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* Es tobt der Sturm durch Wald und Feld,
So braust der Sturm auch durch das Herz,
G. v. Rochow geb. von Pachelbl-Gehag. *
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Die Sonntagsglocken läuteten.
Tiefe Stille lag über den Straßen der Hauptstadt, aber nicht die friedliche, erquickende Feiertagsruhe, wie sie voll heiliger Klarheit über Wald und Flur ausgebreitet liegt, sondern eine dumpfe Regungslosigkeit, ein Schweigen, wie dasjenige schwerster Erschöpfung, wie eine Todmüdigkeit, welche mit halboffenen Augen in bleiernen Schlaf sinkt. –
Glühend heiß brütete die Mittagssonne auf dem Häusermeer, – jeder Mauerquader schien unerträgliche Hitze auszuströmen, kein Hauch, – höchstens eine schwüle Duftwoge von Brand- und Gasgeruch, von all dem widerlichen Gemisch ungesunder Ausdünstungen, welche im Umkreis die Großstadtluft schwängern.
Die Droschkenpferde stehen mit tief geneigten Köpfen regungslos im Schatten, selbst der Futterbeutel hängt schlaff und noch halbgefüllt an den Mäulern, sie träumen melancholisch vor sich hin, und nur dann hebt sich müde lauschend ein Ohr am Kopfe, wenn der Kutscher das gewaltige Bierglas mit beiden Händen hebt und einen langen, gierigen Zug thut. –
Blasse, mattäugige Gestalten schleichen von Thür zu Thür, – an den Kellertreppen liegen und kauern elende Kinder, welche selbst zum spielen zu müde sind und mit zwinkerndem Blick an den Hausriesen emporstarren, deren grellbestrahlte Mauern mit den verhängten Fensterreihen die Augen blenden, daß sie schmerzen. –
Und hier ist noch ein besseres Stadtviertel, die elegantere Gegend, wo die Fabrikschornsteine noch nicht aufragen, wo Plätze mit bestaubten Anlagen die einförmigen Häuserreihen unterbrechen und kleine Vorgärten sich hier und da als wohlthuende Abwechslung zu dem schier schmelzenden Asphalt vorschieben.
Es ist eine gute Gegend, aber doch nicht das »Geheimratsviertel«, wo prunkende Villen den Stadtpark säumen und luxuriöse Gärten hinter hohen Goldgittern eine Idylle inmitten der Prosa endloser Steinwüste zaubern! –
Und dennoch stehen auch sie jetzt leer und verlassen, lediglich ein Erholungsplätzchen der Portiers und daheimgebliebenen Dienerschaft, deren reiche Gebieter sich an den Strand der See oder in die Waldesschatten des Hochgebirges flüchteten, um in elegantem Bad zu vergessen, daß zu Hause in der Residenz das Thermometer von Tag zu Tag höher steigt, so hoch, daß die Wirtschafterin in ihrem Wochenbericht mit der verzweifelten Klage schließt: »Es ist kaum zu ertragen!« –
Wer dem Molochrachen dieses Häusermeeres entrinnen kann, der enteilt, und manch seufzender Familienvater bringt schwere Opfer, um Weib und Kind während der Ferienzeit in Licht und Luft hinaus zu retten. Da bleibt kaum noch eine Familie zurück, – selbst für die Ärmsten gibt es Ferienkolonien, wo Waldesschatten und Seeluft Leib und Seele erquicken. Wohl dem, welcher reisen kann, welchen weder Pflicht noch Armut unter diese Bleidächer bannt! –
Langsam, den Kopf nachdenklich gesenkt, schritt ein halbwüchsiger Knabe durch die sengende Glut der Straße. Groß und schlank aufgeschossen, ein wenig vornüber geneigt, wie ein junger Stamm, welchem noch die Kraft fehlt, sich markig aufzurecken, die Glieder eckig und etwas unbeholfen in der Bewegung, zeigte er dennoch in seinem ganzen Äußern und Wesen die gute Kinderstube, in welcher er groß geworden.
Der Anzug war einfach, aber tadellos, und gutsitzende Handschuhe bewiesen, daß ihr junger Träger es gewohnt war, äußeren Formen zu genügen.
Seine Augen, groß und tiefblau, von dunkeln Wimpern beschattet und sehr energisch gezeichneten Brauen überwölbt, blickten ernst, beinahe kummervoll aus dem blassen, großgeschnittenen Gesicht, welches trotz seines jugendlichen Aussehens dennoch den Eindruck eines ernstdenkenden, gereiften Mannes machte.
