Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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4. Folgerungen für die Erkenntnisarbeit

a) Die Hauptzüge des Erkennens

Unsere Untersuchung des Verhältnisses von Mensch und Welt ging von dem Erkenntnisproblem aus, mit ihm muß sie auch ihren Abschluß finden, denn nirgends mehr als bei ihm hat die dargelegte Gedankenwelt ihre Eigentümlichkeit und ihre Fruchtbarkeit zu erweisen. Darüber ließ unsere Arbeit keinen Zweifel, daß vom gewöhnlichen Weltanblick aus ein Erkennen, ein vom bloßen Kennen und Wissen deutlich geschiedenes Erkennen, schlechterdings unmöglich ist, daß es in sich selbst einen unüberwindlichen Widerspruch trägt. Denn jenem Anblick gemäß treten wir an eine außer uns befindliche Welt heran, um uns anzueignen, was in ihr vorliegt und vorgeht. In dieser Aneignung soll aber jener Bestand keinerlei Veränderung erfahren, er soll, indem er unser Besitz wird, zugleich bleiben, was er ohne uns ist. Nun könnte er aber schwerlich in uns eingehen, ohne Wirkungen von uns und unserer seelischen Art zu empfangen, er müßte sich damit verändern, ohne daß sich je ausmachen ließe, wie weit diese Veränderung geht, und wie sie sich zum eignen Bestande der Dinge verhält. Unbegreiflich bliebe auch, wie jenes Fremde überhaupt mit uns in Verbindung treten, und wie seine Aneignung unserem Streben einen starken Antrieb liefern könnte. Daß es aber zu einem solchen geworden ist, das zeigt das eifrige Mühen der Menschheit um ein Erkennen in unbestreitbarer Weise.

Dasjenige was dieser Anblick als draußengelegen zeigt, muß sich einer eindringenderen Betrachtung als unserem eignen Bereich zugehörig erweisen und ihm zu seiner Vollendung unentbehrlich sein; dann darf aber dieser Bereich keine fertige und geschlossene Größe bilden, die keinerlei Aufgabe stellt, er muß sich vielmehr noch im Werden befinden und eine Erweiterung nicht nur gestatten, sondern von sich aus fordern. Dann stünde beim Erkennen nicht eine Berührung einander fremder Dinge in Frage, sondern ein Zusammenkommen von Größen, die aufeinander angewiesen sind, es wäre nicht ein Aufnehmen fremder Dinge, sondern ein Sichselberfinden, Sichselbstvollenden eines umfassenden Geschehens, mit anderen Worten: Erkennen ist nur als ein Selbsterkennen möglich; alles was völlig draußen liegt, bleibt uns ewig verschlossen. So wird ein Erkennen nur so weit möglich, als sich das bloße Nebeneinander des ersten Anblicks in ein gemeinsames Leben verwandeln läßt. Ob und wie weit das der Mensch vermag, das ist eine Frage für sich; darüber aber kann kein Zweifel sein, daß ihre unbedingte Verneinung einen Verzicht auf alles Erkennen bedeutet.

Zugleich aber ist gewiß, daß ein solches Leben sich deutlich von der üblichen Fassung des Lebens abheben müßte. Vor allem darf es kein leeres Gefäß sein, das von draußen beliebig zu füllen wäre, auch kein schwankendes Rohr, das jedem Eindrucke nachgibt, vielmehr müßte es eine selbständige Art und eine eigne Bewegung besitzen, Ziele und Kräfte enthalten, Forderungen in sich tragen und auf ihrer Erfüllung bestehen. Das wäre aber nicht zu leisten, wenn es einer anderen Größe nur anhinge, eine bloße Eigenschaft wäre, es müßte vielmehr auf sich selber stehen und seinen Gehalt aus sich selbst entwickeln, es müßte einen Zusammenhang bilden, der alle Mannigfaltigkeit umfaßt und in ein Ganzes des Geschehens verbindet. Zu solcher Selbständigkeit gehört auch eine Überlegenheit gegen den Menschen, wie er unmittelbar sich gibt. Denn wäre das Leben gar nichts weiter als ein bloßes Vorgehen am Menschen, so müßte es alle Zufälligkeit, alle Vereinzelung und Zerstreuung des menschlichen Kreises teilen, es könnte unmöglich das, was zunächst als eine fremde Welt vor ihm steht, bewältigen und in eignen Besitz verwandeln. Dieses vermöchte nur ein Leben, das allem Einzelleben gegenüber einen einheitlichen Zusammenhang, ein Ganzes bildete; wohl müßte es den einzelnen Punkten gegenwärtig werden, nicht aber könnte es ihr Erzeugnis sein, nicht an ihrer Beschaffenheit hängen. Bei Innewohnen eines solchen überlegenen Lebens wäre der Mensch nicht mehr ein bloßer Punkt neben anderen Punkten, sondern er gewänne ein unmittelbares Verhältnis zum Ganzen, ja dieses Ganze könnte hier zu eignem Leben werden, was völlig neue Ausblicke eröffnet. Dabei müßte auch die Frage offen bleiben, ob ein solches einheitliches Leben ihm seinem ganzen Umfange nach unmittelbar zugänglich ist, ob es sich ihm nicht erst allmählich, vielleicht von verschiedenen Seiten her, vielleicht durch harte Kämpfe und Zweifel hindurch weiter und weiter erschließt. So entstehen Fragen über Fragen, aber zugleich auch offene Möglichkeiten, die eine rasche Verneinung verbieten.

Aber spielen wir hier nicht mit bloßen Einfällen, ist ein Leben, wie es als Voraussetzung alles und jedes Erkennens gefordert wird, nicht ein bloßer Traum, ein irreleitender Wahn, und entfällt mit solcher Einsicht nicht alle Möglichkeit eines Erkennens? Der Gesamtverlauf unserer Untersuchung hat gezeigt, daß es sich hier um mehr als um eine bloße Einbildung handelt, daß vielmehr ein solches Leben tatsächlich bei uns wirkt und gewaltige Bewegungen im Bereich des Menschen erweckt. Wir gewannen aber die Gewißheit eines solchen Lebens aus der Möglichkeit einer Wendung des Lebens zu einem Beisichselbstsein, einer Selbständigkeit und Selbsttätigkeit; dabei entfaltete es eine die Kraft wie den Gegenwurf umspannende Volltätigkeit, damit wurde es ein eignes Ganzes und zeigte es sich fähig, aus eigner Bewegung einen selbständigen Bereich, ja schließlich eine Wirklichkeit zu erzeugen. Bei solcher Wendung erhielt der Begriff des Geisteslebens einen präziseren Sinn als der gewöhnliche Sprachgebrauch ihm gibt, es hob sich in ihm eine höhere Stufe des Lebens von einer niederen ab, bei der das Leben nur einen gemeinsamen Boden liefert, auf dem Mannigfaches sich begegnet und einander berührt, ohne aber in ein Ganzes zusammenzugehen und aus ihm eine Umwandlung zu erfahren. Wie dieses auf der höheren Stufe geschieht, so kann diese unmöglich eine bloße Fortsetzung der niederen bilden, sowie nun und nimmer durch eine bloße Steigerung oder Anhäufung aus dieser hervorgegangen sein; vielmehr liegt dabei ein Abbruch und eine völlige Umkehrung vor; eine solche aber läßt eine wesentliche Umwandlung alles Lebensbestandes erwarten.

Es genügte aber, so zeigte sich, zur Erzeugung eines solchen Lebens nicht eine bloße Anspannung der Kraft, eine Versetzung unseres Daseins in möglichste Bewegung. Denn bei aller Erregung des Subjekts könnte dies das Leben nicht innerlich weiterbilden, alles dabei aufgebotene Pathos würde eine innere Leere nicht verdecken. Vielmehr ist das neue Leben nur dann von Bedeutung und Wert, wenn die Erhebung zur Selbsttätigkeit neue Inhalte mit sich bringt, wenn sie offenbarender, schaffender Art ist, wenn in der Bewegung eine ursprüngliche Tiefe emporsteigt. Auch kann sich nur dann die Selbsttätigkeit von der bloßen Tätigkeit genügend scheiden, die bloße Form des Selbst schwebt in der Luft ohne eine begründende Tiefe, und ebenso tun es alle Größen, die mit ihm zusammenhängen, tut es im besondern die Freiheit, deren hoher Wert unverständlich wäre, bedeutete sie eine bloße Form und nicht das Gefäß eines neuen Lebens. Die Durchwanderung der weltgeschichtlichen Bewegung überzeugte uns, daß die Menschheit in Wahrheit über die bloße Form der Tätigkeit hinaus zu einer schaffenden. Tiefe entwickelnden Selbsttätigkeit vorgedrungen ist und reiches aus solcher geschöpft hat, so daß diese Bewegung den Kern der weltgeschichtlichen Arbeit bildet; sie überzeugte uns aber auch, daß jene Wendung und Eroberung nicht mit einem Schlage erfolgte, sondern daß die schaffende Tiefe mühsam errungen ward und sich erst allmählich, erst durch vielfache Erfahrungen, Enttäuschungen, Kämpfe hindurch erschloß; hängt also an solcher Erschließung alle Möglichkeit und aller Erfolg des Erkennens, so kann auch dieses nicht wohl in raschem Vordringen den letzten Abschluß erreichen, so wird es auch seinerseits die Bewegung der Geschichte zu teilen haben.

Was aber an dieser Stelle, das gilt überhaupt vom Erkennen: die Begründung auf das schaffende Leben wird es auf eigentümliche Bahnen treiben; ein Erkennen, das aus einem solchen Leben hervorgeht, wird sich mit deutlichen Zügen von anderen Versuchen unterscheiden. Wird das Erkennen damit ein Sichselbsterfassen eines wirklichkeitbildenden Lebens, so hat es alles, was es ergreift, in ein solches Leben umzusetzen, so muß es alles, was ihm als ruhendes Sein entgegentritt, auflösen und in ein Geschehen, in ein Stück des Lebens zu verwandeln suchen. Ein vom Leben unabhängiges Sein erkennen zu wollen, erscheint von hier aus als eine nicht nur unlösbare, sondern von vornherein unrichtig gestellte Aufgabe. Es hat aber das Streben zum Sein auf dem Boden der Geschichte eine große Macht gewonnen, es hat weithin die Arbeit beherrscht. Die Richtung dahin, das Sein in dem, was es als Sein ist, erfassen zu wollen, entstammt der Antike, vornehmlich dem Platonismus, der die Welt in ein Gebiet unsteter Erscheinungen und in ein Reich beharrenden Seins zerlegte und alle Mühe daran setzte, zu diesem Sein, dem wahrhaftigen Sein vorzudringen. Der damit betretene Weg führte aber weiter zu dem Gedanken, daß ein Sein, um ganz und gar Sein, um allumfassendes Sein zu bilden, gar keine besondere Beschaffenheit haben, gar keine Eigenschaft besitzen dürfe; die Tatsache, daß das logische Denken die Stufenleiter seiner Begriffe mit dem eines bloßen Sein abschließt, verführte dazu, dieses als den Urgrund aller Wirklichkeit zu setzen. Um aber ein solches Sein erreichen zu können, hatte auch das Denken alle Unterschiede abzulegen; es konnte das nicht ohne alle Gestaltung in Begriffen zu überschreiten und ein unmittelbares Schauen zu werden, möglichst ganz mit dem Sein zusammenzufließen, sich damit aber in ein dunkles, schlechthin unfaßbares Gefühl zu verwandeln. So steht am Ende dieses Weges die Mystik und damit eine Vernichtung alles Erkennens wissenschaftlicher Art.

Wird aber ein solches Zerhauen des Knotens abgelehnt, zugleich aber der Gedanke eines dem Leben gegenüberliegenden Seins festgehalten, so entsteht zwischen ihm und uns eine unüberbrückbare Kluft. Denn nun bildet sich der Begriff eines hinter den Erscheinungen liegenden Dinges an sich; das geschah schon bei der antiken Skepsis, es kam von da zur modernen, zunächst zur französischen, es ist durch die Autorität eines Kant unverdienterweise in den Vordergrund der Arbeit gerückt. Aber bei Kant ist der Begriff des Dinges an sich ein Glied eines weiteren Zusammenhanges, er wird dadurch sowohl eingeschränkt als ergänzt; als letzter Abschluß verstanden zerstört er alles Erkennen in unserem Sinne. Seine Annahme begeht aber den Fehler, unser Verhältnis zur Natur um uns unser Gesamtverhältnis zur Welt bestimmen zu lassen, als bestünde gar kein Reich der Innerlichkeit. Der Natur nämlich können wir nicht in der Weise nahekommen, daß wir, was bei ihr vorgeht, in eignes Leben verwandeln, es aus eigner Tätigkeit erzeugen oder doch nachbilden; gerade je deutlicher sie uns in das Gewebe ihrer Äußerungen blicken läßt, desto mehr erhellt, daß der Sinn des Ganzen uns verschlossen bleibt; trotz des Widerspruchs Goethes mit seiner antikisierenden Naturauffassung verbleibt es dabei, daß wir hier nicht ins Innere zu blicken, nicht von innen heraus zu sehen vermögen, daß hier daher eine dunkle Tiefe jenseits aller Erweisung an uns beharrt. Aber zugleich verbleibt es dabei, daß wir zum Menschenleben mit seinen neuen Größen und Gütern, mit seiner Bildung von Persönlichkeit, Geschichte und Gesellschaft anders stehen, und daß hier nicht ein verschlossenes Ding an sich den Kern des Geschehens bedeutet.

Aber der Gedanke des Sein würde schwerlich mit solcher Macht durch die Geschichte gehen und so viele hervorragende Denker bewegen, enthielte er nicht ein unabweisbares Problem, dem sich auch eine Philosophie des Lebens nicht entziehen kann. Sie verlangt ein der Zerstreuung der einzelnen Vorgänge überlegenes und zusammenhaltendes Beisichselbstsein des Lebens; wie sollte aber ein solches möglich sein ohne eine innere Abstufung des Gesamtbereiches, ohne Bildung eines umfassenden, beharrenden, sich in der ganzen Ausbreitung erlebenden Ganzen. Damit kommen auch wir auf den Begriff eines Wesens, nur liegt dieses dann nicht jenseits, sondern innerhalb des Geschehens, und es liegt uns nicht fertig vor, sondern es muß bei uns erst entstehen und durch fortlaufende Tat getragen werden, es ist Aufgabe, keineswegs Ausgangspunkt. Aber nur im Vordringen zu ihm, nur in einer Wesenbildung hellt das Leben sich auf, und wird es sich selbst ein voller Besitz, eine wesenbildende Stufe hebt sich hier deutlich von einer wesenlosen ab; Wesenbildung bedeutet dann aber etwas anderes als bloße Wesensbildung. Denn diese setzt ein Wesen voraus und will es nur weiter gestalten, bei der Wesenbildung aber steht in Frage, daß das Leben sich selbst einen Kern gibt und damit erst wahrhaftiges Beisichselbstsein wird, während es sonst zerflattert und verfliegt. Die Aufgabe des Erkennens nimmt sich dann folgendermaßen aus. Ein Erkennen wird nur möglich in bezug auf einen Lebensbereich; dieser Bereich aber gibt sich zunächst im Stande eines Auseinandertretens, einer Zerstreuung und Selbstentfremdung. Bei solcher wird das Leben sich selbst etwas Äußerliches; was in ihm vorgeht, das wird an etwas Äußeres gebunden, zugleich in seiner Freiheit beschränkt, es vermag bei solchem Stande keinen vollen Sinn zu erschließen. Über diesen Stand der Veräußerlichung und Bindung treibt nun das erwachende Beisichselbstsein des Lebens hinaus und besteht auf dem Erringen eines wesenbildenden Mittelpunktes; wird von da aus die Spaltung überwunden, so dringt das Leben bei sich selber vor, das Äußere wird in ein Inneres verwandelt, eine volle Ursprünglichkeit erreicht, zugleich aber dem Ganzen ein Sinn gewonnen. Die Bedeutung solcher Wendung zeigt unwidersprechlich die Geistesgeschichte; denn da sind ihre Hauptwendepunkte, wo das bloße Nebeneinander mit seinem trüben Dunkel in Entfaltung einer inneren Einheit verwandelt, und wo zugleich unter durchgreifender Erhöhung des Bestandes eine volle Durchleuchtung gewonnen wird. Hier liegen die großen Eroberungen der Menschheit, als Erweiterungen ihres Lebensbereiches unvergleichlich wichtiger als alle kriegerischen Eroberungen. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt uns das die deutsche Geistesgeschichte an ihren Haupthelden Luther, Kant, Goethe. Darin vornehmlich lag das Große und Bleibende der Leistung Luthers, daß die Religion ihm aus einem Verhältnis zu einer draußengelegenen, jenseitigen Macht das zu einem innerlich gegenwärtigen, der eignen Seele zugehörigen Leben wurde; indem damit die Entfremdung von Gott sich als eine unerträgliche Spaltung des eignen Wesens erwies, mußte die Überwindung dieser Spaltung zu einer Sache zwingender Selbsterhaltung und zugleich zu einem völligen Selbstzweck werden, alle Frage aber nach Lohn oder Strafe zu einer völligen Nebensache sinken. Damit vollzog sich eine große Verinnerlichung und Befreiung, zugleich aber ein Näherrücken und eine Durchleuchtung der Religion, alle Fremdheit ward abgetan, die Seele stand allein auf sich selbst, blinde Devotion wich einer seelischen Haltung aufrecht-männlicher Art. In augenscheinlicher Verwandtschaft damit, wenn auch nach anderer Richtung, ging das Streben Kants. Ihm wurde das Erkennen aus einem Welterkennen ein Erkennen der eignen Struktur und der eignen Leistung des Geistes, zugleich aber zur vollsten Gewißheit und Nähe. Ähnlich wirkte er auf dem Gebiete der Moral. Denn auch hier ward, was sonst als Gebot einer überlegenen Macht, sei es Gottes oder einer menschlichen Ordnung, an den Menschen kam, in ihn selbst, d. h. in ein ihn in Selbsttätigkeit versetzendes Schaffen hineinverlegt; damit aber wurde es voll sein eigen, und wie es den Menschen sich selbst mehr eröffnete, so ließ es weit mehr in ihm sehen, verwandelte es seinen Besitz in volles Eigentum. Dem, was Luther in der Religion, Kant in der Erkenntnislehre und Moral geleistet haben, schloß sich an, was wir für das Verhältnis von Kunst und Seele Goethe verdanken. Denn indem ihm die Kunst nicht ein Verhältnis des Menschen zu einer außer ihm befindlichen Welt bedeutet, sondern alles Äußere auf den Boden der Seele versetzt und in eine Entfaltung eignen Wesens verwandelt wird, indem so im künstlerischen Schaffen der Mensch sich selber sucht, es aufhört, ein Wirken nach außen zu sein, wird es zur Erschließung eignen Lebens, zugleich aber ein völliger Besitz und von innen her aufgehellt. Alle solche Entwicklungen aber sind nur verschiedene Seiten desselben Grundgeschehens: einer uns zugänglichen Wesenbildung. Damit steigt in der Seele eine neue Welt und Wirklichkeit auf, wofür der Begriff des Dinges an sich nicht gilt; das Erkennen aber teilt hier unmittelbar die Bewegung des Lebens, der Erkenntnisakt ist hier unmittelbar ein Lebensakt.

