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Jens hieß er und nicht anders. Der Küster kam an einem Pfingstmorgen zum Pfarrer angelaufen, als sollte er zur Kirche läuten, und erzählte, vor der Thüre zum Kirchenchore läge ein kleines Kind, in einen Kutscherrock von grobem Fries gehüllt. Er wäre so besonnen gewesen, das Kind, während er nach dem Pfarrhause liefe und die Sache meldete, an der Stelle liegen zu lassen.
»Man will sich doch mit so etwas nicht gern Verdruß zuziehen,« bemerkte er, »und das Beste ist, Ew. Hochehrwürden sehen selber nach, wie es zusammenhängt.«
Der Pfarrer ging nun mit zur Kirche hinauf, und da fanden sie das Bündel, aufrecht in eine Ecke der Thüre gestellt, klamm und feucht von dem Nachtthaue und unter Bewachung von des Küsters Hund, der sich vor die Thür gelegt hatte. Als sie die Hülle aus einander schlugen, starrten ihnen zwei große braune Augen entgegen, und das Lächeln eines kleinen Kindes begrüßte sie. Unter dem Rocke guckte ein Stück feines Linnen hervor, an dieses war ein Stück zusammengerolltes Papier geheftet, worauf geschrieben stand: »Er ist noch nicht getauft.« – War es Sünde oder Noth, die das kleine Geschöpf dorthin gelegt hatte? Niemand wußte es, auch später hat niemand es erfahren.
Der Pfarrer ließ das Kind nach seinem Hause bringen und gab es seiner Haushälterin in Obhut, während er den Gottesdienst verrichtete. Darauf wurde es wieder in die Kirche gebracht, um getauft zu werden.
Das Gerücht von dem, was geschehen war, hatte sich mittlerweile im Dorfe verbreitet, die Gemeinde war noch zur Stelle, und der Pfarrer wandte sich an die Zunächststehenden mit der Frage, ob jemand von ihnen der Pathe des Knaben sein wollte.
»Ich will es,« sagte der Dorfhirte, als die andern schwiegen. »Ich bin selber von nichts gekommen, und kenne weder Vater noch Mutter; dann soll ihm aber unser Pfarrer auch meinen Namen geben und ihn Jens nennen.«
So wurde er genannt und nach der Taufe traten die Armenvorsteher zusammen, um Jens dem Mindestfordernden in Pflege zu übergeben. Nach vielem Gerede wurde er einem alten Invaliden für die billige Summe von drei lübeckschen Schillingen die Woche überlassen, und als die Sache entschieden war, schlug der Invalide sein Tuch über die Brust und über den kleinen Jens unter seinen Armen hinüber, und trug ihn zu sich nach Hause, wie man eine Henne trägt.
Bei ihm ward Jens von nun an versorgt und brachte fünf Jahre in seinem Hause zu.
»Wenn du tüchtig in die Höhe schießen und dich gut aufführen willst,« sagte der Invalide, »so sollst du Tambour werden und des Königs Rock tragen dürfen. Das ist das beste, wozu es ein Mensch in dieser Welt bringen kann. Der Tambour geht allen andern voran und macht ihnen Musik, auch steht er in den frommen Jugendschriften. In einer habe ich gelesen, daß, wer Vater und Mutter nicht folgen will, was du, einfältiger Junge, nicht kannst, weil du gar keine hast, der soll dem Kalbfell folgen. Wer weiß, wie großes Glück dir noch trotzdem widerfahren kann. Ich sage es nicht für gewiß, aber vielleicht kannst du es so weit bringen, daß du noch einmal die große Trommel zu schlagen bekommst, die schön angestrichene Pauke mit einem Bilde darauf. Na nun, Junge, was sagst du dazu?«
Unter dieser Hoffnung brachte das Kind, wie gesagt, fünf Jahre zu; da starb der Invalide, und Jens wurde wieder vor die Kirchenthür geführt und abermals zur Pflege ausgeboten. Diesmal boten mehrere auf ihn, er sah gesund und stark aus und schien sich schon nützlich machen zu können. Er fiel endlich einem Mühlenbauer in die Hände, der unten am Bache wohnte. Als die Verhandlungen geschlossen waren, wurde Jens draußen vor den Krug gestellt, während der Mann hineinging und mit seinen Bekannten trank; erst gegen Abend zog er ihn nach Hause, und Jens bekam an diesem Tage nichts zu essen.
»Sie bezahlen nur wenig für dich,« sagte der Mühlenbauer, »deshalb mußt du desto mehr arbeiten; bist du behende und anstellig, sollst du Essen erhalten, bist du faul, setzt es Hiebe, und schlägst du gut ein, kannst du es in dieser Welt noch weit bringen. Dafür will ich sorgen. – Tod Gottes, mein Jüngchen, ein Mühlenbauer ist eben so gut wie ein Zimmermann, und von dem ist in der Bibel die Rede; unser Herr Jesus Christus war der Sohn eines Zimmermannes, wie du wohl von deinem Religionslehrer gehört haben wirst.«
»Ich habe keine Religion gelernt,« versetzte Jens.
Der Mühlenbauer machte Halt, stützte seinen Stock gegen den Boden und schlug aufgebracht mit den Armen durch die Luft. »Was für ein Esel muß dein erster Vater gewesen sein! Sieben Jahr alt und keine Religion im Leibe! – Nimm die Beine in die Hand und komme hierher, dann will ich dich Religion lehren, während wir nach Hause gehen. – Du weißt doch, wer Gott ist? Denke nun gut nach und antworte vernünftig.«
»Nein, ich weiß es nicht,« sagte Jens.
»Was für ein Schurke von Invaliden! Hätte ich ihn nur hier, du kannst glauben, ich würde es ihm anstreichen. Nun höre: Gott ist der, welcher auf dem ersten Blatt im A-B-C-buche sitzt mit einem Krug in der einen Hand und einem Stab in der andern. Jesus ist der, welcher drinnen in der Kirche ohne Kleider an das Kreuz über dem Chore angeschlagen hängt, ihn kennst du ja schon; er ist auch Gott und zugleich Gottes Sohn und obendrein eben so alt wie der Vater, aber er hatte noch einen Vater, das war eben dieser Zimmermann Joseph, von dem ich vorhin sprach. Jesus ist übrigens der Beste von den beiden, das habe ich immer vernommen. Wenn es einem an einem Stück Arbeit oder an dem täglichen Brote fehlt, und man sich nur an ihn wendet und ihm tüchtig zusetzt, kann man fast immer gewiß sein, es zu bekommen. So oft ich den Leuten eine Mühle baue, bitte ich ihn, er möchte so freundlich sein, sie gegen Wind und Wetter zu bewahren; das hilft. Mach du es eben so, es wird dir bei allem, was du thust, nützlich sein. Setze ihm nur zu. Nun ist da noch ein dritter Gott, ihn nennen sie den heiligen Geist, aber er hält sich mehr verborgen und hat auch nicht so viel zu sagen. Es kann ja mit den beiden andern auch genug sein, wenn du nur pünktlich thust, was sie verlangen. Thust du es nicht, so bekommst du Schläge. Dafür kann ich dir stehen. So, nun hast du für heute Abend von der Religion genug gelernt, und jetzt sind wir zu Hause. Klettre die Leiter dort hinauf, krieche in das Stroh und lege dich schlafen, bis ich dich morgen, sobald die Sonne aufgeht, rufe.«
Seit jenem Tage begann für Jens ein Leben voller Noth und Drangsal; die Arbeit, welche der Mühlenbauer von ihm verlangte, überstieg seine Kräfte bei weitem; keine Ruhe, kein Lohn, nur Anforderungen.
»Ich erhalte nur geringe Bezahlung für dich,« wiederholte der Mühlenbauer unaufhörlich. »Du mußt sehen, dir deinen Unterhalt durch fleißigere Arbeit zu verdienen.«
Jens besorgte dem Pfarrer die Postsachen, zog dem Schmied den Blasebalg und strich, wenn ihn der Mühlenbauer nicht in Anspruch nahm, Steine und Torf; die Nahrung war schlecht, die Kleidung nicht besser, es regnete Schläge über den unglücklichen Jungen, wenn er zusammensank oder nicht im Stande war, das auszuführen, was von ihm verlangt wurde. Er fand sich in alles, beugte sich unter die Schläge, schwieg und begann von neuem. Wer sollte ihn wohl beschützen? Gegen wen sollte er sich wohl beklagen?
