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I. Einleitender Teil.

Die weltgeschichtliche Krise der Religion.

a. Das Problem der Religion.

Wer den Wahrheitsgehalt der Religion ergründen möchte, der braucht weder ihre verschwindenden zeitlichen Anfänge aufzuspüren noch ihr langsames Aufsteigen zu verfolgen, er darf sich sofort auf ihre Höhe versetzen. Denn erst hier erlangt das Wahrheitsproblem volle Klarheit und zwingende Kraft. So kümmere uns nicht das Zauberwesen, das die Anfänge der Religion beherrscht, so beschäftige uns auch nicht die Religion als ein bloßes Stück einer Volkskultur und als bloße Naturmythologie. Sondern erst da beginnt unser Problem, wo sie eine eigene Welt erzeugt, diese allem übrigen Leben entgegenhält und es von ihr aus umgestalten will, umgestalten dadurch, daß sie dem Menschen inmitten seines eigenen Bereiches eine unsichtbare Ordnung, ein ewiges Sein, ein übernatürliches Leben vorhält und dafür seine Seele verlangt. Eine derartige vermeintliche Offenbarung erscheint aber nicht nur an einer, sondern an mehreren Stellen der Geschichte, und verschieden ist auch der Inhalt der »geschichtlichen«, der »positiven« Religionen. Aber durch alle Mannigfaltigkeit geht dasselbe Problem, und ein schroffes Nein wie ein freudiges Ja ist allen Religionen gemeinsam.

Nirgends kann die Religion den Menschen für eine neue Welt gewinnen, ohne ihn von der alten loszureißen, ohne ihm zu verleiden und zu vergällen, was ihn bis dahin entzückte und einnahm. Keine wahrhaftige und eingreifende Wendung zu einer Überwelt ohne einen Bruch mit der nächsten Welt, ohne ein starkes Empfinden ihres Elends und ihrer Nichtigkeit. Es muß in dieser Welt nicht nur dieses oder jenes, sondern sie muß als Ganzes mißfallen; sie muß nicht nur viel Schmerz und Leid enthalten, sondern es muß auch alles in ihr erreichbare Glück nicht genügen; der Mensch muß nicht nur von außen bedroht und bedrängt, sondern auch über sein Innerstes besorgt und geängstet werden. Nur eine völlige Erschütterung des nächsten Lebens kann ein wahrhaftiges und überwältigendes Verlangen nach Religion erzeugen, und nur bei solchem Verlangen kann in der Seele des Menschen echte Religion entstehen.

Je härter und schroffer aber das Nein, desto kräftiger und freudiger wird das Ja, das sie ihm entgegenhält. Als Mitteilung Gottes, der höchsten Macht und Vollkommenheit, will die Religion den Schmerz nicht nur irgend lindern, das Glück nicht nur irgend steigern, sondern verheißt sie eine gänzliche Befreiung vom Übel, eine Versetzung in volle Seligkeit. Die von ihr verkündigte neue Welt bedeutet die denkbar höchste Welt, den Gipfel aller Vollkommenheit. An der Ewigkeit und Unendlichkeit dieser Welt soll das vergängliche und winzige Wesen Anteil gewinnen, ja zur Göttlichkeit selbst soll der Mensch erhoben werden, indem göttliches Leben ihm zu eignem wird.

Mit Eröffnung so unermeßlicher Aussichten, mit Hineinpflanzung eines übermenschlichen Zieles in die Enge und Not des menschlichen Daseins versetzt die Religion unser Leben in stürmische Aufregung und Bewegung. Unser Bereich gewinnt eine unvergleichliche Größe und Würde, indem ganze Welten in ihm zusammentreffen und unsere Entscheidung fordern. Unser Lebenskreis zerlegt sich in ein Für oder Wider; die übliche Schätzung der Güter wird nicht nur verändert, sondern umgekehrt, denn als gut gilt nunmehr nur, was das Herz dem Göttlichen zuführt, während mit allem bestrickenden Glanz zum Übel herabsinkt, was der nächsten Welt verkettet. »Wer nicht hasset seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Bruder, Schwester, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.«

Aber bei solcher Zurückweisung der Welt war die Religion zugleich die stärkste Macht innerhalb der Welt. Nichts hat die Menschen so eng verbunden, aber auch nichts sie so schroff entzweit wie die Religion; nichts hat die Individuen so in sich selbst vertieft, nichts die eigentümliche Art der Völker so zwingend hervorgetrieben wie die Überzeugungen von göttlichen Dingen. Was immer das Leben an Heroischem aufweist, das wurzelt schließlich in der Religion; nichts konnte den Menschen bis zum Grunde seiner Seele erregen, nichts seine volle Hingebung gewinnen, was sich nicht seiner Religion verknüpft oder sich selbst zu einer Art Religion gestaltet. Ja es scheint aller Glaube der Menschheit und des Menschen an sich selbst unabtrennbar von einem Glauben an das Innewohnen eines Göttlichen in seinem Wesen, an die lebendige Gegenwart ewiger und übernatürlicher Kräfte in seinem Wirken. Wen daher das religiöse Problem einmal in der Tiefe seiner Seele gepackt hat, den läßt es nicht wieder los; er mag es zurückdrängen, abschütteln, in die weiteste Ferne verbannen, er kann nicht umhin, in die Verneinung den stärksten Affekt zu legen und jene Frage als die Hauptfrage seines Lebens zu behandeln; der Unglaube selbst wird zur innersten Überzeugung, zu einem nur anders gewandten Glauben. So bildet die stärkste Macht innerhalb der Welt die Überzeugung von einer Überwelt.

Aber zugleich war die Religion ein Zeichen, dem stets schroff und eifrig widersprochen ward. Und zwar nicht nur von außen her, sondern auch aus dem tiefsten Ernst ringender Seelen. Immer von neuem wurde zur Frage, ob denn eine Erschließung des Göttlichen für den Menschen, eine Erhebung des Menschen zu göttlichem Leben irgendwie möglich sei, ob nicht alle Behauptung davon einen bloßen Wahn bedeute. Muß nicht alles, was zum Menschen wirken will, menschliche Art annehmen, in seine Begriffe eingehen, sich seinen Zwecken empfehlen? Und wird es damit nicht herabgezogen in alle Enge und Trübe des irdischen Kreises, gebannt in die Schranken unserer Besonderheit? Oft genug mußte das als göttlich Gepriesene kleinmenschlichen Absichten dienen, die Starken der Welt rissen es an sich und erniedrigten es zum Mittel ihrer Zwecke. Die Religion verhieß dem Menschen ein neues Leben und ein reines Herz; hat sie nicht oft nur tiefer in das Getriebe der Welt verstrickt und menschliche Leidenschaft, Haß wie Neid, Eitelkeit wie Heuchelei, unerquicklich gesteigert? Auch die Welt draußen entspricht nicht den Forderungen der Religion. Wie könnte sie sich so gleichgültig gegen das Aufstreben geistigen Lebens verhalten, wie der Unvernunft und der Ungerechtigkeit so breiten Raum gewähren, stünde sie unter der Obhut einer allmächtigen Vernunft und einer unendlichen Liebe?

So greift der Zweifel um sich wie ein verzehrendes Feuer, er nagt nicht nur von außen an der Religion, er findet den Weg auch in ihr Heiligtum und erzeugt eine quälende Unsicherheit; gerade von tiefer Sehnsucht ergriffene Gemüter litten unter dem Widerspruch des Augenscheins und fanden in den üblichen Beschwichtigungen keinen Trost; ja selbst manche leitende Geister der Religion wurden aus freudigem Schaffen immer wieder in den Abgrund des Zweifels zurückgeschleudert. Ein Starrwerden des Zweifels verändert aber mit einem Schlage den Gesamtanblick: der freudige Aufschwung ist gehemmt, die aufstrebende Kraft gelähmt; was eben noch selbstverständlich dünkte, erscheint jetzt als ganz unmöglich; die Überwelt, dem Gläubigen der sichere und selbstverständliche Standort des Lebens, weicht zurück in eine unzugängliche Ferne, ja sie droht sich in leeren Schein aufzulösen. Die Religion dünkt dann leicht ein grandioser Irrtum des Menschengeistes, der Abbilder des eignen Seins in das All hineinsieht, Träumen von einem schöneren Leben eine Wirklichkeit verleiht und an sie sein Leben hängt. Wer dann aber den Traum als Traum durchschaute, der müßte einen unerbittlichen Kampf gegen solche Verfälschung aufnehmen, der könnte die Religion nicht gelassen dulden, der müßte sie mit Aufbietung aller Kraft als eine verderbliche Irrung bekämpfen. Hier besteht keine Möglichkeit einer Vermittlung: ist die Religion nicht die höchste und heilsamste Wahrheit, so ist sie schwerste und verderblichste Irrung, ist sie nicht das Werk Gottes, so ist sie ein dämonisches Erzeugnis von Trug und Finsternis. Wie nun bei diesem kritischen Punkt, der über die Richtung des ganzen Lebens entscheidet, zu einer sicheren Antwort gelangen, wie dem unerträglichen Schwanken zwischen Bejahung und Verneinung entrinnen?

Die geschichtlichen Religionen haben diese Frage in ihrer Weise beantwortet, sie haben sie beantwortet nicht durch philosophische Lehren, sondern durch den Tatbestand ihrer Leistung; sie haben nicht lange erörtert und gestritten, wie göttliche Herrlichkeit in die Welt des Menschen eingehen könne, sondern sie haben die Möglichkeit des Unmöglichen durch den Aufweis seiner Wirklichkeit zu erhärten gewagt. Sowohl in den begründenden Persönlichkeiten als in den religiösen Gemeinschaften schien das Wunder zur anschaulichen Gegenwart gelangt, das Unsichtbare zu Fleisch und Blut geworden; im Besitz so handfester Wirklichkeit fühlten die Religionen sich aller Unsicherheit enthoben und wider allen Zweifel gepanzert. Leider war aber die Sache nicht so einfach, wie sie den Gläubigen dünkte; vielmehr erregte eben das, was den Zweifel vertreiben sollte, neuen und stärkeren Zweifel.

Es ist eine Tatsache geschichtlicher Art, die Glauben und Leben befestigen soll. Eine solche Tatsache muß sich aus dem übrigen Leben herausheben und eine unterscheidende Eigentümlichkeit entfalten; je individueller sie sich ausprägt, desto kräftiger wird sie wirken. Aber als Ausdruck göttlicher Wahrheit muß dieselbe Tatsache für alle Zeiten und Menschen gelten, muß sie den ganzen Umkreis des Lebens beherrschen und durchdringen. Liegt darin nicht ein unlösbarer Widerspruch? Drängt die ausschließliche Festlegung einer besonderen Art nicht das Leben in eine viel zu enge Bahn, schneidet sie nicht alle Weiterentwicklung ab, wird sie nicht immer mehr zu einer drückenden Last, welche die Menschheit schließlich abschütteln muß?

Schon der flüchtigste Blick auf die Geschichte der Religionen läßt solche Verwicklung ersehen. Jede geschichtliche Religion entlehnt ihrer Umgebung eigentümliche Überzeugungen von der Welt, eigentümliche Schätzungen vom Leben. Die Umgebung stellt die Frage, deren Beantwortung die Religion unternimmt. So hat alle indische Religion zur Voraussetzung ein starkes Gefühl der durchgängigen Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Daseins; kann die von ihr gebotene Lösung den befriedigen, der jene Voraussetzung ablehnt? Und sollte es beim Christentum anders stehen? Kann es zu allen Menschen, Völkern, Zeiten sprechen, wenn es irgendwelchen eigentümlichen Charakter behauptet, nicht in vage Allgemeinheit verfließt?

Den Mittelpunkt der geschichtlichen Religionen bilden die begründenden Persönlichkeiten. Nichts gibt der Gegenwart einer Überwelt im menschlichen Kreise mehr Überzeugungskraft als die unerschütterliche Festigkeit, mit der solche Persönlichkeiten im Göttlichen wurzeln, ihr gänzliches Erfülltsein von diesem einen Verhältnis, die schlichte Einfalt und die anschauliche Nähe, die das große Geheimnis bei ihnen erlangt hat. Die Gemüter gewinnen und die Gedanken beherrschen hätten sie nun und nimmer gekonnt ohne eine königliche Phantasie, welche der unsichtbaren Welt sichtbare Gestalten abzuringen und alle Mannigfaltigkeit in ein lebensvolles Reich zusammenzuschauen verstand. Nichts scheint dem Vermögen des Durchschnittes überlegener, und nichts unterwarf die Geister zwingender als solches Aufbauen und Vorhalten einer neuen Welt.

Aber dies alles ist eben in dem, worin es groß ist, zugleich individuell und unterschiedlich; so trägt auch das religiöse Leben, das von dort ausströmt, einen durchaus individuellen Charakter; grundverschieden hat Jesus, hat Buddha, hat Muhamed zur Menschheit gewirkt. Wird nun die besondere Art des einen allen Völkern und allen Zeiten genügen, schließt sie nicht manches aus, was die Menschheit nicht aufgeben kann, nicht aufgeben darf?

Auch die Gestaltung der Religion zu einer geschichtlichen Weltmacht unterliegt der Besonderheit vergänglicher Lagen. Jene Gestaltung verlangt ein durchgebildetes Gedankenreich, die Mittel dafür kann aber nur die umgebende Kultur gewähren; auch wo diese dabei nur zu dienen scheint, wirkt sie in Wahrheit stark auf die Religion zurück. Jene Kultur aber war das Werk besonderer Völker und Zeiten, früher oder später entwächst ihr das Ganze der Menschheit; hat sich nun die Religion mit ihr untrennbar verflochten, so ergibt der Bruch mit der alten Kultur unvermeidlich auch ein Irrewerden an der überkommenen Religion.

So türmen sich Zweifel auf Zweifeln. Das Ewige scheint der Macht der Zeit zu verfallen, sobald es den Boden der Zeit betritt; besteht es aber streng auf einer Unwandelbarkeit, so wird es zur Hemmung aller Bewegung und zur Verneinung aller Geschichte. Aber die Geschichte ist da, und ihr Strom bringt unablässig Neues hervor, ein unzerstörbarer Lebensdrang der Menschheit verwirft jeden auferlegten Stillstand. Bei solcher Wendung kann es leicht scheinen, als sei in dem vermeintlich Ewigen nicht sowohl Göttliches und Überzeitliches eröffnet, als nur eine besondere Art des Menschlichen und Zeitlichen festgelegt und für heilig erklärt. Warum aber sollen wir Späteren uns solcher Festlegung beugen, warum auf die Selbständigkeit eignen Lebens verzichten?

