakten Begriffe! Die Gleichheit alles dessen, »was Menschengesicht trägt«, kann kein bloßes Dekret erzwingen, sie könnte zu einer Wirklichkeit und Macht gegenüber den starken Unterschieden des Erfahrungsstandes nur werden, wenn einerseits alle Unterschiede der Menschen als endliche zusammenschrumpften gegenüber einer unendlichen Größe, wenn andererseits eine gemeinsame Aufgabe entstünde, die alles überwöge, was das Leben sonst an Streben und Leistung enthält. Nichts anderes aber kann dies gewähren als die Religion. Denn ihr Gegenwärtighalten eines göttlichen Lebens verhindert den Menschen, mit den Unterschieden des Erfahrungsstandes abzuschließen, und ihre Eröffnung einer neuen Aufgabe des ganzen und inneren Menschen, ihre Forderung einer Wendung dieses Menschen, drückt alle übrige Betätigung, drückt das ganze Gebiet der Leistungen zu einer Umgebung herab. So erscheint es in jenem befreienden Gleichnis Jesu von den Talenten, so geht es von da durch die ganze weitere Bewegung der Menschheit, oft verdunkelt, aber immer wieder der Verdunklung entrissen. Aus dem Bewußtsein der Gleichheit vor Gott ist auch auf dem Boden der Geschichte das Verlangen nach Gleichheit gegenüber den Menschen, das Verlangen nach Anerkennung der Menschenrechte hervorgegangen: im Heere CROMWELLS ist zuerst das Verlangen nach allgemeinem und gleichem Stimmrecht entstanden, und eine religiöse Grundlage war es, aus der in Amerika die Verkündigung der Menschenrechte hervorging. So hat auch hier die Religion große Bewegungen hervorgerufen, Bewegungen, die sich oft – nicht ohne Schuld der Vertreter der Religion – gegen ihren eignen Ursprung wandten, aber nicht ohne damit kläglich zu verflachen, ohne zu subjektiver Leidenschaft und innerer Unwahrheit herabzusinken. Wo immer die Religion in frischer Jugendkraft stand, da hat sie die Menschen einander näher gebracht, da hat sie die Schwachen geschützt, die Aufstrebenden gefördert; erst wo sie welk und greisenhaft wurde, mußte sie der Aufrechterhaltung von Sonderzwecken und Vorrechten dienen, wurde sie zu einem Schutz jeder bestehenden Ordnung erniedrigt.

cc. Das Verlangen nach Ewigkeit.

Der Mensch ist für den ersten Anblick ganz und gar ein Kind der Zeit, in ihr entsteht und vergeht er, aus ihr lebt er und in sie wirkt er, die jeweilige Lage der Zeit scheint sein ganzes Leben und Sein zu bestimmen. Aber trotzdem ist es falsch, daß der Mensch lediglich der Zeit angehört; es wird ihm unerträglich und dünkt ihm eine innere Zerstörung, ganz und gar in sie aufzugehen; so nimmt er einen energischen Kampf gegen sie auf, und dieser Kampf bildet nicht eine bloße Episode des Lebens, sondern er durchdringt alle Kultur und Geistesarbeit; ohne ein Vertrauen auf ewige Wahrheit, ja auf irgendwelches ewige Leben gibt es keine Gewalt des Strebens, keine Größe der Gesinnung, keine Tiefe der Liebe. »Die Liebe, die wahrhaftige Liebe sei, und nicht bloß eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht und entzündet sich allein in dem Ewigen. Nicht einmal sich selbst vermag der Mensch zu lieben, es sei denn, daß er sich als Ewiges erfasse; außerdem vermag er sich sogar nicht zu achten, noch zu billigen. Noch weniger vermag er etwas außer sich zu lieben, außer also, daß er es aufnehme in die Ewigkeit seines Glaubens und seines Gemüts, und es anknüpfe an diese« (FICHTE).