Es lag ein feiner Leidenszug um die Lippen, welchen nur die Erfahrung und der volle Ernst des Lebens in junge Gesichter schneiden kann.
Mehr denn je trat er in dem farblosen Antlitz hervor, als der Sekundaner tief aufatmend in den hochgewölbten, mit der modernen Eleganz der Großstadt ausgestatteten Hausflur trat, an dessen Decke reicher Stuck seine vergoldeten Muster zeigte, und Ölgemälde an den Wänden auf zierliche Blattpflanzenarrangements niederblickten.
Hier war es kühl! Hier konnnte man etwas aufatmen, und wenn die Luft auch noch immer erstickend auf die Lungen fiel und durch die verschlossenen Entreethüren ein häßlicher Geruch von Kampher und Naphthalin drang, es war doch nicht die nervenmordende Glut, welche die Straßen und südlich gelegenen Zimmer unerträglich machte!
Der junge Mann seufzte tief auf, nahm das kleine Gebetbuch aus der rechten in die linke Hand, und fuhr mit dem einfachen, weißen Taschentuch, in dessen Ecke jedoch ein elegantes Monogramm unter siebenzackiger Krone von fleißigen Händen erzählte, über die feuchtperlende Stirn. – Es lag etwas Gemessenes, beinahe Pedantisches in seinem Wesen, etwas Umständliches, was ihn älter erscheinen ließ, als er war. Müde, mit beinahe schleppenden Schritten stieg er die teppichbelegten Stufen empor – eine Treppe – noch eine – und abermals eine. – Mechanisch schweifte sein Blick über die Thürschilder, an welchen er vorbeischritt. – Meist gute Namen – ein Oberst a. D. – ein Baumeister – ein Sanitätsrat – ein Hauptmann – glückliche Menschen, – sie sind alle fortgereist! – Hinaus in die schöne, – sommerliche, – herrliche Gotteswelt voll Harzduft und Vogelfang, voll Wellenrauschen und Seewind – ach, daß auch er die Arme ausbreiten und mit vollen Lungen einmal durchatmen könnte! – So wie früher in jenen besseren Zeiten, wo auch bei ihnen alljährlich die Koffer gepackt wurden, wo er auf die Berge steigen und im Dünensand wühlen konnte! O selige Erinnerung! Was gäbe er darum, könnte sie noch einmal wiederkommen, noch einmal Wahrheit werden!
Mit wehmütigem Lächeln bleibt er stehen und ruht einen Augenblick aus. Ja, auch für ihn wäre es eine Wohlthat! Aber wie gerne würde er dennoch darauf verzichten, könnte er nur für sein so heißgeliebtes, herziges Mütterchen solch' eine Erholung schaffen! – Für ihn wäre es nur eine Erquickung. Aber für sie wäre es neuer Lebensodem, für sie ist es eine Notwendigkeit! –
Mit beinahe bitterem Ausdruck mustert er das elegante Treppenhaus. Warum müssen sie in der teuren Wohnung wohnen? Warum ihr Geld für Dinge ausgeben, von welchen sie so gar nichts haben? Ware es nicht besser, anstatt all dieser Äußerlichkeiten lieber nützlichere und notwendigere Dinge zu bedenken? Wie erschreckt über sich selber schüttelt der junge Mensch den Kopf. Welch ketzerische Gedanken kommen ihm so plötzlich! Hat er ganz und gar die Grundsätze vergessen, in welchen er erzogen ist? – Noblesse oblige! – Dieses Wort ist ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen, er hat an seiner schier heiligen Kompetenz nie zu rühren gewagt, er hat es anerkannt und respektiert, wie man sich die zehn Gebote ohne zu mangeln und zu handeln zum Gesetz macht. –
Noblesse oblige! – Seit er den Klang dieses Wortes kennen lernte, hat er es als Pflicht erachten müssen, als eine ernste, heilige Pflicht, als Vermächtnis seines Vaters und der Vorväter, welche diesem aristokratischen Begriff wohl noch andere Opfer brachten, als wie eine Badereise!
