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Von der Gegenwart gingen wir aus, zur Gegenwart kehren wir zurück, um in Auseinandersetzung mit ihr die Ergebnisse unserer Untersuchung weiterzubilden und der Zukunft notwendige Bahnen zu finden. Aber wir stehen jetzt erheblich anders zu ihr als zu Beginn: vor allem haben wir eine Hauptrichtung des Strebens gewonnen und sie nach verschiedenen Seiten hin verfolgt; wir haben ferner eine Fülle von Erfahrungen sowohl bei den verschiedenen Lebensstufen als aus dem Verlauf der Geschichte gewonnen; nicht mehr stehen wir nun einer verwirrenden Fülle von Eindrücken wehrlos gegenüber, wir haben vielmehr bestimmte Ziel- und Anhaltspunkte gewonnen, wir wissen, wo die Entscheidung liegt, und was es weiter zu leisten nottut. Zugleich erhielt uns auch die Gegenwart einen anderen Sinn, sie ist jetzt nicht mehr ein zufälliger Stand, ein jeweiliger Augenblick, dem rasch ein anderer folgen wird vielleicht völlig abweichender Art, sondern sie bedeutet uns vielmehr den Endpunkt der weltgeschichtlichen Arbeit, das was die Leistungen und die Erfahrungen aller Zeiten in sich faßt und sie verwerten kann. Nur so verstanden ist die Betrachtung von der Gegenwart aus kein bloßer Ausdruck vorübergehender Stimmung, nur so kann sie eine Ermittelung bleibender Wahrheiten, eine Festlegung von Ewigkeitsgehalten werden, nur so eröffnet sich statt eines bloßen kulturgeschichtlichen Durchblicks eine Behandlung der Lebensfragen sub specie aeternitatis.
Wir gingen von der Tatsache aus, daß das menschliche Leben einen inneren Zusammenhang mit dem Ganzen der Wirklichkeit verloren hat, daß es zugleich bei sich selbst in starke Unsicherheit geraten ist und völliger Leere zu verfallen droht; demgegenüber wird zur nächsten Aufgabe, dem übermächtigen Zustrom der Umgebung überlegen zu werden und dem Leben eine Selbständigkeit zu sichern; ein solches Ziel aber stellt bestimmte Forderungen. Selbständig werden kann das Leben nur, wenn es nicht wie ein leeres Gefäß seinen Gehalt von draußen erwartet, sondern wenn es in sich selbst eine Bewegung trägt und einen Gehalt aus sich selbst erzeugt, wenn es aus eignem Vermögen einen Aufbau vollzieht und von diesem aus sich mit seiner Umgebung auseinandersetzt; selbständig werden kann es ferner nur, wenn es nicht an ein außer ihm gelegenes Sein gebunden ist, sondern wenn es das, was es überhaupt als Sein anzuerkennen vermag, aus sich selbst hervorbringt und von sich aus gestaltet, ohne das könnte es nie eine volle Wirklichkeit werden; vollauf selbständig werden könnte es endlich nur, wenn es nicht einen beschränkten Raum umschreibt, sondern wenn es sich zu einer unendlichen Welt erweitert, die nichts von sich ausschließt, nichts unberührt lassen darf. Die Frage ist also, ob die weltgeschichtliche Bewegung die Richtung auf ein solches selbständiges Leben zeigt, und ob Möglichkeiten bestehen, sie in dieser Richtung weiterzuführen.