So geht durch das Leben der Menschheit ein unablässiger Kampf gegen die Zerstreuung an die bloße Zeit. Wiederholt sahen wir, daß alles, was Geschichte im eigentümlich menschlichen Sinne heißt, einen solchen Kampf in sich trägt, daß in ihr der Mensch mit höchster Anspannung seiner Kraft etwas innerlich festhält oder doch festhalten möchte, was sonst der Strom der Zeit rasch hinwegspülen würde. Die geschichtliche Gestaltung des Lebens und der Kultur bedeutet den Aufbau einer der Zeit überlegenen Ordnung inmitten der Zeit; es ist lediglich das Verlangen nach ewiger Wahrheit und einer zeitumspannenden Gegenwart, das der Geschichte eine innere Bewegung und auch einen inneren Zusammenhang gibt. Aber auch der einzelne Mensch erstrebt Ähnliches bei sich selbst; es gibt kein echtes Leben ohne ein Hinausgehen über die bloße Flucht der Augenblicke, ohne ein Festwerden in sich selbst; das eben ist es, was in der Bildung von Charakter und geistiger Individualität geschieht.

Solche Zeitüberlegenheit und solche Macht gegenüber der Zeit kann das Geistesleben aber nie aufbringen vom bloßen Menschen her; was sich bei uns davon findet, das muß in Zusammenhang mit einer selbständigen Welt des Geistes stehen. Ohne eine solche Welt und ohne ihre Gegenwart ist aller Versuch, sich dem Strom der Zeit zu entwinden, hoffnungslos, und wird der Mensch ein bloßes Eintagswesen. Die Eröffnung eines geistigen Beisichselbstseins in unserem Bereich, das war aber der Kern der Religion; so bildet sie auch in dieser Hinsicht den Abschluß einer weiteren Bewegung, und findet sie in deren Wirklichkeit eine Bestätigung ihrer eignen Wahrheit.

Die Religion begründet aber nicht nur, sie steigert auch das Streben nach Ewigkeit, indem sie es mehr in das Ganze des Menschenwesens kehrt und auch diesem eine Erhebung über die bloße Zeit eröffnet. Daß alle geistige Arbeit tieferer Art ein Teilhaben an einer ewigen Welt ist, darüber waren alle großen Denker einig; wenn aber jenseit aller bloßen Tätigkeit eine Wesensbildung erscheint und im Menschen ein selbständiger Ausgangspunkt echtgeistigen Lebens erkannt wird, so muß auch dieses Sein über die Vergänglichkeit erhoben werden. Dieser notwendigen Wahrheit geben die landläufigen Meinungen und gewöhnlich auch die Religionen einen recht ungenügenden, ja unangemessenen Ausdruck, indem sie die zeitliche Fortdauer der natürlichen Individualität mit all ihrer Enge und Selbstsucht zur Hauptsache machten; diese Fassung drohte die Religion in den Formen der Endlichkeit und Menschlichkeit festzulegen. Aber ein anderes ist es, die Fortdauer des Menschen mit Haut und Haaren zu bezweifeln, ein anderes, dem Geisteswesen des Menschen allen ewigen Bestand zu versagen. Denn dies heißt alles Geistesleben der bloßen Zeit unterwerfen, damit aber es erniedrigen, zerstreuen, vernichten. Auch das zeitliche Leben, dem kein Streben nach Ewigkeit innewohnt, wird zu bloßem Schein und Schatten; müßte doch bei vollständiger Gebundenheit an die Zeit alles menschliche Erlebnis, alle menschliche Wirklichkeit nach dem Aufleuchten des bloßen Augenblicks sofort in den Abgrund des Nichts versinken.

Indem aber die Religion eine ewige Ordnung erschließt und nicht bloß das Tun, sondern den Lebenskern des Menschen daran teilnehmen läßt, gewinnt der Gedanke der Ewigkeit eine größere Macht für das Leben und die Gesinnung. Nun findet alles Fortstreben in der Zeit sein Gegenstück in einem Leben, das in sich selber ruht, nun ist die Bewegung des Lebens nicht bloß ein Eingehen in die Zeit, sondern auch ein Heraustreten aus der Zeit. Nun läßt sich die Forderung mittelalterlicher Denker verstehen, der rechte Mensch solle jeden Tag jünger werden.

dd. Das Verlangen nach Gemeinschaft und Seele.