So wirkt das geschichtliche Element, das die Religion stützen sollte, zu neuer Belastung, es scheint die Zweifel nur zu verstärken. Gleich den Eingang zur Religion versperrt daher die Ungewißheit über das Ganze; je mehr wir über seine Wahrheit grübeln und uns zergrübeln, desto weiter scheint es vor uns zurückzuweichen. »Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen; das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens« (Leibniz).

b. Die Eigentümlichkeit des Christentums.

Das allgemeine Problem der Religion steigert sich mit der Wendung zum Christentum. Dem Christentum wird nicht bloß der Gläubige, sondern auch der Forscher eine überragende Größe unter den Religionen bereitwillig zuerkennen. Zunächst gehört es in die höhere der beiden Gruppen, in welche die geschichtlichen Religionen zerfallen. Sie sind nämlich entweder Gesetzesreligionen oder Erlösungsreligionen. Jenen ist der Kern der Religion die Verkündigung und Verfechtung einer sittlichen Ordnung, welche aus überlegener Höhe die Welt beherrscht. Aus heiligem Willen ergeht an den Menschen ein strenges Gesetz für das ganze Leben, für Werke, Worte, Gedanken; ein herrlicher Lohn winkt seiner Erfüllung, eine schwere Strafe seiner Übertretung, wenn nicht in dieser, so in jener Welt. So wird das Leben in seiner ganzen Ausdehnung an eine übersinnliche Welt gekettet und zu stündlicher Arbeit, zu unablässiger Entscheidung für oder wider Gott angehalten. Ein solcher Aufruf wäre aber unmöglich ohne die Überzeugung, daß der Mensch aus eigener Kraft die Wahl zu treffen vermag, daß es zur Ergreifung des Guten nur seines Wollens bedarf. Diese Überzeugung aber verwerfen die Erlösungsreligionen mit aller Entschiedenheit; das Vermögen des Menschen zum Guten, das dort selbstverständlich dünkte, wird ihnen zum schwersten Problem, zur wichtigsten Frage und Sorge. Denn ihnen gilt der Mensch des vorgefundenen Standes als ganz unfähig zum Guten, als dem Bösen oder dem Schein verfallen; so fordern sie eine völlige Umwälzung und Erneuerung, ein Versinken der alten, ein Aufsteigen einer neuen Art, ein göttliches Wunder der Rettung. Wie das geschehen soll, mag zunächst durchaus rätselhaft scheinen, und es sieht der Mensch sich hier inmitten schwerster Verwicklung. Aber der Verwicklung entspricht eine Vertiefung, das Leben wird mehr als Ganzes erfaßt und unvergleichlich stärker erregt, erschüttert, verwandelt; schon das bloße Aufwerfen der Frage setzt die Gesetzesreligionen, bei allen Vorzügen größerer Einfachheit, Durchsichtigkeit, Rationalität, zu einer niederen Stufe herab, die von der weltgeschichtlichen Bewegung innerlich überwunden ist.

Bei den Erlösungsreligionen aber scheiden sich ein indischer und ein christlicher Typus. Wie beide das Böse verschieden verstehen, so suchen sie auch die Heilung in verschiedener Richtung. Den indischen Religionen gilt das Dasein der Welt überhaupt als ein Übel, mit ihrer ganzen natürlichen Beschaffenheit in Raum und Zeit erscheint sie als ein Reich trügerischen Scheins. Denn alles in ihr ist flüchtig und nichtig, Glück und Liebe verstreichen mit dem Augenblick; wie Holzstücke im unermeßlichen Ozean, so treiben die Menschen aneinander vorbei, um nie sich wiederzufinden. Unnützer Aufregung und schmerzlicher Täuschung ist daher verfallen, wer so flüchtigem Schein eine Wirklichkeit beimißt und sein Herz an ihn hängt. So gilt es eine Befreiung von diesem unseligen Wahn; sie wird erfolgen, wenn der Schein als Schein durchschaut und die Seele solcher Einsicht bis zum Grunde gewonnen wird. Denn damit verliert jener seine Macht über uns, es versinkt das ganze Reich der Täuschung mit seinen nichtigen Gütern, es erlischt aller von ihm erregte Affekt, und das Leben wird eine stille, heilige Ruhe, der Stand eines traumlosen Schlafes, sei es durch das Eingehen in ein ewiges Sein hinter dem Schein, sei es durch die Auflösung in ein völliges Nichts, wie im strengen Buddhismus. Hier wie da eröffnet sich keine Möglichkeit freudigen Aufbaus, hier wie da liegt die Erlösung bei der rechten Einsicht, und hat jeder Einzelne für sich die Entscheidung zu treffen; die Führer zeigen nur den Weg, ihn gehen muß jeder selbst. Weltentsagende Weisheit, ruhige Sammlung des Wesens, voller Gleichmut gegen alle Schicksale, das bildet hier die Höhe des Lebens. »Wenn ich weiß, daß mein eigner Leib nicht mein ist, und daß doch die ganze Erde mein ist, und wiederum, daß sie beides, mein und dein ist, dann kann kein Leid geschehen.«

Welch anderen Geist atmet das Christentum! Auch das Christentum findet die Welt voll Elend und Leid, seine Anfänge wie seine Höhepunkte sind nicht so leicht darüber hinweggeglitten wie das bequeme Durchschnittschristentum. Aber alle Erfahrung des Leides verleidet ihm nicht die Welt schlechthin, vielmehr erscheint ihr Grundbestand als ein untadelhaftes Werk göttlicher Weisheit und Güte. Nicht die Natur der Dinge, sondern die moralische Schuld, der Abfall von Gott gilt hier als die Wurzel des Bösen; erst damit kam Schmerz und Tod in die Welt. Solche Verkehrung geht so tief und lähmt so sehr die Kraft, daß die Welt aus eignem Vermögen das Gute nicht wieder aufnehmen kann. So muß Gott selbst zur Hilfe kommen, er tut es, indem er dem Fall eine Rettung entgegensetzt, er tut es durch die Eröffnung eines Reiches der Liebe und Gnade, das dem Menschen ein neues Wesen verleiht und ihn das Gesetz in die innerste Gesinnung aufnehmen läßt. Mit solcher Wendung wird der Mensch über alles Leid und alle Schuld hinausgehoben zur göttlichen Seligkeit und Vollkommenheit; je tiefer vorher die Empfindung des Elends war, eine desto stärkere Freudigkeit quillt aus solcher Errettung hervor. So entspringt aus der Erschütterung und Vernichtung selbst ein neuer, reinerer Lebensdrang; die Einigung mit Gott gibt dem Menschen eine unerschütterliche Festigkeit; es versinkt sein Lebenskreis nicht nach indischer Art in stille Ruhe, sondern er gewinnt eine große Aufgabe darin, in weltgeschichtlicher Arbeit ein Reich Gottes auf Erden aufzubauen und jede einzelne Seele darin aufzunehmen. Aus Wirkung und Gegenwirkung entsteht hier ein weltumspannendes Drama, voll schwerer Verwicklungen und dunkler Rätsel, aber von unergründlicher Tiefe und unermeßlicher Hoffnung.

Indem so das christliche Leben eine Weltverneinung und eine Welterneuerung miteinander verflicht, indem es durch tiefsten Schmerz zu höchster Vollendung aufsteigt, zugleich aber für die menschliche Lage auch inmitten der Rettung das Bewußtsein von Schuld und Leid festhält, entwickelt es eine den anderen Religionen unbekannte Weite der Empfindung und gewinnt es eine unversiegliche innere Bewegung. Nichts liegt dem Christentum ferner als ein Abschwächen und Ausreden des Schmerzes; wozu bedürfte es einer Erlösung, wenn nicht den Menschen das Leid mit unerträglicher Schwere bedrückte? Aber alles Leid erdrückt hier den Menschen nicht und treibt ihn nicht zur Verzweiflung, da ewige Liebe ihn in eine neue Welt versetzt, der alle feindliche Macht nichts anhaben kann. Da aber diese Welt immer von neuem zu erringen ist, und auch in die Seligkeit hinein der Schmerz immerfort nachklingt, so kennt dies Leben weder träge Ruhe noch schwelgendes Genießen, auch im Siege erlischt nicht der Kampf. Der Mensch ergreift hier in einer Sphäre des Glaubens und Hoffens als einen sicheren Besitz, was dem übrigen Leben erst als fernes Ziel vorschwebt. So wird sein Dasein zugleich Besitz und Entbehren, Ruhe und Streben, Freude und Schmerz, Gewißheit und Zweifel, und es ergibt sich damit jenes fortquellende innere Leben, wodurch das Christentum die anderen Religionen so weit überragt.

Auch insofern ist das christliche Leben besonders reich, als es zwei Stufen in sich schließt: den eignen Glauben Jesu und den Glauben der Gemeinde an Jesus Christus. Dort die Verkündigung des Reiches Gottes auf Erden, dieses Reiches der Liebe und des Friedens, die Eröffnung einer neuen Welt in der reinen Innerlichkeit des Gemütes, ein freudiges Vertrauen auf das in Gott gegründete Menschenwesen, ein Einladen aller zur Teilnahme an dem großen Werke und Feste. Jugendfrisches Empfinden, hilfbereites Tun, weltdurchdringende Liebe werden hier die Träger einer eigentümlichen christlichen Moral. Der Glaube an Christus dagegen, wie ihn die Kirche fixierte, enthält ein dunkleres Bild des Lebens und eine geringere Schätzung menschlicher Kraft. Das Böse ist hier bis zur Lust an der Zerstörung, zur teuflischen Auflehnung gesteigert; so muß auch die Gegenwirkung wachsen, ihren Kern aber bildet das sühnende und erlösende Leiden, das Eintreten des Gottmenschen für die zur Rettung unfähige Menschheit. Damit wird das Leid in die Gottheit selbst aufgenommen, der Mensch ganz und gar auf ein Wunder unverdienter Gnade gewiesen, das göttliche Leben noch tiefer der Menschheit und der Geschichte eingesenkt, die Religion noch mehr über alles andere Leben erhoben. Diese neue Stufe bringt schwere Verwicklungen, die Gefahr einer Verdüsterung des Lebens, eines Verfallens in tatlose Devotion und in eine mythologische Gedankenwelt. Aber durch alle Verwicklungen und Gefahren hindurch erscheinen geheimnisvolle Tiefen; auch wird nunmehr nicht nur aus dem Verhältnis zu Gott ein neues Leben entwickelt, sondern dies Leben auch in den Zusammenstoß mit der feindlichen Welt begleitet und dadurch zu noch tieferer Erschließung, zu noch sieghafterer Bewährung getrieben. Im Zusammentreffen beider Stufen hat wiederum das Christentum die Gegensätze des Lebens in einem weiteren Umfange in sich aufgenommen und seine Erfahrungen kräftiger verarbeitet als irgend eine andere Religion; die Widersprüche selbst entwickeln einen größeren Reichtum des Lebens und rütteln den Menschen gewaltiger auf.

Daß aber alle Gegensätze nicht zu völliger Zerwerfung führten, sich vielmehr das Streben aus allem Spalt und Streit immer wieder zu irgendwelcher Gemeinschaft zurückfand, das verdankt das Christentum vornehmlich der überragenden Persönlichkeit Jesu. Wohl hat die Überlieferung seinem Bilde manchen Zug hinzugefügt, der erst der Verehrung und Deutung der nächsten Geschlechter angehört, aber durch alle verhüllenden Nebel hindurch ist für ein unbefangenes Auge eine charakteristische Art und Gesinnung, eine unvergleichliche Einheit persönlichen Wesens deutlich genug erkennbar. Mit wunderbarer Kraft und Innigkeit ist hier das Religiöse ins Reinmenschliche gewandt, mit schlichter Einfalt verbindet sich eine überwältigende Hoheit, mit weichem Gefühle männliche Tatkraft, mit tiefer Empfindung des Leides eine jugendliche Freudigkeit. Die dem Christentum eigentümliche Geisteswelt ist hier zu voller persönlicher Verkörperung und zugleich zu überwältigender Anschaulichkeit gelangt; durch Leben und Tod ist hier ein Taterweis für die von ihm verfochtene Wahrheit erbracht, zu dem es aus aller Verwicklung der Weltarbeit und aus allem Streit der Parteien immer wieder zurückkehren konnte, um sich auf seine wahre Aufgabe zu besinnen, frischen Lebensmut zu schöpfen und reine Anfänge zu gewinnen. So ist dem Christentum die begründende Persönlichkeit unvergleichlich mehr geworden als allen anderen Religionen, so hat es darin einen unverlierbaren Besitz, der auch solche Gemüter bei ihm festhält, die der kirchlichen Ordnung schroff widersprechen. Endlich sei auch der Vorzüge gedacht, welche die Geschichte des Christentums und seine Entfaltung zu einer Weltmacht aufweist. Jüdischem Boden entsprungen, fand das Christentum seine Durchbildung vornehmlich bei den Griechen und bald auch den Römern; konnte es ohne eine solche Verpflanzung leicht eine jüdische Sekte bleiben, so ward ihm durch sie rasch die Enge einer nationalen Art abgestreift und eine Wirkung ins Weite eröffnet. Zweierlei namentlich war ihm bei der Berührung mit jenen Völkern günstig. Einmal begegnete die aufstrebende Religion einer universalen und ausgereiften Kultur, und es fand ihr Wirken zur ethischen Erneuerung der Menschheit die wertvollste Ergänzung in dem Erkenntnisdrang und dem Schönheitssinn der Griechen, in der Willenskraft und dem Organisationsvermögen der Römer. Zugleich aber fand sie in der damaligen Menschheit trotz alles reichen Kulturbesitzes eine entgegenkommende Stimmung. Denn die Herrlichkeit des alten Lebens hatte sich erschöpft, und den Anbruch des Abends verkündeten immer größere Schatten; namentlich seit Beginn des dritten Jahrhunderts erlag alles Leben und Streben einem tiefen Gefühl der Ermattung, das bei minder entsagenden Naturen in ein stürmisches Verlangen nach übernatürlicher Hilfe und Rettung umschlug. Indem das Christentum diesem Verlangen entgegenkam, gewann sein Aufbau einer neuen Welt die Gemüter zu vollster Hingebung. So gestaltete es sich zu einer weltumfassenden Organisation, zur Kirche, die dem im Glauben gegenwärtigen Gottesreich auch eine sichtbare Gegenwart gab; es entstand ein weltumspannendes, gänzlich von der Religion beherrschtes Lebens- und Kultursystem, das die geistige Leitung der Menschheit zuversichtlich an sich nahm. In Wahrheit wurde die christliche Kirche der Halt des versinkenden Altertums und die Erzieherin neuer Völker; durch alle Wandlungen der Zeiten, inmitten harter Anfechtungen von draußen und arger Schäden im eignen Innern, bleibt sie bis zur Gegenwart die gewaltigste Erscheinung des weltgeschichtlichen Lebens.