Unsere Untersuchung zeigte aber weiter ungeheure Widerstände gegen ein solches Selbständigwerden des Lebens, auch ließ sie ersehen, daß diese Widerstände sich im Verlauf der Zeiten steigerten, und daß sie mit gewaltiger Wucht auf der Gegenwart lasten; was stets vorhanden war, was aber sonst mehr im Hintergrunde stand, das ist nun deutlich hervorgebrochen und hat zugleich eine überwältigende Macht gewonnen. Wir müssen uns um so mehr mit jenen Widerständen auseinandersetzen, weil sie keineswegs bloße Hemmungen sind, die sich schlechtweg abweisen lassen, weil sie vielmehr etwas enthalten, dessen das Leben, wie es sich beim Menschen gestaltet, unumgänglich bedarf; der Kampf hat also bei aller Schärfung des Gegensatzes die Aufgabe im Auge zu halten, dem Gegner das Wahrheitselement zu entwinden, das in seiner Behauptung steckt. Es kommt aber der Widerstand gegen das gesuchte Leben von drei Hauptseiten her: von der Natur, der Geschichte, dem Menschen. Wenn die Natur sich heute nicht nur unserem Denken als die Hauptwirklichkeit darstellt, sondern auch unser Handeln und Streben beherrscht, sowohl durch die technische Gestaltung des Lebens als durch die überragende Macht der wirtschaftlichen Selbsterhaltung, so drückt das nicht eine bloße Zeitmeinung aus, sondern es stellt sich als das Endergebnis einer weltgeschichtlichen Bewegung dar. Denn so wenig es in dieser an Rückschlägen fehlte, im Großen und Ganzen ist die Natur uns in ihrem Bilde immer bedeutender, in ihrer Macht immer überlegener geworden, so daß das Unternehmen des Menschen sich einen selbständigen Lebenskreis zu bereiten, immer hoffnungsloser zu werden scheint. Innerhalb der Natur kommt der Mensch gegen die Natur nicht auf, als Naturwesen aber kann er nie ein solches Leben erreichen, wie es hier in Frage steht. Denn wenn jene die ganze Wirklichkeit in ein Gewebe einzelner Punkte verwandelt und die Selbsterhaltung von Punkt zu Punkt zum Hauptantrieb des Lebens macht, so bleibt hier das Leben ganz und gar an seine Umgebung gebunden und wird nach ihren Wirkungen bald hierher bald dorthin gezogen, ohne sich je in ein Ganzes fassen zu können. Nur wenn noch ein anderes Grundgewebe der Wirklichkeit besteht und die Selbsterhaltung einen anderen Sinn gewinnen kann, wäre diesem Netz zu entrinnen, aber gibt es ein solches Grundgewebe und eine solche Selbsterhaltung, und führt unsere Gedankenwelt zu ihnen?
Ein zweiter Widerstand kommt aus dem eigenen Leben des Menschen, aus der Auflösung seines Bereiches in eine bloße Folge der Zeiten mit unaufhörlichem Wechsel und Wandel. Denn das bindet das Leben an die jeweilige Lage der Zeit und nimmt ihm alle Möglichkeit, sich fest auf sich selbst zu stellen. Über diese Wandelbarkeit, die stets vorhanden war, dieses Aufsteigen und Versinken, täuschten wir uns früher hinweg, weil nicht nur unser Blick weit beschränkter war, sondern auch weil wir Gegenwart und Vergangenheit, weil wir überhaupt die einzelnen Zeiten mehr in ein Ganzes zusammenfließen ließen und daher wie die Verschiedenheit so auch die Wandlungen minder bemerkten. So glaubten wir z. B. das anfängliche Christentum unverändert durch alle Zeiten festzuhalten. Indem nunmehr eine geschärfte historische Methode uns das Eigentümliche der verschiedenen Seiten vollauf enthüllte, hat sie zugleich ihre Unterschiede deutlich herausgestellt und damit ersehen lassen, daß auf diesem Boden alles in Wandel und Fluß ist. Das aber nicht bloß in einem Mehr oder Minder, sondern vielfach im Umschlagen zu einem geraden Gegensatz; was heute bewundert und verehrt wird, scheint oft morgen veraltet und verkehrt. Ein solcher Boden bietet keinen Platz für ein Leben, wie wir es suchen; unerläßlich ist dafür eine Erhebung in eine übergeschichtliche Ordnung. Aber läßt sich eine solche vollziehen, und liegt sie in der Richtung, welche unsere Arbeit verfolgt? Und wenn wir glauben das bejahen zu dürfen, was wird uns dann die Zeit mit ihrer Geschichte? Müßten wir ihr nicht ganz zu entfliehen suchen? Aber können wir das ohne schwere Schädigung? Halten wir jene aber fest, wie finden wir ein Verhältnis von Ewigem und Zeitlichem, wie läßt sich dem etwas Bleibendes abgewinnen, was selbst alles Bleibens entbehrt?