Die Welt der Erfahrung zeigt in Natur und menschlichem Zusammensein ein Nebeneinander von Elementen, die unter sich in vielfache Beziehungen treten, sich in ihnen gegenseitig verketten und verschlingen, ein immer festeres Gewebe bilden. Aber alle Beziehung und Verschlingung bleibt dabei auf die Leistungen, die Wirkungen nach außen beschränkt; was in den Elementen selbst vorgeht, und ob in ihnen überhaupt etwas vorgeht, danach wird zunächst nicht gefragt. Von hier aus angesehen, müßte das menschliche Zusammensein wie das Ganze der Welt mehr und mehr ein wohlregulierter Mechanismus werden, müßte das Einzelleben ganz darin aufgehen, an seiner Stelle ein besonderes Werk zu verrichten. Eine innere Gemeinschaft, ein Miterleben der Menschen und Dinge von innen her muß hier als ein widersinniger und unmöglicher Gedanke erscheinen. Und doch gewinnt dieser Gedanke Macht über die Menschen und erzeugt endlose Bewegung. Alle Freundschaft und Liebe möchte das innere Leben des anderen teilen; daß er hinter aller Betätigung nach außen eine Seele besitzt, steht für sie außer Frage; ein eignes Leben der Dinge möchte die Kunst erschließen, in ihr eignes Wesen die Wissenschaft führen; überall geht die Forderung und die Bewegung über eine äußerliche Berührung hinaus, überall scheint mit dem Eingehen in das andere das eigne Leben sich weiter und weiter zu erhöhen, ja allererst einen Inhalt und Wert zu gewinnen. Läßt sich nicht die ganze Kultur unter den Anblick fassen, daß gegenüber der Welt der Wirkungen und Gegenwirkungen eine Welt des Beisichselbstseins aufkommt und sich immer reicher entfaltet?