Eines Abends band der Mühlenbauer ihn in einem Eimer fest, ließ ihn dann in den Brunnen hinab und dort mit den Beinen im Wasser über Nacht sitzen, zur Strafe dafür, daß ihm ein Stemmeisen in den Brunnen gefallen war. Als sie ihn hinaufzogen, kam der alte Hirt, sein Pathe, an der Stelle vorüber. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete den fast bewußtlosen Knaben, der oben am Brunnen ausgestreckt in der Sonne lag, triefend von Wasser, blau vor Kälte.
»Stehe auf,« sagte der Hirt, »und folge mir, jetzt sollst du nicht länger hier bleiben. Ich bin dein Pathe und habe größeres Recht über dich als die anderen. Fragt der Armenvorsteher nach dir, so kann der Mühlenbauer sagen, daß ich dich zu mir nehme und von nun an ernähre und kleide, ohne daß es dem Kirchspiele etwas kosten soll.«
Der Mühlenbauer wollte Jens nicht erlauben, ihn zu verlassen, aber der Hirt war groß und stark, der Knabe umklammerte mit beiden Händen seinen Arm und sah ihn mit einem unbeschreiblich flehenden Blicke an. »Ach, Herr Gott, verlaß mich nicht!« flüsterte er.
So gab denn der Mühlenbauer nach, und sie verließen das Gehöft.
Die Geschichte, welche ich hier erzähle, hat sich oben an der Grenze von Halland zugetragen, in jener wilden und hügelreichen Gegend, die zwischen Fagerhult und Knäröd liegt, wo Felsen, Hügel und munter sich dahinschlängelnde Gewässer mit abgetriebenen Wäldern und mageren, steinigen Haideflächen wechseln, die eine strenge und anhaltende Arbeit nur mit einem geringen und dürftigen Ertrage lohnen. Es sind abgehärtete und fleißige Leute, die in den zerstreut liegenden Häusern wohnen. Die Knechtschaft hat sie gebeugt, die Arbeit sie vor der Zeit alt gemacht, ein düsterer und trauriger Ernst, Kälte und Rauheit prägt sich auf allen Gesichtern in gleicher Weise aus. Mangel, Unglück und der Kampf um das tägliche Brot scheinen alle Herzen versteinert zu haben.
In diesem Rahmen von Haidekraut und Ginster und Sand trifft das Auge auf eine große grüne Ebene, so üppig und reich, daß sie einer andern Gegend und einem milderen Himmel anzugehören scheint. Alte und mächtige Buchen nehmen einen Theil der Ebene ein; in der einen Ecke erhebt sich ein großes, massiv gebautes Gebäude mit zackigen Giebeln und rothen Ziegeln; es ist der Edelhof, zu dem das Dorf und die kleinen Häuser gehören, und hier war Jens von nun an Hirt. Er trieb mit den Schafen über die steinigen Felder, wo einzelne Grashalme zwischen Ginstergestrüpp und Sandhalmen hervorsproßten, und hin über die meilenlangen Sümpfe, wo niedrige und halbverdorrte Birken mit weißem, faserigem Moose bedeckt waren und ein Laubdach über den Moorboden bildeten.
Mitten in dieser Gegend hatte sich der alte Hirt, Jens Hammer war sein Name, eine Hütte von übereinandergehäuften Steinen gebaut, mit Moos und Lehm zusammengeklebt und mit einer niedrigen, rothangestrichenen Thür geschmückt. Aus dem Dache von Haidekraut ragte ein dicker Schornstein empor, von Rauch und Ruß geschwärzt. Die Hütte lag auf einem Hügel, weithin sichtbar; rings um sie her waren nichts als Steine und Sand, von Schnee und Regen gebleicht, nichts als Ginster und Wachholdersträucher, vom Nordostwinde zerzaust und verbogen und an den Spitzen welk. Wüstenei und drückende Einsamkeit überall, kein Haus, kein Zeichen von Leben oder Thätigkeit, so weit das Auge reichte. Wenn die Nachmittagssonne über die Gegend hin schien, verlieh sie dem Bilde einen eigenthümlich wilden und phantastischen Ausdruck, zu welchem die beiden Hirten, in Lumpen und ungegerbte Schaffelle gekleidet und mit langem, ungekämmtem Haare, das bei dem jungen gekräuselt, weich und bläulichschwarz war, wie die Flügel des Raben, vollständig paßten. Als Jens kam, bauten sie die Hütte größer, sie sollte jetzt ja Zweien Platz geben; nach und nach wurde es auch in ihrem Innern zierlicher, und daran war Jens Schuld. Im Lauf des Sommers legte er ein Stückchen Garten an und holte die Erde dazu auf seinem Rücken in einem Korbe unten aus der Ebene. Vor Einbruch des Winters war es ihm auch gelungen, in der einen Wand ein kleines Fenster von grünem Glase anzubringen; das war ein bis dahin unbekannter Luxus. Im Sommer schnitzelten sie Holzlöffel und banden Besen aus Haidekraut, im Winter flochten sie Weidenkörbe oder strickten Strümpfe; dabei erzählte Jens Hammer, und sein Pflegesohn saß und hörte zu.
Der alte Jens war ein kluger und geradsinniger Mann, welcher in dem stillen und einsamen Leben, das sein Loos geworden war, viel aufgefaßt und gedacht hatte. Zerstreuung kann wohl Gedanken schaffen und Samen ausstreuen, aber die Einsamkeit entwickelt ihn und bringt das Samenkorn zur Blüte; die großen Geister besuchen uns nur in der Stille und Dunkelheit.
Eines Abends kam Jens von Engelholm, wo er den Markt besucht und sich eine Jacke gekauft hatte, nach Hause. Er konnte von der fremden Stadt, den vielen Menschen, der geschäftigen Thätigkeit und von den neuen und unbekannten Gegenständen, die er gesehen, nicht genug erzählen. Hammer saß und rührte mit der Feuerzange im Kaminfeuer und hörte schweigend und lächelnd seinem Berichte zu.