Endlich leistet auch das menschliche Dasein als Ganzes der Anerkennung und Ausbildung eines selbständigen Lebens harten Widerstand. Die Erfahrung des weltgeschichtlichen Lebens hat den Menschen immer mehr aus vermeintlichen Zusammenhängen herausgetrieben und auf den eignen Bereich beschränkt, zugleich aber allen Bedingungen und Schranken dieses Bereiches unterworfen. Er glaubte sich früher zunächst einem beseelten Kosmos eng verbunden, dann einer weltbeherrschenden Gottheit, endlich einer weltdurchwaltenden Vernunft; wir haben gesehen, wie alle diese Zusammenhänge sich dem Hauptzuge der Kultur mehr und mehr gelockert haben, und wie solche Lockerung uns jetzt mit voller Klarheit vor Augen steht. Zugleich fesselt der menschliche Kreis durch wachsende Aufgaben und Bewegungen seine Angehörigen stärker an sich als je und macht Anspruch auf ihr ganzes Leben. Das aber stellt uns in ein Getriebe hinein, dessen innere Kleinheit bei aller Leistung nach außen uns nicht entgehen kann, eben die ungehemmte Entfaltung hat jene recht deutlich gemacht: die Bindung des Menschen an seine eignen Interessen nicht nur, sondern auch an seinen eignen Vorstellungskreis, seine Absonderung nicht nur nach außen hin, sondern auch unter- und gegeneinander, das Sichdurchkreuzen der Bestrebungen, das scheinbar unüberwindliche Einfließen von Niederem in Höheres, von Bösem in Gutes, die Scheinhaftigkeit und Unlauterkeit dieses ganzen Bereiches. Daran letzthin das Streben binden, das heißt aller Hoffnung auf innere Selbständigkeit entsagen. So müßten wir irgendwie über den Menschen hinauszukommen suchen, aber wie können wir das, da sich uns scheinbar alle möglichen Wege versperrten? Und darüber läßt mühsam errungene Klarheit uns keinen Zweifel, daß weder eindringendes Grübeln eines abgelösten Denkens noch der Hochflug der Phantasie uns über den menschlichen Bereich hinausführt; soll also nicht alle Möglichkeit einer Befreiung entschwinden, so müßte in diesem selbst eine Scheidung möglich sein, eine Scheidung zwischen dem, was dem Menschen als einem besonderen Wesen zukommt, und dem, was ihn von innen heraus an einer überlegenen Welt teilnehmen läßt. Hat aber ein solcher Gedanke irgendwelche Aussicht auf Verwirklichung? Und führt der von uns eingeschlagene Weg nach dieser Richtung weiter?
Wir vergessen dabei nicht, daß die Geschichte auf ihrer Höhe auch eine unablässige Gegenbewegung gegen die völlige Auslieferung des Lebens an jene Widerstände zeigt, und daß diese Gegenbewegung auch in unsere Zeit hineinreicht; ja es bestätigt sich die alte Erfahrung, daß eben der äußere Sieg oft innere Schranken besonders bemerklich macht. So kann der Naturalismus sich nicht so sehr des Feldes bemächtigen, ohne deutlich empfinden zu lassen, daß sein ganzer Erfolg nur die Mittel und Bedingungen des Lebens betrifft, nicht ihm einen Inhalt bei sich selbst gewährt, daß er Menschen von erstaunlicher Leistung, aber von leerer Seele hervorbringt; je deutlicher wir ferner unsere Gebundenheit an die wechselnden Lagen der Zeit erkennen, desto stärker erhebt sich das Verlangen, von solcher Gebundenheit irgendwie befreit zu werden und unser Leben in eine ewige Ordnung zu stellen; je mehr endlich das bloße Menschentum sich ausbreitet und sein Selbstbewußtsein steigert, je mehr Unerquickliches es hervortreibt, desto überzeugender wird uns, daß wir darin nicht völlig aufgehen können, ohne unserem Leben allen Sinn und Wert zu nehmen. Aber die bloße Empfindung der Schranken hebt nicht schon über sie hinaus; es müßten neue Ausblicke gewonnen werden, neue Tiefen sich eröffnen, neue Kräfte ins Leben treten, um das Nein in ein Ja zu verwandeln. Ist das geschehen, kann das geschehen?