Hängt so das Erkennen an der tatsächlichen Erschließung und Selbstkonzentration des Lebens, so nimmt damit die Erkenntnisarbeit ein geschichtliches Element in sich auf; sie bedarf zu ihrem Gelingen der Vergegenwärtigung dessen, was sich auf dem Boden der Menschheit an schaffendem Leben, namentlich an Wesenbildung, erschlossen hat. Das macht das Erkennen keineswegs abhängig von den wechselnden Phasen des Verlaufs der Geschichte, nicht zu einem bloßen Ausdruck einer vorübergehenden Lage. Denn eben das ist dem Erkennen mit seinem Denken wesentlich, den Gehalt des Lebens gegenüber dem bloßen Menschen festzulegen und so der bloßen Zeitgeschichte eine Geistesgeschichte entgegenzuhalten, die aus dem Wechsel und Wandel das Zeitüberlegene heraushebt und damit eine immer reichere Gegenwart aufbaut. Vermag doch das Denken über den Zustand des bloßen Subjekts hinauszuführen und in ein von ihm unabhängiges volltätiges Geschehen zu versetzen, zugleich aber eine Betrachtung sub specie aeternitatis zu liefern; daß es erst allmählich zu solcher Höhe gelangt, macht es nicht zu einem bloßen Diener der Zeit.

Solche Verbindung des Denkens mit dem schaffenden Leben beleuchtet eigentümlich sowohl die Größe der Denker als die geschichtliche Stellung und Wirkung der Philosophie. Das eben machte die schaffenden Denker groß und gab ihnen Macht über die Gemüter, daß sie mehr aus dem Leben machten, es stärker bei sich selbst konzentrierten, es kräftiger von menschlicher Enge und Besonderheit befreiten, ursprüngliche Quellen in ihm erschlossen; die reflektierende Darlegung mit all ihren Beweisen bildete nur das Gerüst, mit dessen Hilfe sich die Weiterbildung, ja ein Neuaufbau der Wirklichkeit vollzog. So waren sie Mehrer im Reich des Geistes, nicht bloße Registratoren. Diese lebenerhöhende Macht war es auch, was der Philosophie einen Wert für das Ganze der Menschheit gab, ja sie zu einem Hauptfaktor der geistigen Bewegung machte; diese verliert an Seele und Tiefe, wo jener Faktor fehlt; die Philosophie aber droht zu einer bloßen Schulwissenschaft zu sinken, auch sich in lauter Sonderpfade zu verlaufen, wenn nicht aus dem Ganzen des Lebens eine erhöhende und zusammenhaltende Notwendigkeit wirkt. Aber diese deutlich herauszuheben und energisch zu verfolgen, ist wieder eine Sache der Philosophie.

Ein Erkennen, das so an erster Stelle nicht auf eine Welt um uns, sondern auf eine Welt in uns gerichtet wird, und zwar auf eine Welt, die nicht fertig an uns kommt, sondern erst mit Hilfe unsrer Tätigkeit aufsteigt, ein solches Erkennen wird auch ein eigentümliches Verfahren erzeugen; wir nannten es noologisches Verfahren und schieden es deutlich vom psychologischen. Denn dieses stellt sich in eine gegebene Wirklichkeit hinein und möchte ermitteln, was in ihr vorgeht, das noologische behandelt die Welt als aus der Selbsttätigkeit des Lebens entspringend und verfolgt von innen heraus ihr Werden; jenes beginnt von den einzelnen Geschehnissen und sucht sie in Zusammenhang zu bringen, dieses beginnt von einem Gesamtentwurf und begleitet seine Entwicklung; jenes ergibt nur einen Tatbestand, keine innere Durchleuchtung, dieses muß auf einer solchen bestehen. Daß das noologische Verfahren das gesamte Erkenntnisproblem eigentümlich gestaltet, das sei nun in einigen Hauptpunkten angedeutet.

Jenes Verfahren gibt dem Erkenntnisstreben einen festen Grund und sicheren Ausgangspunkt, der über sonstigen Gegensätzen liegt. Hier geht nämlich die Bewegung weder nach antiker Art von der Welt zum Menschen noch nach moderner vom Menschen zur Welt, sondern auf ein weltbildendes Leben im Menschen; dieses Leben erschließt sich aber nur dem, der mit eignem Schaffen in es eintritt; so setzt das Erkennen eine Tat, eine wirklichkeitbildende Tat voraus. Von jenem Leben aus und für jenes Leben muß sich alles rechtfertigen, was als wirklich anerkannt sein will; so der Begriff der Wirklichkeit selbst, so auch der Gottesbegriff. Dieses Leben, nicht der bloße Mensch, ist der Träger des Erkennens; seine Erfahrungen wie auch seine Forderungen scheiden sich deutlich von denen des bloßen Menschen. Die innere Erfahrung im gewöhnlichen Sinn, z. B. auf religiösem Gebiet, begegnet berechtigtem Mißtrauen, da eine solche Erfahrung, sobald sie den unmittelbaren Tatbestand überschreitet, erklärender Deutung unterliegt, die nach der Verschiedenheit der Individuen ins Unbegrenzte auseinandergeht. Anders die Erfahrung des Lebens, da sie in ein der individuellen Lage und Willkür überlegenes Geschehen versetzt, das zugleich ein eignes Handeln wird und sich daher durchschauen läßt. Ähnlich gehen die Forderungen von Leben und Mensch auseinander. Was die Seele des bloßen Menschen an Bedürfnissen aufweist, das ist durch Wunsch und Meinung hindurchgegangen und erschließt keine dem Menschen überlegene Wahrheit; Forderungen des Lebens dagegen entspringen aus seiner Bewegung und haben daran einen sicheren Halt. Vom Leben aus, d. h. von einem selbständiggewordenen Leben her, also in noologischer Weise, gilt es das Recht wie den Sinn der einzelnen Gebiete zu ermitteln, so bei der Ethik und der Religion, so auch bei der Kunst und der Wissenschaft. Allem besonderen steht hier die Sicherung des Grundgefüges voran; jedes Gebiet aber ist darauf zu prüfen, was es wie für das schaffende Leben so für das Wesenerkennen leistet. Die Tatsache des schaffenden Lebens selbst ergibt Grundzüge einer eigentümlichen Welt, ergibt zugleich für das Erkennen Grundwahrheiten, ohne deren Festhaltung es zusammenbrechen würde, in deren Behauptung es daher einen Kampf für sein eignes Bestehen führt. Das schaffende Leben ist, so sahen wir, nicht als ein Erzeugnis der einzelnen Punkte, sondern nur als ein selbständiges Ganzes möglich; so erweist sich in ihm eine Weltgestaltung, welche eine umfassende Einheit vor die einzelnen Punkte stellt, während die Daseinswelt die Einzelelemente allen Zusammenhang aufbauen laßt. Das schaffende Leben kann nicht ein Selbst aller Entfaltung gegenwärtig halten und auch nicht mit seiner Volltätigkeit den Gegensatz von Kraft und Gegenstand umspannen ohne eine bei sich selbst befindliche Innerlichkeit zu erzeugen, die von der bloß anhängenden und nachbildenden Innerlichkeit des bloßen Subjekts grundverschieden und als eine Weltgröße anzuerkennen ist; die Daseinswelt dagegen bildet ein bloßes Gewebe von Beziehungen, das für wahre Innerlichkeit nicht den mindesten Platz hat. Ferner fordert und erweist ein Beisichselbstsein des Lebens eine von bloßer Fortdauer in der Zeit grundverschiedene Zeitüberlegenheit, denn eine Bindung an die Zeit würde das Leben einer unablässigen Veränderung unterwerfen und damit alle Möglichkeit eines durchgehenden Beisichselbstseins zerstören. Innerlichkeit und Zeitüberlegenheit erweisen eine Welt jenseit von Zeit und Raum, während das Dasein in diesen als den es beherrschenden Grundformen verläuft. Endlich entwickelt die Lebenswelt ein wesentlich anderes Gefüge als die Daseinswelt. In dieser bewegt sich das Leben von Punkt zu Punkt, und Selbsterhaltung bedeutet hier nichts anderes als eine Behauptung des Einzelpunktes im Zusammensein mit den anderen; die Lebenswelt dagegen könnte nie zu unserer eignen werden, wenn nicht das Ganze des Lebens den einzelnen Stellen gegenwärtig wäre oder doch gegenwärtig werden könnte; so wird hier das Verhältnis zum Ganzen zum Grundgeschehen des Lebens, statt bloßer Fläche gewinnt das Leben hier eine Tiefe, die Selbstbehauptung aber erhält damit den Sinn einer Befestigung im Ganzen, einer Zugehörigkeit zum Ganzen; nur solche Wendung macht begreiflich, daß auf moralischem wie religiösem Gebiet die Sorge um den Stand der Seele eine so überragende Bedeutung gewinnen und die natürliche Selbsterhaltung zu einer Nebensache machen konnte.

Enthält so das schaffende Leben in sich selbst den Umriß einer Welt, die in voller Unabhängigkeit der Daseinswelt gegenübersteht, so tritt zugleich außer Zweifel, daß die Lebenstatsachen keineswegs einer Bestätigung durch die Daseinswelt bedürfen, da sie ihre Wahrheit und ihr Recht in sich selber tragen, daher auch durch den Widerspruch der Erfahrungswelt in keiner Weise zu erschüttern sind. Das gilt auch gegenüber dem Menschen: die Denkgesetze bleiben in Geltung, auch wenn der Mensch noch so unlogisch denkt; die Moral behält ihr Recht, auch wenn das menschliche Getriebe moralisch noch so unlauter ist; die ganze menschliche Sphäre erscheint von hier auch als ein besonderer Bereich, der nicht zu richten hat, sondern seinerseits einem Gericht untersteht. Die volle Selbstgültigkeit, die Plato für das Denken, Kant für das moralische Handeln verlangte, findet einen sicheren Grund erst in jenem Beisichselbstsein des Lebens. Daß ein solches Leben überhaupt bei uns aufsteigt und damit seine Wirklichkeit offenbart, das bildet das Grundaxiom, woran alles Erkennen hängt.

Dieses Leben bietet mit seiner Eröffnung in uns dem Menschen die einzige Möglichkeit, seine sonstige Enge zu durchbrechen und Weltbegriffe zu gewinnen. Denn da das schaffende Leben ihm nicht bloß als Wirkung zugänglich ist, sondern er sich in die Ursache versetzen und es mitschaffend bei sich selbst entwickeln kann, so teilt er hier unmittelbar ein Weltgeschehen und zwar ein Weltgeschehen, das mit seinem ursprünglichen und selbständigen Leben als der Grund aller Wirklichkeit gelten muß; die Tiefe der Dinge ist ihm hier also nicht verschlossen, die schaffenden Grundmächte bleiben ihm keine unzugängliche Ferne. Freilich bleibt das Hemmnis, daß unser Vorstellungsbild ein Einfließen bloßmenschlicher Größen nicht abwehren kann; insofern ist unsere Fassung der letzten Gründe unangemessen. Aber die Gedankenarbeit bleibt nicht an jenes gebunden, sie kann die Hemmung durchschauen und sie bekämpfen. So zerstört jene Unvollkommenheit der Fassung nicht die Wahrheit des Gedankengehalts, sofern er Wesenszüge des schaffenden Lebens verkörpert.

Zur Hauptfrage wird damit, wie weit dem Menschen ein Teilhaben an schaffendem Leben gelingt, und hier entscheidet sich auch das Problem der Grenzen des menschlichen Erkennens. Gewiß sind diesem ein für allemal nach besonderen Richtungen Grenzen gezogen; es wird uns z. B. nicht möglich sein, je die Natur von innen her mitzuerleben. Aber wie weit das Erkennen nach anderen Richtungen und im Ganzen seines Strebens vorzudringen vermag, das kann nicht ein besonderer Augenblick für alle Zeiten entscheiden; hier kann eine weitere Erschließung des Lebens etwas möglich machen, was vorher ausgeschlossen dünkte. Einzelne Punkte zeigen das sonnenklar. Nikolaus von Cues, ein großer Freund und Kenner der Mathematik, erklärte im 15. Jahrhundert, ein Erkennen mathematischer Naturgesetze sei dem Menschen für immer versagt, im 17. Jahrhundert erwies Kepler durch die Entdeckung seiner drei Gesetze, daß das für unmöglich Erklärte ganz wohl möglich sei; erst die Wirklichkeit erwies hier die Möglichkeit. Es erstreckt sich aber diese Bewegung über die einzelnen Punkte hinaus auf die Hauptrichtungen des Lebens. Was das Christentum an seelischer Tiefe und mit ihr an Weltwahrheiten erschloß, das lag dem Altertum fern, das gab ihm auch eine andere Stellung zur Erkenntnisfrage. Ferner konnte das Mittelalter unmöglich wissen, was die Neuzeit an innerer Bewegung und an Verstärkung menschlichen Vermögens bringen würde; unermeßlich hat sich seitdem mit dem Lebenskreis auch der Gesichtskreis erweitert. Daß solches Wachstum in der Zeit nicht ein Abhängigwerden von der bloßen Zeit besagt, das haben frühere Erörterungen zur Genüge dargetan. Aus solcher Denkweise müssen wir uns ablehnend zu einer Erkenntnislehre stellen, welche vor der Entwicklung der Sache selbst durch überschauende Erwägung einen endgültigen Abschluß glaubt erreichen zu können. Gewiß bedarf es einer Vorerwägung, was Erkennen bedeutet und in welcher Weise es möglich ist, aber damit werden dem Suchen mehr Richtungen vorgezeichnet als sein Ertrag festgelegt, mehr Fragen als Antworten gegeben; Richtungen sind nötig, damit das Streben sich nicht ins Vage verlaufe, und ohne Stellung präziser Fragen gibt es keine präzise Antwort, aber Frage und Antwort mögen weit auseinanderliegen, nur die Bewegung und Erfahrung des Lebens kann sie zusammenbringen.