 

So stellt sich das Christentum mit dem Ganzen seines Wirkens und Wesens als die Religion der Religionen dar. Aber zugleich enthält es weit mehr Probleme, gerät es in weit mehr Verwicklungen, hat es eine irrationalere Art als alle übrigen Religionen. Das zeigen deutlich alle Hauptpunkte.

Das Christentum entwickelt aus dem Verhältnis von Persönlichkeit zu Persönlichkeit eine neue Welt und macht sie zum Kern aller Wirklichkeit. Aber wird diese Welt bei aller seelischen Tiefe nicht zu eng für den Reichtum des Daseins, kann sie auch nur alle Seiten des ethischen Lebens umspannen? Ja droht nicht die Gefahr, daß das hier eröffnete Reich der Liebe, Milde, Friedfertigkeit, bei Ablösung von der übrigen Welt, eine Sache bloßsubjektiver, weicher und tatloser Stimmung werde, daß es die harten Widerstände der Weltmächte weniger breche als fliehe, daß die hier geforderte Demut gegen Gott zur Empfehlung eines Knechtsinns gegen Menschen, eines willfährigen Ertragens aller Unvernunft in politischsozialen Verhältnissen verwertet werde. – Das Christentum hebt die Menschen durch die Wesensgemeinschaft mit Gott besonders hoch, höher als irgend eine andere Religion. Aber ergibt die Vergöttlichung des Menschen nicht eine Vermenschlichung des Göttlichen, hat nicht der Anthropomorphismus im Christentum weiter um sich gegriffen als in den anderen Weltreligionen? – Keine Religion verflicht sich so eng wie das Christentum mit der Geschichte, keine hat daher auch so schwer an dem Problem zu tragen, wie geschichtliche Vorgänge mit ihrer Besonderheit ewige Wahrheiten begründen können. – Keine Religion umfaßt so verschiedene Seiten und Stufen und hat daher um ihre eigne Einheit so hart zu kämpfen, keine ist so sehr der Gefahr ausgesetzt, daß diese Seiten und Stufen sich gegeneinander isolieren und zugleich aus der Wahrheit herausfallen. Bald wurde der Bruch mit der nächsten Welt nicht gründlich genug vollzogen und nicht kräftig genug festgehalten; dann drang die Wandlung des Wesens nicht bis zur letzten Tiefe vor und die Religion ward zu einer bloßen Umsäumung des natürlichen Lebens und Treibens; bald aber entstand eine starre Weltverneinung, welche die Arbeit zur Umgebung stocken ließ und in ihrer äußersten Zuspitzung das Gemüt mit eisiger Leere bedrohte. Auch die beiden Stufen eines universaleren und eines positiveren Christentums gerieten leicht in feindliche Spannung, auch hier war die Einheit des Ganzen ein Ideal, hinter dem die wirkliche Gestaltung oft weit zurückblieb.

Am meisten Sorge und Streit erzeugte aber die religiöse Fassung der Persönlichkeit Jesu. Dem kirchlichen Christentum genügte es nicht, mit Jesus zu glauben, es verlangte auch einen Glauben an Jesus Christus als den Mittler und Erlöser. In den Lehren und Überzeugungen davon verficht es mit höchster Energie den Glauben, daß in dem Erlöser Gott nicht nur mit einzelnen Erweisungen und Kräften, sondern mit der ganzen Fülle seines Wesens gegenwärtig sei, daß seine Person Göttliches und Menschliches zu untrennbarer Einheit verbinde. Darin steckt etwas, worauf das Christentum nun und nimmer verzichten kann. Einer Eröffnung göttlichen Wesens innerhalb des menschlichen Lebens muß es irgendwie sicher sein, wenn es volle Wahrheit besitzen und bleibende Geltung behaupten soll. Aber wie ist jene Einigung denkbar zu machen, und ist nicht die kirchliche Lehre von der Gottheit Christi als der zweiten Person der Dreieinigkeit schon deshalb verfehlt, weil sie eine Grundwahrheit der Religion mit philosophischen Spekulationen verquickt, welche die wenigsten Christen auch nur verstehen können, und weil sie zugleich die Vorstellungsweise eines besonderen Zeitalters festlegt, die späteren Geschlechtern mythologisch zu werden droht oder vielmehr schon geworden ist?

Auch in der Geschichte des Christentums entsprachen den dargelegten Vorzügen große Gefahren und Verwicklungen. Der antike Lebenskreis, den das Christentum seiner Gedankenwelt einzuverleiben suchte, war ihm viel fremder und feindlicher, als seiner älteren Art zum Bewußtsein kam, da diese alles durch das Medium religiöser Stimmung sah und die Unterschiede der Zeiten abschliff. Denn die alte Kultur enthält einen freudigen Glauben an eine Vernunft der Welt, und für die Herausbildung dieser Vernunft ruft sie alle Kraft des Menschen auf. Verstrickt ferner nicht das Griechentum mit seiner Gleichsetzung von Geist und Denken das Christentum in einen Intellektualismus, der seiner innersten Art widerspricht, und stimmt seine Formenfreude, sein Drängen nach künstlerischer Darstellung und plastischer Gestaltung voll zu jener reinen Gesinnung, deren Herrschaft das Christentum verkündet? Auch die römische Art mit ihrer inneren Härte, ihrem Begehren weltlicher Macht, ihrem Bestehen auf fester Organisation, ihrer juridischen Behandlung aller Verhältnisse entspricht wenig dem Gottesreich der Liebe und des Friedens. Die Seele des Christentums kam durch das alles in die Gefahr einer Zurückdrängung und Entkräftung; die kirchliche Gestalt ist dieser Gefahr weithin erlegen, sie würde ihr noch mehr erlegen sein, hätten nicht immer wieder einzelne Persönlichkeiten ursprüngliche Quellen des Lebens eröffnet.

Auch die Müdigkeit der Kulturwelt, die das aufsteigende Christentum umfing, hat ihm vielen Schaden gebracht. Das Christentum wollte solcher Ermüdung als »frohe Botschaft« entgegenwirken, und es hat in Wahrheit der Menschheit einen neuen Lebenstrieb eingepflanzt. Aber durch den massenhaften Zustrom bloß äußerlich gewonnener Elemente geriet es selbst zunächst unter einen starken Einfluß jener matten Zeit und verfiel damit einer viel zu passiven Denkart. Ganz durchdrungen vom Gefühl der Verderbtheit und Schwäche des Menschen, ersehnte man vor allem Rettung und Ruhe; man wollte von eigner Verantwortung entlastet, durch eine feste Autorität gesichert sein, man forderte dem quälenden Zweifel gegenüber handfeste Daten und brachte dem Mirakulösen, dem Magischen, dem Unverständlichen den bereitesten Sinn entgegen. Solche Denkweise erkannte dem Geistigen keine volle Wirklichkeit zu ohne eine sinnliche Verkörperung, so rann ihr beides untrennbar zusammen. Zugleich schien das Göttliche hier um so höher geehrt, je niedriger der Mensch und sein Vermögen geachtet wurde. Über alles Weltleben hinaus drängte es zu einer sicheren Ruhe in Gott, und von dieser Ruhe fand sich kein Weg zurück zur nächsten Wirklichkeit, zur kräftigen Ergreifung und freudigen Erhöhung der Welt. Was immer aus einer solchen Lage geistig und religiös erreichbar war, das hat der Riesengeist des Augustin erreicht. Aber zugleich hat er den Typus jener Zeit dauernd festgelegt und damit jener Entzweiung von Göttlichem und Menschlichem, jener Bindung des Geistigen an das Sinnliche, des unsichtbaren Gottesreiches an die sichtbare Kirche eine Wirkung für Jahrtausende verliehen. Aus seiner Arbeit vornehmlich erwuchs jenes kirchlich-religiöse Lebenssystem, das mit seiner energischen Konzentration alles Strebens in der Sintflut jener Epoche der Menschheit eine schützende Arche bot, das aber mit seiner geistigen Geschlossenheit und Gebundenheit, seiner schließlichen Starrheit und Unfreiheit lebensmutigeren und selbständigeren Zeiten unerträglich werden mußte.

So konnte jene erste Gestaltung des Christentums für die Dauer nicht unangefochten bleiben. Die erste große Gegenbewegung erfolgte auf dem eigenen Boden der Religion: in der Reformation. Ein Teil der römischen und griechischen Einflüsse wird ausgeschieden, der innerste Kern und der eigentümliche Charakter des Christentums wieder reiner erfaßt, mit einer Wendung von der Kirche zur Persönlichkeit mehr ursprüngliches Leben, mehr Kraft der Gesinnung, mehr Empfindung der schroffen Gegensätze gewonnen. Aber bei aller Größe bleibt das Ganze unfertig, auch in schwankender Stellung zwischen alter und neuer Denkart, noch ohne Auseinandersetzung mit der eben erst beginnenden neuen Kultur; so kann es nicht verhindern, daß in der Neuzeit eine Bewegung aufkommt, die nicht nur die kirchliche Form des Christentums, sondern das Christentum selbst, ja darüber hinaus alle und jede Religion bestreitet und in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt.

c. Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum.

In einen Konflikt mit Christentum und Religion gerät die Neuzeit nicht nur hie und da, sondern mit dem Ganzen ihres Strebens, und es ist nicht Unglaube und Eigensinn der Individuen, sondern es ist die Substanz der Arbeit, die zu einem unerbittlichen Zusammenstoß führt. Mag dabei nicht alle Verantwortung der Individuen fehlen, diese Verantwortung ist nicht derart, daß der Mensch sie dem Menschen zurechnen und aufbürden dürfte. So gilt es die Bewegung von der Zufälligkeit der Individuen und Parteien abzulösen und ihre innere Notwendigkeit zu verfolgen. Es sei dabei zunächst die Wandlung der Gedankenwelt, dann die des Lebens betrachtet.

1. Die Wandlungen der Gedankenwelt.

α. Naturwissenschaft und Religion.

Am greifbarsten ist der Zusammenstoß der modernen Denkweise mit der Religion bei der Natur. Die überkommene Religion ist mit dem naiven Naturbilde eng verwachsen, das die Erde zum ruhenden Mittelpunkt des sie umkreisenden Weltalls macht, sie versteht den Weltbau als ein Werk einer weltüberlegenen Vernunft, welche die Natur zusammenhält, lenkt und ihren Zwecken unterwirft; sie gibt dem Menschen eine einzigartige Stellung, indem sie auf sein Wohl und Wehe alles Ergehen bezieht und sein Tun über das Schicksal des Alls entscheiden läßt, wie in Fall und Elend, so in Erhebung und Seligkeit.

In drei Hauptstufen hat die moderne Wissenschaft jenes Naturbild bekämpft und zerstört. Sie hat zunächst seit KOPERNIKUS eine unermeßliche Erweiterung vollzogen, sie hat Welten über Welten gezeigt und die Erde zu verschwindender Kleinheit herabgesetzt, sie hat zugleich den Gegensatz von Himmel und Erde aufgehoben, woran die ältere religiöse Vorstellung und Denkweise hing. Kann nun noch, was auf diesem Trabanten eines Fixsterns unter unzähligen anderen vorgeht, über das Schicksal des Alls entscheiden? Und was wird aus dem »Aufgefahren gen Himmel«, wenn es keinen Himmel im alten Sinne, kein Oben und Unten im unermeßlichen Weltraum mehr gibt?

Dann kommt die innere Wandlung der Natur seit GALILEI und DESCARTES. Alle seelischen Kräfte, alle Strebungen und Zwecke werden aus der Natur entfernt, sie löst sich in ein Nebeneinander kleinster Elemente auf, die nur durch Druck und Stoß aufeinander wirken, und deren Räderwerk damit ganz und gar durchsichtig wird; alles Geschehen ist dabei gleichförmiger Art, es folgt einfachen und unwandelbaren Gesetzen, nichts Einzelnes kann diesen Rahmen durchbrechen, keine seelische Kraft das Geschehen aus seinen Bahnen werfen.

Eine Denkweise, die so der Natur eine völlige Selbständigkeit und innere Geschlossenheit verleiht, stößt mit der religiösen Naturbetrachtung am härtesten zusammen bei dem Problem des Wunders; denn ebenso unentbehrlich wie dort scheint es hier unerträglich. Das Wunder ist »des Glaubens liebstes Kind«, die Zurückführung alles und jedes Geschehens auf natürliche Ursächlichkeit scheint die Religion bis zum Grunde zu zerstören. Dabei hat keine Religion das Wunder, auch als sinnliches Wunder, so tief in ihr Wesen aufgenommen als das kirchliche Christentum; »ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel«. Die moderne Naturwissenschaft dagegen vertreibt das Wunder unbarmherzig aus ihrem Bereiche, ihr bedeutet es mit SPINOZA nicht etwas Übernatürliches, sondern etwas Widernatürliches, jede einzelne Durchbrechung erscheint als eine Erschütterung ihres Grundgefüges und als eine Leugnung ihrer Selbständigkeit.

Und das Wunder ist nur der Punkt des akuten Zusammenstoßes der Gegensätze, in Wahrheit erstreckt sich der Kampf viel weiter. Denn die Verwandlung in ein seelenloses Getriebe macht die Natur durchaus gleichgültig wie gegen alle geistigen, so auch gegen alle religiösen und moralischen Zwecke; nach ehernen Gesetzen verfolgt sie ihre Bahn, unbekümmert um das, was dem Menschen gut oder böse heißt.

»Denn unfühlend
Ist die Natur,
Es leuchtet die Sonne
Über Bös' und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen, wie dem Besten,
Der Mond und die Sterne.«

So vereinsamt der menschliche Kreis im All, als dessen beherrschenden Mittelpunkt er sich vordem fühlte.