Und gleichsam, als müsse er jede Spur solcher frevelnden Gedanken fortwischen, strich er noch einmal hastig mit der Hand über die Stirn und trat mit energischem Schritt vor die eichengeschnitzte Entreethür des dritten Stockes, an welcher auf weißem Porzellanschild der Name der Bewohner zu lesen stand: »Generalleutnant Freiherr von Torisdorff.«
Die blauen Augen leuchteten unwillkürlich auf, als ihr Blick diese Worte traf, und gleichsam als ginge eine wunderbare, geheimnisvolle Kraft, welche Mark und Bein stählt, von ihnen aus, richtete und reckte sich die hagere Gestalt des Knaben, stolz und selbstbewußt hob sich das Haupt in den Nacken, und um die schmalen Lippen spielte ein Lächeln, welches auch ohne Worte zu sagen schien: »Ja, Noblesse oblige! – Der Name Torisdorff darf nicht auf dem Thürschild einer Mietskaserne stehen, er gehört in diese Umgebung und soll in derselben verbleiben! Die Sommerhitze bleibt nicht ewig, der Winter entschädigt uns für unsere jetzigen Leiden, aber der gute Klang unseres Namens muß beide überdauern!«
Der Glockenton schrillte auf dem Vorplatz, – ein paar Minuten vergingen, dann rasselte die Sicherheitsräte und ein sauberes Stubenmädchen in weißer Schürze und Hamburger Häubchen öffnete.
»Mama zu Hause?« – klang es ihr hastig entgegen. Das Mädchen knixte mit besorgtem Blick. »Ach, wie gut, daß Sie kommen, junger Herr! – Excellenz befinden sich heute wieder schlecht, – der Herr Doktor ist im Salon, und flüsterte mir zu, daß er nachher Herrn Josef gern ein paar Minuten sprechen möchte!« –
Ein jähes Erschrecken ging über die Züge des Sekundaners, sein Gesicht sah noch bleicher aus wie sonst, er preßte die Lippen wie unter physischem Schmerz.
»Lina – hat – hat Mama wieder einen Anfall gehabt?«
»Es war nicht schlimm! Durchaus nicht schlimmer als sonst! Das alte Asthma! Excellenz sind auch aufgestanden und befinden sich im Salon!« –
»Gott sei Lob und Dank!« – Josef schritt hastig an der Jungfer vorüber und wollte sich nach der Salonthür wenden, als dieselbe geöffnet ward und ein alter Herr ihm entgegen trat. –
»Ach, da kommt unser frommer Kirchgänger just zurück, Excellenz!« – rief er mit liebenswürdiger Geste in das Zimmer zurück, »gerade zur rechten Zeit! Darf mir wohl erlauben, die verstauchte Hand noch einmal zu untersuchen, ob sie völlig wieder intakt ist. – Auf Wiedersehen, Excellenz, in zwei Minuten soll ihr jüngster Verehrer Ihre Hand küssen, so lange beanspruche ich ihn noch! –
Lachend schloß der Sprecher die Thür, stellte den nach zartem Lavendel duftenden Cylinder auf die kleine Marmorkonsole und streckte Josef die Hand entgegen.
»Treff' ich den Junker hie? –
Zu Hause weilt er selten,
Bei mir erscheint er nie!«
recitierte er scherzend, und mit einem heimlichen Wink nach einer Seitenthür, schob er den jungen Menschen schnell durch dieselbe in ein kleines, einfenstriges Schlafzimmerchen, an dessen Wänden hohe Bücherregale von dem Wissensdurst seines Bewohners Kunde gaben.
Die Ausstattung der Stube war elegant und geschmackvoll und bewies, daß eine liebevoll sorgende Hand dem Sohn das warme Nestchen bereitete.
Der junge Torisdorff schob dem Arzt mit leicht bebender Hand einen großen, geschnitzten Sessel, welcher vor dem Schreibpult stand und als Erbstück des verstorbenen Vaters auf den Sohn überkommen war, zu, und bat Platz zu nehmen, der Hofrat aber wehrte eilig ab, legte beide Hände auf die Schultern Josefs und sagte kurz und eindringlich: »Ihre Mutter ist krank, mein junger Freund, kränker als wie mir lieb ist. Noch ist's Zeit, das Übel im Keim zu ersticken, aber es muß sofort etwas geschehen, – etwas Energisches –«
»Ach die Hitze! ich dachte es mir!« – stöhnte sein Gegenüber mit blassen Lippen auf.
