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Kapitel 26.


Es klingt das Wort zu traurig gar:
Fahr wohl, fahr wohl, auf immerdar!
Wenn sich zwei Herzen scheiden,
Die sich dereinst geliebt!

Emanuel Geibel.

»Uns hat der Himmel ein Söhnlein geschenkt!«

Weiße Dame.

 

Noch nie hatte sich die Einwohnerschaft von Angerwies in einer derartig großen Aufregung befunden, wie an dem heutigen Tage. – Kein angestochener Ameisenhaufen kann mehr Leben zeigen, wie das kleine Städtchen, dessen Bürger das Mittagsessen noch nie hatten so kalt werden lassen, wie an diesem Sonnabend.

Etwas Ungeheuerliches, ganz Unfaßliches hatte sich ereignet. Am frühen Morgen rollte die Niedecksche Equipage durch die Straßen und Gäßchen, um vor den Häusern der Honoratioren zu halten.

Friedrich, in strotzender, eleganter Galalivree, sprang von dem Bock und überreichte dem jedmaligen Hausherrn unter feierlichen Bücklingen einen großen, mit rotem Stempel verschlossenen Brief.

Aufs höchste überrascht, beinahe entsetzt, ward dieser zuerst angestarrt, dann mit leicht bebenden Fingern geöffnet.

Eine riesengroße, hochelegante Karte mit dem erhabenen Wappen der Reichsgrafen von Niedeck glänzte dem Fassungslosen entgegen und er traute seinen Augen nicht, als er die gedruckten Worte las: »Willibald, Reichsgraf zu Niedeck, Erbherr auf Burg Niedeck, und Johanna, Reichsgräfin zu Niedeck, edle Frau von Sonnenburg und Hohenelf, beehren sich den Herrn Bürgermeister pp. zu Donnerstag den 24. Juli nachmittags 6 Uhr zur Tafel zu laden.«

Was bedeutete das? War es eine Hallucination? War es ein schlechter Scherz?

Der jeweilig Betroffene rieb sich die Augen und war so perplex, daß er vergaß zu antworten, bis Friedrich etwas ungeduldig um »gütigen Bescheid« bat.

Ja, den bekam er nicht so schnell! Wohl aber ward ihm in konfuser Hast ein Stuhl und ein Glas Wein angeboten, die Hausfrau stürzte danach in den Keller, und der künftige Dinergast auf Niedeck legte beide Hände wie beschwörend auf die Schultern des Gallonierten und flüsterte atemlos: »Friedrich, edle, hochherzige Seele, sagen Sie mir, was ist los?«

Friedrich wahrte die feierliche Würde. »Sie müssen in vollem Wichs erscheinen, Verehrtester, es giebt ein außerordentliches Ereignis. Der Herr Graf wollen den künftigen Majoratsherrn proklamieren.«

»Herrn Wulff-Dietrich? Alle guten Geister! Ja, sagen Sie, Friedrich, da kommt wohl der junge Graf persönlich hierher?«

»Es kommt die ganze Familie; auch der Herr Kammerherr Rüdiger mit Frau Gemahlin!«

»Graf Rüdiger kommt!« wie ein Schrei rang es sich von den Lippen: »Friedrich, Mensch, haben sich die Vettern denn versöhnt?«

»Muß wohl!« nickte der Getreue. »Der Herr Graf Wulff-Dietrich ist ja jüngsthin mit uns am Rhein gereist, und ... wie man munkelt ... na, unsere Komtesse Fränzchen ist ja noch reichlich jung, aber Verlobung könnte einstweilen schon gefeiert werden!«

Graf Rüdiger! Verlobung! Versöhnung! Wie überwältigt sank jeder Mann, den solch eine Nachricht erreichte, an die Brust des Überbringers, und dann glühte der Funken auf und ward zur Flamme, welche durch den schwachen Hauch des Mundes gieriger um sich fraß, als wenn ein Sturmwind sie zur Feuersbrunst anfachte! Angerwies brannte lichterloh vor Aufregung! und so viel Bier hatte Vater Simmel noch nie zuvor verzapft, wie heute, wo die Wirtsstube der »Stadt Hamburg« einem Taubenschlag glich.