Aber mit solcher Tatsache einer Bewegung zur Innerlichkeit erscheint ein schweres Problem und werden eingreifende Umwandlungen des Weltbildes unerläßlich! Jene Bewegung ist eine Irrung und Lüge, wenn es keine Tiefe der Dinge gibt, sie vielmehr in dem Gewebe der Beziehungen ihr ganzes Leben erschöpfen. Aber was heißt Tiefe, und wie ist sie erreichbar? Erreichbar ist sie keinenfalls durch die bloße Aufregung des Subjekts, wie das heute viele versuchen. Denn möglichste Ablösung des Individuums von seiner Umgebung und möglichste Verwandlung des Lebens in freischwebende, etwa künstlerisch veredelte Stimmung läßt noch lange nicht eine Tiefe und Seele gewinnen. Der Mensch als bloßes Stimmungswesen ist genau so leer und flach wie als bloßes Leistungswesen, er hat die eine Fläche mit der anderen vertauscht, aber keinerlei Tiefe gefunden. Hat denn heute alles breite Entfalten von Stimmungen, alles Schwelgen und Sichaufbauschen in subjektiven Reflexen den Gehalt des Lebens irgend verstärkt, hat es die Menschen irgend wesenhafter und tiefer gemacht? Subjektivität ist noch lange nicht Innerlichkeit, und Stimmung noch lange nicht Seele. Es gibt keine Innerlichkeit des Lebens für uns ohne ein Innenleben der Wirklichkeit, es gibt an der einzelnen Stelle kein Innenleben ohne die Gegenwart einer Innenwelt. Der Mensch könnte nach einer Innerlichkeit nicht einmal streben, vermöchte er sich in keiner Weise der Enge des Punktes zu entwinden und an einem unendlichen Leben Teil zu gewinnen. Und wie für uns Menschen die Sache liegt, wird sich eine wahrhaftige Innerlichkeit nur entwickeln, wo in der eignen Seele Aufgaben und Spannungen entstehen, wo ein Kampf um ein neues Leben entbrennt und dabei ein geistiges Selbst aufsteigt, eine Wesensbildung erfolgt, wie das Streben nach Persönlichkeit und geistiger Individualität solches zur Erscheinung bringt. Wer in sich selbst keine solchen Probleme trägt und nicht in aller Weite der Arbeit vor allem sich selber sucht, für den wird das Leben nie eine Tiefe und Seele gewinnen. Aber ist dieses alles möglich, wenn unser Leben nicht in einem Gesamtleben steht und von ihm getragen wird? Die Religion aber ist es, welche die Gegenwart dieses Gesamtlebens vertritt und auf seine volle Aneignung dringt. Ihre Fassung der Sache ins Ganze muß die Bewegung zur Innerlichkeit beträchtlich steigern und das Ungenügen des Durchschnittsstandes erst recht zum Bewußtsein bringen. Nun erst wird mit voller Deutlichkeit empfunden, wie fremd gewöhnlich in aller Fülle äußerer Beziehungen der Mensch dem Menschen bleibt, wie zwingend uns die Enge des natürlichen Daseins festhält, wie flach und seelenlos sich dabei das Leben gestaltet. Auch die Bewegung der Kultur steigert zunächst die Gefahr, indem sie die Menschen immer schärfer voneinander unterscheidet, immer weiter voneinander entfernt, die Individualitäten immer mehr einander abstoßen läßt. Damit droht eine gegenseitige Entfremdung der Menschen, eine Vereinsamung der Seele in aller Gemeinschaft der Arbeit. Wie anders lassen sich aber die Scheidewände durchbrechen, wie die inneren Erlebnisse des einen den anderen naherücken als durch die Eröffnung eines Lebens jenseit aller natürlichen Besonderheit, durch ein Teilnehmen an einer Welt, die zugleich eines jeden Welt und aller Welt ist oder doch werden kann? Nur wenn hier eine Gemeinschaft des Lebens und die Möglichkeit eines Verständnisses von Seele zu Seele gewonnen ist, können die Individualitäten einander weiterbilden, kann aus der Abstoßung eine Ergänzung werden.

So liegt für das Verhältnis von Menschen zu Menschen alles am Gewinn eines gemeinsamen Innenlebens, das alle umfängt und verbindet. Das Problem reicht aber darüber hinaus in das Verhältnis zur eignen Seele. Denn in seinem natürlichen Dasein ist der Mensch sich selbst ebenso fremd als den anderen die eigne Seele ist ihm verschlossen und unzugänglich, über aller Entdeckung nach außen hat er sich selbst nicht entdeckt und gefunden. Das kann er nur bei Belebung einer geistigen Welt, die ihn sich selbst verstehen lehrt, die ihn seine besondere Art voll gewinnen läßt, indem sie ihn über sie hinaushebt. Solche Bedingtheit des eignen Seelenlebens durch eine uns umgebende und tragende Welt kann sich nur verdunkeln, wo das Auge für Probleme solcher Art fehlt und damit das Schwerste als selbstverständlich, die Frucht harter weltgeschichtlicher Arbeit als ein Erzeugnis des jeweiligen Augenblicks gilt. Wer das Problem empfindet, dem liefert die Geschichte ein unverwerfliches Zeugnis für den engen Zusammenhang von Religion und Innerlichkeit. Beschränken wir uns auf die Anfänge des Christentums; welchen Fortschritt haben sie in dieser Richtung gegen das reiche und schöne Altertum gebracht! Wie viel näher haben sie durch die Eröffnung einer gemeinsamen Welt aus Glauben und Hoffnung und einer gemeinsamen Lebensarbeit den Menschen dem Menschen geführt, wie haben sie die Grundlagen geschaffen für eine seelische Kunst und einen seelischen Verkehr mit der Natur, wie haben sie den Menschen sich selbst mehr erschlossen, ihm die eigne Seele vertraut gemacht! Konnte Jesus so viel im Kinde sehen, konnte er so die umgebende Natur zum Spiegel göttlicher Macht und Liebe gestalten ohne ein neues Reich der Innerlichkeit? Das alles gilt auch für den Gesamtlauf der Zeit; wo immer die Religion, Religion hier im weitesten Sinne und als Religion des Geistes verstanden, zurücktrat, da verkümmerte, wenn auch nicht sofort, so doch in sicherem Fortgang das Innenleben; auch für die Gegenwart gilt, daß, wo immer die Religion zu eignem Leben geweckt ist, sie selbst den schlichtesten Lebensverhältnissen mehr seelische Tiefe zu geben pflegt, als oft den höchsten Leistungen der Kulturarbeit innewohnt. So wird aller Gewinn echter Innerlichkeit zu einem Zeugnis für die Religion, der Kampf für die Religion aber zu einem Stück des Kampfes um eine Seele des Lebens. Heute, wo die Außenwelt so mächtig auf uns eindringt und uns überwältigend an sich zieht, bedarf es mehr als je der Befestigung in uns selbst, der Ausbildung eines kräftigen Innenlebens; wollen wir die unentbehrliche Bundesgenossin in diesem Kampfe, die Religion, so leichthin verschmähen, wie Flachheit und Unverstand es noch immer tun?