Endlich kommt die Entwicklungslehre des 19. Jahrhunderts und setzt mit Vollendung des begonnenen Werkes den Trumpf auf das Ganze. Die wissenschaftliche Begreifung der Natur fand bis dahin einen unüberwindlichen Widerstand an dem Reich der organischen Bildung; die religiöse Deutung konnte sich dahin immer noch wie in eine uneinnehmbare Festung flüchten. Nun kam LAMARCK und kam DARWIN; mag in der näheren Gestaltung der Theorien vieles strittig bleiben, entschieden ist der Sieg der Entwicklungslehre im allgemeineren Sinne, d. h. einer Überzeugung, welche die Formen nicht als von Anfang an fertig nebeneinanderstellt, sondern sie einander kausal verkettet und die höheren aus den niederen durch natürliche Bewegung hervorgehen läßt. Und entschieden ist zugleich, daß auch der Mensch zur Natur gehört, daß die Naturbegriffe auch sein Leben umspannen. Es entwickelt sich von da aus eine biologische Deutung auch der menschlichen und geistigen Größen, die der überkommenen ethisch-religiösen schnurstracks widerspricht. Diese bemaß den Wert aller Handlungen und Erlebnisse nach dem Verhältnis zu Gott und dem weltüberlegenen Gottesreich, der biologischen Betrachtung gilt nur der Nutzen für den Kampf ums Dasein; dort wurden ewige Güter gegenüber aller Zeit erstrebt, hier verwandelt der Wechsel der Lagen unablässig die Schätzung: was heute nützt, kann morgen schaden und umgekehrt; dort sollte sich eine reine Innerlichkeit bilden, und der Gewinn der ganzen Welt wog eine Schädigung der Seele nicht auf; hier geht alles Sinnen und Streben nach außen und »Seele« wird zu einem leeren Wort. – In dem allen ist ein unversöhnlicher Gegensatz sonnenklar, unmöglich kann beides zusammengehen. Aber die Naturwissenschaft ist da und dringt siegreich immer weiter vor; sie bringt nicht nur eine unübersehbare Fülle von Ergebnissen, sie hat eine neue Denkweise erzeugt, ein präziseres Sehen, ein schärferes Scheiden, ein strengeres Bestehen auf kausaler Verbindung und reiner Tatsächlichkeit; sie bekämpft mit dem allen die Denkweise der Religion und erklärt sie für wissenschaftlich unhaltbar. Kann die Religion einem so mächtigen Strom widerstehen?

β. Geschichte und Religion.

Zu den Gegnern der Religion gesellt sich neben der Natur die Geschichte: die Bekämpfung des überkommenen religiösen Geschichtsbildes durch eine wissenschaftliche Geschichtsbegreifung bewirkt eine Erschütterung, die wohl noch tiefer ins Innere dringt. Jenes Bild gab der menschlichen Geschichte und überhaupt unserer Welt nur eine geringe zeitliche Ausdehnung, und alles Geschehen in ihr empfing sein Ziel wie seine treibende Kraft von der weltüberlegenen Gottheit: sie hatte den Plan des Ganzen vorgezeichnet, sie lenkte die Geschicke auch im einzelnen, sie sandte Propheten und Helden »wenn die Zeit erfüllet war«. Die Hauptaufgabe der Geschichte war die Erziehung der Menschheit und jedes Einzelnen für ein übergeschichtliches, ewiges Leben, ihren Kern bildete der Kampf von Gutem und Bösem, der sich in ein einziges großes Drama von der Weltschöpfung bis zum Weltgericht straff zusammenfaßte; alles übrige blieb bloße Umgebung oder Mittel und Werkzeug für jene Seele des Ganzen. Aus solcher Überzeugung wurden alle Ereignisse und Erlebnisse gedeutet; so fest hatte diese Deutung Wurzel geschlagen, daß man überall jene Lenkung unmittelbar zu gewahren glaubte, überall »den Finger Gottes« erblickte.

Wie sehr hat sich das alles verändert, und zwar weniger durch eine schroffe Umwälzung als durch eine allmähliche Abbröckelung und Umbildung. Wie die räumliche Ausdehnung, so ist auch die zeitliche der Welt ins Unermeßliche gewachsen, auch bei der Erde rechnet die Wissenschaft nur nach Millionen von Jahren; klein gegenüber solchen Maßen ist die menschliche Geschichte immerhin den überkommenen Grenzen weit entwachsen; innerhalb ihrer wiederum schrumpft die Epoche der Kultur stark zusammen gegenüber der ungemessenen Weite der »prähistorischen« Zeiten. Da durch ein schließliches Versagen unentbehrlicher Daseinsbedingungen auch der Dauer des organischen und mit ihr des geistigen Lebens ein festes Ziel gesetzt scheint, so dünkt der modernen Denkart das ganze Dasein der Menschheit eine bloße Episode des Weltprozesses, gegenüber dessen unbegrenzter Dauer scheint es wie ein flüchtiges Meteor aufzuleuchten und zu verschwinden.

Tiefer noch waren die Wandlungen innerer Art: wie die Natur so gewann auch die Geschichte eine Selbständigkeit; wie dort alles Übernatürliche, so fiel hier alles Übergeschichtliche. Eigne Triebkräfte wurden innerhalb des menschlichen Kreises erkannt, eigne Ziele aufgewiesen, die Erscheinungen direkt miteinander verkettet und schließlich zu einem einzigen Gewebe verbunden. Jeder einzelne Vorgang wird aus seinen Zusammenhängen verstanden, auch das Größte bildet nicht mehr ein isoliertes Wunder, sondern einen Höhepunkt innerhalb der Bewegung, aus seinen Bedingungen und Umgebungen wächst es sicher hervor. Wer so die Geschichte aus der Geschichte selbst, also »immanent« verstehen möchte, dem wird alles Eingreifen übernatürlicher Mächte zu einer unerträglichen Störung, dem wird die Geschichte zur unversöhnlichen Gegnerin der überkommenen Religion.

Sie wird es noch mehr mit der Erkenntnis einer stufenweise aufsteigenden, in sicherem Zuge fortschreitenden Bewegung, mit der Verwandlung der Geschichte in einen fortlaufenden Entwicklungsprozeß. Denn damit gewinnt sie als Ganzes ein Ziel und einen Sinn bei sich selbst; die Aussicht auf eine bessere, einer endlosen Steigerung fähige Zukunft verleiht dem unmittelbaren Dasein eine Spannung und Aufgabe im eignen Bereich und tröstet über alle Schäden der Gegenwart; die religiöse Hoffnung einer jenseitigen Seligkeit verblaßt vor solchem Diesseitsglauben.

Wo es innerhalb der Zeit so viel zu tun und zu ändern gibt, ja wo ihre Arbeit die Wirklichkeit in ein Reich der Vernunft zu verwandeln hat, da kann sie nicht mehr als nichtig und flüchtig gelten. Zugleich entfällt das bisherige Schwächegefühl des Menschen. Scheint er doch auf dem neuen Boden vornehmlich auf seine eigne Kraft gestellt und zu voller Mündigkeit erhoben, er empfängt hier sein Schicksal nicht sowohl von überlegener Macht, als er es sich selbst mit männlicher Tat bereitet. So ist es auch nicht ein übernatürliches Gottesreich, sondern das Wohlergehen der Menschheit im Diesseits, dem die Hauptsorge zugewandt wird.

Dieser Konflikt zwischen geschichtlicher und religiöser Überzeugung wird besonders schroff beim Problem der Wahrheit. Die Religion versteht die Wahrheit als ewig und schlechthin wandellos; mag die göttliche Offenbarung sich innerhalb der Zeit eröffnen, sie wird damit kein Erzeugnis der Zeit, sie folgt nicht dem Lauf der Zeit, sie weist alle Veränderung als eine Entwürdigung von sich. Die geschichtliche Entwicklung dagegen mit ihrer unablässigen Verschiebung der Lagen und ihrem rastlosen Fortschritt macht die Wahrheit zum Kinde der Zeit (veritas temporis filia); dem jeweiligen Stande der Dinge, den Bedürfnissen der lebendigen Gegenwart haben wie die Einrichtungen so auch die Überzeugungen sich anzupassen. Das macht alle geistigen Größen flüssig, alle Wahrheit relativ, kein Gedanken- und Glaubensgehalt kann hier absolut gelten wollen. Da aber die Religion auf eine absolute Wahrheit nicht verzichten kann, so wird alle Entscheidung für die Geschichte zu einer Entscheidung gegen die Religion.

Auch die nähere Gestaltung der geschichtlichen Forschung wird höchst gefährlich für eine Religion, welche vornehmlich auf geschichtlichen Tatsachen ruht wie das Christentum. Die naive Denkweise, die das überlieferte Bild früherer Zeiten unbesorgt hinnahm, auch die verschiedenen Berichte leicht miteinander verwob, hält einem geschärften kritischen Verfahren nicht stand. Wir können uns nicht verhehlen, daß was bisher als lautere Wahrheit, als reiner Abdruck der Wirklichkeit galt, unendlich viel Subjektivität der Auffassenden und Weiterberichtenden enthält, daß wir oft weniger die Dinge sehen als den Schleier, mit dem menschliche Deutung und Phantasie sie umwob; langsam und vorsichtig ist jetzt zu den Tatsachen vorzudringen, die früher mühelos zuzufallen schienen. Die historische Kritik, die daraus erwuchs, ließ sich auch der religiösen Überlieferung nicht fernehalten, kaum irgendwo anders hat sie so glänzend ihr Vermögen gezeigt und zugleich so gründlich mit überkommenen Vorstellungen aufgeräumt, so völlig das überkommene Bild verwandelt. Was früher ein gleichartiges Ganzes dünkte, das enthüllt jetzt große Unterschiede und starke Widersprüche, nicht nur in Nebensachen und Einzeldaten, sondern in wesentlichen und prinzipiellen Fragen; so enthält z. B. das Neue Testament recht abweichende Bilder von Jesus und grundverschiedene Fassungen des Christentums; auch findet sich manches, was dem Glauben späterer Zeiten zu einer Hauptsache wurde, in den klassischen Urkunden gar nicht oder doch nur in leisen Anfängen; einen weiten Abstand zwischen der kirchlichen Dogmenlehre und ihrer historischen Grundlage, der Bibel, muß jede unbefangene Betrachtung zugestehen. Dazu die Frage der Echtheit der Quellen mit ihren bald aufgeregten, bald minutiösen Streitigkeiten. Ob dabei das Ergebnis der Kritik mehr bejahend oder verneinend sei, ist lange nicht so wichtig als dies, daß die Glaubwürdigkeit der Überlieferung überhaupt auf wissenschaftliche Prüfung gestellt wird, daß das Göttliche nicht mehr unmittelbar zu uns spricht, sondern durch mühsame Gedankenarbeit des Menschen vermittelt wird. Denn ihr Reflektieren und Kritisieren zerstört unwiederbringlich den Heiligenschein, der jene Überlieferung früher umfing; das grelle Tageslicht der Wissenschaft verscheucht unbarmherzig jenes Dämmerlicht, in dem die religiöse Phantasie Himmel und Erde unmittelbar zusammenflocht. So wendet sich auch hier der Gewinn der Geschichte der Religion zu hartem Verlust. Als auf Geschichte begründet verliert diese auch insofern, als das präzisere Sehen, die genauere Erfassung der Eigentümlichkeit jeder Zeit, dies notwendige Ergebnis einer kritischen Behandlung, die eine Zeit notwendig schärfer gegen die anderen abgrenzt und damit eine unmittelbare Aneignung der Vergangenheit, ein leichtes Überströmen ihrer Wirkungen auf uns verhindert. Früheren Geschlechtern war die heilige Geschichte eine unmittelbare Gegenwart, in ihrem Lichte sahen sie die eigne Zeit und Umgebung. Das konnten sie nur, weil ihnen Eignes und Fremdes, Früheres und Späteres ungeschieden zusammenfloß. Indem die historische Kritik das verbot, hat sie zugleich jene überragende Stellung der heiligen Geschichte zerstört.

Aber der Zweifel und die Erschütterung reicht noch weiter. Der modernen Denkweise wird nicht nur der nähere Inhalt der Überlieferung zum Problem, sie kann überhaupt nicht prinzipielle Überzeugungen auf geschichtliche Tatsachen gründen. Denn was dem Menschen zu seiner geistigen Selbsterhaltung not tut, das muß unmittelbar zu erleben sein und sich bei uns selbst erweisen, das läßt sich nicht von draußen her an uns bringen. Indem die Aufklärung das zuerst gegenüber aller bloßen Tradition vertrat, hat sie gewiß Vernunft und Geschichte, eignes Leben und Überlieferung zu schroff auseinandergerissen und dem Augenblick zu viel zugetraut. Aber die mit jener Wendung gewonnene Selbständigkeit des Lebens verbleibt auch bei einer freundlicheren Stellung zur Geschichte; auch für uns kann die Geschichte nie den ersten, sondern nur den zweiten Platz einnehmen, für unser Leben kann von ihr nur soviel gelten, als sich in unmittelbare Gegenwart umsetzen läßt. Insofern gilt auch für uns das Wort LESSINGS: »Zufällige (d. h. bloß tatsächliche) Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« Wenn sich aber damit das Leben der Bindung an die Geschichte entwindet, so wird es zu einem unerträglichen Druck, das Heil des Menschen an die Anerkennung historischer Vorgänge zu binden. »Daß ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube« (KANT). »Man sage nicht, was schadet's, wenn auch auf dieses Historische gehalten wird. Es schadet, wenn Nebensachen in gleichen Rang mit der Hauptsache gestellt, oder wohl gar für die Hauptsache ausgegeben, und diese dadurch unterdrückt und die Gewissen geängstigt werden« (FICHTE).

So hat die geschichtliche Betrachtung auf der ganzen Linie eine andere Denkweise aufgebracht, als die Religion sie enthält. Und keine Religion wird von der Erschütterung stärker betroffen als das Christentum, das sowohl mit einer geschichtlichen Gesamtansicht als mit besonderen geschichtlichen Vorgängen enger verbunden ist als irgendwelche andere Religion.

γ. Geistesleben und Religion.

Aber so schwer die Religion von der Natur und von der Geschichte her erschüttert wird, der wichtigste Punkt ist noch nicht berührt, er liegt in der inneren Beschaffenheit des Lebens, das alle Betätigung und Gedankenarbeit trägt. Zwischen dem, was die Religionen und unter ihnen ganz besonders das Christentum lehren, und dem, was die moderne Kultur durch das Ganze ihrer Entwicklung behauptet, ist hier eine tiefe Kluft entstanden, und es droht sich damit in nichtigen Schein aufzulösen, was bis dahin als Kern aller Wahrheit gegolten hatte.