Sollten die schlechten Zeiten für Angerwies doch noch einmal aufhören? sollte Graf Willibald, der endlich Versöhnte, vielleicht all die Privilegien, welche er ehemals zur Strafe entzogen, aufs neue verleihen? – –

Wie ein Rausch, ein Taumel erfaßte es die Väter der Stadt, und dennoch dachten sie etwas bekniffen an das Wiedersehen mit dem, welcher alles Unheil über sie gebracht, an den Kammerherrn! – Und dieweil die thätigen Hausfrauen die besten Vatermörder und Plätthemden für das große Ereignis rüsteten und die Menge stürmisch eine Wiederholung des ehemals mißglückten Feuerwerks verlangte, ward auch auf Niedeck der festliche Tag vorbereitet.

Baronin Nördlingen saß zwar recht niedergeschlagen in ihrem Zimmer und stützte den Kopf sorgenschwer in die Hand.

Gert hatte ihr versichert, es sei absolut unmöglich, Fränzchen eine Liebeserklärung zu machen, sie ließe es absolut nicht dazu kommen und seit vorgestern habe er sie überhaupt nicht mehr allein zu sprechen bekommen! Dies sei doch recht deutlich »Abgewinkt«, und er könne sich unmöglich blamieren und sich gewaltsam einen Korb holen! –

Nein, das konnte und sollte er nicht, dazu waren sie beide zu stolz; aber es war doch recht sauer, von allen lieben Zukunftsträumen Abschied zu nehmen!

Pia schien merkwürdig ruhig und gefaßt. Ein beinah strahlendes Lächeln verklärte ihr reizendes Antlitz, und dennoch sprach sie sich nicht aus, ob sie Fränzchens Herz erforscht habe oder nicht. – Gert legte ihre Hand auf seinen Arm und zog sie auf den Balkon.

»Pia!« flüsterte er: »Du hast gestern so lange und so ernsthaft mit Fränzchen gesprochen, – war ich vielleicht der Gegenstand Eurer Unterhaltung?«

Das junge Mädchen nickte ihm mit leuchtenden Augen zu: »Du wirst siegen! Sie liebt Wulff-Dietrich nicht, und that einen heiligen Eid, daß sie ihn niemals heiraten werde!« –

»Damit ist doch noch nicht gesagt, daß sie mich liebt und erwählen wird!?« zuckte Gert mehr unruhig und besorgt, als wie hoffnungsfroh die Achseln.

»Selbstverständlich sagt sie das damit! sie kennt ja keine Herren außer Wulff-Dietrich und Dir!« –

»Hast Du sie direkt gefragt?« –

Pia senkte ein wenig verlegen das Köpfchen: »Ja, ich war so indiskret! Verzeih mir, bester Bruder!« bat sie weich, mit leise bebender Stimme. »Ach, die Ungewißheit war so qualvoll, und ich wollte gern mit mir selber und meinen wirren, krausen Gedanken ins klare kommen!«

»Barmherziger Gott! ... was sagte sie?«

Gert war beinahe blaß vor Schreck.

»Sie bat mich, jetzt nicht um eine Antwort in sie zu dringen! am Donnerstag solle alles nach Wunsch arrangiert werden! wenn Du nach dem Diner noch Lust verspürtest, um sie zu freien, so solltest Du getrost anfragen! – Nun, das ist doch so gut wie ein Jawort!« –

Gert stand wie vom Schlag gerührt und zerrte nervös an seinem Schnurrbärtchen. Am liebsten hätte er heftig losgewettert und rundweg erklärt, daß er absolut keine Lust habe, die Cousine zu heiraten und daß er es nie und nimmer thun werde, – aber als er in die glückstrahlenden, wundersamen Mädchenaugen sah, welche wie in flehender Bitte zu ihm aufsahen, erstarb ihm das Wort auf den Lippen.