»Ja gewiß, man kann in den großen Städten viel sehen und lernen, aber nur wenig Gutes, mein Junge. Da laufen sie umher, alle die Menschen, und toben und lärmen und gönnen einander das bischen Sonnenlicht nicht, was sie bescheint; der eine reibt seine Sünden immer an dem Ärmel des andern ab. Beobachte dort hinter dem Steine die Ameise, sie besorgt das Ihrige, geht ihren eigenen Weg und verrichtet, was ihr obliegt, ohne sich um anderes zu kümmern. Ich halte mehr von dem Lande hier draußen; der Hirtenstand ist gewiß der beste hier in dieser Welt. Sie wußten wohl, was sie thaten, die Alten, von denen die Bibel erzählt; alle waren sie Hirten und hüteten ihre Schafe und Herden.«
»Ich war auch oben in der Kirche,« fuhr Jens fort. »Erst stand ich da und guckte von draußen hinein, aber dann faßte ich Muth und fragte die Frau an der Thüre, ob ich hineingehen dürfte, und sie sagte, es wäre erlaubt. Der Mühlenbauer, bei dem ich früher war, meinte, ich sollte davon bleiben; in die Kirche gehen wäre nichts für einen Geringen, wie ich, damit verlöre ich blos Zeit, und Gott hätte schon mit dem Anhören und Aufschreiben aller Wünsche der Reichen genug zu thun, um noch an mich denken zu können. Damals ging ich jedoch nie an einer Kirche vorüber, ohne einen Augenblick stehen zu bleiben und leise zu beten, Gott-Vater möchte doch so gut sein, mich von den vielen Prügeln zu erlösen. Heute ging ich unverzagt hinein, und Pathe, Pathe, was sah ich! Nein, so eine Pracht habe ich nie erlebt! Es leuchtete und flammte von den angezündeten Wachslichtern, und die Orgel spielte und ein Geistlicher in einem rothen Chorrock, der von Gold und Diamanten flimmerte, stand vor dem Altare, und Leute kamen und gingen und setzten sich nieder, um zu beten.«
»Ja, aber um was beten sie, die Narren! Glaubst du, der allmächtige Gott, der alle die Sterne, die dort oben leuchten und flammen, geschaffen und zu ihnen gesagt hat, du gehst diesen Weg und du jenen, ohne daß ein einziger von ihnen gegen einen andern rennt oder auf unsere Erde herabfällt, glaubst du, daß er erst nöthig hat, durch die Gebete der Leute erinnert zu werden, oder daß er an dem, was einem Menschen einmal beschieden ist, etwas ändern sollte? Der Eine begehrt Sonnenschein zu seinem Geschäfte, der andere verlangt denselben Tag Regen, der eine sehnet sich nach Wind, der andere nach Windstille. Sieh dich um, lieber Junge, und halte die Augen offen! Höre, die Mücke summen, sieh das Zicklein springen, die Eidechse zwischen den Steinen spielen, höre den Frosch im Sumpfe quaken und die Schwalbe zwitschern und die Lerche hoch oben in der blauen Luft jubeln: das ist Jubel und Lobgesang, womit sie ihrem Schöpfer danken. Der Mensch allein, der doch die meisten Güter empfangen zu haben glaubt, hat nicht Zeit zu danken, sondern nur Zeit, um noch um ein wenig mehr zu bitten, um eine kleine Zugabe, oder um etwas anderes als das, was er empfing. – Ich kann die verstehen, welche Gott suchen, um ihm zu danken, aber nicht die, welche kommen, um ihn um noch mehr zu bitten.«
»Ich möchte so gern, daß wir zusammen nach der Kirche gehen könnten; laßt sich das nicht einrichten?«
»Ja, weshalb nicht, besonders jetzt, wo du eine neue Jacke hast.«
Den nächsten Sonntag gingen die beiden Hirten nach der Dorfkirche, Jens in seiner neuen Jacke; Hammer hatte sich ebenfalls geputzt und trug seinen langen Stab in der Hand.
»Dort oben zwischen den andern haben wir beide nichts zu schaffen,« flüsterte der alte Mann, als sie zur Thür hineintraten; »dort sind die Plätze der Reichen, sie bezahlen die Bank, auf der sie sitzen, aber hier unten läßt sich eben so gut weilen.« Er ging einige Schritt weiter zurück nach einem der Pfeiler unter der Orgel; hier legte er zuerst seinen alten breitkrämpigen Hut auf die Steinfliesen, setzte sich dann darauf und stützte beide Hände auf den Stab, während er die Augen schloß und sich mit dem Rücken gegen den Pfeiler lehnte. Jens nahm an seiner Seite Platz. Er faßte die Predigt des Pfarrers nicht vollkommen; der Vorstellungskreis, in dem er sich bewegte, war klein und beschränkt, aber der Choralgesang ergriff ihn; die Stille im Gotteshause, die brennenden Lichter, die Fahnen an den Wänden, die Bilder über dem Altar, das Neue, das Ungewöhnliche rührte den Knaben und zog ihn mit einer so seltsamen Macht an, daß seine Augen zu strahlen begannen.
»Wofür hast du so eben gedankt?« fragte Hammer, als der Gottesdienst zu Ende war.
»Zuerst dafür, daß der liebe Gott so gut war, mich dich finden zu lassen,« erwiderte Jens, und trocknete sich die Augen mit der Hand.
Hammer nickte beifällig, entgegnete jedoch nichts.
»Dann für mein tägliches Brot und meine neue Jacke,« fügte Jens hinzu.
»Du vergaßest die frohe Sommerzeit und den Regen, der das junge Grün hervorsprießen läßt, wenn die Schafe das alte abgeweidet haben, so wie dafür, daß du groß und stark geworden und einen wohlgestalteten Körper empfangen hast. Das verdient wohl, daß du dich dafür bedankst.«
Er wartete noch einen Augenblick, nachdem er sich erhoben hatte, und stand da und zog die Krämpe des alten Hutes wieder gerade, während Jens von neuem zu danken begann; darauf verließen sie die Kirche.
Die Religion gefiel Jens besser als jene, welche ihn der Mühlenbauer gelehrt hatte.
Die Zeit verstrich, Jens und Hammer hüteten nach wie vor Schafe. Der alte Hirt lehrte Jens lesen und schreiben; im Winter erhielt er Erlaubnis, dem Unterrichte der Bauerkinder beizuwohnen. Das Kirchspiel hatte keinen eigenen Lehrer, aber ein Wanderlehrer besuchte einen Hof nach dem andern, sammelte die Kinder um sich, blieb acht Tage an einer Stelle, zog darauf nach einer andern und hielt daselbst Schule. Je älter Jens wurde, desto mehr nahm er an Schönheit zu; in seinen Zügen lag etwas Fremdes, Zutrauen Erweckendes, und in seinen großen traurigen Augen ein sprechender und fesselnder Ausdruck.
Eines Sommertags saß er draußen auf der Haide und band Besen aus Haidekraut. Die Sonne brannte, der Himmel war klar und wolkenfrei, die Schwalben flogen dicht über den Erdboden entlang, die Hitze senkte sich auf alles hernieder. Die Schafe lagen und schnappten zwischen den Steinen nach Luft. Der alte Jens Hammer saß und nickte und schlief mit seiner Arbeit in der Hand. Da tönte Peitschengeknall in der Nähe, ein kleiner Wagen kam den Hohlweg herauf und machte in einiger Entfernung Halt, während ein junges Mädchen in einem hellen Gewande ausstieg. Dasselbe war so kurz, daß sich die Spitzen an ihrem weißen Unterkleide zeigten, als sie leicht und behende von einer kleinen Anhöhe auf die andere sprang, um ihre kleinen Füßchen nicht in den tiefen Sand zu setzen.
Jens ließ den Besen fallen, beugte sich vornüber und starrte sie an; etwas so Anmuthiges, so wunderbar Schönes und Liebliches hatte er nie gesehen, nicht einmal in seinen Träumen. Es war eine Offenbarung aus einer besseren Welt, und ihr Besuch galt ihm, daran war kein Zweifel. Sie kam näher, sie lächelte und schwenkte mit dem weißen Tuche, welches sie in der Hand hielt, grüßend zu ihm herüber. Der alte Jens Hammer war erwacht; er saß seinem Pflegesohne gerade gegenüber mit offenem Munde da und stützte den Oberkörper auf beide Arme.
»Guten Tag, Jens Hammer,« rief sie und streckte ihm eine kleine feine Kinderhand entgegen. »Kennst du mich nicht? Ist es wahr, was die Leute sagen, daß ich mich so sehr verändert habe – zu meinem Vortheile natürlicherweise! – Ich bin ja Klara, oben vom Edelhofe, der du immer Vögel und junge Hasen fingest! Ich bin jetzt aus dem Institut zurückgekehrt und nur hierher gefahren, um dich zu begrüßen. Was sagst du dazu? – Du sollst mir eine von deinen Geschichten erzählen, – verschaffe mir etwas zum Sitzen. Ei, du hast nichts? Geh dann nach dem Wagen und hole mir eine Decke aus demselben. – Wer bist du denn?« fragte sie, als hätte sie Jens erst in diesem Augenblick wahrgenommen. »Ich habe dich früher nicht gesehen. – Du bist so schön und prächtig, vermuthlich ein verkleideter Prinz. Ich kann dich oben beim Papa gebrauchen, wenn wir lebende Bilder stellen sollen. Ich bin dann Maria Antoinette, und du sollst Mozart sein, der uns in Schönbrunn etwas vorspielt. – Streich es dir aus der Stirn zurück,« fuhr sie fort, indem sie sein Haar mit der Spitze ihres Sonnenschirmes berührte. »Ich möchte dich in Ulanenuniform sehen; du müßtest dich herrlich ausnehmen.«
So fuhr sie mit einem Wortstrome fort, der unendlich schien, während Hammer ihre Decken vom Wagen brachte und über das Haidekraut ausbreitete. Sie setzte sich auf sie, öffnete ihren Sonnenschirm, ließ sich betrachten und bewundern, lächelte zu des jungen Hirten starrem, unverwandtem Blicke und streckte ihre kleinen Füßchen so weit auf dem Teppich aus, daß ein Stückchen des weißen Strumpfes über dem Schuhwerk zum Vorschein kam.