Der älteren Denkweise war das menschliche Seelenleben mit der Weltumgebung eng verbunden, verwandte Kräfte walteten drinnen und draußen, in der Mitteilung an den Menschen schienen die Dinge ihr echtes Wesen zu finden. Von hier aus erregte es kein Bedenken, auch die weltbeherrschende Macht menschenähnlich vorzustellen und den Verkehr mit ihr als ein Verhältnis von Seele zu Seele nach Art des Verhältnisses vom Menschen zum Menschen zu verstehen. Alle Größen der Religion gestalteten sich so vom unmittelbaren Seelenleben des Menschen her; nur von ihm aus gewinnen Begriffe wie Liebe, Gnade, Vertrauen einen Sinn; keine Religion aber stellt die seelische Innerlichkeit höher als das Christentum mit seiner Verkündigung einer unendlichen Liebe und seiner Erschließung eines Reiches der Gotteskindschaft.

Nun aber hat die Arbeit der Neuzeit die Stellung und mit ihr die Schätzung des Seelenlebens völlig verändert, wie auch uns schon ersichtlich wurde. Aus der Natur und damit, wie es scheint, aus der großen Welt, wird die Seele verwiesen; so wird sie zu einem Sonderreich, zu einem Leben und Weben im eignen Kreise. Mehr und mehr läßt aber ein solches Sonderleben eine Schranke empfinden; als bloßes Fürsichsein, als ein Beziehen alles Geschehens auf einen daneben gelegenen Punkt, als subjektive Zuständlichkeit wird die Seele zu klein für die geistige Arbeit, die immer entschiedener einen Weltcharakter entwickelt; so löst diese sich ab von jener unmittelbaren Daseinsform, wendet sich gegen sie und setzt sie zu einer bloßen Begleiterscheinung herab. So emanzipieren sich die einzelnen Lebensgebiete, wie Kunst und Wissenschaft, Staatsleben und wirtschaftliche Arbeit, so emanzipiert sich schließlich das Ganze der Kultur; überall entstehen selbständige Komplexe, die eigne Aufgaben stellen, eigne Gesetze und Triebkräfte erzeugen, die ihren Zweck in sich selber tragen und alle Beziehung auf ein seelisches Fürsichsein als ein Bemessen nach der Leistung für das Wohl des Subjekts als eine Entstellung verwerfen. Mit der Größe der Kultur scheint untrennbar verknüpft ein unpersönlicher Charakter, ein Sein bei sich selbst und ein Wirken aus sich selbst, eine Überlegenheit gegen alle menschlichen Zwecke. Als wahre Größe des Menschen erscheint damit, daß er aus eignem Wollen alles bloße Fürsichsein ablegen und sich ganz und gar in ein Werkzeug jenes Kulturprozesses verwandeln kann. Niemand hat solcher die ganze moderne Kultur durchdringenden Überzeugung einen großartigeren Ausdruck gegeben als HEGEL, mit besonderer Kraft wirkt sie von ihm aus durch das 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Es kann aber ein durch sachliche Notwendigkeiten getriebenes Wirken und Schaffen nicht das Leben beherrschen, ohne es bis zum Grunde umzuwandeln. Die subjektive Gesinnung und damit, so scheint es, alles ethische Verhalten des Menschen weicht der Aufbietung geistiger Kraft, der Mitarbeit an jenem Kulturprozesse. Die alte seelische Innerlichkeit mit all ihren Größen und Gütern wird aus dem Zentrum des Lebens in die Peripherie verwiesen; nicht nur aus der Natur, auch aus dem Innenleben wird die Seele damit verbannt.

Wir wüßten nicht, welcher Angriff die Religion schwerer treffen könnte als dieser. Denn sinkt die Seele derart zu einer Nebensache herab, so kann sie unmöglich die Maße für das Bild der Wirklichkeit liefern, so erscheint die gesamte Gedankenwelt der Religion als ein bloßer Anthropomorphismus, als eine Verfälschung der Wirklichkeit. Aus solchem Gedankengange hat der Positivismus die Religion zu einer bloßen Entwicklungsstufe herabgesetzt, auf welcher der Mensch in kindlichem Wahn menschliche Größen in die Welt hineinsah und mit ihnen zu verkehren glaubte. Für Religion im alten Sinne ist hier überhaupt nicht der mindeste Platz. Wird noch irgendwelcher Gottesbegriff festgehalten, so kann er nichts anderes bedeuten als eine weltbegründende Substanz oder eine weltdurchdringende Kraft; zu einer solchen aber läßt sich kein persönliches Verhältnis gewinnen, Begriffe wie Liebe und Gnade, Glaube und Vertrauen verlieren hier jeglichen Sinn. Nicht dieses oder jenes an der Religion, sondern die Religion selbst wird damit zur Mythologie, zu einer durch die geistige Entwicklung überwundenen Lebensstufe. Zugleich fällt auch die Moral; denn wie können Größen wie Gesinnung und Überzeugung einen Wert behalten, wenn alles selbständige Innenleben verschwindet? Solche Verdrängung der Religion und Moral durch einen unpersönlichen Kulturprozeß trifft aber wiederum am meisten das Christentum, da es eine Selbständigkeit des Innenlebens zuversichtlicher behauptet und stärker entwickelt hat als irgendwelche andere Religion.

So ist nicht nur aus dem Naturbilde, nicht nur aus der geschichtlichgesellschaftlichen Arbeit, sondern aus dem Grundgewebe des Lebens die Religion, ja alle Möglichkeit einer Religion vertrieben. Alle diese Gegenwirkung unterstützt und steigert sich gegenseitig; die Arbeit an den einzelnen Punkten will das Ganze oft nicht verneinen, und ehrliche Überzeugung versichert oft, daß diese besondere Wandlung, z. B. im Bilde der Natur oder der Geschichte, den Gesamtbestand der Religion unangetastet lasse. Gewiß, aber wenn es an anderen Punkten und an allen anderen Punkten auch so steht, wenn alle einzelnen Bausteine zerbröckeln, was wird dann aus dem Gefüge des Ganzen? Das eben ist das Große und Überwältigende der Wandlung, daß die Menschen zunächst eine Zerstörung gar nicht wollten, daß sie vielmehr eifrig beflissen waren, Altes und Neues zusammenzuhalten und ineinanderzuschieben, daß dann aber das Neue jene Bindung zerbrach und, unbekümmert um menschliche Ansicht und Absicht, seine eignen Wege ging. Und diese Wege führen zur Zerstörung der Religion.

*

2. Die Veränderung der Lebensrichtung.

Nur in einigen wenigen Worten sei daran erinnert, daß der Wandlung der Gedankenwelt eine Veränderung der Lebensrichtung entspricht. Mit der neuen Naturwissenschaft geht Hand in Hand die Entwicklung der modernen Technik; mit ihrem Aufkommen und Vordringen hört der Mensch auf, der Natur gegenüber wehrlos zu sein, wird er vielmehr zu ihrem Herrn und Gebieter. Guten Mutes kann er nunmehr den Kampf gegen alle Begrenzung und Hemmung wagen, kann er durch ein Aneignen der Naturkräfte sein Leben ins Endlose erweitern, es in ungeahnter Weise beschleunigen, es unvergleichlich reicher und genußvoller machen. Die fortschreitende Eröffnung neuer Aussichten und Aufgaben erweckt ein stolzes Bewußtsein menschlichen Vermögens, menschlicher Überlegenheit. Dieselbe Gesinnung freudiger Kraft und mutigen Selbstvertrauens wirkt gegenüber dem geschichtlichgesellschaftlichen Leben. Nicht mehr dünken nun Not und Leid vom Schicksal auferlegte Notwendigkeiten, deren Folgen man lindern, die man aber nicht in der Wurzel vernichten kann. Vielmehr fühlt sich der moderne Mensch in Nutzung aller Mittel der Kultur und in strafferem Zusammenschluß der Kräfte stark genug, sein Dasein durchweg in ein Reich der Vernunft zu verwandeln, das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich zu machen. Was sich dem an Widerständen entgegenstellt, das wird dem neuen Lebensgefühl mehr ein Antrieb zur Arbeit als eine Abschreckung von ihr. Dabei erwartet der Mensch den Erfolg nicht von übernatürlicher Hilfe, sondern er erringt und erzwingt ihn durch Aufbietung eigner Kraft. Dazu kommt endlich jenes neue Kulturideal mit seiner Zurückstellung aller menschlichen Zuständlichkeit und seiner Eröffnung eines unermeßlich reichen, von selbständigen Inhalten erfüllten und von inneren Notwendigkeiten getriebenen Geisteslebens unpersönlicher Art. Unendlich viel mehr Klarheit, Weite und Wahrheit scheint damit in unser Leben zu kommen, und wiederum eine Wahrheit, die nicht aus übernatürlicher Mitteilung, sondern aus eigner Arbeit hervorgeht.

Arbeit und Spannung gewährt fürwahr die nächste Welt in Hülle und Fülle, sie vermag damit den Menschen so zu beschäftigen, ihn auch innerlich so zu fesseln, daß gar kein Verlangen nach einer anderen Art des Seins sich regen mag. Je mehr sich aber solche Richtung zur Welt der Seele des Menschen bemächtigt, desto mehr Boden verliert die Religion, desto deutlicher wird der Gegensatz zu den Zeiten, in denen das Christentum sich gestaltete, desto mehr erscheint die Gesamtgeschichte der Neuzeit als eine fortschreitende Verlegung des Lebens aus einer Welt des Glaubens und der Phantasie in die Welt des unmittelbaren Daseins.

Das Christentum der ersten Anfänge konnte seine Arbeit nicht beginnen, ohne der nächsten Welt eine neue, in Glauben und Hoffnung gegründete entgegenzuhalten und sie für die wahre Heimat des Menschen zu erklären; als es aber zum Siege gelangte, hat es seinen Zug zum Jenseits der ganzen damaligen Menschheit auferlegt, einer ermüdeten, ausgelebten, von keinen eignen Hoffnungen erfüllten Menschheit. Die Stimmung der damaligen Welt verkörpert uns namentlich AUGUSTIN mit der Glut seiner Gesinnung und der Kraft seines Wortes. Die neue Welt ist ihm nicht eine ferne, sondern die allernächste Welt, sie allererst gewährt in den Wirren und Nöten des Daseins die Möglichkeit einer geistigen Selbsterhaltung, sie allein rechtfertigt einen Mut zum Leben. Sie aber drängt mit elementarer Kraft die sinnliche Welt weit zurück und entzieht ihr die Arbeit und Liebe des Menschen. Alle Verzweigung des Kulturlebens hat nur das eine Ziel, den Menschen zu jener höheren Welt zu erheben, alle Mannigfaltigkeit weist über sich selbst hinaus zu der weltbeherrschenden Einheit, alle Arbeit soll möglichst bald zu dem Punkte führen, wo ihre Mühe und Sorge umschlägt in die Anschauung ewiger Wahrheit und die Anbetung göttlicher Liebe. Ein innerster Kern des Seelenlebens hebt sich hier von aller Verwicklung der Weltarbeit ab und wird sicher im göttlichen Leben verankert. Solcher Weltüberlegenheit fühlt man sich aber am sichersten in schroffer Aufrechterhaltung des Gegensatzes, in voller Abstoßung aller Arbeit und Sorge der Welt; »du hast uns geschaffen zu dir hin, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir.«

Diese Religion durchaus transzendenter Art wird im mittelalterlichen Kirchensystem durch die Angliederung einer weltlichen Kultur zwar einigermaßen gemildert, aber die Welt des Glaubens bleibt die Hauptwelt und die dem Menschen innerlich nächste Welt, wie sie denn auf der Höhe der Scholastik durchgängig als Vaterland (patria) bezeichnet wird. Zugleich bildet die Religion den Kern des Lebens und ist die Kirche die Hüterin aller geistigen Aufgaben der Menschheit. Dann aber erhebt sich bei jugendlichen Völkern und wachsendem Lebensmut eine neue Woge weltgeschichtlichen Strebens. Jenes Leben in Glauben und Hoffnung, jenes innere Weben des weltüberlegenen Gefühls verliert allmählich an Anziehungskraft, es wird als zu passiv, zu weich und traumhaft empfunden; stärker und stärker wird das Verlangen nach mehr Befassung mit der Welt um uns, nach Übung menschlicher Kraft im Kampf mit der Härte der Dinge, nach einem wacheren und weiteren Leben. Schärfer scheiden sich Mensch und Welt, Subjekt und Objekt suchen volle Klarheit gegeneinander. Ein neuer Morgen scheint aufzugehen, ein unermeßliches Tagewerk sich der Menschheit zu eröffnen. So strebt denn das Sinnen und Denken immer mehr in die Welt hinein statt sich von ihr abzulösen.

Aber diese große Wandlung hat sich sehr allmählich und in drei Hauptstufen vollzogen. Ein neues Leben erscheint zunächst in der Renaissance, die Geister regen sich freier, das Streben geht ins Weite, der Mensch entdeckt nicht nur ferne Länder, er entdeckt vor allem sich selbst, gewinnt ein stolzes Bewußtsein seiner Kraft und nimmt freudig Besitz von dem unermeßlichen Reichtum der Welt. Zweierlei ist es vornehmlich, was ihn bei ihr anzieht und festhält: die Lebensfülle, die überall aufquillt, und die Schönheit, die aus ihren Gestalten hervorstrahlt. Aus solchen Überzeugungen und Erfahrungen erwächst das Ideal einer harmonischen Bildung des ganzen Menschen, im modernen Kulturstaat findet das Streben zur Veredlung des Diesseits einen festen Halt, ein weltlicher Lebenskreis erzeugt neue Aufgaben und gewinnt neue Kräfte. Aber trotzdem gerät die neue Art noch nicht in einen Kampf mit der alten, auf der Höhe der Renaissance scheinen die beiden Welten einander eher zu suchen als zu fliehen. Gerade deshalb gilt die nächste Welt als herrlich und unerschöpflich, weil sie einen Ausdruck und Abglanz göttlichen Lebens bildet; die Religion aber empfängt die wertvollste Förderung durch eine vollgereifte Kunst, welche den hehren Gestalten des Glaubens eine anschauliche Nähe und entzückende Anmut verleiht. So gehen hier Religion und künstlerische Weltkultur miteinander, die Widersprüche dieser Verbindung werden noch nicht empfunden.