Er drückte kurz und erregt ihre Hand und wandte sich jäh zur Thür: »Ich danke Dir, Schwesterchen, nun sind ja wohl die Würfel gefallen!« –

Pia aber blieb allein zurück und lehnte sich gedankenverloren in die blühenden Zweige, welche den Balkon umrankten. –

Nun wird und muß noch alles gut werden! Sie kann sühnen, was sie an ihm gefehlt hat! –

Sie faltet die Hände und drückt sie gegen die Brust, – und ihr Blick schweift wie verklärt hinab zum Thal, als wolle sie ihn jetzt schon sehnsuchtsvoll grüßen, ihn, der morgen die Blume des Glücks auf diesem Berge pflücken soll. Für ihn wird das Glück vollkommen sein, – ach, daß auch für sie die einzige Wolke, welche es noch beschattet, zerrinnen könnte! Das Majorat ist und bleibt für sie das Bleigewicht an den Schwingen ihrer Liebe, welches den höchsten Aufschwung nicht gestatten will. –

Pia hat nie Wert auf Geld und Gut gelegt; ihr zartfühlender Sinn erachtet den Reichtum als Feind wahrer Liebe. Wie soll sich dieselbe bethätigen, wie soll sie sich in ihrer ganzen Größe und Stärke zeigen, wenn sie es nicht durch Opfermut beweisen kann!? –

Ach, daß Wulff-Dietrich der ärmste Mann unter der Sonne wäre! daß er doch der titel- und mittellose Assessor Hellmuth geblieben wäre, auf daß sie ihm zeigen könnte, wie sehr sie ihn liebt! O glückselige Margareta! wie die von ihrem Jung' Werner sagen konnte: »Er ist nur ein Trompeter, und doch bin ich ihm gut!«

Ja, dadurch allein ist er zum glückseligsten Mann im römischen Reich geworden, durch die Überzeugung: Sie liebt Dich um Deiner selbst willen! –

Wie gern würde sie eine solche Glückseligkeit auch Wulff-Dietrich bereiten! aber die unerbittlichen Schicksalsmächte haben es anders beschlossen.

An sich selber und ihren Stolz denkt sie nicht mehr. – Fränzchens schlichte Worte haben einen wunderbar tiefen Eindruck auf sie gemacht! – was ist ihr armseliges Ich gegen das älteste Geschlecht des Landes, dessen Traditionen zu ehrwürdig und heilig sind, um an einer Mädchenlaune zu Grunde gehen zu dürfen!

Daß es ihr fern gelegen, aus dem Glückszufall, welcher ihr die sechzehn Ahnen beschieden, Kapital zu schlagen und die Grafenkrone für sich daraus zu schmieden, das weiß Wulff-Dietrich! Sie vergiebt sich nichts mehr und schädigt ihre Würde nicht, wenn sie nun, wo die Existenz der Grafen Niedeck einzig noch von ihr abhängt, die Hand zur Versöhnung bietet.

Sie muß es thun, denn Wulff-Dietrich kann als Ehrenmann nicht wieder um sie werben, so lange er der Majoratserbe dieses Schlosses ist. Sie liebt ihn! und die Liebe hat über Stolz, Trotz und Vorurteil gesiegt! – –

Der bedeutungsschwere Tag, welcher so viele Herzen schneller schlagen machte, ist angebrochen.

Ein klarer, heißer Sommertag; die Bäume stehen regungslos, – die Rosen duften schwül und die Vöglein verstummen im Walde. Man nimmt das erste Frühstück in der Waffenhalle, unter deren hoher säulengetragener Wölbung nichts von Hitze zu merken ist. Das Gespräch ist viel lebhafter wie sonst und dreht sich hauptsächlich um die Ankunft der Gäste; Fränzchen zeigt sich von ihrer übermütigsten Seite und scheint sich vor Ungeduld zu verzehren.