Ein Erkennen, das so eng mit dem Leben zusammenhängt, hat auch eine besondere Stellung innerhalb des Seelenlebens, es darf sich bei aller Selbständigkeit, die das Denken, sein Werkzeug, besitzt, nicht mit kühler Gleichgültigkeit vom übrigen Leben abschließen wollen. Das Verlangen eines affektlosen Denkens hat nur insoweit Recht, als es ein Einfließen kleinmenschlicher Interessen und Gefühle verbietet; wo aber das Erkennen einen Hauptmitarbeiter eines neuen Lebens bedeutet, da hat es unablässig zu kämpfen, da kann es nicht vorwärtskommen ohne Aufbietung und Einsetzung der ganzen Seele, ohne ein inneres Feuer, das seine Arbeit durchglüht. Spinoza selbst, der besonders darauf drang, nicht zu weinen oder zu lachen, sondern lediglich zu verstehen, der Großartiges geleistet hat in seiner Behandlung der Seelenzustände nach Art mathematischer Größen, hat doch einen Affekt im höheren Sinne mit aller Kraft wieder eingeführt und mit Recht gelehrt, ein Affekt sei nur durch einen Affekt, nie durch bloße Betrachtung, zu überwinden. So wenig also kleinmenschliche Denkart in das Erkennen einfließen sollte, das Denken erhebt sich aus reflektierendem zu produktivem Denken und damit zum Erkennen nur, wenn das Ganze des Lebens hinter ihm steht und sein Vermögen in es hineinlegt.

b) Die menschliche Bedingtheit des Erkennens

Eine nähere Gestaltung gibt der Erkenntnisarbeit die besondere Lage, unter der im menschlichen Bereich das Aufsteigen eines selbständigen Lebens erfolgt. Wir sahen, das dieses aus eignem Vermögen keinen vollen Abschluß erreicht; die Tatwelt kommt unmittelbar über anweisende Umrisse nicht hinaus, zu ihrer vollen Durchbildung bedarf sie der Hilfe der Daseinswelt, die sich weit über die Natur hinaus auch ins Menschenleben erstreckt. Diese Welt enthält zahlreiche Wirkungen geistiger Tätigkeit, aber sie enthält eben nur die Wirkungen, nicht die schaffenden Gründe, und sie gibt jene unter den Formen der Natur, in dem Neben- und Nacheinander, was dieser eigentümlich ist. Nur in Ergreifung durch die Tatwelt kann das einen geistigen Gehalt erschließen und damit das Leben weiterbilden, auch das Erkennen fördern. Solche Lage gibt der Erkenntnisarbeit eine eigentümliche Richtung, sie verbietet gewisse Versuche, während sie andere nahelegt. Zunächst macht sie es unmöglich, von einer der beiden Seiten aus allen Erkenntnisgehalt zu entwickeln, sie widersteht sowohl dem Empirismus, der ausschließlich aus dem Dasein schöpft, als einer konstruierenden Spekulation, welche alle Wirklichkeit aus Selbsttätigkeit erzeugen möchte. Der Empirismus gelangt von sich aus nie zu irgendwelchem Erkennen, ein Anordnen und Aufschichten von Daten kann er nicht überschreiten, wie er ja auch seinerseits alle Durchleuchtung der Wirklichkeit abweist. Aber auch was er innerhalb der selbstgezogenen Grenzen leisten zu können vermeint, eine Zusammenfassung und Anordnung der Daten, kann er nur erreichen, indem er der bloßen Erfahrung zuschreibt, was sie nur mit Hilfe geistiger Tätigkeit leistet. Den Empirismus streng auf die Leistung der bloßen Erfahrung beschränken, das heißt, ihn als wissenschaftliche Lehre zerstören; ohne das Denken bietet die Erfahrung nur ein wirres Durcheinander von Eindrücken, das von sich auch höchstens gewisse Durchschnitte liefern könnte. Der Empirist kann das nur übersehen, weil er die vorwissenschaftliche Erfahrung, die bloße Empirie, mit der wissenschaftlichen vermengt und den gewaltigen Sprung nicht beachtet, den die Wendung vom einen zum andern enthält. Es wirkt aber die empiristische Denkart, als Gesamttheorie von altersher zurückgewiesen, neuerdings mit manchen Zügen in die wissenschaftliche Arbeit hinein und ruft viel Irrung hervor. Aus ihr vornehmlich stammt die heute weit verbreitete Neigung, Bedingungen für schaffende Gründe auszugeben, wie auch ein in naturwissenschaftlichen Kreisen geläufiger Sprachgebrauch bedingen als gleichbedeutend mit bewirken verwendet. Geistige Tätigkeit entwickelt sich beim Menschen nur unter besonderen körperlichen Bedingungen, so gilt sie leicht als ein bloßes Erzeugnis dieser; schaffende Persönlichkeiten erwachsen nur in besonderer Umgebung und unter Anregungen der Zeit, so erklärt die Lehre vom »Milieu« sie für einen bloßen Niederschlag von Umgebung und Zeit; Religionen pflegen nur zu entstehen und die Seelen zu gewinnen, wo ein starkes Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit waltet, so erscheinen sie selbst oft als ein bloßer Ausdruck solcher Schwäche, da sie doch vielmehr dieser abhelfen und die Menschheit von ihr befreien möchten. So erstreckt sich die empiristische Denkart tief in die wissenschaftliche Forschung hinein und verzerrt das Bild der Wirklichkeit.

Die Ablehnung einer Ausschließlichkeit der Tatwelt widerspricht aber namentlich dem Versuch, das Erkennen seinem ganzen Umfange nach aus freischwebendem Denken abzuleiten unter Ausschaltung aller Erfahrung. Dazu verlockte namentlich die Wahrnehmung, daß das Denken imstande ist, sich gegen sich selbst zu kehren, sich selbst zum Vorwurf zu machen, als Denken des Denkens in fortschreitender Bewegung einen gewissen Lebensbereich aus eignem Vermögen hervorzubringen; das konnte die Meinung erwecken, als könne aus solchem Prozeß das Ganze der Wirklichkeit entstehen. Aber jede nähere Prüfung zeigt das als einen bloßen Schein. Denn der Eindruck einer sich bei sich selbst vertiefenden Wirklichkeit entsteht nur dadurch, daß aus einer weit reicheren Welt immerfort Ergänzungen zugeführt und dadurch die für sich selbst farblosen Umrisse weitergebildet werden. Streng auf das eigne Vermögen beschränkt, würde das Denken des Denkens nur weiter und weiter von echter Wirklichkeit ab in ein Reich der Schatten führen. Wenn Systeme wie die Plotins und Hegels eine unbestreitbare Größe erreichten und einen tiefen Einfluß auf das Ganze der Menschheit gewannen, so geschah dies nur, weil hinter der Arbeit der Denker eine höchst gehaltvolle Kulturwelt stand, bei Plotin die antike Welt in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Verzweigung, bei Hegel Altertum, Christentum und Neuhumanismus; ihre Verwandlung dieser Mächte in ein geschlossenes Gedankengefüge hatte sicherlich eine Größe, aber es war nicht das bloße Denken, das diese Größe schuf. Die Wirkung jener Überspannung eines freischwebenden Denkens reicht aber ähnlich wie beim Empirismus weit über das prinzipielle Bekenntnis hinaus. Das aber namentlich in der Richtung, daß für lebensvolle Gedankengrößen bloßintellektuelle Größen eingesetzt und bloße Theorien als Lebensmächte ausgegeben werden, daß damit an den Fortschritt der bloßen Theorie, an die intellektuelle Klärung alles Heil der Menschheit gebunden wird. Nur von hier aus konnte der Irrtum entstehen, als enthielten die Gedankenmassen in sich selbst eine Kraft der Fortbewegung, da sie in Wahrheit diese nur einem sich in ihnen entfaltenden und behauptenden Leben verdanken; keineswegs treibt aus eignem Vermögen ein Satz alle seine Konsequenzen hervor, keineswegs versetzt ein logischer Widerspruch an sich in Unruhe und Bewegung. Konsequenzen können ganz nahe liegen und werden doch nicht gezogen, weil der Antrieb des Lebens fehlt; Widersprüche können handgreiflich sein, sie bleiben unbemerkt, bis das Leben sie aufnimmt und in eine Gefahr für sich selbst verwandelt. Die Weltgeschichte ist kein logisches Schema; so unentbehrlich die Logik als Werkzeug des Lebens, sie ist nicht der Träger des Lebens, Hilfsdienst ist etwas anderes als Schaffen. Welche Gefahren aber diese Einsetzung intellektueller Größen statt gesamtgeistiger für das praktische Leben, namentlich für Staatsleben und Erziehung hat, ist ohne Erörterung klar; gerade heute leiden wir darunter genug.

Wenn aber die Erkenntnisarbeit weder ausschließlich aus dem Dasein noch aus der Tatwelt schöpft, wenn sie vielmehr zwei Quellen anzuerkennen hat, so wird zur nächsten Forderung, beide genügend auseinanderzuhalten und nicht, was der einen zukommt, der anderen zuzuweisen. Zugleich müssen zwei Bewegungen in der Erkenntnisarbeit ihre Unabhängigkeit gegeneinander wahren, ohne damit letzthin auseinanderfallen zu dürfen: es wird einerseits das Dasein den Ausgangspunkt und die Tatwelt nur den Hintergrund bilden, es wird andererseits eine Entwerfung aus dem Ganzen des Lebens vorangehen und von sich aus das Dasein mit seiner Erfahrung eigentümlich beleuchten. Damit scheiden sich deutlich eine philosophische Behandlung und eine wissenschaftliche im engeren Sinne; erst bei solcher Begründung in der Tatwelt erhält die Philosophie eine Selbständigkeit; als ein bloßes Zusammenstellen und Zusammenfügen der Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften könnte sie nie etwas Eigentümliches von Bedeutung leisten, und es bliebe völlig unerklärt die gewaltige Macht, welche sie in der weltgeschichtlichen Bewegung der Menschheit ausgeübt hat. Aber wie die Tatwelt aus eignem Vermögen nicht eine vollständige Wirklichkeit aufbaut, so kann auch die Philosophie nicht von sich aus ein allumfassendes Weltbild entwickeln, so darf sie nicht allen Gehalt der Einzelwissenschaften aus ihren Prinzipien ableiten wollen; vielmehr behalten die Einzelwissenschaften eine Selbständigkeit, sie üben von sich aus eine Kritik an der Philosophie, sie führen ihr Anregungen zu, und treiben sie in eigentümliche Bahnen, sie dürfen im besonderen fordern, daß die Philosophie ihren Feststellungen nirgends widerspreche. Aber mit allem dem werden sie noch keine Philosophie, noch keine Weltanschauung, es ist daher verkehrt, von einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu sprechen, da der Naturforscher als solcher, wenn er Naturforscher bleibt und nicht unversehens Philosoph wird, überhaupt keine Weltanschauung hat; zu einer solchen bedarf es notwendig einer Gedankenentwicklung vom Ganzen der Tatwelt her.

Solche Scheidung der Betrachtungsweisen geht durch alle Lebensgebiete, sie gestaltet sich aber nach dem verschiedenen Verhältnis des Menschen zu ihnen verschieden: je mehr ein Gebiet uns starr gegenüberliegt und sich einer vollen Umsetzung in geistige Tätigkeit entzieht, desto mehr Vorsicht und Zurückhaltung ist der philosophischen Betrachtung geboten; je mehr geistige Selbsttätigkeit bei seiner Entwicklung zu tun hat, desto getroster wird jene vorgehen dürfen. So stehen Philosophie und Einzelwissenschaft völlig anders zu einander bei der Natur als etwa bei der Religion und dem Rechte. Durchgängig aber müssen die Betrachtungsweisen sich genügend scheiden und sich gegenseitig ein Recht zuerkennen, es darf nicht die eine in das Gebiet der anderen übergreifen oder die andere Betrachtungsweise als bloße Nebensache behandeln. So tat es früher vielfach die Philosophie, so tun es jetzt umgekehrt oft die Einzelwissenschaften. So hat lange eine spekulative Psychologie eine empirische nicht voll aufkommen lassen, während jetzt oft alle spekulative Psychologie in Acht und Bann getan wird. Ähnliches gilt für das Verhältnis der Geschichtsphilosophie und der Geschichtswissenschaft. Hier wie auch an anderen Stellen begegnet die Philosophie oft der Hemmung, daß die Unzulänglichkeit einer früheren Leistung dahin gewandt wird, ihre Tätigkeit überhaupt herabzusetzen oder ganz zu verwerfen: weil die aristotelische oder auch die hegelsche Metaphysik nicht mehr gefällt, verwirft man alle und jede Metaphysik, weil Hegels Geschichtsphilosophie gewaltsam dünkt, wittert man Gefahr in aller und jeder Geschichtsphilosophie. Wäre es nicht richtig, den Grundgedanken und die besondere Ausführung schärfer auseinanderzuhalten?

In Wahrheit ist nicht nur die Einzelwissenschaft der Philosophie, sondern auch die Philosophie der Einzelwissenschaft unentbehrlich. Denn ohne alle Hilfe einer Betrachtung vom Ganzen her ist diese gegenüber der endlosen Fülle der Welt draußen und drinnen wehrlos, sie wäre in Gefahr, ein bloße Stoffsammlung zu werden, würden ihr nicht gewisse Richtlinien vorgehalten, gewisse Hauptfragen gestellt, gewisse Gruppen des Geschehens in den Vordergrund gerückt. Das wurzelt letzthin im Leben selbst, aber zu seiner Entwicklung ist die Philosophie nicht zu entbehren. Deutlich zeigt die Erfahrung der Geschichte, daß das Aufkommen neuer Lebensrichtungen die Aufmerksamkeit des Denkens auf besondere Ziele lenkte und manches in das Sehfeld rückte, was früher unbeachtet geblieben war. Als der Gedanke der Entwicklung Macht unter uns gewann, entdeckte man überall Bewegung und Veränderung, woran man früher achtlos vorbeigegangen war; seit der soziale Gedanke bei uns vordrang, ist unser Auge merkwürdig geschärft für die Anerkennung des wirtschaftlichen Elementes auch in der geschichtlichen Bewegung der Menschheit. Es bleibt dabei; es findet hier nur wer sucht, das Suchen aber empfängt sein Ziel aus dem Leben, und das Leben bedarf der Philosophie, um sich in eine Gedankenwelt umzusetzen.

So kann die eine Seite die andere nicht überflüssig machen, sondern sie bleiben gegenseitig aufeinander angewiesen. Aber ihr Verhältnis bedarf notwendig einer Klärung, seine nähere Gestaltung entscheidet über die Stellung von Philosophie und Wissenschaft. Die verschiedenen Denker haben hier verschiedene Wege eingeschlagen, am tiefgreifendsten und eindrucksvollsten war die kantische Lösung der Frage. Tatwelt und Dasein werden hier so zueinandergestellt, daß die Tatwelt die Form und damit den inneren Aufbau, das Dasein aber den Stoff des Erkennens liefert. Ausgangspunkt und Ziel hat die Forschung dabei in Gesamtwerken, wie sie in der Bildung einer wissenschaftlichen Erfahrung und in der einer moralischen Welt vor uns stehen. Die Philosophie wird zur Scheidekunst, indem sie zeigt, was jene Werke an Leistungen der Form enthalten, die damit untereinander einen engen Zusammenhang gewinnen und in ihm sich gegenseitig stützen; indem sie dann aber von ihnen her jene Werke wieder aufbaut, vollzieht sie an ihnen eine gründliche Durchleuchtung, und gibt sie dem Ganzen der Wirklichkeit einen neuen Sinn. Denn unermeßlich viel von dem, was als von draußen dargeboten galt, erweist sich nun als eigne Leistung der Tatwelt, es verstärkt sich damit gewaltig das geistige Vermögen, so daß über seine führende Stellung kein Zweifel bestehen kann. Da aber auch das Dasein zur Bildung jener Werke unentbehrlich ist, indem nur an ihm beim Erkennen sich die Kräfte des Geistes entfalten, so scheint hier der Gegensatz des Empirismus und des Rationalismus von der Wurzel her überwunden, und jeder der streitenden Parteien ihr gebührendes Recht zuerkannt.