»Sieh da, nun sitze ich vortrefflich; erzähle mir nun wie früher eine Geschichte, ein Märchen, etwas, worüber ich lachen muß. Machst du deine Sache gut, so komme ich morgen, komme ich alle Tage wieder, so lange es die Witterung erlaubt. Ich bin mein eigener Herr; Papa hat gesagt, daß mir alle gehorchen sollen; ich will nie mehr nach dem abscheulichen Institut in Stockholm zurück.«
Der alte Jens Hammer räusperte sich, wählte einen besseren Sitz und begann eine Sage zu erzählen, welche sich an die Stelle knüpfte, an der sie sich befanden.
»Auf dem länglichen Hügel dort vor uns kann Fräulein Klara einen großen grauen Stein auf einem Flecke Sand ganz allein dastehen sehen, als fürchteten sich die anderen Steine ihm zu nahe zu kommen. Dort hatte sich die vorige Hirtin der Herrschaft ihre Hütte erbaut. Sie hieß Sippe und war eine junge boshafte Dirne, die wegen des Verdrusses, den sie überall verursachte, wohin sie kommen konnte, weit und breit bekannt war. Eines Tages prügelte sie ein Schaf zu Tode, weil es hinkte und der Herde nicht schnell genug folgen konnte. Da nahm sie es über die Schulter und verbarg es in der Hütte, um es in der Nacht, wenn es niemand sah, zu begraben. Im Laufe des Nachmittags fing es an zu regnen, und es regnete immer stärker, je näher der Abend heranrückte. Sippe stand in der Thür und schaute hinaus; sie wollte fort, um für das getödtete Schaf ein Loch zu graben. Da kam ein altes Weib den Hohlweg heraufgegangen, da, wo Fräulein Klaras Wagen hält; es war ganz eigenthümlich gekleidet und hatte eine Art großer rother Kapuze über den Kopf gezogen. Es ging auf Sippe zu und fragte, ob es bei ihr Obdach bekommen könnte, bis sich der Himmel aufklärte.
»Was gebt Ihr mir dafür?« fragte Sippe.
»Wohin ich in Schweden kam, nahm noch niemand Bezahlung dafür, daß er der Fremden Obdach gab,« sagte die Frau, »aber das kann gleichgiltig sein. Du sollst für deine Beschwerde so viel erhalten, daß du nie mehr einen Schritt zu gehen brauchst, um Schafe zu hüten.«
»Das ist zu wenig,« sagte Sippe.
»Gut! Dann sollst du von heute Abend an nie Mangel an Speise und Trank haben, sondern alles, was du verlangst und worauf du hinzeigst, soll dein sein. Bist du damit zufrieden?«
Sippe machte große Augen. »Beschwöre es,« sagte sie.
Die Alte rief Gott im Himmel zum Zeugen ihres Versprechens an. Nun ließ Sippe sie in die Hütte hereinkommen, machte Feuer im Kamin an und setzte eine Bank davor, auf welcher die Alte sitzen sollte.
»Wer jetzt nur einen guten Trunk Meth oder einen Krug Bier hätte! Danach kann man so gut schlafen,« sagte die alte Frau.
»Bier und Meth läßt sich schon auftreiben, wenn ich nur Geld hätte, um es zu kaufen,« versetzte Sippe.
Die fremde Frau steckte die Hand in ihre Rocktasche, zog einen großen Geldbeutel hervor und nahm einige Schillinge aus ihm. Sippe hörte das Silbergeld klingen und bemerkte, daß der Beutel groß und schwer war. Sie holte einen Krug, warf ein Tuch über den Kopf und ging nach dem Dorfe hinab, um Meth zu kaufen. Unterwegs dachte sie an die fremde Frau und ihr vieles Geld.
»Das könnte ein armes Wurm, wie ich bin, auf lange Zeit glücklich machen; ich könnte auf den Markt gehen und mir eine Schürze kaufen und ein paar neue Schuhe mit Spangen daran, ja, vielleicht reichte es auch noch zu einer neuen blauen Haube. – Die Alte vertrinkt es gewiß doch nur in Meth und Bier.«
»Mir klingt das rechte Ohr,« sagte die fremde Frau in der Hütte; »da ist jemand, der mir etwas Böses anthun will; das muß sie sein, die schlotterige Hirtendirne, denn sie hat falsche Augen. Aber ich werde ihr einen Streich spielen.« – Es dauerte eine gute Weile, ehe Sippe zurückkehrte. Es war weit bis zum Dorfe und Regen und Sturm nahmen mit der Dunkelheit zu. Endlich kam sie leise und schleichend nach der Hütte zurück, setzte draußen die beiden Krüge hin, öffnete vorsichtig die Thür und sah sich um, ehe sie hineinging. Das Feuer im Kamin war ausgegangen, der Lichtspan ebenfalls, aber vom Bette aus hörte sie ein tiefes Athmen, als ob ein Mensch darin läge und schliefe. Sippe wußte nun, was sie wissen wollte. Sie tappte vorwärts, näherte sich dem Bette und stieß das lange Brotmesser dem Schläfer, in dem sie die alte Frau vermuthete, bis an den Griff in die Brust. Als sie es seufzen und jammern hörte, bekam sie Furcht, lief hinaus, verschloß die Thür, machte sich über den Methkrug her und trank so lange, bis sie die Besinnung verlor und da, wo sie saß, einschlief. Es war heller Tag, ehe sie wieder erwachte. Als sie die Augen aufschlug und sich umschaute, stieß sie einen lauten Schrei aus und schlug die Hände zusammen. In der offenen Thür der Hütte stand die fremde Frau, die sie erstochen zu haben meinte und blickte sie an und lächelte ihr zu.
»Du bist wahrlich ein zuverlässiger Bote, um Bier und Meth zu holen,« sagte sie. »Ich saß und wartete und dann kommst du hereingestürzt und stichst dem todten Schafe das Brotmesser in den Leib. Komm und sieh!« Sippe folgte ihr in die Hütte hinein; da lag das todte Schaf, in die Kapuze der Fremden gehüllt, und das Messer steckte noch im Körper desselben.
»Du führtest gewiß nichts Gutes gegen mich im Schilde,« sagte die Alte, »aber mag es darum sein; ich muß dennoch das Versprechen halten, welches ich einmal gab. – Ich sagte, du solltest nie mehr dazu kommen, daß du Hunger oder Durst hättest.« »Ja, und außerdem alles bekommen, worauf ich hinzeigte,« beeilte sich Sippe hinzuzufügen.
»Das ist richtig, alles, worauf du von jetzt an hinzeigst.« Darauf winkte sie Sippe zu sich und ging mit ihr auf den Hügel hinaus. »Ich will auf viele Dinge hinzeigen,« sagte das Hirtenmädchen und sah sich um. »Ihr müßt wissen, daß ich mich nicht mit Wenigem begnüge.«
»Das kann ich mir denken, aber warte einen Augenblick.« Damit zog sie einen kleinen weißen Stab aus ihrer Tasche und legte ihn auf Sippes Schulter. »Fest von unten und fest von oben!« rief sie. »Spürst du nichts?«
»Ja, mir wird so kalt um die Füße,« sagte Sippe. Die Alte lachte und rief: »Fleisch werde zu Stein, werde fest! Spürst du etwas?«
»Ich kann meine Füße nicht weiter setzen,« sagte Sippe. »Was macht Ihr mit mir?« fragte sie weinend.