Aber ihre Sehnsucht gilt nicht Wulff-Dietrich. Im Gegenteil, sie hat morgens bei der ersten Begrüßung die Hände Pias erfaßt und ihr tief und forschend in die Augen geblickt: »Freust Du Dich auf ihn?« hat sie geflüstert.

Das junge Mädchen atmet tief auf und ihre strahlenden Augen geben Antwort.

Fränzchen nickt aufgeregt und drückt die schlanken Finger noch heftiger. »Ihr sollt Euch beide nicht in meiner Freundschaft täuschen! ich habe es mir zugeschworen!« – murmelt sie, und dann reißt sie sich los, um Fräulein Aurelchen einen extra dazu eingefangenen Frosch meuchlings in die Halskrause zu stecken, daß »der Kalte, Nasse« dem zeterschreienden Dämchen längelang den Rücken hinabzappelt.

Aurelchen krümmt sich wie ein Fidelbogen, und die junge Gräfin will sterben vor Lachen.

Und diese Ausgelassenheit dauert während des ganzen Frühstücks an, nur der etwas schweigsame Gert wird voll zarter Aufmerksamkeit behandelt, ja, trotz des verweisenden Blicks der Mama hält sie ihm ein paarmal die Hand zum Kusse hin und sieht den sehr überraschten jungen Offizier dabei so süß und holdselig an, daß Gert wohl oder übel küssen muß. –

Friedrich tritt ein und überreicht auf silbernem Tablett die Briefschaften.

Graf Willibald liebt es, sie noch am Kaffeetisch durchzusehen. –

Während er den einzigen Brief, welcher sich diesmal zwischen den Zeitungen befindet, öffnet, unterhält sich die kleine Tafelrunde lebhaft weiter. Plötzlich dröhnt ein Schlag auf den Tisch, daß die Tassen klirren: »Fränzchen!« schreit der Graf auf, »Fränzchen!« und zum zweiten Male schlägt er, in höchster Aufregung alle Etikette vergessend, auf den Tisch.

Das Backfischchen hat dem lieben Vetter Gert just die Tasse bis an den Rand voll Zuckerstückchen gelegt, dieweil der zerstreute Lieutenant gedankenverloren die Waffen an den Wänden anstarrt und es nicht einmal bemerkt, daß die Cousine mit ihm kokettieren will.

Sie fährt ganz erschrocken auf und starrt den Vater an: »Bumm – fängst Du Fliegen, Papa?« –

Graf Willibald starrt auf den Brief in seiner Hand und aller Augen richten sich erschrocken auf sein Gesicht. Gottlob, er sieht zwar sehr überrascht, aber ganz verklärt vor Freude aus.

»Kinder ... eine Überraschung!« stößt er hervor.

»Raus mit der wilden Katz!!« –

»Bitte, teile doch mit!«

»Ein Brief von meinem Rechtsanwalt aus der Residenz! Weil er glaubt, daß jeder Niedeck sich für sechzehn Ahnen interessiert, teilt er mir folgendes mit! Der Lieutenant von Runow, welcher vor 25 Jahren den Abschied nahm, um besonderer Verhältnisse willen in spanische Dienste zu treten, ist seit drei Tagen nach seiner alten Heimat zurückgekehrt. von Runow vermählte sich mit der Gräfin Pasqual y Martinez, eine dem spanischen Hofe verwandte Dame, Tochter des Herzogs von O. – Dieser Ehe sind sieben Kinder entsprossen, sechs Töchter und ein Sohn, die älteste Tochter ist an einen spanischen Granden vermählt, die fünf jüngeren, im Alter von siebzehn bis sechs Jahren, begleiten die Eltern, welche in unserer Residenz dauernden Aufenthalt nehmen wollen. Die jungen Mädchen, resp. Kinder sollen hervorragende Schönheiten sein, und besitzen nebst sonstigen guten Eigenschaften den außerordentlichen Vorzug – sechzehn Ahnen – oder darüber! – aufweisen zu können. Herrn Graf Wulff-Dietrich ist die Nachricht auch bereits zugegangen, und wird ihn hoffentlich mit großer Genugthuung erfüllen!