Bald aber überschreitet die Bewegung ein solches Nebeneinander und fordert eine strengere Einheit des Lebens. Das geschieht auf der Höhe des Schaffens, schon seit Spinoza, in der Weise, daß sich Welt und Gott zu einer einzigen, untrennbaren Wirklichkeit verbinden; indem das Göttliche die ganze Welt durchdringt und ihr eine Tiefe gibt, wächst sie über die unmittelbare Erscheinung hinaus und verwandelt sich in ein zusammenhängendes Reich der Vernunft. Die Gottheit aber, so auf das Ganze der Welt bezogen, legt alles Enge und Bloßmenschliche ab, sie wird, allen menschlichen Begriffen überlegen, zur allumfassenden Ewigkeit und Unendlichkeit. Nun kann die Religion nicht mehr ein besonderes Gebiet sein, das aus jenseitiger Höhe das Dasein beherrscht, sondern sie wird jetzt ihre Aufgabe um so besser zu erfüllen scheinen, je mehr sie alle besondere Gestalt ablegt und alle Arbeit mit unsichtbarem Wirken durchdringt. Den Kern des Daseins bilden hier die Gebiete, welche den Menschen dem All verbinden; das aber sind Wissenschaft und Kunst im Sinne einer Idealkultur. Mit weltumspannendem Denken und freiwaltender Phantasie schaffen sie gegenüber dem alltäglichen Dasein eine neue, geistige Wirklichkeit, sie veredeln damit alle menschlichen Verhältnisse, sie verleihen dem Menschen inmitten dieses Lebens eine Unendlichkeit und Ewigkeit. Je mehr sich so unsere Wirklichkeit in ein Reich der Vernunft verwandelt, je mehr sich aus dem Chaos des anfänglichen Welteindrucks ein herrlicher Kosmos erhebt, desto mehr entfällt das Bedürfnis nach einer besonderen Religion. Nur denen mag sie den Weg zu einem höheren Leben zeigen, denen die Teilnahme an geistigem Schaffen versagt ist. »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion. Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion!«

Aber mit allem Glanz ihrer Leistungen hat auch diese pantheistische Idealkultur die Menschheit nicht dauernd festgehalten. Einerseits besagt ihre Vergeistigung der Wirklichkeit eine Überschreitung der Erfahrung, die sich bei einem Verblassen der Überwelt immer weniger rechtfertigen kann; andererseits erwacht ein stärkeres Gefühl für alles Dunkel und Leid der Welt und zerstört die Beruhigung bei dem Unternehmen des Pantheismus, durch eine Betrachtung vom Ganzen her alle Unvernunft der Erscheinung zum Verschwinden zu bringen. Ist aber unsere Welt kein Reich der Vernunft, so wird der Pantheismus unhaltbar. Und nun schreitet die Bewegung fort zur Beschränkung alles Lebens auf das unmittelbare Dasein, zur Ausbildung einer Realkultur, die alle Überschreitung, Umdeutung, innere Erhöhung jenes Daseins aufs strengste verbietet und alles Handeln der sichtbaren Welt zuwendet. Den Kern dieses Lebens bilden die empirische Naturforschung samt der Technik und das praktischpolitische Wirken in der menschlichen Gesellschaft. Es entsteht ein neuer, realistischer Lebenstypus, wie er nie zuvor mit solcher Kraft und Bewußtheit auftrat; er bewährt sich durch ungeahnte Leistungen, er eröffnet eine Fülle großer Aufgaben, die den Menschen immer ausschließlicher einnehmen und immer atemloser beschäftigen. So scheint dies Leben imstande, alle echte Kraft des Menschen zu verwerten und alle berechtigte Hoffnung zu erfüllen. Je mehr es aber auch die geistige Arbeit an diese Wirklichkeit bindet, desto schattenhafter, desto unhaltbarer wird alle und jede Religion. Dabei kann jene Realkultur ganz wohl zugeben, daß der menschliche Lebenskreis nur einen kleinen Ausschnitt aus einer unbegrenzten Wirklichkeit bildet, ja daß er mit seiner ganzen Ausdehnung einer bloßen Oberfläche angehört, hinter der eine dunkle Tiefe verbleibt. Da sich aber zu einer solchen Tiefe kein inneres Verhältnis gewinnen läßt, so ist für die Religion damit nichts gewonnen.

So hat die Bewegung der Neuzeit den Menschen immer weiter von der Religion entfernt und ihn immer fester an die sichtbare Welt gekettet: einem Nebeneinander von Religion und Weltkultur folgte eine Kultur, welche sich selbst zu einer Art Religion erhöhte, folgte endlich eine Kultur ohne alle und jede Religion. Immer stärker wurde der Zug zur Welt, immer mehr wurde diese aller übersinnlichen Zusammenhänge entkleidet, aber zugleich hat sie selbst dem Menschen für Erkennen und Handeln immer mehr geboten, ist sie so gehaltreich geworden, daß sie unser ganzes Leben und Streben auszufüllen sich zutraut.

Freilich wurzelt die Religion viel zu tief in den individuellen Überzeugungen und den gesellschaftlichen Einrichtungen, als daß solche Konsequenz der Kulturarbeit sich sofort vollauf durchsetzen könnte; ist doch nirgends die Schwerkraft des Bestehenden größer als auf diesem Gebiet. Dem Individuum im besonderen gewährt die Innerlichkeit seines Gemütes und die Unendlichkeit seiner Stimmung immerfort ein Asyl, wohin es sich aus allen Kämpfen flüchten, und von wo es sein inneres Erlebnis allen Angriffen entgegenhalten kann. Aber das Asyl des Einzelnen besagt keine feste Burg für das Ganze. Für den geistigen Gehalt seines Lebens bleibt der Mensch an den Stand der Menschheit gebunden; gelingt es ihm nicht, die Ideale, welche die Tiefe seiner Seele erfüllen, siegreich auch der Kultur gegenüber durchzusetzen, so wird die Religion immer mehr zu einer bloßen Privatangelegenheit, zu einem leeren Wogen und Wallen subjektiver Gefühle, so muß sie immer mehr in Absonderung verfallen.

Können wir uns wundern, daß die Gegner der Religion den Streit schon für ausgetragen, die Sache für entschieden halten? Nur Trägheit und Stumpfheit oder gar selbstisches Interesse scheint ihnen die Religion noch zu erhalten. Ein gänzliches Erlöschen erwartete schon der Hauptzug des 18. Jahrhunderts mit voller Bestimmtheit und in nächster Zeit, wie denn ein Winckelmann 1768 von Rom aus schreiben konnte, vielleicht werde in fünfzig Jahren in Rom weder ein Papst noch ein Priester mehr sein; ein solches Erlöschen, das man damals als ein ruhiges Verglimmen dachte, sucht ein ungestümerer Drang unserer eigenen Zeit durch Hineinwerfung aller Zweifel und Verneinungen in die Massen nach Kräften zu beschleunigen.

d. Das Wiedererstarken der Religion.

Das Priestertum hat die gesetzte Frist überdauert und scheint vom Verschwinden noch recht weit entfernt; aber auch die Religion zeigt nicht den Stand, den die bisherige Betrachtung erwarten läßt. Denn mag der Abfall von ihr immer weitere Kreise ergreifen, solcher Stimmung des Durchschnitts entspricht nicht der Zug der geistigen Arbeit; auf der Höhe dieser zeigt die Religion wieder viel neue Lebenskraft, so viel Lebenskraft, daß für den Tieferblickenden die völlige Verwerfung der Religion mehr wie ein Ausklang der Vergangenheit als wie ein Fortgang zur Zukunft erscheint. Innerhalb der Kirchen und gegen die Kirchen wogen heute heftige Kämpfe, aber diese selbst bezeugen unmittelbar eine wachsende Teilnahme für die religiösen Fragen. Aber auch im weiteren Leben der Gegenwart bildet sie einen Zug, der immer stärker hervortritt. Die Philosophie, die alte Gegnerin der Religion, kommt ihr jetzt oft freundlich entgegen, wenn auch weniger innerhalb Deutschlands als draußen; die schöne Literatur behandelt die religiösen Fragen in Ja und Nein mit wachsendem Ernst; die bildenden Künste suchen die religiösen Gestalten durch neue Darstellungsformen der modernen Empfindung nahezurücken; vor allem aber ergreift das religiöse Problem den Menschen als Menschen wieder mit neuer Kraft. Manche Erscheinungen weisen dahin, daß inmitten aller Verneinung und Verwerfung wieder eine neue Woge der Religion aufsteigt und die Menschheit mit sich fortreißt.

Wie ist diese merkwürdige Wendung zu verstehen? Da die Bewegung gegen die Religion fortdauert, ja noch weiter um sich greift, so kann der Grund nur darin liegen, daß die Gegenwirkung gewachsen ist, daß die Religion ein stärkeres Vermögen und tiefere Wurzeln in unserem Leben gezeigt hat, als ihre Gegner ihr zuerkannten. Zunächst hat sie auf dem neuen Boden auch neue Leistungen hervorgebracht, sie hat namentlich inmitten des modernen Lebens eine eifrige Hilfstätigkeit gegenüber moralischen und sozialen Schäden entfaltet, auch gegenüber wachsender Zersplitterung des Lebens vielen Individuen einen ersehnten Halt geboten; schon solche Leistungen lassen ihre gänzliche Vernichtung nicht als einen reinen Gewinn erscheinen. Aber sei noch so hoch geschätzt, was die Religion neuerdings an Liebe und Arbeit aufbringt, den Hauptgrund ihres Erstarkens enthält es nicht; dieser ist vielmehr indirekter Art: er liegt in schweren inneren Verwicklungen derjenigen geistigen Macht, deren Vordringen die Religion am härtesten bedrohte, er liegt in der Erschütterung des Glaubens an die Allgenugsamkeit der modernen weltfrohen und selbstbewußten Kultur. Jedes Wanken dieses Glaubens vermindert den Druck gegen die Religion; je mehr der Zweifel an der Kultur vordringt, desto mehr verschiebt sich die Lage des Menschen; neue Stimmungen erwachen und neue Ausblicke tun sich auf, die Religion gewinnt wieder das Ohr der ihr zeitweilig abgewandten Menschheit, sie kann nunmehr wieder erweisen, was an Unverlierbarem in ihr steckt.

Daß auf menschlichem Boden alles Leben zugleich ein Sichausleben, alles Sichentwickeln zugleich ein Sicherschöpfen ist, das erfuhr auch die moderne Kultur. Der Fortgang ihrer eignen Bewegung stellte Schranken heraus, an die niemand dachte, er trieb Konsequenzen hervor, die niemand wollte, er überschritt den Punkt, bis wohin die Wirkung zum Segen gereichte; Geist und Vernunft verloren die Herrschaft über den Lebensstrom, und der Mensch schien diesem wehrlos verfallen.

Eine naturwissenschaftliche, eine historische, eine kulturphilosophische Denkweise erlangten volle Selbständigkeit und wollten das Ganze des Lebens beherrschen. Je mehr sie das aber durchsetzen und alle Ergänzung verwerfen, desto mehr geraten sie in Verneinung hinein, desto mehr zerstören sie den Boden, aus dem sie selbst erwachsen sind, desto ungenügender, ja unerträglicher wird der Gesamtstand. Es ist im besonderen das Verhältnis zum Menschen, es ist die Aufgabe, alle Arbeit von seiner Seele aus zu begründen und sie zur Seele zurückzulenken, woran die moderne Kultur bei aller Größe sonstiger Leistung scheitert. Das sei nun Punkt für Punkt etwas näher dargetan.

Es entstand eine mächtige Bewegung dahin, die Natur zur alleinigen Wirklichkeit und den Menschen zu einem bloßen Stück der Natur zu machen. So weit das gelingt, wird er ein Rad eines, wenn auch in strengen Ordnungen verlaufenden, so doch sinnlosen Getriebes, er wird ganz und gar ein Erzeugnis seiner Umgebung, er kann keinerlei Selbständigkeit gegenüber dem Naturprozeß behaupten, auch sein Seelenleben muß sich ganz den Maßen der Natur einfügen und darf nichts an wesentlich Neuem bringen. Oft wollte und will man freilich bei Zerstörung der alten Gedankenwelt die alten Güter festhalten, mit jener radikalen Verneinung alles Mehr als die Natur dünkt ein praktischer Idealismus ganz wohl vereinbar, ja Liebe und Humanität scheinen wohl gar noch verstärkt, wenn sie ohne alle Metaphysik von der Natur aus begründet werden. Indes das ist eine unerträgliche Halbheit, ja Gedankenschwäche; die völlige Aufnahme des Menschen in die Natur zerstört unvermeidlich Begriffe wie Handeln, Gesinnung, Innerlichkeit, sie hat für eine moralische Schätzung, für praktische Ideale schlechterdings keinen Platz. Das erscheint besonders deutlich bei der biologischen Betrachtungsweise, die unser ganzes Leben in einen Kampf ums natürliche Dasein verwandelt und damit alles Gute dem Nützlichen unterordnet. Zugleich verschwindet alle Frage nach einem Sinn des Lebens vor der bloßen Tatsächlichkeit. Auch die Wissenschaft selbst wird in diese Krise hineingezogen. Denn ein konsequenter Naturalismus gestattet keine Wissenschaft, auch keine Naturwissenschaft. Wissenschaft ist doch wohl durch die Arbeit des Menschen aufzubringen; wie aber soll er sie aufbringen, wenn seine intellektuelle Leistung in ein Aufnehmen und Aufspeichern einzelner Eindrücke aufgeht, wenn sie nie zu einem Überschauen, noch weniger zu einem selbständigen Bearbeiten des Empfangenen gelangt. In Wahrheit ist eben die moderne Naturwissenschaft mit ihrer Überwindung des naiven Weltbildes nur möglich geworden durch ein energisches Zurückschieben und Zerlegen der ersten Eindrücke, durch ein Vordringen zu einfachen Phänomenen und ein Ermitteln ihrer Gesetze, durch ein Herstellen neuer Zusammenhänge mit Hilfe voraneilender Gedanken; das alles aber durch die verschiedenen Stufen hindurch in wechselseitiger Beziehung, in systematischer Verkettung. So ging der Weg zu einer wissenschaftlichen Naturbegreifung durch die Arbeit des Geistes; jene konnte sich nicht an den Dingen bewähren, wenn sie nicht von innen her entworfen war; auch in der Bewältigung der Außenwelt blieb sie vor allem ein Werk der Seele. Nun bricht mit einer selbständigen Innerlichkeit alles Wirken von innen heraus zusammen, und das Leben erschöpft sich gänzlich in der Berührung mit den Dingen; so gilt es für eine konsequente Denkweise, entweder die Wissenschaft und mit ihr die Naturwissenschaft oder aber den Naturalismus mit seiner Gleichstellung von sinnlichem Dasein und Wirklichkeit aufzugeben. Wo immer die in der Naturwissenschaft wirksame geistige Arbeit Anerkennung findet, namentlich wo zur Klarheit gelangt, daß auch der Gesamtrahmen der Natur nicht von außen gegeben, sondern von der Seele her aufgebracht wird, da entsteht eine kritische Denkweise; sie ist auf der Höhe des modernen Lebens immer mehr zur Anerkennung gelangt und übt einen entschiedenen Widerstand gegen jene völlige Verwandlung der Wirklichkeit in sinnliche Natur.