Aber so eingreifend das Ganze ist, und so sehr es bleibend fortwirkt, es enthält ein Bild des Lebens und der Wirklichkeit, das der Verlauf unserer Untersuchung uns schlechtweg anzunehmen verwehrt. Vornehmlich läßt sich Leben und Welt nicht als eine Zusammensetzung von Form und Stoff verstehen, da beides miteinander noch keine volle Wirklichkeit ergibt. Schon die Betrachtung des antiken Lebens hat uns darüber aufgeklärt, indem sie zeigte, daß die Schöpfer großer Weltbilder entweder die Form durch ein dahinterstehendes Leben ergänzten oder aber ihrer Verwirklichung kein volles Leben zu geben vermochten. Auch Kant selbst unterliegt diesem Gegensatz, nur verteilt er sich bei ihm auch verschiedene Gebiete. In der theoretischen Vernunft vermag die Form nichts ohne den Stoff, ohne Beziehung auf ihn scheint sie in völlige Leere zu fallen. Damit aber wird nicht nur ihre Selbständigkeit gefährdet, sondern es entsteht auch eine Unsicherheit über die Geltung und den Wert des Erkennens; kommt es so verstanden über eine bloßmenschliche Zurechtlegung der Wirklichkeit hinaus, und kann eine solche als Wahrheit in vollem Sinne gelten? Die praktische Vernunft dagegen folgt entschieden der platonischen Denkart, aber sie kann mit der Form auszukommen nur scheinen, weil sie dieser in der Persönlichkeit eine belebende Seele gibt und damit weit mehr aus ihr macht als ihr eigner Bestand enthält.

Gewiß war es eine bedeutsame Wendung, daß Kant von Gesamtwerken ausging und damit dem Erkenntnisstreben ein sicheres Ziel und einen festen Halt gab. Aber wenn in der Tat ein Wirklichkeitbilden die unerläßliche Voraussetzung alles Erkennens ist, hat Kant dies Wirklichkeitbilden nicht zu sehr als schon abgeschlossen behandelt und daher auch das Erkennen zu starr festgelegt? Gewiß ist keine Erkenntnis möglich ohne eine feste, dem Wandel der Zeit überlegene Struktur des Lebens in uns, aber bedarf diese bei allem Beharren eines Grundschemas zu voller Ausbildung nicht der Erfahrung und Arbeit, gilt es nicht zwischen schematischer und charakteristischer Art zu unterscheiden, und gewinnen wir damit nicht Raum für eine Anerkennung der geschichtlichen Bewegung? Und daß eine geschichtliche Bewegung tief auch in die Hauptrichtungen des Lebens hineinreicht, davon haben wir uns überzeugt. Steht es aber so, findet das Erkennen bis in die Grundformen hinein seine volle Durchbildung erst in der Arbeit der Zeiten, so wird eine geschichtslose Behandlung zu sehr beim bloßen Umriß stehen bleiben, zu sehr diesen als das Ganze behandeln, zu sehr die notwendige Zielsetzung auch schon als den Abschluß geben.

Wie wir sahen, enthält der Grundbegriff des Lebens ein Problem, das allen raschen Abschluß verbietet. Das Leben ist auf ein Beisichselbstsein gerichtet, um damit erst volles Leben zu werden, ein Beisichselbstsein aber nicht des einzelnen Punktes, was eine Unmöglichkeit wäre, sondern des Ganzen der Wirklichkeit; es gilt ein Selbstwerden und Selbstentfalten der Wirklichkeit. Das aber hat für uns, die wir uns erst im Streben befinden, zwei Seiten, die leicht miteinander in feindliche Spannung geraten, einerseits eine Bewegung zur Konzentration, zur Einheit, zur vollen Ausprägung des Selbst, andererseits eine Bewegung zur Expansion, zur Ausdehnung über die Welt, zur Aufnahme der Gegenständlichkeit der Dinge. Dabei wird dem Menschen der Schwerpunkt seines Strebens bald hierher, bald dorthin fallen, und es werden damit recht verschiedene, ja entgegengesetzte Gestaltungen entstehen, die doch schließlich aufeinander angewiesen bleiben. Dabei fällt die Tatsache schwer ins Gewicht, daß die Gesamtbewegung sich nur in unablässiger Auseinandersetzung mit dem Dasein vollziehen kann. Denn das Dasein bedeutet, wie wir sahen, nicht einen toten Stoff, der höchstens einen Trägheitswiderstand leistet, sondern in ihm erweist sich eine Fülle des Lebens, wenn auch in gebundener und zerstückelter Art, auch in ihm sind Inhalte angelegt, auch in ihm schlummern Kräfte, ohne deren Aneignung das Leben unmöglich seine eigne Höhe erreichen kann. Aber diese Inhalte und Kräfte fügen sich nicht einfach ein und lassen sich nicht ohne weiteres gewinnen, sie besitzen eine gewisse Selbständigkeit und können daraus eigne Richtungen einschlagen, ja in einen schroffen Widerspruch mit den letzten Zielen des Lebens geraten. Da, wie sich uns durchgängig zeigte, der Weltstand hier in der Tat eine große Verwicklung aufweist, so kann die Bewegung des Lebens nicht eine ruhige Entwicklung sein, sondern sie erfolgt in hartem Kampfe; die Phasen dieses Kampfes teilt auch das Erkenntnisstreben und gestaltet sich nach ihnen verschieden. Im Gesamtbilde traten drei Stufen des Lebens auseinander: eine grundlegende, eine kämpfende, eine überwindende Geistigkeit; bei jeder dieser Stufen sind der Erkenntnisarbeit eigentümliche Ziele gestellt. Bei der grundlegenden Geistigkeit gilt es, das Grundschema des Lebens zu erfassen; ersichtlich macht es uns aber nicht die bloße Reflexion, sondern nur die tatsächliche Leistung des Lebens; diese also ist als Ganzes zu überschauen, und es sind durch ein reduktives, alle Besonderheit abstreifendes Verfahren die durchgehenden Züge herauszuheben sowie untereinander zusammenzuschließen. Sodann ist zu prüfen, wo dieses Grundschema sich mit dem Dasein berührt, welche Forderungen es an dieses stellt, und wie weit dieses ihnen entspricht. Dazu bedarf es einer unbefangenen Betrachtung und Feststellung seines Befundes, sie ergibt oft ein Entgegenkommen und findet dann eine fruchtbare Aufgabe darin, die Annäherungs- und Durchbruchspunkte beider Reiche zu ermitteln, sie findet oft aber auch einen weiten Abstand, ja einen zähen Widerstand. Das macht einen Kampf unvermeidlich; auch was in ihm geschieht, darf dem Erkennen nicht entgehen. Der Verlauf des Kampfes kann sich aber zwiefach gestalten, entweder wird nicht mehr erreicht als eine Zurückweisung und Abwehr des Feindlichen, worin freilich eine Selbstbefestigung des Geistigen liegt, nicht aber eine Weiterbildung, oder aber es treibt der Widerstand neue Kräfte und neue Tiefen hervor, deren Zusammenfassung einen neuen Lebensstand ergibt und damit über den Bereich der Verwicklung hinausführt. Das erweist eine überwindende Geistigkeit, fordert für sie eine eigne Behandlung, einen Aufstieg auch des Erkennens, es dehnt eine geschichtliche Betrachtung auch auf die Tiefen des Lebens aus. Nun scheiden sich die Gedankenwelten bei der Frage, ob ein solches Vordringen überhaupt möglich ist, ob die Leistung der Geistigkeit dem Feindlichen gegenüber nicht auf eine bloße Abwehr beschränkt bleibt. Das Altertum hat den Stand der Abwehr nicht wesentlich überschritten, es ist daher in seinem innersten Charakter ungeschichtlicher Art; das Christentum dagegen glaubte eine neue Stufe überwindender Geistigkeit erreichen und damit einen neuen Lebensanblick bieten zu können; mag die besondere Art, in der es dies tat, die Gegenwart oft fremdartig berühren, der Grundgedanke, einmal zur Macht gelangt, ist nicht wieder preiszugeben, die Verneinung empfinden wir jetzt als bittere Versagung, die Beschränkung auf eine bloße Abwehr als eine unmögliche Einschränkung, wir können, weit über die verschiedenen Bekenntnisse hinaus, die Hoffnung und den Glauben nicht lassen, daß in den ungeheuren Bewegungen und Erschütterungen des Lebens auch etwas für seinen eigenen Gehalt gewonnen werde, wir bekennen uns damit letzthin zu einer geschichtlichen Grundanschauung, ohne freilich damit den zeitüberlegenen Charakter der grundlegenden Geistigkeit preiszugeben. So sind grundlegende, kämpfende, überwindende Geistigkeit auch beim Erkenntnisproblem miteinander gegenwärtig zu halten.

Bei dieser Sachlage darf die Erkenntnisarbeit sich unmöglich damit begnügen, die Formen des Lebens herauszuheben und in ein Gesamtschema zu fassen; vielmehr sind auch sie in den Kampf hineinzuführen, die Phasen dieses Kampfes aber sorgfältig zu verfolgen. Wir fordern mit höchster Entschiedenheit, daß die Erkenntnisarbeit nicht die geistigen Bewegungen und Erfahrungen, die sich auf dem Boden der Menschheit vollziehen, als für sich gleichgültig liegen lasse, sondern daß sie sich mitten in sie versetze, sie in ihre Geschicke begleite, aus ihnen für die eigne Aufgabe schöpfe. Denn hier liegen die tiefsten Erschließungen der Wirklichkeit, die uns überhaupt zugänglich sind; verschließen wir unsere Augen ja nicht vor dieser Fülle des Lebens; wir könnten damit leicht ins bloß Schulmäßige und Formelhafte geraten.

Voraussetzung für das alles ist freilich dieses, daß der Mensch nicht von sich aus das Leben so oder so bereitet, es sich so oder so zurechtlegt, sondern daß in ihm eine überlegene Lebensbewegung aufsteigt, bei ihm und unter seiner Mitwirkung zur Selbstvollendung strebt und zugleich mehr aus ihm selber macht. Ein solches Leben bildet keinen leeren Behälter, in den sich alles Beliebige hineintun läßt, es offenbart eine selbständige Tatsächlichkeit und trägt in sich selbst eine bewegende Kraft, es weist zugleich von sich aus dem Erkennen bestimmte Wege. Nur so überwindet dieses den Stand schwankender Reflexion, nur so gewinnt seine Arbeit die Kraft, die Menschen zu verbinden, nur so kann es aus einer nebensächlichen Begleiterscheinung zu einem wesentlichen Stück des Lebens werden. Denn muß einmal das Erkennen seinen Hauptzug vom Ganzen des Lebens empfangen, so ist es seinerseits für die Weiterbildung dieses Hauptzuges unentbehrlich; so können, so müssen Erkennen und Leben sich gegenseitig fördern, wenn wir, geistig erst im Werden befindliche Menschen, glücklich weiterkommen sollen. So gewiß wir an unserer Begründung in einem Gesamtleben festhalten müssen, wir dürfen nie vergessen, daß dieses sich bei uns unter besonderen Bedingungen entwickelt, und daß auch das Zeitüberlegene sich von uns nur durch die Arbeit der Geschichte erringen läßt.

c) Das Erkenntnisproblem unter den Bedingungen der weltgeschichtlichen Lage

1. Einleitendes

Die Betrachtung der menschlichen Lage lief in die Forderung eines Miterlebens der Geschichte auch für das Erkenntnisproblem aus; da wir nun sahen, daß beim Streben nach einer charakteristischen Ausprägung des Geisteslebens die Geschichte nicht eine fortlaufende Linie verfolgt, sondern große Wendungen vollzieht, vornehmlich durch die Bildung eigentümlicher Konzentrationen, Lebenssynthesen, Syntagmen, so gilt es auch für das Erkenntnisstreben diese Synthesen vornehmlich ins Auge zu fassen, ihren Gehalt zu entwickeln, zu ihnen Stellung zu nehmen. Es steht sowieso unter ihrem Einfluß. Denn sie wirken, oft ohne unser Wissen, stark auch auf unser eignes Unternehmen und weisen ihm eigentümliche Bahnen; manches was dabei als selbstverständlich gilt, führt in Wahrheit nur eine Überlieferung fort; so fehlt oft eine genügende Rechenschaft, oft auch eine deutliche Abgrenzung. Aber andererseits bietet jene Geschichte eine Fülle von fruchtbaren Leistungen, Erfahrungen, Anregungen, sie hält uns ein Ganzes menschlichen Strebens vor, das für die eigne Arbeit nicht ungenutzt bleiben darf. Es gilt nur, um Gewinn und Gefahr zu scheiden, dem Ganzen gegenüber eine Selbständigkeit zu erringen; das aber kann nicht durch eine Flucht vor der Geschichte, sondern nur durch eine Überwindung, eine innere Bewältigung geschehen. Es gilt zu prüfen und zu scheiden, was in den geschichtlichen Leistungen notwendige Forderungen des Erkenntnisstrebens erfüllt, Tatsachen aufdeckt und Kräfte erweckt, die einmal belebt nicht wieder verschwinden können, es gilt aber zugleich zu verstehen, was der bloßen Besonderheit der Zeiten angehört und nach ihrem Versinken kein Recht auf ein Weiterbestehen hat; es gilt, mit anderen Worten, von einer zeitgeschichtlichen Betrachtung zu einer geistesgeschichtlichen vorzudringen, damit aus dem bloßen Nacheinander ein Miteinander herauszuheben, zugleich aber die eigentümliche Lage und Aufgabe der Gegenwart möglichst deutlich zu erfassen; nur von hier aus wird sie verständlich.

2. Das antike Erkennen und seine Wirkung

Die antike Welt schuf sich eine eigentümliche Wirklichkeit, ihr entsprechend mußte sie auch das Erkennen eigentümlich gestalten. Das Grundverhältnis des Menschen war hier das zu der ihn von außen und innen umfangenden Welt, und zwar einer Welt, die fertig und geschlossen dünkte, so daß es nichts Neues hervorzubringen, sondern nur Vorhandenes anzueignen galt. Da dies Aneignen aber nur auf dem Wege des Erkennens möglich war, so erlangte dieses damit die Führung des Lebens; indem es dem Menschen die Welt erschloß, glaubte es ihn zugleich mit ihrem Befunde versöhnen zu können. So durchdringt die Hochschätzung des Erkennens das ganze griechische Leben, es fand in ihm die wahre Größe des Menschen und zugleich das höchste Glück; »soweit die Forschung reicht, so weit reicht auch die Glückseligkeit« (Aristoteles). Das Ausgehen von der Welt und das Streben zur Welt gibt aber dem Erkenntnisstreben die Richtung ins Weite und Freie; daß der Bestand des Alls als fest und unserer Willkür entzogen gilt, das läßt den Sachgehalt der Dinge schätzen und bindet alles menschliche Unternehmen daran, es verbietet zwingend alles Verweilen beim Zustand des bloßen Menschen, bei tatlosem Reflektieren und Grübeln, offnen Auges und unbefangen wird der Bestand der Dinge gewürdigt. Ein fester Zusammenhang, eine Wesensverwandtschaft des Menschen mit dem All wird dabei vorausgesetzt, man ist zugleich überzeugt, daß er unmittelbar einleuchten müsse, nicht durch bloße Folgerung erreichbar sei; so wird ein unmittelbares geistiges Schauen, die Intuition, zur Grundlage des Gedankenbaus.

Zu diesen Grundzügen gesellt sich die weitere Behauptung, daß die weltdurchdringende, Welt und Menschen verbindende Macht die Gestaltung ist; das treibt die Erkenntnisarbeit in eine besondere Bahn, auf der aber bleibende Forderungen eine Erfüllung finden.

Das Streben, überall zur Gestalt vorzudringen, erzeugt einen energischen Kampf mit dem wirren Durcheinander des ersten Eindrucks, ein kräftiges Streben nach einer Durchgliederung der gesamten Wirklichkeit. Zunächst müssen die verschiedenen Bestandteile deutlich auseinandertreten und sich gegenseitig begrenzen, das aber nicht, um in der Scheidung zu verbleiben, sondern um unter der Leitung des Denkens in ein geordnetes Gefüge, eine gegliederte Form wieder zusammenzugehen. Solches Scheiden und Zusammenfügen macht das Ganze durchsichtig und gibt mit seiner Umsetzung in ein Werk des Denkens dem Erkenntnisstreben die Zuversicht des Gelingens, eines Durchdringens zu voller Wahrheit. Die einzelnen Formen bleiben dabei nicht nebeneinanderstehen, sondern sie werden in ein Gesamtreich zusammengeschlossen, alle Mannigfaltigkeit wird einem wohlgeordneten Kosmos eingefügt.

Zugleich wird auf eine Heraushebung beharrender Gestalten aus der nach damaliger Fassung in unablässigem Fluß befindlichen Sinnenwelt gedrungen; solche Erlangung fester Punkte und schließlich eines in sich selber ruhenden Alls befriedigt ein Hauptverlangen des Erkennens, da es damit eine Selbständigkeit gegenüber dem sinnlichen Eindruck und zugleich eine Überlegenheit gegen die bloße Zeit gewinnt.