Fränzchen, mein liebes Fränzeken, – was sagst Du nun?!« –

Der Graf breitete die Arme weit aus und die Kleine flog stürmisch mit einem ohrzerreißenden Juchzer hinein!

Tante Johanna sah ganz echauffiert aus vor Freude und umarmte ihr Töchterchen ebenfalls sehr erregt, und Nördlingens wechselten verständnislose Blicke und konnten sich die Erregung nicht recht deuten! was ging sie die Familie von Runow an!? Frau von Nördlingens Gesicht aber leuchtete plötzlich in jähem Verstehen auf: »Durch das Erscheinen dieser Runowschen Töchter ward Fränzchen frei von dem moralischen Zwang, Wulff-Dietrich heiraten zu müssen, und konnte nun nach ihrem Herzen wählen – Gert!« –

In der allgemeinen Aufregung hatte niemand auf Pia geachtet. Leichenblaß, regungslos saß sie in der kleinen Runde und preßte die zitternden Lippen zusammen, als wolle sie einem Schmerzenschrei wehren, welcher sich ihrer Brust entringen wollte.

Leise, wankend erhob sie sich und verließ die Halle, droben aber in ihrem Zimmer brach sie mit dumpfem Wehelaut auf die Knie nieder und drückte das Antlitz in die Hände.

Nun war alles vorbei, – alles. –

Nun ist sie überflüssig geworden, – nun bedarf die Familie Niedeck ihrer nicht mehr, – nun wird Wulff-Dietrich eine andere freien, welche ihn nicht bis in den Tod gekränkt hat, wie sie! – Nun ist alles vorbei, und Pia kann nie und nimmer gut machen, was sie an dem Geliebten gefehlt!

Die Sonne verdunkelt sich, Wetterwolken steigen schwarz und drohend auf und der Wind fährt rauschend durch die Bäume, – just wie damals, als sie voll frevelnden Leichtsinns, voll sündhafter Heftigkeit ihr Glück in Trümmer schlug. –

Ein leises fernes Donnergrollen – –

Pia hört es nicht, wie eine Sterbende kniet sie vor dem Diwan und preßt die Augen auf den verblaßten Atlas.

Sie hat keine Hoffnung mehr und keine Thränen.

*

Der Ahnensaal der Niedecks strahlt in festlichem Glanz. Man hatte die Fensterläden geschlossen und die Lichter entzündet. An mächtigen Ketten hingen die wundervollen, viele Jahrhunderte alten Kronleuchter von dem getäfelten Plafond hernieder, durch zahllose hohe Wachskerzen den interessanten Raum erleuchtend.

An den Wandpfeilern, zwischen den einzelnen Gemälden sprangen breite Armleuchter vor, gleich hohen flammenden Blütensträußen die Länge der Wände schmückend.

Da hingen sie feierlich in Reih und Glied, die Bilder aus allen Zeitaltern, da schauten die Reichsgrafen von Niedeck in Rüstung, Mönchsgewand, Allongeperücke, Tressenkleid und Schäferhut, in Bärenmützen und Ordensgewand auf die späten Enkel nieder, von dem eleganten Pinselstrich moderner Meister bis zurück zu der naivsten Kunst der Alten, welche die Patronatsherrn mit steifen, hölzernen Gliedmaßen und betend erhobenen Händen als Altarbilder verewigt, oder die Ritter und Edelfrauen auf kunstvollen Gobelins abzubilden versuchte. –

Neben dem riesenhaften Kamin prangten rechts und links die mächtigen Tafeln des Stammbaums, gekrönt von den bunten Wappenschildern und ritterlichen Insignien der Familie.