»Ei, zeige doch auf das, was du haben willst! – Hier sollst du stehen, so lange die Erde steht, zur Warnung für alle, die dem Gaste die Ruhe rauben und mit dem Messer nach ihm stechen, wenn er schläft.« Als die fremde Frau dies gesagt hatte, ging sie den Hügel hinab, Sippe aber blieb stehen und hat sich nie wieder gerührt. In dunklen Nächten können wir es dort oben seufzen und klagen hören, und wenn der Mond über die Gegend scheint, sieht es leibhaftig aus, als ob der graue Stein sich bewegt und fort will, aber dann schlagen wir ein Kreuz und es wird wieder still.«
»Das war eine hübsche Geschichte,« sagte Fräulein Klara. »Nun kommt die Reihe zu erzählen an dich, Junge; du sollst nicht umsonst da sitzen und mich mit deinen großen Augen, die wie Feuerpfeile funkeln, anstarren. Na, weshalb kneifst du sie denn zu? Du wirst ja roth! Kann denn so ein armes Menschenkind auch roth werden? Sieh mich nur an, du darfst es dreist. Nun aber erzähle!«
Jens kannte nur eine Geschichte, die erzählte er. Es war ein Märchen von der bösen Königin; die befahl einem Diener, ihren kleinen Stiefsohn in den Wald zu tragen und dort umzubringen. Der Diener band dem Prinzen seinen goldenen Ring mit einem blauen Steine fest in das Haar und setzte ihn auf der Landstraße aus, wo Leute kamen und ihn aufhoben. Darauf schlachtete der Diener ein Lamm und färbte sein Taschentuch und seine Hände mit dem Blut, damit es aussähe, als hätte er den Befehl der Königin ausgeführt. Als die böse Stiefmutter gestorben, ging der Diener zu der Schwester des Prinzen, fiel auf die Knie und sagte, er könnte nicht Ruhe im Grabe bekommen, ehe er ihr nicht gebeichtet hätte, wie es dem kleinen Prinzen ergangen wäre. Da zog die Prinzessin in die Welt hinaus, um ihren Bruder zu suchen. Er war Hirt bei einem reichen Manne geworden, der behandelte ihn streng und gab ihm nur wenig zu essen. Sie zog durch viele Länder und konnte ihn nicht erfragen; endlich ließ sie öffentlich bekannt machen, wer den goldenen Ring mit dem blauen Steine brächte, der sollte alles bekommen, was er von ihr verlangte. Das wurde in jeder Stadt, in welche sie kam, austrompetet, und dann ließ sie einen scharlachenen Teppich über den Hof und die Treppen hinauf bis zu ihrem Wohnzimmer legen. »Kommt da ein Fremder, der nicht mein Bruder ist,« dachte sie, »so wird er nicht wagen über die scharlachene Decke zu gehen, aber der Rechte wird es wagen.« Da kamen nun viele vornehme Herren zu der Prinzessin herauf, alle hatten sie einen goldenen Ring mit einem blauen Steine vorzuweisen und alle gingen sie über den Hof neben dem Teppich, aber keinen von ihnen wollte sie anerkennen. Eines Tages saß die Prinzessin am Fenster; da sah sie einen halberwachsenen Burschen mit einem alten, niedrigen Hute auf dem Kopfe, mit einem Wamms von Schaffellen und großen Holzschuhen an den Füßen gerade auf das Schloß zuschreiten. Vor dem kostbaren Scharlachteppich blieb er stehen und überlegte einen Augenblick, endlich trat er fest darauf und ging mit seinen schmutzigen Holzschuhen den ganzen Teppich entlang bis oben die Treppen hinauf. »Da geht ein Bursch in einem zerlumpten Wammse; sehe ich recht, so muß das mein Bruder sein. – Hast du einen goldenen Ring mit einem blauen Steine?« fragte sie den Hirtenjungen, als er zu ihr hinauf kam. »Ja, ich habe einen,« erwiderte er. – »So bringe ihn mir.« – »Nein, wenn Sie mir einen Gefallen thun wollen, dann nehmen Sie ihn selbst von der Stelle, wo ich ihn trug, so lange ich ihn habe.«
»Dann lege deinen Kopf in meinen Schoos, ich will dich lausen,« sagte die Prinzessin.
Der Bursch legte sich vor ihr nieder, und die Prinzessin löste den Ring aus seinen Locken. Sie sah nun, daß er der Rechte und der Hirtenjunge ihr Bruder war. Darauf reisten sie nach Hause und lebten herrlich und in Freuden, und der Prinz wurde König im Lande, als sein Vater starb.«
Dies erzählte Jens, und Klara saß da und betrachtete ihn unaufhörlich, während er sprach.
»Du bist gewiß auch so ein verkleidetes Königskind,« sagte sie; »ich habe gehört, daß sie dich auf dem Wege fanden, und daß du weder deinen Vater noch deine Mutter kennst. Ist das wahr?« Jens nickte traurig. »Das ist ja herrlich. Eines Tages kommt gleichfalls die Prinzessin und fragt nach dir. Ich bin die Prinzessin, ich führe dich in die Reiche und Lande des Königs zurück und mache einen großen Herrn aus dir. Steh jetzt auf und trage mich in den Wagen, ich will nicht wieder durch den grausamen Sand waten, aber hülle erst die Decke um mich, daß mein Gewand nicht mit deinen schmutzigen Kleidern in Berührung kommt.«
Jens gehorchte schweigend, schüchtern und erröthend; sie lächelte, blickte ihm in die Augen, wiegte sich in seinen Armen, und ließ sich von ihm in den Wagen tragen.
»Morgen komme ich wieder, nein, nicht morgen, aber vielleicht übermorgen, die Sehnsucht nach mir muß dich erst ein wenig peinigen, und dann mußt du dir auch erst eine neue Geschichte ausdenken, um sie mir zu erzählen.«
Die Pferde trabten, der Wagen verschwand in einer Staubwolke; der junge Hirt blieb stehen, hielt schützend die Hand über die Augen und starrte noch lange, nachdem sie verschwunden war, den Hohlweg hinunter.
Alles, was von Hoffnung und Glück, Träumen und Sehnsucht in Jens lag, erwachte bei dieser Begegnung; aber das Glück hatte keinen Namen, und der Gedanke scheute sich, seine Sehnsucht in Worte zu kleiden. Er stand oben auf dem Hügel und starrte stundenlang in die blaue Luft, in der Richtung nach den dunklen Wäldern, hinter denen der Edelhof lag und wo sie verschwunden war. Sein Ohr fing zuerst den Laut des leichten Wagens auf, der sie zu ihm zurückführte; er erröthete, seine Augen waren wie geblendet, sobald sie kam, das Herz klopfte ihm in der Brust, als ob es zerspringen sollte; es gab für ihn in der Welt keine herrlichere Musik als die, welche in ihrer Stimme lag. Drinnen in der Hütte saß er mit gesenktem Haupte und niederhängenden Armen und vergaß, Besen zu binden.
»Jetzt befürchte ich, daß du auf falschem Wege bist,« sagte der alte Jens Hammer und zuckte mit den Schultern.
»Pathe, Pathe!« rief Jens und streckte ihm beide Arme entgegen, »ich habe ja nichts gesagt, sie wollte ja, ich sollte der Prinz sein und dann wollte sie kommen und mich erlösen.«
»Sie macht sich über dich lustig, die Närrin! Sie braucht dich als Puppe, weil sie gestern und heute keinen bessern hatte. Jetzt vergissest du das Wenige, was ich dir beibrachte, und dankst nicht Gott für das, was du bekamst, sondern verlangst nach dem, was du nicht bekommen kannst.«
»Was habe ich denn bekommen?« rief Jens mit glühenden Wangen und sprang von der Erde empor. »Ich habe dich, du nahmst mich an dein Herz, dafür will ich mein Leben lang danken; aber schau dich um, ein jeder nackte junge Sperling hat einen Vater und eine Mutter: wo sind die meinen? Mich warfen sie in einem Kutscherrock auf die offene Landstraße. Weshalb haben sie sich nie sehen lassen? Ich habe viele Jahre nach ihnen gerufen und auf sie gewartet; ich wollte es mir nicht merken lassen. Jetzt, wo sie hier ist mit Sonnenschein und Wärme, sagst du, ich sei auf falschem Wege. – Es wird hell um mich, ich werde größer, wenn ihre Augen mich anblicken. Ach, schüttle den Kopf nicht; weshalb willst du eine kalte Hand auf das legen, was hier drinnen klopft. Ich werde nie froh, wenn du mir das nimmst, was ich jetzt bekommen habe.«
In diesem Gesprächsgegenstande war er unerschöpflich; der Stumme hatte plötzlich Sprache erhalten, der Stille war beredt geworden; er brachte Jens Hammer zum Schweigen, damit er ihm das Kartenhaus, das er sich gebaut hatte und worin er träumte, nicht umblasen sollte.