ee. Das Verlangen nach Größe.

Klein zeigt der Anblick der menschlichen Dinge das Individuum gegenüber dem Ganzen der Menschheit, klein der Anblick der Welt die Menschheit gegenüber der unermeßlichen Natur. Was hier von jeher gilt, das hat erst die Neuzeit voll zum Bewußtsein gebracht. Auf der älteren kindlichen Stufe betrachtete die Menschheit sich als den Mittelpunkt des Alls; auch bei Milderung dieses Anspruchs waren es Größen menschlicher Art, die man in das All hineinsah und mit denen man zu verkehren glaubte. Wir sahen die Natur volle Selbständigkeit gegenüber dem Menschen gewinnen, ihn mehr und mehr an sich ziehen, ihm Schritt für Schritt alle Auszeichnung nehmen; damit scheint sein Ergehen und Tun alle Bedeutung für das All zu verlieren, und er scheint lediglich innerhalb seines eignen Kreises Glück und Größe suchen zu können. Aber wird diesem Kreise alles verklärende Licht genommen, das ihm innere Zusammenhänge gaben, wird er ganz und gar auf das unmittelbare Dasein gestellt und wird unterschiedslos entfaltet, was an Lebenstrieben hier aufstrebt, so ergibt sich ein Bild, das ebenfalls geringen Raum für innere Größe und eignen Wert hat. Viel zu eindringlich steht heute vor unserem Auge das wilde Getriebe des Kampfes ums Dasein, die stürmische Hast dieses Lebens, das Aufwuchern von Habgier und Leidenschaft, die abschleifende und erniedrigende Macht von Massenwirkungen, als daß die Schilderung dessen uns irgend aufzuhalten brauchte. Eine unbegrenzte Erregung des Lebens, eine unsägliche Arbeit, und dabei kein entsprechender innerer Gewinn, ja kein Sinn des Menschenlebens, weder für den Einzelnen noch für das Ganze. Solcher Widerspruch und solche Sinnlosigkeit, ja Nichtigkeit des Ganzen kann dem Menschen nur so lange entgehen, als er gänzlich innerhalb der Aufregungen dieses Getriebes verbleibt, nur vom Punkt zum Punkte denkt und in der Behauptung des eignen Ich sein ganzes Streben erschöpft; sobald aber Denken und Sinnen solche Bindung abwirft und sich auf das Ganze richtet, kann über die unerträgliche Leere und volle Nichtigkeit dieses Daseins kein Zweifel sein; eine solche Befreiung und ein solches Überdenken des Ganzen aber läßt sich unmöglich verhindern.