Vor demselben, am nördlichen Ende des Saales, erhob sich ein kleiner Altar, welcher mit frischen Lorbeerbäumen koulissenartig umstellt war. Zwischen hohen, brennenden Kandelabern stand das Bild des Landesherrn, vor demselben ein Kruzifix uralter Form, welches – als Geschenk des Papstes Urban V., um das Jahr 1368, – seit jener Zeit stets bei feierlichen Handlungen den Familienaltar der Niedecks geschmückt hatte. Nach der Tradition noch älteren Ursprungs war das Schwert, mit welchem Kaiser Otto I. seinen Pagen Johann Lando von Niedeck zum Ritter geschlagen haben sollte.

Auf dieses Schwert leisteten die jungen Grafen von Niedeck bis auf den heutigen Tag den Eid der Treue, wenn sie vor versammelter Familie für volljährig erkannt und in die Rechte der Erbfolge eingesetzt wurden.

Das »Aufschwören« war einer der feierlichsten Akte im Leben der jungen Grafen, welche das Schicksal zum Majoratsherrn und Erben von Niedeck gemacht. Auch heute lag das »schier heilige« Schwert auf dem Altar, und die flackernden Lichter weckten in ihm dieselben Silberblitze wie seit vielen, vielen, endlos langen Jahren, wo an dieser selben Stelle der Sohn von dem Vater den Ritterschlag erhielt.

Nach dem siebenjährigen Krieg war die Familie bis auf wenige Augen zusammengeschmolzen, nach den Befreiungskriegen blieb nur ein einziger Niedeck als Stammhalter zurück, und dessen Enkel und Urenkel erschienen auch heute wieder in dem Ahnensaal, uralter Sitte den schuldigen Tribut zu zahlen.

Die Gäste versammelten sich.

Feierlich gekleidet, bis zur Atemlosigkeit ergriffen von der würdevollen Pracht der sie umgebenden uralten Herrlichkeit, standen die Würdenträger von Angerwies und starrten regungslos zu den vornehmen Herren und Damen empor, welche aus verdunkelten Rahmen, mit ernsten Augen auf sie herabschauten.

Dann öffnete sich die bronzegegitterte thorbogenartige Seitenthüre zur Rüsthalle, – die Diener in großer Livree traten ein und stellten sich zu beiden Seiten auf.

Eine kurze Pause ehrfurchtsvoller Erwartung; dann erschien Graf Willibald, am Arm Gräfin Melanie, auf welche sich aller Augen mit besonderem Interesse richteten.

Beinahe achtzehn Jahre lagen zwischen heute und jenem Ball in »der Stadt Hamburg«, auf welchem die strahlende Erscheinung der schönen Frau alle Anwesenden blendete!

Was war aus ihr geworden!

Eine bleiche, müde blickende Frau, über deren ergraute Scheitel die langen Trauerschleier wallen, von deren abgemagerter Gestalt düstere Crêpefalten zur Schleppe niederfallen.

Und doch ist die Gräfin auch jetzt noch eine Erscheinung, welche in ihrer vornehmen Eleganz den Eindruck auf die Beschauer nicht verfehlt.

Graf Rüdiger folgt mit der Gemahlin des Majoratsherrn.

Unwillkürlich geht eine Bewegung durch die Reihen der Angerwieser.

Führt er die Gräfin Johanna – oder führt sie ihn? Ist diese gebrochene greisenhafte Gestalt mit dem lederfarbenen Antlitz, auf welchem sich der tiefe Ernst eines unheilbaren Leidens ausprägt, ist dieser unsicher daherwankende Mann der stolze, selbstbewußte, weltgewandte, imponierende Kavalier von ehedem? –

Wie ein Frösteln schleicht es durch die Glieder derer, welche er einst so huldvoll »Freunde« genannt!

Welch ein anderes Bild, als Graf Wulff-Dietrich über die Schwelle tritt!