Was läßt sich wohl von diesen Träumen erzählen, die sich fort und fort mit denselben Auftritten wiederholten und stets dasselbe Glück schafften? Drei Jahre lang rechnete er die Tage nach den flüchtigen Augenblicken, in denen er sie im Hohlwege auftauchen und wieder verschwinden sah. Klara begann an dieser Zerstreuung Geschmack zu finden; sie besuchte ihn getreulich, hörte ihm zu, redete mit ihm, ließ sich von ihm anbeten, brachte ihn durch ein Achselzucken und ein spöttisches Lächeln zum Beben, und zog ihn, wenn es ihr Spaß machte, wieder durch die weiche Zärtlichkeit, die sie in ihre Stimme zu legen verstand, an sich. Wie der Versucher führte sie ihn auf den Gipfel des Berges und ließ ihn in dem einen Augenblicke die Herrlichkeit der ganzen Welt überschauen, um ihn in dem nächsten in den Abgrund hinabzustürzen. Es war ein Schauspiel, reich an den verschiedensten Auftritten und doch ohne sichtliche Handlung für alle Andern als für die Zwei, die Rollen in demselben hatten.
Einmal kam es ihr in den Sinn, seine Lehrerin zu werden. »Ich werde es nicht überdrüssig bekommen,« versicherte sie; »alles, was ich beschlossen habe, führe ich durch; ich habe eine ungeheure Energie, einen wahrhaft eisernen Willen. Ich will dich, du armer Wilder, alles lehren, was ich weiß und was du nicht weißt; bist du nun zufrieden?«
Jens schaute nach Hammer hinüber; es fehlte ihm an Worten, sein Glück auszudrücken. Klara hielt auch in Folge ihres eisernen Willens treulich ganze vier Stunden aus. Dann wurde die Sache aufgegeben.
Im nächsten Winter ging Jens zu dem alten Pfarrer, der ihn nie aus den Augen verloren hatte und viel von ihm hielt. »Lehren Sie mich etwas,« sagte der junge Hirt, »ich habe Zeit, jetzt in den langen Winterabenden zu arbeiten.«
»Was willst du lernen, mein Sohn?«
Jens wagte nicht recht, mit dem, woran er dachte, hervorzukommen. Er stand und drehte seinen Hut und räusperte sich. »Am liebsten möchte ich Mozart lernen,« erwiderte er endlich, »ist dies aber nicht möglich, dann lehren Sie mich, was Sie selbst wollen.«
Er las, schrieb und rechnete, arbeitete und lächelte zufrieden, wenn der alte Jens ihn lobte. »Das reicht noch nicht hin, Pathe,« sagte er und schüttelte den Kopf. »Es gehört mehr dazu, wenn daraus etwas werden soll. Ich habe einen weiten Weg vor mir, aber auch ein Ziel, und ich ermüde nicht.«
Klara ließ ihn oft nach dem Edelhofe hinaufkommen, um seine Dienste zu benutzen; sie nahm ihn mit in das Treibhaus und zeigte ihm, wie er Blumen pflegen sollte; er holte für sie Putzsachen aus der Stadt; er besorgte heimlich eine Menge kleiner Billete, Gott weiß an wen. Sie brauchte nur zu verlangen, so verschwand er, lief, flog von dannen und brachte zurück, was sie wünschte. Es war die Ergebenheit eines Hundes, die nie müde ward, der Eifer eines Sklaven, der jedem Wink gehorchte, ohne sich darum zu kümmern, den Grund zu erfahren.
»Du mußt dich an meinen Dienst gewöhnen,« sagte sie; »wenn ich mein eigenes Schloß erhalte, sollst du Lakai, nein pfui, Haushofmeister werden, mir an den Augen ablesen, was ich wünsche, während ich in meinem großen Saale sitze, umringt von meinen weißgekleideten Zofen, die sticken und Harfe spielen und mir Heldenlieder vorsingen. Das kann herrlich werden!
In diesem Bilde war etwas, das ihm mißfiel, meist auf Grund des Platzes, den er selbst darin erhielt; er wurde den übrigen Theil des Tages still und traurig, schwieg jedoch und verrichtete seine Arbeit. Er glaubte alles, was sie sagte; er gab sich selbst, wie er war; wie hätte er nun diese erkünstelte Kindlichkeit, dieses heuchlerische und aufreizende Spiel verstehen sollen, das ihm in einer Sprache, die Musik war, und mit bezaubernder Anmuth in Ausdruck und Bewegungen entgegentrat. Die Erinnerung hieran war die Poesie seiner Einsamkeit, die Nahrung seines Herzens, der Stoff seiner Gedanken.
Drei Jahre hatte dieser Traum gewährt, als Jens an einem Sommertage, während er auf dem Hügel stand und Klaras Wagen erwartete, einen Diener aus dem Hohlwege heraufreiten und ihm zuwinken sah.
»Du sollst sogleich bei dem Fräulein auf dem Hofe erscheinen,« sagte er. »Sie schickt mich in dieser verwünschten Hitze zu Pferde nach dir aus. – Hast du den Befehl verstanden? – Komm her und schnalle mir den Sattelgurt fester. – Was war denn das andere? Ich sollte dir doch noch etwas sagen. Der Teufel selbst kann nicht alle die Aufträge behalten, mit denen sie uns fortjagt. – Ja so, das ist ja wahr! Ich sollte dich grüßen und dir sagen, du müßtest deine besten Kleider anziehen. Nimm nun die Beine in die Hand, Jens Vaterlos!«
Nach diesem Bescheid begann der Diener zu pfeifen und ritt wieder nach dem Edelhofe. Jens eilte in die Hütte; als er wieder zum Vorschein kam, trug er seinen besten Staat, eine grüne, kurze Jacke, mit zwei Reihen versilberter Knöpfe besetzt, und eine hochrothe Weste, ebenfalls mit zwei Reihen versilberter Knöpfe und so lang, daß ihr weißes Futter auf dem Rücken gut eine Hand breit unter der Jacke hervorguckte. Der Hemdenkragen war über ein blaues Halstuch zurückgeschlagen. Außerdem trug er ein Paar gelbe Lederhosen, die unter den Knieen über lange Strümpfe von blauer Wolle zusammengebunden waren, und große eisenbeschlagene Schuhe mit dicken Sohlen, deren Spitzen wegen der langen Dürre und des seltenen Gebrauches in die Höhe standen. Er sah etwas unglücklich in diesem Staate aus, Antinous in einer Narrentracht, aber das begriff er nicht; seine blauen Augen strahlten, während er den sich nach dem Edelhofe hinschlängelnden Fußpfad hinaufeilte.
Die Sonne brannte, die Eidechsen liefen über den gelben Sand und verschwanden unter den Steinen im Graben, die Lerche sang, ein gewürzreicher Duft drang aus dem Walde hervor, wo ein Kohlenmeiler einen feinen und bläulichen Rauch in die Höhe sandte.
»Was mag ich nur heute thun sollen?« dachte Jens, – »wieder Briefe nach dem benachbarten Edelhofe bringen? Das habe ich nun im letzten Monat jeden Morgen gethan. Dort wohnt ihr Vetter, er ist glücklich, reich, mächtig, angesehen, hat Vater und Mutter, er kann auch hinüberreiten und sie sehen, so oft er will; aber er ist mager, hinfällig und gelb, wie ein welkes Blatt; ich möchte doch nicht mit ihm tauschen, ich habe meine frohen Lieder, meine starken Arme. – Gott sei gelobet und gepriesen!« rief er in einem Gefühle plötzlichen Entzückens, »viel haben sie mir genommen, und nur gering wurde mein Loos, aber zur Vergeltung ward mir ein Glück zu Theil, so groß, daß es alles andere aufwiegt. Sie ist mir mehr als Vater und Mutter, sie ist aus Güte zu mir gekommen, das merke ich wohl, denn so oft ich recht innig an sie denke, falten sich meine Hände von selbst und ich fühle Lust zu beten.«
Das waren seine Gedanken, während er eiligen Schrittes durch den Wald nach dem Edelhofe wanderte.