So wird denn der Mensch auf Mittel und Wege sinnen, dieser Erniedrigung zu entrinnen; auch heute gibt es viel Streben danach. Aber wie dieses Streben sich gewöhnlich darstellt, führt es nun und nimmer zum Ziele. Das Kleine und Gemeine hoffen manche abzustoßen und dem Menschenwesen wieder Größe und Freude zu erringen, indem sie sich zu freischwebender Stimmung über jenes ganze Getriebe erheben und geflissentlich hervorkehren, was die Individuen unterscheidet. Solche Gedankenrichtung verkündet oft die unbeschränkte Souveränität des Individuums und sucht in der Abwerfung aller Bindung nach außen, in ungehemmter Entfaltung aller eignen Regung eine Größe; voll »ausleben« soll sich, was sich Persönlichkeit nennt, was aber nicht mehr als natürliche Besonderheit ist. – Einiges Recht oder doch einigen Anschein hat solche Denkweise nur bei einem starken, gegenüber den Erfahrungen und Verwicklungen des modernen Lebens kaum begreiflichen Optimismus. Sie setzt geistig hochbegabte, individuell ausgeprägte, auf hohe Ziele gerichtete Menschen voraus, sonst wird sie ein Billigen aller selbstischen Lebensgier und alles rohen Naturtriebs, sonst wird sie mehr zum Sinken als zur Erhöhung des Lebens wirken. Der Grundirrtum ist dabei, im Teile zu bejahen, was im Ganzen verneint wird, innerhalb des menschlichen Kreises, im Verhältnis von Mensch zu Mensch, eine Größe festzuhalten, wo das Menschenleben und Menschenwesen als Ganzes sie verloren hat. Und es hat sie verloren, wo der Mensch ein bloßes Stück einer undurchsichtigen Welt geworden ist und alles innere Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit eingebüßt hat; es kann sie nur behaupten, wenn in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit durchbricht, wenn er am Ganzen dieser neuen Welt teilgewinnt, und wenn sich das nicht auf einzelne Betätigungen beschränkt, sondern aus dem neuen Leben ein neues Sein und Selbst hervorgeht. Denn dann können dem Menschen Welt und Weltgeschicke unmittelbar zum eignen Erlebnis werden, dann vermag er dieses Ganze mitzutragen und den Kampf der Welten zu teilen, dann hat er an seiner besonderen Stelle das Ganze zu vertreten, und es wird, was er hier tut, unmittelbar ein Stück der Weltbewegung, dann läßt sich in Wahrheit eine Größe des Lebens erstreben. Je mehr freilich das Leben solche Größe besitzt, desto weniger wird es von ihr reden. So verstanden bedeutet das Streben nach Größe nicht vor allem eine Unterscheidung gegen andere, nicht ein Sichaufbauschen gegen die Umgebung, sondern eine Vertiefung der eignen Seele, ein Unendlichwerden des eignen Wesens.

Das alles ist nicht möglich ohne die Eröffnung eines selbständigen Geisteslebens im eignen Bereiche des Menschen, wie wir uns davon überzeugten; mit seiner Wirklichkeit steht und fällt alle Größe des Lebens. Die Religion aber ist es, in der sich dies Leben zum Ganzen zusammenfaßt und dem Menschen als Ganzes eröffnet; so ist sie schlechterdings unentbehrlich zur Begründung und Entwicklung von Lebensgröße. Sie erst hebt aus der sonstigen Zerstreutheit einfache Grundzüge heraus, sie gibt dem Leben die Spannung eines gewaltigen Dramas, indem sie einen durchgehenden Gegensatz in der Hauptrichtung des Lebens eröffnet und zugleich den Menschen zu eigner Entscheidung darüber aufruft; sie macht die Probleme des Alls zu eignen Erfahrungen des Menschen und gibt ihm durch die innere Gegenwart des göttlichen Lebens eine Weltüberlegenheit. Über alle Sorgen der natürlichen und der sozialen Existenz ist hier das Leben durch die innere Aufgabe von Ganzem zu Ganzem hinausgehoben. Das alles freilich nur bei einer Gestaltung der Religion vom Geistesleben her und unter Entfaltung voller Selbsttätigkeit; eine Religion der gehorsamen Unterwerfung und blinden Devotion drückt allerdings den Menschen herab, tiefer herab als alles menschliche Machtgebot, da sie ein Stocken des Lebens am innersten Quellpunkt bewirkt. Aber warum sollen wir als freie Menschen unsere Begriffe von Religion an die Vorstellung anderer binden, warum soll uns menschliche Entstellung das Bild der Religion verdunkeln, das aus den inneren Notwendigkeiten des Geisteslebens aufsteigt, und das sich in weltgeschichtlicher Wirkung deutlich genug bewährt hat?