Versucht ist es jedenfalls; sahen wir doch, wie im Streben nach jenem Ziel die weltgeschichtliche Bewegung umfassende Lebensordnungen hervortrieb und aus ihnen eine Welt der Tat hervorgehen ließ. Sie alle führten über den Stand des bloßen Menschen hinaus und stellten ihn in große Zusammenhänge, sie fanden einen neuen Lebensboden und schufen auf ihm ein gegliedertes Lebensreich, eine Wirklichkeit, die selbstgenügsam und allumfassend sein sollte. Wie derartige Bildungen von Haus aus mehr als ein Erzeugnis bloßmenschlichen Meinens und Versuchens waren, so hat jede von ihnen auch etwas erzeugt, was sich fest in den Bestand des Lebens eingrub und eine bleibende Wahrheit enthält, bleibende Kraft von sich ausgehen läßt. Aber schon das erzeugte Zweifel und Unsicherheit, daß dieser Lebensordnungen nicht nur eine, sondern daß ihrer mehrere sind, diese aber untereinander viel zu verschieden, ja einander widersprechend sind, als daß sie sich miteinander festhalten ließen. Vor allem bildete das einen schroffen Gegensatz, daß die Lebensordnung der Formbildung wie die der Kraftentfaltung dem Streben die Richtung auf die Welt gibt und es mit ihrem Reichtum zu erfüllen sucht, während die religiöse der Gesinnungswandlung dem aufs entschiedenste widerspricht und eine neue Welt zu ihrem Hauptstandort macht, einen Gegensatz, der aufs tiefste in die innere Gestaltung des Lebens greift, indem er dort eine unpersönliche, hier eine persönliche Gestaltung des Lebens herbeiführt. Aber auch die beiden immanenten Lebensordnungen stießen in der näheren Durchbildung schroff miteinander zusammen, die Formbildung verlangt Geschlossenheit und Beharren, die Kraftentfaltung Unbegrenztheit und Bewegung; das gestaltet die Hauptwerte hier und dort grundverschieden. Das klare geschichtliche Bewußtsein der Gegenwart empfindet diese Unterschiede mit voller Schärfe und verhindert schlechterdings eine bequeme Vereinbarung zwischen ihnen. Müssen wir aber zugleich jeder einzelnen von ihnen einen unverlierbaren Wahrheitsgehalt zuerkennen, so geraten wir ihnen gegenüber in ein unerträgliches Schwanken zwischen dem Ja und dem Nein, zwischen Zustimmung und Verwerfung; dem ist nur zu entgehen, wenn sich in uns ein Leben, wenigstens der Möglichkeit nach, aufweisen läßt, das einerseits der Spaltung überlegen ist und über den Abschluß bei jenen Ordnungen hinausführt, das andererseits aber den Wahrheitsgehalt einer jeden von ihnen vollauf zu würdigen und ihn in sich aufzunehmen vermag, womit sich zugleich eine Verständigung zwischen ihnen anbahnen ließe. Überlegen könnte es nur sein, wenn es noch ursprünglicher wäre als das von jenen entfaltete, wenn sich demnach zeigen ließe, daß jene Lebensordnungen ein solches Leben für sich selbst voraussetzen und ohne es nicht bestehen können; jenes Auseinandergehen in verschiedene Ordnungen aber wäre vermutlich daraus zu verstehen, daß die Besonderheit der menschlichen Lage es notwendig macht, die alles beherrschende Hauptaufgabe von verschiedenen Seiten her anzugreifen und insofern verschiedene Lebensströme anzuerkennen, denen freilich die Einfügung in das eine überlegene Ganze wohl eine Umdeutung, ja eine Umwandlung bringen müßte. Nur eine Erfüllung dieser verschiedenen Forderungen könnte der herrschenden Verwirrung begegnen und das Leben vor weiterem inneren Zerfall behüten. Von hier aus wäre dann auch zu der Frage zurückzukehren, wie sich das Leben der Verstrickung in Natur, Geschichte, bloßes Menschentum entwinden kann. Prüfen wir nun, ob uns die dargelegte Gedankenwelt in dieser Richtung weiterführt; es kann aber dabei nur die Ermittlung einer Hauptrichtung in Frage kommen, nicht der Aufbau eines Systems. Denn wenn überhaupt die philosophische Betrachtung nur Umrisse zu entwerfen vermag, denen erst das gemeinsame Leben eine volle Ausführung gibt, so sind wir heute auch bei der Gedankenarbeit viel zu sehr im Suchen begriffen, um einen Abschluß wagen zu dürfen; es läßt sich ein Haus nicht krönen, wenn um die Grundlagen noch mühsam zu kämpfen ist.