Ein Fest war heute dort oben. Im Hofe standen Schaaren von Kutschern und Lakaien und musterten die verschiedenen Wagen der Herrschaften; oben aus den Zimmern tönte Lachen und Geplauder; im Speisesaale klirrten Gläser und Silberzeug, während die Mittagstafel abgedeckt wurde. Auf dem offenen Altane weilte ein Kreis junger weißgekleideter Damen, hingestreckt in ihre Schaukelstühle. Jens blieb, als er zur Pforte hereinkam, einen Augenblick stehen und sah dies alles an. Darauf schlich er die Mauer entlang, an dem Hauptgebäude vorüber.
»Wo ist das Fräulein?« fragte er einen Diener, der dastand und einem Kameraden seine Bemerkungen über ihn mittheilte.
»Was geht das dich an, Hungerleider?«
»Sie hat nach mir gesandt,« erwiderte Jens sanftmüthig.
»Dann ist sie oben im Saale oder draußen auf dem Altane, wenn sie nicht in den Wald gegangen ist; es könnte auch sein, daß sie im Garten sitzt und Kaffee trinkt.«
»Das Fräulein ist unten bei den Treibhäusern,« sagte eine andere mitleidige Seele, und Jens ging in den Garten.
Dort fand er Klara, gekleidet in eine Wolke von Flor und Spitzen, sich an den Arm eines Herrn lehnend, über den sie ihre beiden Händchen gefaltet hatte. Sie schaute ihm in die Augen und neigte ihren Kopf gegen seine Schulter. Jens kam näher, ohne daß sie ihn bemerkten.
»Ja gewiß,« sagte Klara mit dieser weichen und frühlingsfrischen Stimme, die immer einen Wiederhall in dem Herzen des Hirten gefunden hatte, »ich habe eine große Sünde auf dem Gewissen, aber wenn ich sie dir jetzt ehrlich beichte, so wird sie dadurch geringer. – Er interessirte mich wirklich bis zu einem gewissen Grade, er lebte davon, mich zu sehen und zu hören, ich war seine Religion, sein Gott, und hier zu Hause ging ich herum und langweilte mich. Was sollte ich beginnen? Es war immer eins und dasselbe, das konnte ich nicht aushalten. – Erinnerst du dich noch, du hast selbst gesagt, daß eine Natur, wie die meinige, sich nach Zerstreuung sehnte und reichlicher Nahrung bedürfte, du hast es wenigstens in einem deiner Briefe geschrieben; so nahm ich denn vorlieb und belustigte mich mit ihm, so gut ich konnte. Du lächelst, du schweigst, ist denn wohl eigentlich etwas Böses darin?« fügte sie mit einem strahlenden Blick auf das bleiche, runzlige Gesicht, das sie betrachtete, hinzu. – »Aber sieh, da haben wir ihn ja, du bist also nicht böse? – sage nein, sage sogleich nein! Hörst du!«
Der Herr griff nach seinem Augenglase, indem er sich halb nach Jens umwandte, und betrachtete ihn mit einer unbeschreiblichen Geringschätzung. »Böse!« wiederholte er und zuckte die Achsel, »das soll heißen eifersüchtig, und auf das Ding da, nein, meine Liebe, das bin ich in Wahrheit nicht, dazu gibt er keine Veranlassung.«
»Jens, komm hierher!« rief sie, »mache schnell, ich habe dir eine Neuigkeit zu erzählen.«
Jens hatte alles gesehen und gehört, kein Wort von dem Gespräche war ihm entgangen; er stand an einen alten Apfelbaum gelehnt, gegen den Stamm zurückgesunken. Er war sehr bleich, seine Augen blickten starr und ausdruckslos vor sich hin, während er seine farblosen Lippen mit der Zunge netzte.
»Aber so komm doch,« fuhr Klara fort und ging ihm einen Schritt näher, »ich habe mich heute mit diesem Herrn, meinem Vetter, dem Hofjägermeister Fersen zu Billesborg verlobt; er war es, zu dem du alle meine Briefe brachtest.«
Sie lächelte, der Hofjägermeister starrte ihn mit unverhehlter Geringschätzung an, während er sich eine frische Cigarre anzündete. Jens schauderte, griff mit beiden Händen mehrmals hoch in die Luft und brach darauf plötzlich in ein wildes, gellendes Gelächter aus. Es lassen sich unmöglich alle Gefühle beschreiben, die sich in demselben aussprachen. Es klang der Aufschrei eines verwundeten Thieres hindurch, in dem sich Klage, Schmerz und Leiden verriethen; darauf gingen die krampfhaften anhaltenden Töne desselben in ein Gekreisch über, das die ganze Bewußtlosigkeit des Wahnsinns ausdrückte, welcher sich in seinem verzerrten Gesichte und den glasigen, verschleierten Augen ausprägte. Er tappte mit beiden Händen in der Luft umher, schwankte einen Augenblick hin und her und sank darauf stumm und lautlos wie von einem Keulenschlage getroffen vor den Füßen der jungen Dame nieder.
Klara nahm ihr Kleid zusammen, vermied vorsichtig mit dem Gefallenen in Berührung zu kommen und lief nach dem Treibhause, um Hilfe herbeizuholen.
Jens wurde aus dem Garten getragen; er sah sich um, stumm und ausdruckslos, als hätte er jede Erinnerung an den vorgefallenen Auftritt verloren; ein wenig später brach er wieder in ein anhaltendes Gelächter aus, welches sich wiederholte, als sie ihn in einen Erntewagen auf ein Bund Stroh legten und ihn nach Jens Hammers Hütte zurückfuhren.
»Was habt ihr mit meinem Jungen gemacht?« fragte der alte Hirt, als er einige Tage danach auf den Edelhof kam. »Ihr habt ihm ja den Verstand geraubt. Er sitzt draußen wie ein kleines Kind und wühlt mit einem Stocke in den Sand, spricht selten und gibt auf nichts Acht. Ab und zu faßt er mit beiden Händen an den Kopf, als thäte es ihm darin wehe, und dann bricht er in ein Gelächter aus, das mir die Thränen in die Augen treibt.«
Niemand sagte Jens Hammer, was geschehen war; er ging in sein Grab, ohne es zu erfahren. Jens besserte sich nach und nach so weit, daß er an des Alten Stelle Hirte wurde. Er ließ die Hütte oben auf dem Hügel verfallen und baute sich eine andere auf der finstersten und unwegsamsten Stelle im Walde. Wie der verwundete Hirsch suchte er Verborgenheit und Einsamkeit, um zu sterben. Hier konnte man ihn zwischen den Sträuchern sitzend finden, wie er mit bloßem Kopfe, verwirrtem Haare, eingefallenen Wangen, in einem zerrissenen Wammse von Schaffellen starr vor sich in die Luft blickte. Wenn er sich unbemerkt glaubte, hörte man, wie er sich selbst etwas von der Braut in dem Märchen von dem Prinzen vorerzählte, immer dasselbe. Das Fest auf dem Edelhofe hatte seine geistigen Fähigkeiten für immer gelähmt; er war nicht mehr im Stande, zwei Gedanken aneinander zu reihen. Alles, was er sagte, endete mit einem durchdringenden Gelächter, bei dem sich sein Gesicht zu einem leidenden Ausdrucke verzerrte; darauf bedeckte er seine Augen mit beiden Händen und blieb eine Weile mit gegen die Knie gebeugtem Kopfe sitzen. Ein großer, langhaariger Hund folgte ihm, wohin er ging, Schritt für Schritt. Wenn Jens, von Brombeersträuchen halb versteckt, im Dickicht lag, setzte er sich vor ihn hin und heftete seine großen, hellen Augen mit einem ergebenen und forschenden Ausdrucke auf ihn; vielleicht suchte er während dieses stundenlangen, ununterbrochenen Schweigens sich eine Vorstellung von dem Unglücke zu bilden, welches auf Jens lastete. Wenn dieser in Gelächter ausbrach, schlich er sich näher an ihn heran und sah sich nach allen Seiten um, als wollte er Hilfe herbeirufen. In weiter Ferne klang dieses Gelächter über die Gegend fort und hallte im Walde wieder. Wer es zum ersten Male hörte, blieb stehen, lauschte oder ergriff die Flucht, in dem Wahne, daß es der Schrei eines wilden Thieres wäre, das auf Raub ausging.