»Die Hitze? – Im Gegenteil – die Hitze ist noch nicht das Schlimmste für Excellenz, der Winter ist mir bei weitem bedenklicher! Ich würde es ja sehr angenehm finden, wenn ich Ihre Frau Mutter auch jetzt in schöne, reine Waldluft schicken könnte, das ist selbstverständlich, sie würde ihr herrliche Dienste thun, – aber die Hauptsache, – sie müßte nicht nur jetzt – sie müßte auch im Winter in ein wärmeres Klima! Überhaupt müßte diese so zarte, leidende Frau ganz anders gepflegt werden! Nicht drei Treppen hoch wohnen, das ist bei ihrer schwachen Lunge Gift! Ferner ein geschützter großer Balkon, – am besten eine andere Gegend – etwas freier nach dem Park zu, – damit sie die Anlagen schneller erreichen kann! Wenn sie sich erst in den staubigen, heißen Straßen müde laufen muß, hat sie keine Erholung von ihren Promenaden! Ihre Frau Mutter denkt so gleichgültig über sich, – jeden Vorschlag, welchen ich ihr mache, weist sie in ihrer engelhaften Anspruchslosigkeit zurück, ja sie hat sogar die Absicht, weder im Sommer noch im Winter zu reisen! Das ist undenkbar! Das ist ihr Verderben! Sie muß etwas für sich thun, wenn sie gesunden will! Und darum wende ich mich an Sie, lieber Josef, und bitte Sie inständigst, mir einmal ehrlich Red' und Antwort zu stehen! Ich darf Excellenz unmöglich sagen, wie ernst es mit ihrer Gesundheit steht, – Ihnen kann und muß ich es jedoch, denn ich bedarf Ihres Beistandes, um die Kranke zu den notwendigen Schritten zu veranlassen.«
Nach Atem ringend, mit niedergeschlagenen Augen stand der Sohn der verwitweten Generalin vor dem Arzt, – Röte und Blässe wechselten auf seinem Antlitz, tiefe Schatten senkten sich um die Augen. Als er nicht antwortete, neigte sich der Hofrat näher zu ihm hin, legte den Arm um den Nacken des jungen Mannes und sagte leise: »Verzeihen Sie mir, Josef, wenn ich indiskret erscheine, der ganze Schnitt Ihres Hauses macht mir nicht den Eindruck, als ob Excellenz aus finanziellen Rücksichten ihre Pflege vernachlässigt, – oder – pardon – mein lieber, junger Freund – ist dies doch der Fall?« –
Josef wechselte abermals voll tödlichster Verlegenheit die Farbe. »Ach – die teuern Eisenbahnfahrten!« stotterte er mit zuckenden Lippen.
»Teuer? – I wo sind denn unsere Bahnen teuer! Es giebt ja gottlob Damencoupés dritter Klasse.« –
»Dritter Klasse!« – wie ein Schrei des Entsetzens klang es, »darin fährt Mama nicht! Nie! O, Sie ahnen nicht, wie ungeheuer streng meine Mutter in dieser Beziehung denkt –!«
Ein feines Lächeln spielte um die bartlosen Lippen des alten Herrn: »Doch mein lieber Josef, doch ahne ich es und gerade darum wandte ich mich an Sie. Ich stehe Excellenz zu fern, um meinen Einfluß genügend geltend machen zu können, aber Sie als Sohn haben das Recht, gegen thörichte Vorurteile anzukämpfen! Und dieses Recht wird jetzt zur Pflicht! Es gilt Leben und Gesundheit Ihrer Mutter. Geschieht nicht so bald als möglich etwas Eingreifendes, ist ihre Lunge nicht mehr zu retten. Wollen Sie Ihre Mutter, das Liebste was Sie auf der Erde besitzen, einem Hirngespinst opfern? Wollen Sie es dulden, daß die zarte Frau zu Grunde geht, lediglich darum, weil sie nicht dritter Klasse fahren, nicht in einem bescheidenen Stübchen wohnen und in einem Hotel zweiten Ranges essen will? – Lächerlich! Ich bin ein praktisch denkender Mann und sage: es ist besser, nicht standesgemäß leben, als standesgemäß sterben! – Weg mit der falschen Eitelkeit, diesem wertlosen Plunder, welcher im neunzehnten Jahrhundert keinen Kredit mehr hat! – Huldigen Sie etwa selber den Ansichten Ihrer Frau Mama, so machen Sie sich frei davon, wenn Sie nicht die schwere, entsetzliche Verantwortung auf sich laden wollen, an dem Sterben und Verderben der kranken Frau mitgearbeitet zu haben! In Ihren Händen liegt es, sie dem Leben zu erhalten, – zeigen Sie, daß Sie ein treuer, opfermutiger Sohn sind, – lassen Sie Ihre Liebe größer sein, wie den in dieser Beziehung so falschen Wahlspruch: »Noblesse oblige« – welchen ich leider nur zu oft von Excellenz zur Antwort erhielt! – Reden Sie zur Vernunft, schnüren Sie ein einfaches Bündelchen und fahren Sie ruhig dritter Klasse zu einem billigen Landaufenthalt – ich schicke Ihnen Adressen. Brauchen ja die ›Excellenz‹ nicht in die Kurliste zu schreiben! So, nun nehmen Sie mir meine ehrlichen Worte nicht übel, – ich mußte sie zu Ihnen sprechen, wenn ich kein gewissenloser Mensch sein wollte! – Also frisch ans Werk! Sie haben Geist und Einfluß genug, um segensreich wirken zu können, also thun Sie es! – Gott befohlen!« –
Linden drückte die Hand des jungen Mannes, griff hastig nach dem Hut und war – eilig wie immer – im nächsten Augenblick hinter der Thür verschwunden. Josef aber preßte die bebenden Hände gegen das Antlitz und fühlte, wie heiße, brennende Thränen unaussprechlicher Qual aus seinen Augen stürzten. Seine Mutter, seine so innig, über alles geliebte Mutter krank, – so krank, daß sie nur kostspielige Reisen retten können, – o, dies war ein Gedanke, welcher ihn zu vernichten drohte!