Für solches Festwerden bedarf aber das Erkennen einer Ablösung von der Zufälligkeit des Individuums und überhaupt bloßindividueller Lage. Das wird hier erreicht durch die Wendung zu allgemeinen Größen, welche als das Wesentliche alles Einzelne zu beherrschen scheinen und ihm erst einen Wert verleihen. Die Richtung darauf macht das Erkennen durchaus zur Begriffswissenschaft, ihm stellt sich damit die Welt als ein abgestuftes Reich der Begriffe dar, nur als von dort durchleuchtet kann das Individuelle sich dem Erkennen eröffnen. Auch das Handeln erscheint damit als ein Fortgehen vom Allgemeinen zum Besonderen, als eine Schlußfolgerung. Alle diese Züge wirken gemeinsam dahin, die Welt in ein selbständiges, wohlgeordnetes Gedankenreich zu verwandeln. Ihre ganze Weite wird gleichmäßig durchgebildet, ein systematischer Zusammenhang hergestellt, in dem jedes Einzelne seine feste Stelle und zugleich eine bemessene Bedeutung hat. Damit sind Grundlagen geschaffen, auf denen alle weitere Arbeit fortgebaut hat; schon das Beharren der wissenschaftlichen Terminologie zeigt, wie stark die hier gebotene Leistung in aller weiteren Bewegung fortwirkt.

Aber wie diese Bewegung beim Ganzen des Lebens über die antike Fassung hinaustrieb, so tut sie es auch beim Erkenntnisstreben; auch hier stellt die Sache sich so dar, daß unabweisbare Ziele gestellt und wesentliche Forderungen im Grundzuge erfüllt worden sind, daß aber die Ziele als zu naheliegend und damit als zu leicht erreichbar gelten, und daß jener berechtigte Grundzug bei der Ausführung in bestreitbare Bahnen gerät. Da wir noch immer stark unter dem Einfluß des Ganzen stehen, so bedarf es hier besonders einer deutlichen Scheidung von Notwendigem und Angreifbarem.

Jene Erkenntnislehre hat gewiß ein gutes Recht, eine dem Menschen überlegene Welt vorauszusetzen und seinem Streben die Richtung auf sie, zugleich aber den Zug ins Feste und Weite zu geben. Aber sie faßt die Welt zu sehr als neben dem Menschen befindlich und ihm von draußen dargeboten, sie faßt in engem Zusammenhang damit sie zugleich als abgeschlossen und vollendet. So hat auch das Erkennen die Welt als fertig hinzunehmen, es kann sich nicht in ihr Werden versetzen und sie aus dem Werden zu verstehen suchen, es kommt in Gefahr, den Gesamteindruck zu willfährig hinzunehmen und sich mit einem Schildern zu begnügen, wo das moderne Denken auf einem Erklären besteht. Auch gibt solche Fassung der Zusammengehörigkeit von Mensch und Welt die problematische Gestalt einer Wesensverwandtschaft, die von vornherein vorhanden sein soll, und die das Erkennen in ein Zusammenkommen zueinandergehöriger Seiten verwandelt. So schön das Wort klingt, daß das Auge sonnenartig sein muß, um die Sonne sehen zu können, der Gedanke ist unrichtig und gefährlich, indem hier beide Seiten zu eng ineinander geschoben, die Welt zu unmittelbar vermenschlicht, die Eigentümlichkeit des menschlichen Seelenlebens nicht genügend gewürdigt wird; so kann diese Fassung nur einem naiveren Lebensstande genügen; daß sie für die Kunst ein gutes Recht behält, gibt ihr nicht ein solches für die Wissenschaft.

Diese Bedenken treffen auch den hier waltenden Begriff der Intuition. So berechtigt, je unabweisbar die Forderung ist, das Erkennen letzthin auf unmittelbar einleuchtende Wahrheiten zu gründen, der Begriff der Intuition erfüllt sie in sehr bestreitbarer Weise. Denn er läßt Sinnliches und Geistiges ineinander verfließen, er faßt die Sache viel zu passiv und verbleibt viel zu sehr bei einem dunklen Gesamteindruck, der nur einer ausgeprägt romantischen Denkart genügen kann. Eine Philosophie des schaffenden Lebens kann eine Unmittelbarkeit der Einsicht nur aus volltätigem Schaffen hervorgehen lassen, nur die Möglichkeit eines Teilgewinnens an solchem volltätigen und ursprünglichen Schaffen, nur Produktion, nicht Intuition, kann dem Menschen das Erstrebte gewähren.

Im Gestalten erkannten auch wir ein durchgehendes Grundphänomen und erachteten seine deutliche Herausarbeitung für einen bleibenden Gewinn. Aber das Gestalten gibt nur eine Seite der Sache; notwendig erweckt es Widerspruch, wenn diese Seite als beherrschend, ja ausschließlich behandelt wird. Der öfter erwähnte Zwiespalt in der Stellung und Behandlung der Form, der dann entsteht, erstreckt sich auch in das Erkenntnisproblem. Entweder ein Hinausgehen über die bloße Form zu einem sie beseelenden Leben, dann aber ein Verzicht auf klare Abgrenzung und auf gleichmäßige Durchbildung des Erkennens, oder eine solche unter strengerer Fassung der Form, dann aber die Gefahr eines Verblassens des Gehalts und eines Verfallens in ein bloßes Formengerüst. Hier wie da gestattet diese Voranstellung der Form nicht die Ausbildung einer selbständigen Innenwelt; das mußte bei wachsendem Verlangen nach einer solchen zu einer unerträglichen Hemmung werden, indem der Mensch an eine Welt bloßer Formentfaltung gebunden blieb, zu einer solchen aber unmöglich ein inneres Verhältnis gewinnen konnte, auch für sein Erkennen nicht zu erlangen vermochte, was seine Seele entbehrte. Alle Beseelung der Natur ließ das All im tieferen Sinne seelenlos.

Weiter konnte nicht unangefochten bleiben, daß die Form hier als schlechthin beharrend, als aller Veränderung entzogen galt; der Fortgang des Lebens selbst zerstörte solches Beharren. Denn nicht nur die Erfahrung an der Natur, auch die Eröffnung großer Gegensätze und schwerer Kämpfe in der menschlichen Seele wie im Ganzen des Menschenlebens widersprechen einem derartigen Beharren der Form und verbieten es auch, das Erkennen bei einem solchen festzulegen. Diese Festlegung hemmte durchgängig eine Geschichte in vollem Sinne, eine Geschichte im All, eine Geschichte im menschlichen Zusammensein, eine Geschichte bei der Seele des Einzelnen. Wohl überzeugten wir uns, daß die Anerkennung einer größeren Beweglichkeit der Formen die Tatsache und die Bedeutung der Formbildung unangetastet läßt; so verbleibt hier auch dem Erkennen eine Aufgabe wichtiger Art, aber sie wird nun Glied eines größeren Zusammenhanges und verändert damit ihren Charakter.

Ähnliche Bedenken treffen die Gleichsetzung von Form und Allgemeinbegriff und die daraus erwachsende Neigung, die Welt als ein Stufenreich allgemeiner Größen zu verstehen. So gewiß das zur Klärung und Ordnung glücklich gewirkt und wesentlich dazu beigetragen hat, das Chaos des Anfangs in einen Kosmos zu verwandeln, die Gefahr einer zu schematischen, einer formelhaften Gestaltung ist dabei nicht zu verkennen. Alle eigentümliche Art des Einzelnen und auch der einzelnen Handlung sinkt damit zu einer Nebensache herab; es kommt nicht genügend zur Geltung, daß das Allgemeine in Sätzen, Gesetzen, Prinzipien usw. nur die Hauptrichtung anzugeben pflegt, während alle nähere Bestimmung an der Individualität des besonderen Falles hängt; dieser bildet daher nicht eine bloße Anwendung, sondern eine Weiterbildung; ebensowenig gelangt hier zur genügenden Geltung, daß der allgemeine Satz selbst für uns noch im Streben und Suchen befindliche Menschen gewöhnlich nur eine Behauptung ist, die weiterer Bestätigung bedarf, daß für eine solche aber die Erfahrung der besonderen Stelle unentbehrlich ist. Nur wenn so Allgemeines und Besonderes zueinander streben und sich gegenseitig fördern, dehnt die Bewegung und Spannung sich über den ganzen Umkreis des Lebens aus, während sie sonst nur den obersten Stellen zukommt, das andere ein bloßer Anhang wird. Hier liegt eine Hauptwurzel einer einseitig hierarchischen Gestaltung der Kultur und einer schematischen Gestaltung des Lebens, eines Sehens und Bewertens der Dinge nach festgewordenen Schablonen und Kategorien, einer Geringachtung der Besonderheit des Einzelfalles, wie sie namentlich einem bureaukratischen Verfahren eigentümlich ist.

Jene Überschätzung des Allgemeinen enthält im Grunde ein Stück Naturalismus, indem dabei die Bedeutung, die der Allgemeinbegriff für das Naturerkennen hat, unbedenklich auf das Geistesleben übertragen wird. In diesem erhält das Allgemeine ein Recht und einen Wert nur, wenn es eine neue Lebensstufe, eine umfassende Einheit, ein Ganzes zum Ausdruck bringt und damit den umfaßten Bereich in einem neuen Lichte sehen läßt. Das Allgemeine muß sich damit zu einem Gemeinsamen steigern. Die Verkennung dessen hat zu mancher Irrung geführt, die auch praktisch nicht unbedenklich war, sie hat im besondern dazu verleitet, die bloße Quantität für die Qualität einzusetzen und die Forderungen zu verdunkeln, welche ein solcher Aufstieg enthält. Wir bilden z. B. den Begriff der Menschheit und behandeln ihn als einen hohen Wert, machen uns aber nicht klar, daß wenn er ein bloßes Herausheben der an allen Einzelpunkten vorhandenen Züge bedeutet, dabei nichts Neues herauskommt, und daß eine verehrungsvolle Behandlung einer solchen Verallgemeinerung sich in keiner Weise rechtfertigt. Zu einer Verehrung bedürfte es doch der Zusammenfassung zu einem lebensvollen Ganzen, das eine gemeinsame Aufgabe stellte, neue Kräfte erschlösse, alles Zugehörige innerlich höbe. Ähnlich ergeht es innerhalb der Staaten. Man spricht von einem gemeinsamen Willen eines Volkes und erachtet ihn mit Recht für etwas Hohes, man glaubt aber diesen gemeinsamen Willen zu erfassen, indem man bloß die Stimmen der Einzelnen zusammenzählt, während auch hier die dem Ganzen innewohnende Einheit mit ihrer Gliederung zum Ausdruck zu bringen wäre. Die Dinge liegen hier nicht so einfach, wie eine flache, oft freilich auch durch Parteiinteressen beherrschte Tagespolitik es darzustellen beliebt.

Was immer in jener Gestaltung an Vorzügen und an Gefahren liegt, das verbindet sich zu dem Streben nach einem geschlossenen System, wie die antiken Denker, am meisten Aristoteles, es zeigen. Es wird damit eine Herrschaft des Denkens über das Dasein begründet und ein bleibender Triumph des Menschengeistes erfochten; was immer später in dieser Richtung geleistet ward, das schließt sich jenem an; eine Systematik bleibt ein unabweisbares Bedürfnis der Forschung, wie denn auch alle Anerkennung einer Entwicklungslehre eine systematische Botanik und eine systematische Zoologie nicht überflüssig machte. Aber die besondere antike Art ist nicht ohne Schranken und Gefahren. Die Starrheit, mit der sie ihre Größen und damit auch ihre Einteilungen gibt, legt ein bloßes Klassifizieren und Rubrizieren nahe und behandelt leicht wie einen Abschluß, was bloß einen Anfang bedeutet; für die Anerkennung von Werdendem, Fließendem und von Übergängen hat diese plastische Gestaltung keinen Raum. Die Gefahr lag nahe, statt einer Ableitung der Mannigfaltigkeit von innen heraus eine bloße Beschreibung zu bieten.

So sind uns die antike Metaphysik und auch die antike Logik in wesentlichen Punkten ferngerückt. Von der Metaphysik wird das kaum bestritten. Den unglücklichen Namen Metaphysik verschulden freilich erst die späteren Kommentatoren; daß das Grundgefüge des Denkens kräftig herausgearbeitet und zu einer »ersten Philosophie« zusammengefügt ward, das bleibt ein großes Verdienst der Denker, das hat die Gedankenarbeit mehr auf sich selbst gestellt und aller Verzweigung des Wissens einen festen Grundstock gegeben, ja das Ganze des Lebens mehr ins Gedankenhafte gehoben. Aber da es vornehmlich ein Wesen des Seins (ô? ?í ? ?í) jenseit aller näherer Beschaffenheit zu ermitteln suchte, so wurde die Metaphysik zur bloßen Ontologie, der nur der künstlerische Hintergrund der alten Welt eine gewisse Belebung gab, die aber in späteren Zeiten, von jenem abgelöst, kalt und seelenlos werden mußte. Wurde nun auch das menschliche Leben diesem Schema unterworfen, so konnte sein Eigentümliches und Großes nur verkümmert zur Geltung gelangen. Zugleich wirkte störend hierher die der antiken Erkenntnisarbeit anhaftende Vermengung von sinnlichen und geistigen Größen. So begreift sich vollauf, daß diese Metaphysik später harten Widerspruch fand; auch heute noch hängt die Abneigung gegen die Metaphysik oft mit diesem Bilde der Metaphysik zusammen.

Auch die Logik läßt sich trotz der Anerkennung Kants, sie habe seit Aristoteles keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen rückwärts gemacht, in der überlieferten Form von uns nicht einfach übernehmen. Nur der Schulform nach mag das möglich sein, dem Geiste nach ist es das nicht. Denn die Weiterbewegung des Denkens hat jene Fassung der Größen durchbrochen, welche die aristotelische Logik beherrscht. Gemäß der Grundanschauung von der Fertigkeit der Welt gelten dort auch die Begriffe als fertige und geschlossene Größen, als Gestaltungen des Seins, deren Eigenschaften aufgesucht werden, und die keinen Widerspruch bei sich dulden. Als solche feste Größen werden sie zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem geschlossenen Bau verbunden, dessen Schichtung der höhere oder geringere Grad der Allgemeinheit bestimmt. So gewiß das notwendige Forderungen enthält, dies Notwendige wird zu eng gefaßt, die Begriffe gelten zu wenig als lebendige, in Fluß befindliche, dabei auf das Ganze angewiesene Elemente, bei denen verschiedene Bewegungen zusammentreffen können, es fehlt eine Würdigung der Übergänge, es fehlt überhaupt eine Würdigung dessen, daß unsere Gedankenwelt sich erst im Werden und Suchen befindet, ferner dieses, daß das Allgemeine einen Inhalt erst zu empfangen hat, nicht selbst den letzten Abschluß bedeutet. Wie diese Logik zu wenig in die Elemente zurückgreift, so gibt sie der Schlußlehre ein einseitiges Übergewicht, das freilich weniger bei dem begründenden Denker als bei seinen Epigonen. Eine volle Würdigung dessen müßte bei aller Anerkennung der Vortrefflichkeit des hier gebotenen Grundschemas Punkt für Punkt eine erhebliche Weiterbildung der aristotelischen Logik fordern.

So aber wird durchgängig vom antiken Erkennen zu urteilen sein: es legt einen festen Grund, es zeichnet deutliche Linien vor, es zeigt notwendige Ziele und gibt ihnen durch eine großartige Leistung eine eindringliche Kraft, alle spätere Bewegung ist ohne jene Leistung nicht zu verstehen, auch Abweichung und Widerspruch erhält erst von hier das rechte Licht. Aber zugleich bleibt in Geltung, daß die hier gebotene Lösung eine zu rasche und knappe ist, die Gegensätze sind noch nicht mit voller Klarheit auseinandergetreten, im besonderen Mensch und Welt sind noch zu unmittelbar ineinander geschoben. Die Bindung des Erkennens an eine fertige Welt macht sich überall einengend geltend und setzt dem Streben durchgängig Schranken, die auf die Dauer sich nicht aufrecht erhalten ließen. Über alles aber, was damit an Mängeln ersichtlich wurde, hebt sich siegreich die Tatsache hinaus, daß hier zuerst ein dem menschlichen Zustand und Belieben überlegenes Gedankenreich festgelegt und in deutlichen Zügen herausgearbeitet ward; so verbleibt das letzte Wort doch der Anerkennung.