Eines Tages kam ein herrschaftlicher Wagen auf den Pfarrhof gefahren. Der Diener öffnete den Kutschenschlag und half einem älteren Herrn, dessen Füße in Pelzstiefel eingehüllt waren, mit großer Behutsamkeit heraus. Er bewegte sich mit Mütze einige Schritte nach der Thüre hin, wo der Pfarrer stand und ihn begrüßte.
»Ich wünsche mit Ihnen unter vier Augen zu reden,« sagte der Unbekannte und nickte, ohne die Reisemütze abzunehmen. – »Etwas vorsichtig, etwas vorsichtig!« fuhr er fort, indem sie über die Thürschwelle schritten. »Ich leide am Podagra und kann schnelle Bewegungen nicht vertragen.« Er nahm in dem Lehnstuhle Platz, sah sich um und fragte darauf den Pfarrer, was er von dem fremden Knaben wüßte, der an einem Pfingstmorgen vor der Kirchenthür gelegen hätte.
Der alte Pfarrer war todt, der neue wußte nicht viel von der Sache zu erzählen.
»Sie müssen sich Mühe geben, mir genügenden Bescheid zu verschaffen,« sagte der Herr, »vielleicht nehme ich das Findelkind mit mir. In diesem Falle soll sein und Ihr Glück gemacht sein.«
Der Pfarrer holte das Kirchenbuch und fand nach langem Suchen die Stelle, wo die Taufe des Kindes, dessen Namen und Pathe eingetragen war. Das war alles, was er mittheilen konnte. Allein der alte Küster lebte noch; es wurde nach ihm gesandt, und er konnte sich noch mehrerer Einzelheiten erinnern. Der Kutscherrock, in welchen das Kind eingehüllt gewesen, wurde ebenfalls zur Stelle gebracht. Mittlerweile saß der fremde Herr da und faßte abwechselnd nach den kranken Beinen, nickte zufrieden und rieb sich die mageren Finger, die mit großen und kostbaren Ringen bedeckt waren. Gleich darauf fuhr er mit dem Pfarrer nach der Haide hinaus, wo Jens Schafe hütete. Der Hund bellte, Jens sah in die Höhe; er saß wie gewöhnlich da und schrieb mit einem Stabe in den Sand. Es war an dem Tage heiß, er hatte seinen Schafpelz aufgeknöpft, so daß seine nackte Brust sichtbar war. Der Fremde blieb stehen und betrachtete ihn lange in tiefem Schweigen. Jens fuhr fort zu schreiben, seine Lippen bewegten sich, er flüsterte. Plötzlich erhob er den Kopf, strich das Haar zur Seite und sah den Fremden starr und forschend an.
»Das ist ihr Auge,« flüsterte der Herr, »ihre Stirn und ihr Lächeln.«
»Wessen Auge meinen Ihre Hochwohlgeboren?«
Der Fremde maß den Pfarrer vornehm und zurückweisend. – »Ihre, des scheußlichen Ungeheuers, das mich betrog,« erwiderte er endlich. »Die Sache hat ihre Richtigkeit, selbst die Warze dort am Halse. Man kann sich unmöglich irren.«
»Ich habe auch einen schlimmen Fuß wie Sie,« sagte Jens und verwischte die Zeichen, die er so eben hingezeichnet hatte. »Das kommt davon, daß ich mit den vielen Briefen immer so schnell zu dem Herrn Hofjägermeister Fersen auf Billesborg hinüberlaufen mußte; aber der Prinz war doch nicht so dumm, wie er aussah. Die andern zogen ihre Holzschuhe aus, er behielt die seinen an, als er über den kostbaren Teppich hinfort schritt. Dann legte er seinen Kopf in der Prinzessin Schoos, sie lauste ihn und zog ihm den goldenen Ring ab. – Ich bitte Sie in aller Güte, geben Sie mir meinen goldenen Ring wieder, aber lassen Sie es Jens Hammer nicht erfahren. »Du sollst Gott danken, aber um nichts bitten«, pflegt er immer zu sagen.«
»Ihre Hochwohlgeboren haben Jens in einem glücklichen Augenblick getroffen,« flüsterte der Pfarrer, »es ist selten, daß er so viel auf einmal spricht.« Der Fremde stand in tiefen Gedanken. »Wie ekelhaft und widerlich er ist!« sagte er endlich und winkte seinem Diener. »Komm und hilf mir wieder in den Wagen.«
Der Pfarrer glaubte, er sollte mitfahren, aber der fremde Herr ließ, als er sich gesetzt hatte, den Schlag zumachen. Der Kutscher knallte mit der Peitsche und der Wagen verschwand unten im Hohlwege, während der Pfarrer sprachlos vor Erstaunen dastand und ihm nachstarrte.
Mehrere Jahre später kam ein anderer Wagen denselben Hohlweg hinaufgefahren. Eine Dame stieg aus und ging auf den Hügel zu, auf dem Jens zwischen Steinen versteckt mit dem treuen Hunde zu seinen Füßen dasaß. Die Dame war Klara Fersen. Ihr dunkles Gewand und schwarzer Hut trugen vielleicht dazu bei, ihr Antlitz, aus dem alle Jugend verschwunden zu sein schien und in dessen magren Zügen hier und da eine Runzel sich zeigte, fein und scharf, wie mit einem Messer geschnitten, nur noch bleicher zu machen. Ihr Gemahl war nach zweijähriger Ehe gestorben; ihr Verhältnis sollte nicht glücklich gewesen sein, er hinterließ ihr ein fürstliches Vermögen und ein kleines kränkliches und verkrüppeltes Kind, dessen Tage gezählt zu sein schienen. Als sie zu den weißen Steinen kam, blieb sie vor Jens stehen und betrachtete ihn schweigend und forschend. Es war klar, daß er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wer sie war. Er lächelte und setzte darauf seine Arbeit fort, die darin bestand, eine Hand voll Sand von der Erde aufzunehmen und zwischen beiden Händen zu reiben, bis er ihm zwischen die Finger hindurch rann.
»Kennst du mich?« fragte sie.
Er blickte empor. »Ich will den Mozart spielen,« versetzte er, »wenn sie jetzt lebende Bilder stellen.« Nach diesen Worten brach er in ein Gelächter aus, dessen heftigen und trostlosen Ausdruck die Jahre nach und nach gedämpft und gemildert hatten. Sie schüttelte traurig den Kopf, ging einige Schritte den Hügel hinauf und stützte sich auf Sippe's Stein, während sie über die Ebene hinausschaute. Es ist schwer zu bestimmen, welche Erinnerung bei ihr am meisten vorherrschte, während sie dort oben mit gesenktem Haupte und zusammengepreßten Händen dastand, beschienen von der untergehenden Sonne, die ihr rothes Licht über die Steine und den Wahnsinnigen warf, welcher eifrig damit beschäftigt war, Sand durch die Finger rinnen zu lassen.
»Ich bin Prinz Karl von England,« rief Jens plötzlich, »ich bekam meinen goldenen Ring wieder und ich sitze hier mitten in meinem Königreiche. Sieh, sieh! alle knien vor mir, ich habe, was mein Herz begehrt.« – Er schwieg ein wenig und streckte die Hände gegen Klara aus. »Sie dürfen nicht auf dem Hügel stehen,« fuhr er sanft fort; »es könnte Ihnen sonst gehen wie die Sage von Sippe erzählt: Es soll zu Stein werden, wer sich nicht um die Ruhe des Armen kümmert.«
Klara beugte sich zu ihm hinab, ihre Augen wurden feucht, während ein schmerzliches Lächeln über ihr Antlitz glitt.
»Die Sage ist erfüllt,« flüsterte sie und legte beide Hände auf ihre Brust, – »er jubelt, er hat sein Königreich, und ich – hier drinnen ist alles zu Stein geworden.«
Jens hörte nicht, was sie sagte, er saß da und lachte und ließ Sand zwischen seinen Fingern hindurchrollen.