Hoch, stolz, eine herrliche Erscheinung in der ritterlichen Hofuniform der Jagdjunker! An seinem Arm schreitet Baronin Nördlingen in eleganter Toilette, ein sehr liebenswürdiges Lächeln auf den Lippen, in leiser Unterhaltung mit ihrem Partner begriffen; sie ahnt nicht, was sich an den Ufern des Rheins zwischen ihrer Tochter und Wulff-Dietrich abgespielt und ist infolgedessen völlig harmlos. Am Arm des Vaters folgt Pia, sehr ernst und sehr bleich, wie ein wunderschönes Marmorbild, ganz weiß gekleidet, eine weiße Rose im Haar.

Voll Entzücken grüßen sie alle Blicke, sie aber hält die Augen gesenkt und schreitet daher wie im Traum.

Und nun das letzte Paar?

In flotter Marineuniform ein schmucker, junger Lieutenant – und ... Fräulein Aurelie von Hoff? Was bedeutet das? Wo bleibt Gräfin Fränzchen, sie, welche die Angerwieser noch nie in der Nähe gesehen hatten und auf deren Bekanntschaft sie ganz besonders gespannt gewesen sind? Folgt sie vielleicht später noch mit einem anderen Gast?

Nein, die hohen Thorgitter schließen sich und die gräflichen Herrschaften nehmen auf den Sesseln, dem Altar gegenüber, Platz. Die Orgelklänge, welche während der ganzen Zeit aus der angrenzenden Kapelle herübergebraust sind, verstummen.

Graf Willibald tritt auf die unterste Stufe vor den Altar. Er trägt die Uniform der Johanniter und sieht auffallend frisch und geistig belebt aus. Er hält eine kurze Ansprache, er erklärt die Bedeutung dieses Tages und spricht seine Absicht aus, alter Sitte gemäß den künftigen Majoratsherrn heute an diese heilige Stätte führen zu wollen, wo er nach der Väter Brauch und Weise mit dem Eid der Treue die alten Satzungen der Familie neu beschwören solle.

Warum er so lange damit gezögert?

Das hoffe er allsogleich darlegen zu können.

Und dann fährt er mit erhobener Stimme fort: »So wäre es denn an der Zeit, Euch, Ihr lieben Anverwandten, und Ihnen, meine Herren, sowohl wie Euch, Ihr Angestellten und Bediensteten meines Hauses, den künftigen Majoratsherrn und Erben dieses Besitzes vorzustellen. Ich thue es mit großer Dankbarkeit gegen Gott den Herrn, welcher mich des großen Glückes wert hielt, diesen Tag erleben zu dürfen!«

Mit festem Schritt verließ der Sprecher die Empore, aber er wandte sich nicht zu Wulff-Dietrich, sondern schritt zur allgemeinen Überraschung rechter Hand zu der kleinen Kapellenthür, welche der getreue Friedrich und der greise Kuhnert mit strahlenden Augen öffneten.

Ein junger Mann, in der kleidsamen alten Tracht der Hofpagen, trat Graf Willibald mit ausgestreckten Händen entgegen, und der Graf erfaßte sie mit stolzer Innigkeit und führte den Jüngling vor den Altar.

»Hiermit stelle ich Euch Anwesenden in aller Form und Feierlichkeit den künftigen Erbherrn von Niedeck vor!« sprach er mit schallender Stimme. » Mein Sohn Franz Johann Borwin, Reichsgraf zu Niedeck!« – –

Ein paar laute Aufschreie: »Fränzchen, Fränzchen!«

Die ehemalige kleine Komtesse aber riß sich los von der Hand des Vaters und warf sich an Wulff-Dietrichs Brust: »Vetter, lieber Vetter, zürnst Du mir, oder bist Du zufrieden?« – und, ungestüm Pias Rechte ergreifend, vereinigte Fränzchen die Hände der beiden jungen Leute festen Druckes in der ihrigen.


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