3. Das christliche Erkennen

Das Christentum hat keine eigentümliche Erkenntnislehre hervorgebracht, die der antiken gewachsen zur Seite treten könnte; wo es einen systematischen Ausbau erstrebte, da hat es die antike Erkenntnislehre herangezogen, unbekümmert um den weiten Abstand, ja schroffen Kontrast beider Gedankenwelten. Aber die neue Richtung, welche das Christentum dem Leben gab, mußte sich, wenn auch mehr indirekt, auch auf das Erkennen erstrecken und hat in Wahrheit stark dahin gewirkt.

Vor allem verändert sich hier das Ziel des Erkenntnisstrebens. War das Altertum vornehmlich auf das All gerichtet, dem das Menschenleben nur gliedmäßig eingefügt wurde, so werden nun die inneren Erlebnisse der Menschenseele im Verhältnis zur Gottheit, oder vielmehr es wird das Walten der Gottheit in der Menschenseele als der Mittelpunkt alles Geschehens zur alles überragenden Hauptsache; die Welt wird vornehmlich daraufhin angesehen, was sie an göttlichem Wirken bekundet, es wird nicht sowohl ihr eigner Gehalt als Gottes Wirken in ihr aufgesucht. Daß das freilich auch das Bild der Welt in neuem Lichte erscheinen läßt, wird uns gleich zu beschäftigen haben.

Zunächst sei aber dessen gedacht, daß auch die Art der Begründung sich gegen das Altertum völlig verschiebt. Die weltüberlegene Macht ist letzthin unmöglich von der Welt aus erkennbar, nur ihre eigne Mitteilung kann sie uns offenbaren, »über Gott läßt sich nur von Gott lernen« (Athenagoras). Von Seiten des Menschen bedarf es nur eines willfährigen Entgegenkommens, einer vollen Hingebung, bedarf es dessen, was die christliche Welt als Glauben bezeichnet. Mag die nähere Fassung dieses Begriffes oft in die antike Art zurückgesunken und aus dem Glauben nur eine andere Art des Wissens geworden sein, beruhigt hat sich das Christentum nicht dabei, sondern immer wieder hat es einen Kampf dagegen aufgenommen; wollte es doch mit dem Glauben nicht ein bloßes Wissen von göttlichen Dingen, sondern ein neues Leben, die Herstellung einer inneren Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott, und damit schließlich ein Teilgewinnen am göttlichen Leben erreichen. So ruhte bei diesen letzten Fragen alles Wissen auf einem begründenden Lebensakt und hatte aus ihm zu schöpfen. Solcher Wandlung entsprach ein neuer Inhalt der Gedankenwelt. So zunächst beim Bilde des höchsten Wesens selbst. Es werden dabei nicht auf spekulativem Wege ontologische Größen gewonnen, sondern es ist die Erfahrung des Lebens, welche die Begriffe bestimmt und ethische Züge, vor allem Liebe und Gnade, vorantreten läßt; so wird das Leben selbst hier zur Erkenntnisquelle, es ruht hier nicht das Leben auf dem Erkennen, sondern das Erkennen schöpft aus dem Leben. – Weiter entsteht ein neuer Durchblick des seelischen Lebens: wo die Grundbeziehung des Lebens innerhalb der Geistigkeit selber liegt, da erschließen sich neue Erfahrungen einer bei sich selbst befindlichen Innerlichkeit; wo Mensch und Menschheit einen inneren Aufstieg vollziehen sollen, da erhält die geschichtliche Betrachtung einen sicheren Boden; wo die Forderung einer durchgreifenden Wendung der Freiheit ein gutes Recht verleiht, da läßt sich die Unfertigkeit, ja Unzulänglichkeit des nächsten Lebens- und Weltstandes vollauf anerkennen, da gerät auch das Seelenleben mehr in Fluß; was in ihm an Bewegungen und Kämpfen vorgeht, das kann volle Würdigung finden und die Geschichte der Einzelseele zu einem bedeutenden Vorwurf machen; alles das um so mehr, da, was hier geschieht, als der Kern der ganzen Wirklichkeit gilt. Das Gesamtbild wird hier gehaltvoller und bewegter, das Interesse des Erkennens verlegt sich nach einer anderen Richtung.

Die Wandlung erstreckt sich aber über den Einzelnen hinaus, sie stellt auch das gegenseitige Verhältnis sowie das Ganze der Menschheit in ein neues Licht. Das allen gemeinsame Verhältnis zum Urquell des Lebens treibt dahin, jenseit aller Verschiedenheit eine Gleichheit der Menschen aufzusuchen und diese zur Anerkennung zu bringen; ja an der unendlichen Vollkommenheit gemessen, verschwinden alle menschlichen Unterschiede. Das läßt nicht nur eine gemeinsame Aufgabe und ein gemeinsames Geschick erkennen, es erschließt auch die Menschen gegenseitig mehr und läßt sie einander besser verstehen, es gewinnt mit seinen Tatsachen und Erfahrungen auch dem Erkennen ein neues Gebiet.

Was hier vorgeht, berührt die Außenwelt unmittelbar kaum und leistet daher auch ihrem Erkennen wenig, aber an folgenreichen Anregungen fehlt es auch dafür nicht. Wo irgend auf dem Boden des Christentums spekulatives Denken aufkommt, da versteht es die Welt als eine Selbstdarstellung Gottes; das aber kann sie nicht sein, ohne daß bei ihr aller Mannigfaltigkeit eine Einheit vorantritt, ohne daß auch was in ihr an Bewegung vorliegt, als eine zusammenhängende Kette erscheint und von ihr aus verstanden sein will. Damit muß jedes Einzelne eine Bedeutung für das Ganze haben, und das zeitlich Spätere beim Früheren ideell schon gegenwärtig sein. Damit steigt der Gedanke einer alles umfassenden Entwicklung auf; so hat das Christentum die zentrale Stellung dieses Begriffes, der im Griechentum keinen rechten Boden fand, für die Neuzeit vorbereitet. Überhaupt hindert alle Abwendung von dem nächsten Weltstande nicht, daß die Welt von Gott aus betrachtet einen inneren Zusammenhang und zugleich eine große Bedeutung gewinnt. Diesen Einfluß des Gottesgedankens auf das Weltbild zeigt namentlich greifbar die Übergangszeit des 15. und 16. Jahrhunderts, überhaupt aber wäre die moderne Schätzung und Verklärung der Welt kaum möglich gewesen ohne die innere Erhöhung, welche der Weltbegriff in jenem Zusammenhange erfuhr.

So blicken wir hier in ein Gedankenreich, das den Weltanblick unter die höchsten und innerlichsten Begriffe des Geisteslebens stellt und dessen Überlegenheit durchgängig voll zur Geltung zu bringen sucht. Da die weltüberlegene Grundkraft dieses Lebens dem Menschen dabei als unmittelbar gegenwärtig gilt, so zweifelt er nicht daran, an voller Wahrheit teilzuhaben und den tiefsten Sinn des Geschehens zu fassen. Wohl kann er sein Auge nicht vor dem vielen verschließen, was im nächsten Weltbefunde dem hier vorgehaltenen Bilde widerspricht, aber da er seine Grundüberzeugung nicht aus jenem Befunde schöpft, so kann aller Widerspruch ihn nicht beirren, wohl aber nimmt jene Überzeugung den Zug der Tapferkeit, ja Trotzigkeit in sich auf. Der Satz credo quia absurdum ist in dieser schroffen Fassung schwerlich je ausgesprochen worden, im Grundgedanken entspricht er dem seelischen Stande, der hier das Erkennen trägt. Der Widerspruch selbst kann hier, wo die Welt nicht nur als unfertig, sondern als abgefallen gilt, den Glauben in seiner Selbstgewißheit nur noch bestärken, hier wird nicht mit dem Weil, sondern mit dem Obgleich geschlossen.

So sei die Wirkung der christlichen Gedankenwelt auch auf das Erkenntnisstreben nicht zu gering angeschlagen, aber zugleich seien nicht die besonderen Gefahren übersehen, die sich hier für jenes ergeben. Vom Seelenleben des Menschen aus wird hier ein mutiger Vorstoß in neue, ja letzte Welttiefen gewagt, und die reiche Entwicklung des Lebens, die unermeßliche Fülle neuer Inhalte, Aufgaben, Kräfte, welche daraus hervorging, zeigt, daß bei diesem Vorstoß keineswegs bloßmenschliche Wünsche und Träume im Spiele waren. Aber schwere Irrungen lagen hier nahe, sofern die Bewegung des Geisteslebens nicht gegen menschliches Vorstellen und Wünschen mit genügender Schärfe abgegrenzt wurde; eine solche Abgrenzung aber ist keineswegs immer erfolgt, sie ist namentlich nicht im Durchschnitt des Lebens erfolgt; so ist unleugbar an manchen Stellen Bloßmenschliches in die Gestaltung eingeflossen, die Begriffe und auch die Ziele nahmen oft eine zumenschliche Färbung an, es drohte wohl gar die ganze Religion als ein bloßes Mittel für menschliches Glück verstanden zu werden. Auf der Höhe ist dem energisch widerstanden worden, aber diese Höhe hatte keineswegs überall die Führung des Lebens; so konnten Draußenstehende das Ganze als bloßen Subjektivismus und Anthropomorphismus verstehen und verwerfen. Das war ein gröbliches Verkennen des Kernes der Sache, aber ein Verkennen, an dem die andere Seite nicht ohne alle Schuld war. Ein weitere Verwicklung entstand daher, daß die hier erschlossene Gedankenwelt zu wenig um einen Zusammenhang mit dem übrigen Weltbefunde bekümmert war, sie erschien oft plötzlich und unvermittelt und hatte dann Mühe sich denen glaubwürdig zu machen, die aus ihrem Bereich herausgetreten waren und sie daher nicht mehr als selbstverständlich erachten konnten. Die meiste Verwirrung und Befehdung entstand aber daher, daß die religiöse Gedankenwelt Begriffe und Überzeugungen, deren sie selbst bedurfte, unbedenklich in das Gesamtbild der Welt hineintrug, im besondern auch die äußere Natur ihnen unterwarf. Einige Beispiele mögen das erläutern. Der Religion ist unentbehrlich der Begriff des Wunders, sie behauptet nicht nur einzelne Wunder, sondern sie bildet als Ganzes ein Wunder, sofern sie die Naturverkettung abbricht und ein ursprüngliches Einsetzen übernatürlichen Lebens verkündet. Ein Wunder in diesem Sinne leugnen heißt die Religion von Grund aus zerstören. Aber etwas anderes ist es, sinnliche Wunder als Durchbrechungen der Naturordnung zu lehren, also innerhalb der Natur selbst ihren Zusammenhang preiszugeben. Daß die neuere Wissenschaft sich dagegen sträubte, ist ihr wahrlich nicht zu verdenken. Ein anderes Beispiel liefert der Begriff des Schaffens. Er ist der Religion unentbehrlich, indem sie darauf bestehen muß, das göttliche Wirken als schlechthin ursprünglich und in keiner Weise an etwas von ihm Unabhängiges gebunden zu fassen. Aber wenn dieser Begriff zur Welterklärung verwandt wird und innerhalb der Natur ein Verstehen aus ihren eignen Ordnungen hemmt, so ist ein Widerspruch nicht nur begreiflich, sondern er ist vollberechtigt. Wie weit Begriffen wie Schaffen und Wunder auch für das Ganze der Weltanschauung eine Bedeutung zuzuerkennen ist, das stellt dem Erkennen ein wichtiges und schweres Problem, keineswegs aber kann sich die Wissenschaft die summarische Antwort gefallen lassen, womit sich der Kirchenglaube zu begnügen pflegt. Ähnliche Verwicklungen erscheinen nach anderen Richtungen, z. B. bei der Fassung und der Deutung der Geschichte. Auch hier legt die religiöse Denkweise sich leicht wie eine Last auf das Denken und hemmt eine unbefangene Würdigung des Tatbestandes. Es seien also die Welten und Weltdurchblicke nicht zu rasch ineinandergeschoben und die religiöse Erklärung nicht dem ganzen Umkreis aufgedrängt; es ist begreiflich, daß an dieser Stelle die moderne Kultur mit ihrem Verlangen nach Universalität und nach Sachlichkeit mit dem Christentum schroff zusammenstieß, daß dieses ein Zeichen ward, dem unablässig widersprochen wurde.

Aber was immer aus all den Verwicklungen an Zweifel und Verneinung hervorging, das trifft mehr die Ausführung der Hauptbewegung als ihren schaffenden und treibenden Grund. Was aus ihm an selbständiger Innerlichkeit, an moralischem Ernst, an innerer Geschickte des Lebens, an Gewinn der Freiheit entsprungen ist, das ist ein so unentbehrlicher Bestandteil, ja der Kern des Lebens geworden, daß darauf verzichten das Leben tief herabsetzen, ja es innerlich zerstören heißt. Gerät nun aber zugleich die überkommene Gestaltung dieser Welt mit unerläßlichen Forderungen des modernen Lebens in einen schroffen Konflikt, erscheint für den ersten Anblick das schlechterdings Notwendige zugleich als unmöglich, so eröffnet sich für das Erkennen eine Aufgabe bedeutendster, aber auch schwierigster Art; nur eine gründliche Klärung und Scheidung, nur eine mutige Aussonderung alles dessen, was der Verlauf der weltgeschichtlichen Bewegung überholt hat zugleich aber auch eine kräftige Heraushebung des Ewigen und Unentbehrlichen kann die Menschheit von dem unerträglichen Dilemma befreien, daß ihre Arbeit eben das bekämpft, dessen ihr geistiges Fortbestehen notwendig bedarf, daß so die Menschheit eben, indem sie fortzuschreiten glaubt und nach besonderen Richtungen in Wahrheit vordringt, das Ganze ihres Wesens zerstört oder doch zu zerstören sucht.

4. Das Erkenntnisstreben der Neuzeit

Die gewaltige Wandlung des Lebens, welche sich in der Neuzeit vollzog, muß stark auch auf das Erkenntnisproblem wirken. Wir fanden einen völligen Bruch mit dem geschichtlich überkommenen Stande, einen Bruch vor allem mit der christlichen Lebensordnung, indem nunmehr das Streben nicht mehr über die Welt hinaus, sondern mit ganzer Kraft in sie hineinging, und das Bewußtsein menschlicher Schwäche dem einer noch ungenutzten Stärke wich, einen Bruch aber auch mit dem Altertum, indem der Mensch sich nicht mehr wie dort der Weltumgebung eng verbunden fühlte, sondern sich zunächst mit ihr in einem Gegensatz wußte, einem Gegensatz freilich, dessen Überwindung zu einer dringenden Aufgabe wurde. Gemeinsam war aber den überkommenen Ordnungen, daß ein vermeintlich in sich selbst begründetes Gedankenreich an den Menschen kam und willige Einfügung von ihm verlangte, daß die Bewegung von einem überlegenen Ganzen zu den von ihm umfaßten Teilen ging; nun aber hat der Verlauf der Zeit solche Gebundenheit an das Ganze durch ein Wachstum der Innerlichkeit und auch durch manche Zweifel erschüttert, nun stellt der Mensch sich auf sich selbst und will die Bewegung von sich aus beginnen; nun erfolgt eine völlige Umkehrung dahin, daß, was früher als das Sicherste galt, nunmehr zum Probleme wird, und daß als Träger des Lebens verkündet wird, was früher ein bloßer Anhang dünkte. Wir sahen weiter, daß, was sich damit an Zielen erhob, eine erhebliche Steigerung menschlicher Kraft verlangte, galt es doch, sich der Welt zu bemächtigen und das scheinbar Entfremdete und doch Unentbehrliche in eignen Besitz zu verwandeln; in Wahrheit erfolgt ein starkes Anschwellen des Lebensprozesses, und was dabei der Mensch bei sich selbst erfährt, das legt er auch in die Dinge und findet es bei ihnen bestätigt; das Grundphänomen des Lebens wird hier statt der Form die Kraft, das Vermögen zu wirken, sowie in dem Wirken zu wachsen; so wird statt der Formgebung die Kraftsteigerung, der Fortschritt des Lebens bei sich selbst, zum Grundgeschehen und zum allesbeherrschenden Ziele. Als Hauptmittel der Kraftsteigerung aber dient das Erkennen, das Erkennen, sofern es zunächst Mittel und Wege zur Unterwerfung der Außenwelt ersinnt, das Erkennen weiter und in höherem Sinne, indem es die Welt durchleuchtet, sie damit innerlich dem Menschen naherückt, sie geistig zu seiner Heimat macht, das Erkennen endlich im höchsten Sinne, indem das Denken den Menschen selber durchleuchtet und mit der Aufhellung zugleich eine Zusammenfassung und Steigerung seiner vollzieht.