Ferner wollte eine geschichtliche Behandlung der Dinge Denken und Leben beherrschen. Der Fluß, in den sie das sonst starre Dasein versetzte, gab dem Leben mehr Freiheit, Bewegung und Reichtum; nun zuerst schien die Gegenwart vom Druck der Vergangenheit befreit und zu voller Selbständigkeit erhoben. Darin liegt gewiß so viel Wahrheit, daß sich eine einfache Rückkehr zur älteren Art verbietet. Aber wo die neue Denkweise das Feld für sich allein verlangt, da wird sie rasch eine Kraft der Zerstörung. Denn wo aller Halt gegenüber dem Fluß der Erscheinungen fortfällt, da gerät alles in Wirbel und Wandel, da wird die Wahrheit zum Kinde nicht sowohl der Zeit als des Augenblicks und schlägt daher rasch in Unwahrheit um; selbst die Gegenwart, die vor allem gestärkt werden sollte, zerrinnt, indem sich der Zeitlauf in lauter flüchtige Augenblicke auflöst. Ein Leben aber, das alle festen Ziele und bleibenden Normen aufgibt und sich von Wind und Welle treiben läßt, muß sich mehr und mehr an die Oberfläche verlegen und auf allen Gehalt verzichten. Nun aber kann der Mensch nicht ganz in die Flucht der Augenblicke aufgehen; er hält innerlich fest und überdenkt, er vergleicht und sucht nach Zielen, er kann nicht umhin abzustufen und auszuzeichnen.

»Der Mensch allein
Vermag das Unmögliche,
Er unterscheidet, wählet und richtet,
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.«

Schon daß er den Wandel erlebt, ihn sich zum Bewußtsein bringt, erweist, daß er irgendwie über ihm steht. Soweit er aber seiner Natur nach mehr ist als ein Nacheinander einzelner Zustände, kann ihm jener rastlose Wechsel und Wandel unmöglich genügen; die Beweglichkeit, die zuerst ein reiner Gewinn schien, schlägt um in unerträgliche Leere, die alles Leben verleidet. Oder wäre noch irgendwelche freudige Spannung möglich, wenn unablässig der Augenblick den Augenblick verschlingt, wenn sich nichts verehren läßt, was nicht der nächste Zeitpunkt verwerfen mag? Das 19. Jahrhundert läßt die Unerträglichkeit dessen mit wachsender Stärke empfinden. Denn immer rascher wurde der Wechsel der Ziele, immer schroffer der Umschlag der Stimmungen und Schätzungen, immer kürzer die Lebensdauer der vermeintlichen Wahrheiten. Um so stärker aber wurde auch ein Verlangen nach einer Befestigung des Lebens in einer wandellosen Wahrheit, um so entschiedener der Widerstand gegen ein Hingeben unseres ganzen Wesens an den Strom des geschichtlichen Lebens. Solche Wendung läßt auch darüber keinen Zweifel, daß Geschichte als Erlebnis nicht möglich ist von der bloßen Zeitfolge her, daß zu ihr notwendig eine Erhebung über den Wechsel des Geschehens gehört, ein Überschauen, Zusammenfassen, Beurteilen, eine Heraushebung durchgehender Ziele. Auch die Geschichte ist, geistig angesehen, nur als ein Stück eines weiteren Lebensganzen, nicht von der bloßen Zeit her, möglich, sie weist mit ihrem geistigen Gehalt über alle Zeit hinaus. Das führt noch nicht unmittelbar zur Religion, aber es stellt doch ihr Mühen um eine ewige Wahrheit in ein besseres Licht.

Noch ein anderer Hauptpunkt zeigt einen völligen Umschlag. Eine streng immanente Geschichtsbetrachtung brachte mit ihrer Austreibung alles Außermenschlichen eine gewaltige Steigerung des menschlichen Daseins und der menschlichen Kraft. Nun sollte der Mensch sich selbst seinen Lebenskreis bereiten, nun fand er sein höchstes Ziel in der Ausschmückung dieses Kreises, nun wollte er alles Vermögen zu voller Leistung beleben, nun allererst schien er fest in seiner eignen Welt zu stehen. Unermeßliches ist hier in Wahrheit erreicht: viel Schlummerndes wurde geweckt, bei den Individuen wie bei der Masse; die direktere Beziehung aller Verhältnisse auf das Befinden des Menschen brachte in das Leben mehr Freude und Freiheit, mehr Fürsorge und Humanität; auch das Gedankenreich gewann an Durchsichtigkeit, indem es unmittelbar von der Seele her, psychologisch, entwickelt wurde. Aber auch hier ließ die Bejahung bald eine Verneinung ersehen, und in der Befreiung erwies sich bald eine Beschränkung. Daß alle unsichtbaren Bindungen und Zusammenhänge entfielen, das mochte solange als ein reiner Gewinn erscheinen, als der Mensch unvermerkt sich selbst idealisierte und an der eignen Größe und Würde berauschte. Aber solche Idealisierung verblaßte mehr und mehr vor den Eindrücken der Erfahrung. Die Menschheit findet sich nicht so leicht zu herzlicher Brüderlichkeit zusammen, wie vordem erwartet wurde, sondern immer mehr entzweien sich die Individuen, Parteien und Völker, immer schrankenloser entfalten sich alle Triebe und Leidenschaften, immer brutaler wird die Tyrannei eines mittelmäßigen Durchschnitts, immer mehr droht ein Sinken des Geisteslebens. Sind die Menschen nicht zusehends innerlich kleiner geworden, indem sie nichts anderes gelten ließen als sich selbst? Und wenn zugleich zur Empfindung kommt, daß der Mensch hier ganz und gar, auch in seinem geistigen Streben, an dies menschliche Getriebe mit seiner Kleinheit und Zufälligkeit gebunden wird, daß alle Möglichkeit einer Gegenwirkung, einer Berufung an höhere Instanzen wegfällt, wenn das Urteil über Wahr und Falsch, über Gut und Böse letzthin der Meinung und Neigung der Menschen und Massen überantwortet wird, so kann ein Zorn und Haß gegen diese bloße Menschenkultur entbrennen und zur Erhaltung einer echten Geisteskultur nichts nötiger dünken als ein unerbittlicher Kampf gegen solche kleine und in ihrer Kleinheit dünkelhafte Menschenkultur, die das Leben auf einen niedrigen Stand herabdrückt und alle echte Größe zerstört. Zu solcher Größe scheint der Mensch sich an etwas emporarbeiten, scheint er etwas über sich anerkennen zu müssen, das zugleich ihm innerlich zu eigen werden kann. Guten Grund hat das HEGELsche Wort: »Daraus, daß der Mensch als das Höchste gesetzt ist, folgt, daß er keine Achtung vor sich selbst hat. Denn erst mit dem Bewußtsein eines höheren Wesens erlangt der Mensch einen Standpunkt, der ihm eine wahre Achtung gewährt.«

Endlich wird auch die Austreibung aller seelischen Innerlichkeit aus dem Geistesleben, die Verwandlung unseres ganzen Daseins in einen unpersönlichen Kulturprozeß, aus reinem Gewinn zu schwerem Nachteil. Das unmittelbare Ergehen des Menschen ward zu klein für den Gehalt der Kulturarbeit, an Weite und Wahrheit schien unser Dasein unermeßlich zu wachsen, wenn alle Zurückbeziehung auf das menschliche Subjekt aufgegeben und das Leben ganz und gar in die Beziehung zu den Dingen verlegt, aus ihrer Notwendigkeit entwickelt wurde. Aber jene Arbeitskomplexe, die nunmehr zur Hauptsache werden, ja schließlich das Geistesleben selbst, sie bedürfen eines inneren Zusammenhanges und einer beseelenden Einheit; sonst können sie unmöglich ein Ganzes bilden und als ein Ganzes wirken. Je mehr nun aber jenes seelische und persönliche Element verdrängt wird, desto mehr entfällt alle einigende und belebende Kraft, desto mehr verlieren jene Komplexe ihre innere Beseelung. So werden sie zu bloßen Mechanismen, die nach außen hin und in besonderen Richtungen Großes leisten, die aber den Menschen nicht zu einem Ganzen zusammenfassen und ihn als Ganzes erhöhen, die zugleich unvermeidlich auch bei sich selber sinken. Bei solcher Mechanisierung der Kulturarbeit entspricht dem Anschwellen der Arbeit kein Wachstum inneren Vermögens, der Expansion keine Konzentration; der Mensch wird mehr und mehr zum Sklaven der Arbeit, die selbst mit der Ablösung vom Zentrum des Lebens alle Seele verliert. Alsdann aber erhebt sich notwendig die Frage, ob sich endgültig auf eine Seele des Lebens verzichten läßt, und ob nicht die Begriffe von der Innerlichkeit über die alte Form und die bloße Subjektivität hinaus erhöht werden können, ob nicht das Geistesleben selbst eine zusammenhaltende Einheit aufbringen kann. Das würde einen völligen Wandel bewirken, und es würde, wenn auch nicht zum alten Stande der Religion, so doch zu den Problemen der Religion zurückführen.

So erleben wir eine merkwürdige Verwicklung. Die alte Lebensform, die das bisherige geschichtliche Dasein beherrschte, war der Menschheit zu eng, zu kleinmenschlich, zu subjektiv geworden; eine Ablösung vom unmittelbaren Seelenstande, eine Versetzung in die Dinge und das Ganze der Welt sollte dem Leben mehr Weite und Wahrheit geben; so unternahm der Mensch einen Kampf gegen die Kleinheit seiner eignen Natur, zur Austreibung alles Bloßmenschlichen. Unermeßlich viel ist durch jene Wandlung erreicht, wir haben durch sie mehr gefunden, als wir irgend hoffen konnten. Aber zugleich haben wir etwas verloren, was zunächst gar keine Sorge machte, was sich aber durch die Erfahrung selbst mehr und mehr als die Hauptsache darstellt. Die Arbeit hat durch ihre eigne Entwicklung ihren Träger zerstört, sie hat den Boden untergraben, der sie trägt, es fehlt der unendlichen Ausdehnung ein begründender und umspannender Lebensprozeß, in der ausschließlichen Hingebung an die Tätigkeit ist uns ein echtes Sein verloren gegangen. Je mehr sich das Leben in Arbeit verwandelt, desto weniger ist es inneres Erlebnis, desto fremder wird es uns selbst. Aber schon die Tatsache, daß wir dies Fremdwerden gewahren, daß wir es nicht gleichgültig hinnehmen, sondern als einen unerträglichen Verlust empfinden, beweist, daß mehr in uns steckt als die moderne Lebensführung aus uns macht. Zugleich aber wird in dem reichen Gewinn ein schwerer Verlust entdeckt. Wir gewannen eine Welt, aber wir verloren die Seele, und damit droht uns auch die Welt zu zerrinnen, droht aller feste Halt gegenüber der immer stürmischer anschwellenden Arbeitsflut zu verschwinden.

Die Gefahr kam solange nicht zum Bewußtsein, als den modernen Ideen noch die deutliche Ausprägung fehlte, und zugleich sich das Leben unbedenklich aus der älteren Denkart ergänzte; je mehr aber die immanente und unpersönliche Kultur auf ihre eigne Kraft gestellt wird und ihre Konsequenzen vollauf hervortreibt, desto mehr erscheint jene weltgeschichtliche Dialektik, welche die Erfahrung der Menschheit nicht selten zeigt. Gedankenmassen, ja Gedankenwelten kommen eben im Siege an einen kritischen Punkt, die Entwicklung selbst stellt die Schranke heraus, die Empfindung der Schranke aber zwingt neue Bahnen zu suchen. Inzwischen aber entsteht eine peinliche Lage, wie die moderne Menschheit das mit wachsender Stärke empfindet. Mit dem Alten hat sie gebrochen, und das Neue, das höchstes Glück verhieß, befriedigt sie nicht zur Genüge; inmitten rastloser Tätigkeit wird ein Mangel an Wesen, inmitten unablässiger Reize und Genüsse ein Fehlen echten Glückes gefühlt. Ist es verwunderlich, wenn nunmehr das Sinnen und Sorgen wieder auf das Ganze des Lebens geht, wenn die Frage seiner Klärung und Befestigung alle übrigen Fragen zurückdrängt, wenn eine innere Erhöhung der Menschheit, eine Selbstbehauptung gegenüber der uns bedrohenden Vernichtung zur wichtigsten aller Aufgaben wird. Bei solchem Umschlag der Richtung und Stimmung erheben sich wieder mit frischer Kraft die in den früheren Zusammenhängen, wenn auch nicht gelösten, so doch einigermaßen beschwichtigten uralten Rätsel des menschlichen Daseins: das tiefe Dunkel über unser Woher und Wohin, unsere Abhängigkeit von undurchsichtigen Mächten, die schroffen Gegensätze in unserer eignen Seele, die engen Schranken unseres geistigen Vermögens, der Mangel an Liebe und Gerechtigkeit in der Welt und bei den Menschen, mit einem Wort das scheinbare Verlorensein dessen, das wir als unser Bestes und Wesentlichstes zu achten nicht aufhören können. Aber nun erleben auch wir, was die Menschheit schon öfter erlebte: inmitten schroffster Verneinung und scheinbarer Vernichtung bricht mit axiomatischer Gewißheit die Überzeugung hervor, daß in uns etwas lebt und wirkt, was alle Hemmungen und Anfeindungen nicht vernichten können, daß ein unverlierbarer Kern unseres Wesens allem Widerspruch der Welt gewachsen ist. Wenn aber kein Gebiet mehr berufen ist als die Religion, sich dieses zurückgedrängten und doch unverdrängbaren Grundes unseres Wesens anzunehmen und uns das voll zu Besitz zu bringen, was nie aufhörte unser eigen zu sein, so tritt mit jener Wendung auch das Problem der Religion in einen anderen Stand. Nun erscheint die Religion nicht mehr als eine Ausgeburt kindlicher Phantasie, nicht als eine Flucht in ferne und fremde Welten, sondern als eine unentbehrliche Gehilfin des Menschen in dem schweren, äußerlich fast aussichtslosen Kampf um ein geistiges Selbst, um eine Seele und einen Sinn seines Lebens. So erhebt sich denn nach langer Einschüchterung wieder offen und frei eine Sehnsucht nach begründenden Tiefen und inneren Zusammenhängen, nach ewiger Wahrheit und unendlicher Liebe, inmitten aller Wirren der Zeit erscheint deutlich genug eine neue Woge weltgeschichtlichen Lebens, die den Menschen nach einer völlig anderen Richtung zieht als die zu Beginn der Neuzeit aufsteigende Lebensflut.

e. Verständigung über die einzuschlagende Richtung.