 

Zusammenfassung.

An allen einzelnen Punkten ergab sich ein enger Zusammenhang der Religion mit der Gesamtentwicklung des Geisteslebens; diese brauchte nur in ihren Hauptlinien schärfer erfaßt zu werden, um ein Zeugnis für die Religion zu werden. Denn Punkt für Punkt erschienen Bewegungen, welche die Welt der Erfahrung durchbrechen, welche nicht vordringen können ohne ihr schroff entgegenzutreten. Diese Ablösung aber ließ sich nicht rein vollziehen und gründlich durchführen, ohne daß auch im Ganzen eine Umkehrung erfolgte und eine neue Welt gewonnen wurde; dies aber geschieht in der Religion.

Die Religion erscheint damit als etwas, das nicht nachträglich zum Leben hinzukommt, sondern das aus seinem innersten Wesen hervorwächst, und das in solchem Hervortreten nur als die Klärung eines Tatbestandes erscheint, ohne den überhaupt kein Streben nach Geistigkeit aufkommen könnte. Das Wunderbare entsteht nicht erst an einer besonderen Stelle, es durchdringt alles geistige Leben; wer es nicht schon in diesem sieht, wer nicht in dem, was uns täglich und stündlich bewegt, ein Geheimnis gewahrt und anerkennt, dem mag die Religion lediglich ein überflüssiger, ja schädlicher Anhang des Lebens dünken. Wem sich aber das Geheimnis enthüllte, das aus allen Bewegungen geistiger Art zu uns wirkt, wer mit Goethe der Überzeugung lebt, daß wir unter Geheimnissen wandeln, dem ist die Religion nicht etwas Fremdartiges mehr, der sieht in ihr nur die Zusammenfassung dessen, was das Geistesleben durchgängig in sich trägt, der wird aber zugleich die Zusammenfassung und Heraushebung schätzen, weil sie allein das sonst Verschleierte zu voller Klarheit, das sonst Zerstreute zur Einheit führt, mit der Erhebung in ursprüngliches Schaffen eine Umkehrung des Lebens vollzieht, die auf alles frühere Dasein erhöhend zurückwirkt. Indem so die Religion allererst die Möglichkeit einer echten Geistigkeit gewährt, wird sie das Sicherste unseres ganzen Lebenskreises, wird sie die Voraussetzung auch alles wissenschaftlichen Erkennens. Wenn aber bei solchem Ausgehen vom Geistesleben die Religion eine stete Erhebung über die Zwecke, ja über das ganze Sein des bloßen Menschen vollzieht und einen unablässigen Kampf gegen das Kleinmenschliche führt, so ist sie vollständig geschützt gegen den Vorwurf des Anthropomorphismus, den eine flache Denkart dem Wesen der Religion aufbürdet, weil ihre Vorstellungswelt früher mit ihm durchsetzt war. Gründlicher als alle negative Kritik wird die eigne Gestaltung der Religion vom Geistesleben her den Anthropomorphismus vertreiben, ja, recht verstanden, ist die Religion der einzig mögliche Weg, dem Anthropomorphismus zu entgehen, der uns sonst unerbittlich festhält.

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