So viel kann das Denken nicht unternehmen, ohne sich innerlich umzuwandeln. Hatte es sich früher mehr aufnehmend verhalten und in der geistigen Anschauung seinen höchsten Gipfel gefunden, so wird es nun weit aktiver und produktiver, es erhebt nun nicht sowohl einen ihm übermittelten Tatbestand nur zu einem höheren Grade der Bewußtheit und vollzieht damit den Abschluß einer Kulturepoche, sondern es übernimmt jetzt die Führung des Lebens, ermittelt neue Bahnen, erweckt neue Kräfte, bildet nicht sowohl die Abend- als die Morgenröte der Kulturepochen. Solches Unternehmen kann nicht gelingen ohne eine innere Abstufung der Arbeit: deutlicher als früher scheiden sich Entwurf und Ausführung, das Denken eilt voran und entwickelt Forderungen, die sich dann mit dem Befunde der Erfahrung auseinanderzusetzen haben, in solcher Auseinandersetzung aber den Umriß weiter und weiterbilden.

Solche größere Selbständigkeit fordert auch ein Überlegenwerden gegen den Menschen, namentlich gegen das bloße Nebeneinander und die Subjektivität der einzelnen Individuen. Das wird erreicht, indem das Denken ein gegenständliches Element in sich aufnimmt, zu einer Gesamtmacht wächst, ein Vermögen zeigt, aus sich selber fortzuschreiten und aus seiner Bewegung Inhalte zu erzeugen. Sein Verfahren löst sich dabei von den bloßen Individuen ab und erweist ihnen gegenüber eine Selbständigkeit, die Methode gewinnt eine früher ungekannte Bedeutung, sie schließt möglichst alles Zufällige der Persönlichkeit aus und möchte mit unbedingter Sicherheit wirken. So auf sich selbst gestellt und mit eignen Forderungen ausgestattet, kann das Denken nicht umhin, von sich aus die Leistungen des Menschen zu prüfen und damit einen Kampf gegen alles Bloßmenschliche an ihm aufzunehmen; den kritischen Zug hat das moderne Denken nicht erst durch Kant empfangen, er liegt schon bei Descartes mit voller Klarheit vor und zieht sich dann durch die Jahrhunderte; wie dabei Kant einen besonderen Abschnitt bedeutet, das wird gleich zu erörtern sein.

Derartige Wandlungen müssen sich tief auch in das innere Gefüge des Denkens erstrecken und gegen den überkommenen Stand verändern. Alles wird beweglicher und flüssiger, elementare Größen wie die Begriffe erscheinen nicht als von vornherein gegeben, sondern sie entstehen erst innerhalb des Erkenntnisprozesses und müssen sich innerhalb seiner erweisen. Was ihre einzelnen Elemente aber zusammenhält und als ein Ganzes wirken läßt, das ist nicht wie in der alten Art die Form, sondern die Kraft; das bringt jene Elemente untereinander in mehr Wechselwirkung und Austausch, das nimmt ihnen die Starrheit bloßer Eigenschaften. Nicht minder legen die Einteilungen die alte Starrheit ab, das Mannigfache wird nicht mehr wie früher in Auszählung und Schilderung nebeneinander gestellt, sondern es wird möglichst aus Einer Wurzel abgeleitet und in ständiger Verbindung mit ihr gehalten. Zugleich hebt sich auch der Begriff des Systems und steigert seine Wirkung. In einer geschlossenen Welt konnte es den Stand einer bloßen Beschreibung kaum überschreiten; kommt aber die Welt in Bewegung und Fluß, geht durch sie ein großer Lebensstrom, so läßt es sich von innen her entwickeln und kann dann den ganzen Umfang mit erhöhender Kraft durchdringen, das Ganze jeder einzelnen Stelle lebendig gegenwärtig halten.

Mit solcher Wandlung hängt aufs engste zusammen, daß das moderne Denken nicht wie das antike von einem gegebenen Ganzen zu den Teilen, sondern von den Teilen als Urelementen zu dem erst erstrebten Ganzen geht, und daß es nicht wie das antike das Niedere vom Höheren als ein dahin Strebendes, aber Zurückgebliebenes betrachtet, sondern daß es das Höhere vom Niedern aus zu verstehen und aus seinem Werden eindringender zu durchleuchten sucht, das zugleich zur Steigerung der Macht des Menschen über die Dinge.

Ein so sehr in seinem Vermögen gehobenes Denken durfte sich guten Muts auch an das Problem des Erkennens in unserem Sinne wagen, es konnte hier das Unternehmen nicht zu vermessen scheinen, zur letzten Tiefe der Dinge vorzudringen und den Menschen sie teilen zu lassen, trat doch hier dem Ganzen der Welt das Denken als ein Ganzes entgegen. Aber zugleich litt es keinen Zweifel, daß das Vermögen des bloßen Menschen solcher Weltaufgabe nicht gewachsen ist, daß es zu ihrer Lösung einer wesentlichen Verstärkung bedarf. Die Lage war schwierig genug, sie zeigte dem ersten Anblick einen scheinbar unlöslichen Widerspruch. Der moderne Mensch hatte sich von der Welt losgerissen und sich ihr entgegengestellt; verblieb trotzdem ein Verlangen, sich die Welt zu eigen zu machen, so fand man sich vor einer schroffen Kluft: wie konnte sich zu dem zurückgewiesenen und entfremdeten Befunde der Dinge wieder ein Zugang finden lassen? Es war das nur möglich mit Hilfe einer Macht, die im Menschen wirksam und auch dem Denken erreichbar, zugleich eine Weltmacht bilde und in das Innere der Dinge führe. Eine solche Größe fand der moderne Mensch in der Vernunft. Denn diese erschien einerseits als in ihm unmittelbar gegenwärtig, ja als sein eigenstes Wesen, andererseits aber als weltbeherrschende und welldurchdringende Macht; so konnte, was sie im Menschen erschloß, ganz wohl auch als über ihn hinaus vorhanden und die Welt beherrschend gelten. Was dem antiken Denker der Kosmos, dem mittelalterlichen die Gottheit war, das wurde dem modernen die Vernunft: ein sicherer Halt und der Weg zur Erhebung in das Reich der Wahrheit. Das Streben, von solcher Grundüberzeugung aus eine allumfassende Gedankenwelt aufzubauen, hat die leitenden Denker zu kühnen Systemen geführt, die sicherlich manchem Angriff offenstehen, ihre Leistung ist aber nur der Gipfel einer Bewegung, welche durch die ganze Kulturwelt geht, einer Bewegung, die ganze Wirklichkeit in ein dem Menschen zugängliches Vernunftreich zu verwandeln. Wie aber die Vernunft vornehmlich an einem selbständig gewordenen Denken hängt, so beherrscht dieses mit seinen Grundformen die Gestaltung der Wirklichkeit. Diese wird jetzt ihrem Hauptbestande nach ein logisches Gefüge, logische Gesetze beherrschen sie und ergeben einen festen Zusammenhang, alles Einzelne untersteht allgemeinen Ordnungen und bildet miteinander eine fortlaufende Kette; mit diesem logischen, der Denkarbeit völlig zugänglichen Gefüge scheint ein dem Menschen zugleich überlegenes und vollauf gegenwärtiges Reich der Wahrheit gewonnen, ein fester Zusammenhang zwischen Mensch und Welt hergestellt. So sind es wieder formale Größen, welche die Wirklichkeit beherrschen und den Schlüssel zu ihrem Verständnis bieten, aber zwischen diesen und denen der antiken Art besteht ein großer Unterschied. Dort war es die künstlerische, hier wird die logische Form der herrschende Weltbegriff; beide führen über die nächste Lage des Menschen hinaus, aber der künstlerischen Art wurde leicht eine Verständigung mit dieser möglich, während die logische alle Einmengung menschlicher Größen und Zwecke streng verbietet; jene vermag mit der sinnlichen Anschauung Hand in Hand zu gehen und Geistiges und Sinnliches einander freundschaftlich zu verbinden, diese widerspricht entschieden einem solchen Zusammengehen und setzt das sinnliche Gebiet zur niederen Stufe einer bloßen Erscheinung herab.

Wie diese Gedankenwelt eigentümlich in ihrer Bejahung, so ist sie es auch in ihrer Verneinung. Hier wird alles aufgegeben, was dem Leben ein Beisichselbstsein verleihen und einen Inhalt geben könnte; es besteht die Neigung, alles was dahin gehört, als ein Erzeugnis des bloßen Menschen von den Gründen der Dinge fernzuhalten; so verfallen auch alle Werte einer solchen Herabsetzung und finden in das Bild des Alls keinen Einlaß, sie scheinen es nur zu verfälschen. Aber wird die Welt bei konsequenter Durchführung dessen nicht völlig kalt und leer, ja kann sie als ein solches logisches Gefüge allein auf sich selber stehen, büßt sie nicht mit dem Verzicht auf alles tragende und durchwaltende Selbst ihre Selbständigkeit ein und droht nicht die Vernunft bei solcher Entseelung ein bloßes Vorgehen am Menschen zu werden, damit aber unter den Einfluß seiner Zufälligkeit und Subjektivität zu geraten. Solche Wendung ward in den modernen Systemen lediglich durch eine versteckte Ergänzung aus gehaltvolleren Gedankenwelten vermieden; so ward in Wahrheit jenes logische Gefüge auf einen tieferen und lebensvolleren Grund aufgetragen. Aber damit stiegen neue Probleme auf, und was dort an Erkennen sich bot, das konnte nickt mehr als die letzte Lösung gelten.

Den leitenden Denkern war die Schwierigkeit, von der menschlichen Vernunft zu einer Weltvernunft und zugleich zu einem Wahrheitbesitz vorzudringen, von Anfang an voll gegenwärtig; sie haben aber ihre Überwindung in zwiefacher Weise gesucht, wobei Kant den Hauptabschnitt bildet. Vor ihm ward nämlich jenes Ziel auf dem Wege zu erreichen gesucht, daß von außen her durch eine überlegene Weltmacht dem Menschen die Gültigkeit seines Denkens versichert wurde: der Glaube an Gott sollte eine feste Zuversicht geben, daß der volle und rechte Gebrauch unserer Kräfte uns zur Wahrheit leiten würde. Nur mit Hilfe des Gottesbegriffes ward so die Vernunft zur Weltmacht, und alle Wahrheit bei uns ruhte auf der Wahrhaftigkeit Gottes. So aber wurde das Ziel nur auf einem Umwege erreicht, und dieser Umweg unterlag manchen Zweifeln. Im besondern drohte der Zirkel, daß eben die Macht, welche die menschliche Vernunft aller Schranke einer Besonderheit entwinden sollte, doch nur mit Hilfe der zunächst noch ungesicherten Vernunft zu erweisen war. Auch machte solcher Umweg diese Systeme – wir denken dabei namentlich an das Leibnizens – bei allem bewunderungswürdigen Scharfsinn und logischen Schwung viel zu verwickelt, um eine Überzeugungskraft zu üben, denn hier wurde Nahes auf Fernes gegründet und die Wahrheit des eignen Lebens an eine schwindelnde Metaphysik geknüpft; so verstehen wir es vollauf, wenn Kant diesen Versuch und alle verwandten als einen Dogmatismus verwarf. Er selbst aber suchte unmittelbar zu erreichen, was seinen Vorgängern nur durch eine künstliche Vermittlung möglich war. Statt nämlich den Menschen mit einer außer ihm befindlichen Welt durch eine mittels der Spekulation erreichte Weltvernunft zu verbinden, eröffnet er eine Welt in der geistigen Natur des Menschen selbst, erweitert er sein Seelenleben zu einer geistigen Struktur und kann ihn damit für fähig erklären, sich selbst eine Welt zu bereiten; diese im eignen Bereich befindliche Welt ist aber allem Zweifel enthoben. Diese von innen aufsteigende Welt wurde von dem großen Denker mit bewunderungswürdiger Energie und mit einzigartiger Sorgfalt ausgebaut, weit reicher und feiner als je zuvor erschien damit das Geistesleben, es fand nicht nur diese oder jene Erweiterung, es gewann eine Tiefe als Ganzes. In der Aufdeckung seines Grundgewebes entstand aber ein neues Verfahren, das transzendentale, und hob sich deutlich von allem empirischen ab; es ergab mit seiner Aufdeckung jener Tiefe einen neuen Anblick der Wirklichkeit. Damit ward für das Wahrheitsproblem ein neuer Weg eröffnet, dessen Hauptrichtung, einmal entdeckt, sich schwerlich je wieder aufgeben läßt.

Weshalb aber diese Leistung mehr den Beginn einer Bewegung als einen Abschluß bedeutet, das hat uns wiederholt beschäftigt, das bekundet auch der unablässige Streit über Kant, der sofort nach ihm beginnt und bis in die Gegenwart reicht. Für diese Stelle unserer Untersuchung kommt namentlich in Betracht, daß der hier verwandte Begriff der Vernunft voller Schwierigkeit ist; er soll überpsychologisch sein, aber zugleich nicht kosmisch, so bleibt er in unsicherer Mitte; der Begriff des »Bewußtseins überhaupt«, den Kant hier einsetzt, bringt keine genügende Klarheit und gibt keine genügende Festigkeit; mag eine Überlegenheit über das bloße Individuum hier gesichert sein, sie bedeutet noch keine Überlegenheit über den menschlichen Bereich, und eine solche ist es doch, die der Mensch beim Erkenntnisstreben fordert, und die von jeher als stärkster Antrieb jenes Strebens gewirkt hat. Das Reich der Wahrheit duldet keine Besonderheit, eine Wahrheit bloß für den Menschen ist keine Wahrheit im vollen Sinne. Nun hat Kant freilich in der praktischen Vernunft diese Schranke durchbrochen und hier eine Einsicht »wenn auch mit schwachen Blicken« in den tiefsten Grund der Welt eröffnet, aber auch hier kann in Zweifel geraten, ob das Überschreiten des menschlichen Kreises vollauf gesichert sei; alle Hochschätzung der Pflichtidee beruhigt darüber nicht; Friedrich der Große hielt die Pflichtidee ebenso hoch und entwickelte daraus doch keine Welt. Gelangen wir überhaupt zu einem vollen Erkennen bei solcher Spaltung der Vernunft?

So wurde denn zunächst zur Hauptsorge und Frage die Überwindung jener Zweiheit und die Herstellung einer Einheit. Aber wir wissen, daß diese Bewegung mit einem vollen Siege des Intellektialismus im hegelschen Systeme geendet hat. Das war im Grunde ein gesteigerter Rationalismus, von dem alten nur dadurch unterschieden, daß er die Wahrheit nicht aus einer Übereinstimmung mit einer vorhandenen Welt, sondern aus der eignen Bewegung des Denkens erreichen wollte; er war großartig in der Kraft des systematischen Denkens und in der Durchdringung der ganzen Welt mit zusammenhaltenden Ideen, aber er war zugleich all den Einwendungen ausgesetzt, die einem völlig souverän auftretenden Denken begegnen. Zugleich entstand hier die Gefahr einer starken Überschätzung des Menschen, indem was bei ihm an Denken vorliegt, als Denken schlechthin, als absolutes Denken behandelt wurde. Dagegen mußte ein Rückschlag kommen, er mußte um so rascher kommen, je deutlicher eben das 19. Jahrhundert die besondere Art und die Gebundenheit des Menschen zum Bewußtsein gebracht hat.

So bezeichnet die hegelsche Lösung keineswegs die charakteristische Stellung der Gegenwart zum Wahrheitsproblem. Ehrlich und offen müssen wir anerkennen, daß unsere Zeit hier keine gemeinsame Lösung bietet, ja ihr Streben keine gemeinsamen Ziele verfolgt; die Individuen helfen sich nach bestem Vermögen schlecht und recht, ein gemeinsames Bekenntnis findet am ehesten Kant, aber er findet es nur, weil er, ähnlich wie auf einem anderen Gebiete Goethe, sich sehr verschieden verstehen läßt, weil daher jeder an ihm eben das hervorkehrt, was der eignen Denkweise entgegenkommt. Als Ganzes angesehen hat die Zeit keine gemeinsame Antwort auf diese Frage, bei aller erstaunlichen Fülle des Wissens besitzt sie kein Erkennen in tieferem Sinne und entbehrt zugleich eines inneren Zusammenhanges mit dem All, sowie der zwingenden und verbindenden Kraft, die von einem solchen Zusammenhange ausgeht. So entsteht eine arge Zersplitterung, und das Streben der Neuzeit, das Leben vom Menschen aus zu entwickeln, gerät damit in eine gefährliche Bahn. Denn nun gewinnt es das Ansehen, als sei es ein Werk des bloßen Menschen und habe nur seinen Zwecken zu dienen. Das aber ergibt unvermeidlich ein rasches Sinken, der Kultur droht damit der Verlust aller inneren Einheit. Unmöglich kann solche Lage sich als endgültig hinnehmen lassen.