Wer das Wiederaufsteigen des religiösen Problems in dem Sinne versteht, wie wir es verstehen, dem wird es auch für seine Behandlung in Ja und Nein eine bestimmte Richtung weisen. Am fernsten wird ihm jene dekadente Denkweise sein, welche aus Nützlichkeitsgründen eine einfache Rückkehr zur alten Form der Religion empfiehlt. Die moderne Kultur, so hören wir namentlich von Frankreich her, hat völligen Bankerott gemacht, die menschliche Gesellschaft aber bedarf für ihr Bestehen und Gedeihen notwendig einer moralischen Befestigung und kräftigen Zusammenhaltung, nichts anderes aber kann diese gewähren als die überkommene Religion; wenden wir uns also zu ihr zurück, beugen uns willig vor ihrer Autorität, etwa vor Rom, und lassen uns das überkommene Bekenntnis als die beste Lehre von Dingen gefallen, die einmal menschlicher Einsicht verschlossen sind.

Unsere Fassung des Wiedererwachens der Religion widerspricht solcher Denkweise aufs schroffste. Zur Religion drängt ein Verlangen nach mehr Tiefe und Festigkeit des Lebens, nach innerer Selbständigkeit gegenüber dem Gewirr der Welt und nach Erhebung über das kleinmenschliche Getriebe. Ein Edleres und Höheres möchte der Mensch in seinem eignen Wesen beleben und damit einem fremden, ja feindlichen Dasein überlegen werden. Und nun zieht ihn jene utilitaristische Denkweise wieder ganz hinein in das kleinmenschliche Getriebe, nun erniedrigt sie die Religion zu einem bloßen Werkzeug menschlichen Wohlseins, nun preist sie etwas als nur halbwahr Empfundenes seines Nutzens wegen, wo die Menschheit aus ganzer Seele nach echter Wahrheit dürstet! Wie hoch steht der ehrliche Atheist über so kläglichem Gebahren!

Die Erkenntnis der Schranken des Neuen trieb viele Gemüter zum Alten zurück und machte sie geneigt, es wiederaufzunehmen. Die gegenwärtige Krise hat in Wahrheit unsere Stellung zum Alten verändert. Es muß uns innerlich wieder näher treten, wenn wir in ihm notwendige Probleme anerkannt und mit höchstem Eifer und Ernst behandelt finden, an denen das Neue vorbeiging. Aber das rechtfertigt nicht eine einfache Rückkehr zum Alten. Dafür ist die Kluft zu tief, welche die neue Kultur zwischen ihm und uns gerissen hat. Hüten wir uns die Bedeutung des Neuen auch für das Ganze des Lebens zu unterschätzen, weil es nicht alles ist, weil es gerade beim innersten Quellpunkt des Lebens nicht auslangt. Denn es hat nicht bloß eine Fülle einzelner Fortschritte gebracht, sondern es hat den Grundprozeß des Lebens selbst verändert; der Gewinn an Klarheit und Weite durch die naturwissenschaftliche, an Beweglichkeit durch die geschichtliche, an Sachlichkeit durch die kulturphilosophische Arbeit und Denkweise läßt sich nun und nimmer zurücknehmen; nach solcher Wandlung müssen wir das Alte mit anderen Augen betrachten, können wir es nicht einfach wiederaufnehmen. Restaurationen sind immer Anachronismen, nirgendwo aber sind sie es mehr als auf diesem Gebiet.

Auch das sei nicht vergessen, daß die gegenwärtigen Spannungen und Kämpfe nicht bloß den Inhalt der Religion, sondern auch ihre Stellung im Ganzen des Lebens betreffen. Auf christlichem Boden bildete die Religion zuerst das Ganze oder doch den einzig wertvollen Kern des Geisteslebens, und es hatten alle anderen Gebiete keine andere Aufgabe als zu ihr hinzuführen; mochten sie im Mittelalter mehr Boden gewinnen, sie verblieben unter der Herrschaft der Religion; im kirchlichen Protestantismus aber sind Kultur und Religion auseinandergetreten. Keine dieser Möglichkeiten befriedigt uns heute: ein bloß religiöses Leben ward uns zu eng, ein Nebeneinander von Religion und Kultur aber kann unmöglich als letzter Abschluß gelten. So entsteht auch hier ein schweres Problem, das kein Zurückgreifen auf eine ältere Lebensform lösen kann.

Erscheint die neue Kultur zunächst leicht als ein Gegner oder doch unbequemer Kritiker der Religion, so hat sie jener keineswegs bloß zur Gefahr und zum Nachteil gewirkt, vielmehr können die von ihr vollzogenen Klärungen, Befreiungen, Erweiterungen auch der Religion von Nutzen sein, indem sie ihr neue Aufgaben zeigen und an ihr neue Kräfte beleben. Die frühere Gestalt der Religion, das Ergebnis einer müden und weltflüchtigen Zeit, geriet in Gefahr, über der Fürsorge für den leidenden Menschen die Steigerung der Tätigkeit zurückzustellen, sowie über dem Dulden das Handeln zu vergessen; mit gutem Rechte fordert die Neuzeit, die Religion möge mehr auch zur Veredlung der Arbeit, zur Weckung neuen Lebensmutes, zur inneren Erhöhung aller Gebiete wirken, sie möge den Menschen nicht nur klein, sondern auch groß von sich denken lehren. Der älteren Art ist über der Errettung der Individuen die Frage der Aufrechterhaltung des gesamten Geisteslebens oft weit zurückgetreten, indem sie dies Leben zu sehr als eine selbstverständliche Voraussetzung behandelte, nicht als etwas, das immer von neuem aufzubringen ist; sie zeigt durchgängig eine Scheu, aus der mühsam errungenen Weltüberlegenheit zur nächsten Welt zurückzukehren und sich mit ihr innerlich auseinanderzusetzen.

Bei so großen Wandlungen kann es der Religion nur schaden, wenn das neu aufsteigende Verlangen möglichst in die alte Form gepreßt und diese als unwandelbar verteidigt wird. Solches Verfahren bringt leicht die Anhänger der Religion in den Verdacht geringerer wissenschaftlicher Strenge, ja geringerer Wahrhaftigkeit, indem sie unleugbare Schwierigkeiten abzuschwächen, Widersprüche aus den Augen zu rücken, bloße Möglichkeiten als Wirklichkeiten zu geben scheinen; die seichteste Denkweise erhält dadurch ein Relief, daß sie sich zur Vorkämpferin unbestreitbarer Wahrheiten aufwerfen darf. Die Religion selbst aber wird nie die für ein erfolgreiches Wirken unentbehrliche Einfachheit, die seelische Nähe, die siegreiche Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie die Gegenwart starr an die Vergangenheit bindet und zu uns nicht in den Gefühlen, Begriffen, ja Worten der eignen Zeit spricht. Wenn uns manches in der älteren Gestalt der Religion anthropomorph, ja mythologisch und magisch geworden ist, so verbietet das eigne Interesse der Religion, sich darüber leicht hinwegzusetzen.

Viele, die mit uns ein starres Festhalten am Alten verwerfen, suchen der Verwicklung dadurch zu entgehen, daß sie die Religion unter möglichster Ablösung von der Kultur in die reine Innerlichkeit des individuellen Gefühles flüchten und sie ganz in persönliche Überzeugung und Gesinnung zu verwandeln streben; so glauben sie ihre unterscheidende Eigentümlichkeit besonders kräftig wahren zu können. Bei solcher Fassung scheint aller Widerspruch der Weltarbeit die Religion gar nicht zu berühren, da sie sicher und ruhig in ihrem eignen Reiche waltet. Aus solcher Wendung ist viel frisches Leben, Begeisterung, Arbeitslust hervorgegangen, in mächtigen Schwingungen durchdringt sie die Zeit. Da unsere ganze Arbeit sich mit dieser Bewegung zu befassen hat, so sei hier nur angedeutet, was uns von ihr abzuweichen zwingt. Vor allem ist die reine Subjektivität, auf die sich jene aus den Wirren des Kulturlebens wie auf einen unangreifbaren Punkt zurückzieht, keineswegs so sicher, wie es dort scheint. Sehen wir doch, daß der Hauptzug der modernen Kultur jene subjektive Innerlichkeit zu einem bloßen Nebengeschehen, einer Begleiterscheinung herabsetzt, daß er damit alles dort entwickelte Leben für ein bloßes Gewebe subjektiver Erregung und Einbildung erachtet. Ein besseres Recht erweisen und sich als den Kern der Wirklichkeit dartun kann jene Innerlichkeit nur in energischer Auseinandersetzung mit der modernen Weltarbeit, nur in prinzipieller Überwindung einer immanenten und unpersönlichen Kultur. Dazu aber muß sie notwendig sich selbst sicherer begründen und weitere Zusammenhänge gewinnen, und dafür bedarf es einer Umwandlung und Umkehrung des nächsten Weltbilds, einer Wendung zur Metaphysik, einer Metaphysik freilich nicht der Schule, sondern des Lebens. Die Unmittelbarkeit subjektiver Erregung ist nicht schon die Unmittelbarkeit geistigen Schaffens und ursprünglicher Tiefe, diese will erst errungen sein.

Zugleich wird auch die Kultur uns mehr als jenem Subjektivismus, indem wir eine Spaltung des Lebens in subjektive Religion und seelenlose Kultur mit allem Nachdruck verwerfen. Die Kultur als Arbeit an der Welt ist keineswegs bloß eine Außenseite des Lebens, sie gehört zu unserem Wesen, sie hat eben in der Neuzeit aufs tiefste in die Gestaltung des Gesamtlebens eingegriffen, indem sie ihm mehr Klarheit, mehr Weite, mehr Tatkraft brachte und es zwingend über die bloße Subjektivität hinaustrieb. Daher muß eine Erneuerung des Lebens auch der Kultur mit ihrer Verzweigung zugute kommen, so reicht das Problem über die bloße Religion hinaus in das Ganze unseres Seins.

Sowohl die Subjektivisten als die Anhänger des Alten unterschätzen die gegenwärtige Krise. Es handelt sich nicht bloß um die Stellung der Religion im Leben, sondern um den Grundbegriff, den Grundprozeß des Lebens selbst. Schwerlich ging je im Lauf der Geschichte die Erschütterung so tief, wurde so um das Ganze des Lebens gekämpft, wurde die Menschheit zu einer so gründlichen Revision ihres geistigen Standes und Besitzes aufgerufen wie in der Gegenwart. Eine alte Lebensform ist durch die Arbeit von Jahrhunderten als zu klein, zu engmenschlich, zu subjektiv erwiesen, und doch scheint sie einen unverlierbaren Kern zu enthalten, den wir ohne schwersten Schaden nicht aufgeben können. Das Neue, was sich dagegen erhob hat uns zunächst durch seine Weite, Beweglichkeit, Kraft ganz mit sich fortgerissen, aber die Erfahrung der Zeiten ließ bei ihm mehr und mehr den Mangel eines festen Kernes und einer sicheren Grundlage fühlen; so können wir heute unmöglich einfach bei ihm Stellung nehmen. Nun hemmt das eine das andere und kann es doch nicht verdrängen, noch weniger läßt sich beides durch einen Kompromiß friedlich zusammenfügen. So sehen wir im Zusammenstoß das eine das andere zerreiben, die Erschütterung immer tiefer in die elementarsten Größen greifen und einen gemeinsamen Besitz immer mehr zerstören. Früher kämpften wir bei den Wahrheiten der Moral, der Religion, der Weltanschauung um die Art des Beweises oder um die nähere Gestaltung, jetzt sind uns die Wahrheiten bis zum letzten Grunde unsicher geworden, und wir entzweien uns bei ihnen bis zu schroffstem Gegensatz. Für das Ganze des Lebens aber können wir eine peinliche Unsicherheit nicht leugnen: unsere geistige Existenz schwebt haltlos in der Luft, unser Grundverhältnis zur Wirklichkeit ist in volle Ungewißheit geraten. So gilt es einen Kampf um das Ganze des Lebens und um einen neuen Menschen. Diesen Kampf hat nicht nur die Religion, sondern ihn haben auch die anderen Lebensgebiete, wie die Kunst, die Philosophie usw. zu führen. Gewiß hat wie ein jedes von ihnen, so auch die Religion ihre besondere Aufgabe und ihren besonderen Angriffspunkt, aber es ist für das Gelingen von großer Bedeutung, daß beim Besonderen das Ganze innerlich zugegen sei und aller Ablösung, Verengung, Erstarrung entgegenwirke.

Den Anhänger der Religion mag es peinlich berühren, ja tief verstimmen, das, was für seine persönliche Überzeugung den festesten Halt und das höchste Gut des Lebens bildet, von der Wissenschaft wie ein offnes Problem behandelt zu sehen. Aber das ist nun einmal unser Schicksal, daß bei den letzten Fragen auch das, was der allersicherste Besitz dünkt und auf dem in Wahrheit unser geistiges Dasein ruht, für die eigne Überzeugung immer wieder neu zu erringen und durch selbsttätige Entscheidung zu bekräftigen ist. Der Einzelne kann diese Aufgabe ablehnen, die Menschheit kann es nicht. Die Religion im besonderen darf allen ängstlichen Besorgnissen folgende einfache Erwägung entgegenhalten: entweder ist die Religion bloß ein durch Tradition und gesellschaftliche Ordnung sanktioniertes Erzeugnis menschlicher Wünsche und Vorstellungen, – dann kann keine Kunst, keine Macht oder List verhindern, daß der Fortgang der geistigen Bewegung ein solches Machwerk zerstöre; oder die Religion ist in übermenschlichen Tatsachen gegründet, – dann kann auch der härteste Angriff sie nicht erschüttern, vielmehr muß er durch alle Not und Mühe des Menschen hindurch ihr schließlich dazu dienen, auf den Punkt ihrer Stärke zu kommen und ihre Wahrheit reiner zu entfalten.

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