5. Die gegenwärtige Lage des Erkenntnisproblems

Solche völlige Ungewißheit muß auf den ersten Anblick höchst niederdrückend wirken: so viel Arbeit der Jahrtausende, so viel erlauchte Geister am Werk, eine solche Fülle bedeutender Leistungen, so viel Auf- und Abstieg des Strebens, und das Endergebnis wie es scheint nur Zweifel und Spaltung, nur ein Zurückschieben des ganzen Problems, dieses Zurückschieben aber in unverkennbarem Zusammenhange mit einer Verflachung des Lebens, mit einer Entmutigung gegenüber den letzten Fragen. War in der Tat alles Erkenntnisstreben vergeblich, hat die Arbeit der Jahrtausende nicht die mindeste Frucht gebracht? Das kann doch wohl nicht der Fall sein, denn wäre das Ganze des Erkenntnisstrebens ein bloßer Wahn, so würden wir das Fehlen eines Erkennens gar nicht als einen Mangel empfinden. Das aber tun wir doch, wir fühlen, daß hinter unserer Arbeit etwas liegen bleibt, auf das wir nicht wohl verzichten können; so erscheint der vorhandene Stand uns als unzulänglich und treibt über sich selbst hinaus. Woher aber dieses Urteil, wenn nicht mehr in uns steckt und auch schon in uns belebt ist und von sich aus Ansprüche stellt? Der Zusammenhang unserer Untersuchung lehrt uns zunächst diese Verwicklung verstehen. Das Geistesleben bei uns geht ebensowenig in die jeweilige Lage der Menschheit auf wie das Streben einer geistig bewegten Persönlichkeit in die laufenden Alltagsgeschäfte; über der zeitgeschichtlichen Betrachtung erhob sich uns eine geistesgeschichtliche und trieb uns, einen Bestand des Geisteslebens in der Menschheit von ihrer Lage und ihrem Zustande zu scheiden. Dieser geistige Bestand mag für unser Bewußtsein weit zurückgetreten sein, ja sich ihm ganz verbergen, er wirkt trotzdem in unserem Streben und unserer Arbeit, er hält dieser Ziele und Maße vor, er ist es, der uns auch ein Urteil über unsere jeweilige Lage und Leistung zu fällen zwingt. Das Unbehagen, die Verstimmung, die Unsicherheit einer Zeit entspringt zum guten Teile aus dem weiten Abstand, ja wohl gar schroffen Gegensatz des geistesgeschichtlichen und des zeitgeschichtlichen Lebensstandes, ihr Auseinandergehen nimmt dem Leben die innere Einheit und versetzt das Streben in arge Unsicherheit. Um einen Weg aus der Verwicklung zu finden, gilt es sich in die geistesgeschichtliche Betrachtung zu versetzen und zu ermitteln, was sie an Bestand hervorgebracht hat, und welche Richtung sie wie dem Leben so auch dem Erkenntnisstreben weist.

Als nächste Tatsache ergab sich uns, daß ein wahrhaftiges Erkennen nur als ein Selbsterkennen möglich ist, daß ein solches Selbsterkennen aber einen Weltcharakter nur gewinnt, soweit volltätiges Schaffen das Leben selbst zu einer Wirklichkeit ausbaut; ein derartiger Bau wurde in den großen Lebenssynthesen vollzogen und damit die Möglichkeit eines Erkennens gewonnen, damit Mensch und All zu einer Einigung geführt. Nur soweit diese Lebenssynthesen reichten, kam ein Erkennen zustande; wo sie sich auflösten oder doch unsicher wurden, da erhob sich sofort der Zweifel, da lockerte sich der Zusammenhang des Menschen mit dem All. Es erschien damit ein Angewiesensein des Erkennens auf das Leben; so wird auch nur eine neue Selbstkonzentration des Lebens, nicht grübelnder Scharfsinn oder kühne Phantasie, die Erkenntnisarbeit wieder in Fluß bringen können.

Nun aber erhebt sich die Frage, was die geschichtliche Bewegung der Erkenntnisarbeit für ihre Aufgaben leistet, was sie dieser zuführt, wovor sie warnt. Die geistesgeschichtliche Betrachtung gestattet, an den Lebenssynthesen Beharrendes und Vergängliches, notwendige Ziele und problematische Wege auseinander zu halten, aus Bejahung und Verneinung zusammen aber bestimmte Richtlinien für die Arbeit der Gegenwart zu gewinnen. Die antike Lösung stellte die Notwendigkeit eines Beharrens heraus und vertrat die Welttatsache der Formbildung, sie verband den Menschen fest mit der Welt und dehnte damit das Erkennen über den Gegenstand aus, sie zeigte die Unentbehrlichkeit unmittelbarer Einsichten jenseit aller Schlußfolgerung. Aber ihr fehlte eine genügende Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, sie betrachtete diese zu sehr als fertig und engte damit auch die menschliche Tätigkeit ein; mehr Scheidung, mehr Bewegung, mehr Freiheit, auch mehr reine Innerlichkeit wird ihr gegenüber zur Forderung, zur Forderung auch für uns selbst. Das Christentum vollzog eine Befreiung von der Welt, machte das Erkennen mehr zu einer freien Lebenstat und erschloß ihm ein Reich der Innerlichkeit, aber es schob menschlichen Stand und geistiges Leben zu unmittelbar ineinander, und es gab einer jenseitigen Betrachtung ein ungebührliches Übergewicht; hier bedarf es einer schärferen Scheidung und einer Einfügung der Gedankenwelt in ein weiteres Leben, um den Wahrheitsgehalt dieser Lösung gegen unausbleibliche Angriffe zu schützen; das stellt Aufgaben auch an uns. Die Neuzeit gab der Bewegung und der Kraftentfaltung ihr volles Recht, sie sucht die Welt aus sich selbst zu erklären, sie hat ihr Gefüge damit dem Menschen weit durchsichtiger gemacht, sie hat, indem sie das Leben unmittelbar auf sein Vermögen stellte, auch dem Erkenntnisstreben mehr Mut und Schwung verliehen und es mehr auf seine Ursprünge zurückgeführt, aber sie vermochte nicht dem Menschen die ihm zuerkannte Stellung genügend zu sichern und ihn der Welt fest zu verbinden, auch vermochte sie der Kraft keinen Inhalt zu geben; so lief ihr Streben nach ungeheurer Anstrengung und nach gewaltigen Leistungen schließlich in Zweifel und Verneinung aus. Aber ihre Eröffnungen und Anregungen verbleiben und wirken zwingend zu uns.

Der Gesamtüberblick stellt zwei Gegensätze heraus, die irgendwelche Ausgleichung finden müssen; einmal den, ob unser Erkennen die Welt in Einem Zuge zu erfassen und zu bewältigen vermag, oder ob es durch die Erfahrung des Lebens über den ersten Stand hinausgetrieben wird und eine Abstufung in sich selbst zu vollziehen hat; jenes glaubten alte und neue Art leisten zu können, dieses ist die Meinung des Christentums; dort die Geschichte vom Kern des Lebens ferngehalten, hier dagegen in ihn versetzt. Alte und neue Art aber bilden den Gegensatz, daß jene die Form, diese die Kraft zum herrschenden Weltbegriff macht und daher das Erkennen in seinen Zielen wie in seinen Wegen grundverschieden gestaltet. Als aller menschlichen Willkür überlegen fordern diese beiden Gegensätze irgendwelche Ausgleichung, einem solchen Verlangen kann sich ein weiteres Erkenntnisstreben nicht entziehen.

Aber die Gesamtbewegung der Geschichte stellt nicht nur Forderungen, sie weist der eignen Arbeit auch gewisse Richtungen an. In allen Lebensordnungen gewann wie das Leben, so auch das Erkennen einen inneren Zusammenhang und ein weiterbildendes Vermögen nur, sofern ein Beisichselbstsein des Lebens in dem Streben wirkte und ihm einen Inhalt gab. So bedurfte das Gestalten der antiken Welt eines inneren Lebens, um nicht zur seelenlosen Form zu sinken; so mußte im Christentum die Innerlichkeit, um nicht aus der Wahrheit heraus in bloße Subjektivität zu verfallen, ein Erzeugnis nicht des bloßen Menschen, sondern eines ihm überlegenen, bei sich selbst befindlichen Lebens sein; so muß auf dem Boden der Neuzeit hinter der Kraft ein in ihr tätiges Leben stehen, wenn wie alles Streben, so auch das Erkennen ein Ganzes bilden, dem Strom der Zeit überlegen bleiben, sich nicht in einzelne Leistungen auflösen soll.

So wirkte ein Beisichselbstsein des Lebens an allen Stellen, aber es wirkte nur vom Hintergrunde aus, nur in versteckter, ja verstohlener Weise; so konnte es unmöglich sein volles Recht erlangen, unmöglich seine Konsequenzen genügend entwickeln. Nun treibt die Verwirrung, die geistige Not unserer Zeit dazu, dieses bisher Zurückgestellte in den Vordergrund zu rufen und es wie das Leben, so auch das Erkennen beherrschen zu lassen. Soll diese Wendung aber nicht eine bloße Formel, ein Aufkleben einer gefälligen Etikette sein, so muß jene Steigerung eine neue Haupttätigkeit mit sich bringen, welche die ganze Ausdehnung zu umfassen und zu durchdringen vermag. Eine solche Haupttätigkeit erschien aber in dem, was wir Wesenbildung nannten, in der Hervorbringung einer Tiefe, eines beharrenden Grundes, welcher alle Mannigfaltigkeit der Betätigung trägt und sich in ihr erlebt; nur das gewährt dem Gedanken des Beisichselbstseins des Lebens eine volle Durchbildung, nur das erzeugt eine die ganze Verzweigung durchdringende Bewegung und gibt jeder besonderen Stelle ein eigentümliches Werk, nur aus einem solchen wesenbildenden Leben können Inhalte entstehen, kann der Mensch, sofern er solche mitzuerleben vermag, zu einem vollen Erkennen gelangen; denn echtes Erkennen ist als Einigung des Lebens schließlich Inhaltserkennen. Wie weit das möglich ist, bleibt eine Frage für sich; es ist zu erwarten, daß die Steigerung der Aufgabe eine Erschwerung mit sich bringt, und daß die Grenzen unseres Vermögens sich enger zusammenziehen. Aber das läßt die Hauptaufgabe unangetastet, es ändert die Richtung des Strebens nicht.

Auch in anderer Hinsicht zeigt die geschichtliche Bewegung dem Erkenntnisstreben einen eigentümlichen Weg. Der Grundgedanke der Neuzeit, daß jenes vom Menschen auszugehen habe, wird, einmal deutlich herausgestellt, sich nicht wieder zurücknehmen lassen, ein Beginnen von einer draußen befindlichen Ordnung, sei es der Welt, sei es einer Überwelt, ist uns zur Unmöglichkeit geworden. Aber wenn das Ausgehen vom Menschen zum Ziele führen, nicht in unlösbare Schwierigkeiten verstricken soll, wie die Neuzeit genugsam erfahren hat, so bedarf es innerhalb des Menschen selbst einer Scheidung und einer Wendung: das schaffende Leben muß als Ganzes in ihm unmittelbar wirksam sein und sich von ihm in eignen Besitz verwandeln, zu eignem Wesen machen lassen, das aber unter gründlicher Umwälzung und dem Gewinn eines neuen Standorts. Nur von diesem Standort aus ist das Erkenntnisproblem aussichtsreich aufzunehmen, nur so ist im Menschen selbst Übermenschliches, Kosmisches zu ergreifen; zur Ausführung dessen hat sich über alles psychologische, an das Dasein gebundene Verfahren ein noologisches herauszuheben und vom Geistesleben aus den Kampf mit der Welt aufzunehmen. Wenn damit Tatwelt und Dasein im Menschen selbst auseinandertreten, so kommt eine zwiefache Ansicht auch für das Erkennen heraus; da ferner die Tatwelt bei uns sich erst im Aufstieg befindet, so wird begreiflich, daß ihre Bewegung in unserem Bereich an verschiedenen Stellen einsetzt und verschiedene Ströme hervorbringt, die schließlich freilich miteinander auszugleichen und zu einem Ganzen zu verbinden sind.

Zum Hauptvorwurf des Erkenntnisstrebens wird damit die Selbstbewegung und Selbsterfahrung des Lebens beim Menschen; nur die hier erfolgten Erschließungen werfen Licht auf die Welt um uns und lassen Verwandtes in ihr entdecken. Es hat aber jenes Streben bestimmte Voraussetzungen, mit denen es steht und fällt: ein den einzelnen Punkten überlegenes Ganzes des Lebens muß wirken, es muß ferner im Wirken sich zu einem Beisichselbstsein entfalten und in diesem allererst eine volle Wirklichkeit schaffen, die Welt zu sich selber führen, es muß endlich als Ganzes zum unmittelbaren Besitz des Menschen werden und damit ihn wesentlich umgestalten. Werden aber diese Voraussetzungen anerkannt, so gewinnt das Leben auch beim Menschen eine reiche und sichere Tatsächlichkeit, so braucht es eine Welt nicht mühsam zu erschließen, sondern so kann es sie aus sich selbst entwickeln, so wird das Erkennen zu einem Selbsterkennen, zu einem Selbsterkennen nicht des bloßen Denkens, sondern des schaffenden Lebens. Dann kann das Erkennen auch dahin wirken, das Leben des Menschen in sich selbst zu befestigen, es der Umgebung überlegen zu machen, es von der Verwicklung künstlicher Gedankenwelten auf einfache Hauptzüge zurückzuführen und durch deren energische Herausarbeitung es bei sich selbst zu verjüngen.

Zu einem solchen Zurückgehen auf die zentralen und fundamentalen Tatsachen drängt mit besonderer Wucht die Lage der Gegenwart. Von der Geschichte wie von fremden Kulturen her dringen mannigfache Weltbilder auf uns ein und treiben uns oft zu weit auseinander gelegenen Zielen. Viel Künstliches fließt dabei ein. Hauptsachen werden von Nebensachen überwuchert. Ewiges und Zeitliches, Notwendiges und Zufälliges mengt sich wirr durcheinander; wir können meist nicht bejahen ohne zugleich zu verneinen, wir verfallen durch solche zwiespältige Lage unvermeidlich einer Unklarheit der Begriffe und einer Halbheit der Gesinnung. Solchem traurigen Stande abzuhelfen vermag nur eine energische Besinnung auf uns selbst, eine Konzentration unserer Kräfte, eine Herausarbeitung des in uns wirksamen Beisichselbstseins des Lebens. Stellen wir damit die Lebenstatsachen voran, so können wir uns völlig sicher fühlen und doch der näheren Durchbildung und mit ihr der Bewegung der Zeit volle Freiheit gewähren. Denn so gewiß auch die Lebenstatsachen zu einer vollbestimmten Fassung streben, sie können in solchem Streben immer weiter fortzuschreiten suchen; Festigkeit im Grunde und Freiheit in der Gestaltung schließen sich bei Tatsachen, die nicht neben, sondern innerhalb des Lebens liegen und hier immer von neuem entstehen, keineswegs aus, sondern sie vermögen aufs beste zusammenzugehen. Suchen wir also fester zu werden und zugleich volle Freiheit zu wahren!

 

So ergeht es unserer Zeit beim Erkenntnisproblem wie bei manchen anderen Fragen. Die geschichtliche Bewegung hat eine kritische Lage herbeigeführt, alte Lebensformen umfangen uns und beherrschen uns noch vielfach, aber sie sind uns unzulänglich geworden, sie lassen manche Forderungen unerfüllt, die wir nicht willkürlich stellen, sondern die uns der Lebensstand zu stellen zwingt. Aber zugleich liegen große Möglichkeiten in der Zeit, an vielfachen Antrieben zur Weiterbildung und an offnen Aussichten fehlt es nicht. Aber bloße Möglichkeiten vermögen für sich nichts, es gilt sie zu ergreifen und in eigne Tat zu verwandeln, ohne Mut und Wagnis ist dabei nicht vorwärts zu kommen. Hoffen wir also, daß unsere Zeit solchen Mut zum Aufstieg finde, sich durch keine Vorurteile davon abhalten lasse, bloßes Epigonentum abzustreifen und ihren eignen Weg zu verfolgen, willig auch die Gefahren auf sich zu nehmen, die ein solches Unternehmen mit sich bringt. Das war schon ein Spruch der Römer, daß eine große Gefahr nicht ohne Gefahr besiegt wird. Die Größe der Gefahr aber läßt sich heute nicht wohl bezweifeln.


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