Selbst die billigste Reise – selbst eine Fahrt dritter Klasse würde für die so bescheidenen Verhältnisse der Offizierswitwe unerschwinglich sein! Und würde sie auch wahrlich alle Vorurteile überwinden, würde sie sich auf sein Bitten und Flehen wirklich in Verhältnisse schicken, welche ihrer ganzen Natur als etwas Unerträgliches zuwider sind, es würde dennoch an dem Kostenpunkt scheitern. – Ach, der Hofrat ahnt es nicht, wie sehr sie sich einschränken müssen, wie ihre kleine Rente so völlig von all den Äußerlichkeiten, welche ein standesgemäßes Leben fordert, aufgezehrt wird!« –
Wie soll er da Hilfe schaffen? Was soll er thun, um das heißgeliebte, teure Leben der Mutter zu retten? Noch nie hat er den Fluch der Armut so furchtbar, so namenlos bitter empfunden wie in diesem Augenblick hilfloser Verzweiflung.
Was soll er thun, – er, dem es der Arzt zur Pflicht gemacht hat, zu helfen? –
Er kann noch kein Geld verdienen, – er kann nichts – gar nichts! – Wahrlich nichts? –
Sein Blick fällt auf das kleine Gebetbuch, welches noch vor ihm auf dem Tisch liegt, – und er hört plötzlich die Orgel spielen – er hört die Stimme seines ehemaligen Privatlehrers, des jungen Dekans, welcher in der Scheidestunde die Hände auf sein Haupt legte und mit seiner lieben, ernsten Stimme sprach: »Vergiß nicht, Josef, daß ich dich beten lehrte! – Es kommt wohl noch einmal die Zeit, da du nichts auf der Welt zum Trost hast im Leid, denn dein Gebet!« Konnte er wahrlich nichts für seine Mutter thun? O ja, das beste, was ein Sohn in Liebe thun kann, – beten. –-
Über seinem Bett hing das Bild der Mutter Gottes, sie, welche auch einen Sohn geliebt, – bis in den Tod.
Zu ihr hob er die thränenfeuchten Augen und betete.
»Hilf mir! – rette sie!« –
»Josef! – wo bleibst du?« –
Der junge Torisdorff erhob sich, strich über die Augen und atmete tief auf.
Es war ihm plötzlich so leicht und zuversichtlich ums Herz, und die Stimme der Mutter schien ihm wie ein Ruf der Erlösung. Man nannte ihn schon seit Jahren einen Schwärmer, und sein Vater hatte oft etwas mißbilligend die Stirn gekraust: »Der Dekan erzieht einen Kleriker aus meinem Sohn! Unsinn, ein Torisdorff taugt nicht für die Kutte, – Soldat soll er werden!«
Seine Frau aber hatte mit weicher Stimme geantwortete »Laß ihn gewähren! Gottesfurcht und Frömmigkeit sind auch für einen Soldaten gute Mitgift! Und der Dekan hat einen so vortrefflichen Einfluß auf Josef! Das allzuviel seiner kindlichen Schwärmerei wird die rohe Hand des Lebens schon bald genug abstreifen, und was bleibt, ist der gute Kern, welcher Sturm und Wetter überdauert!«
So war der Knabe unter zwei mächtigen Einflüssen aufgewachsen, – unter demjenigen des Vaters und demjenigen seines Privatlehrers. Der alte Generalleutnant war die Verkörperung soldatischen Ehrbegriffs und aristokratischer Korrektheit. Seine Ansichten wurzelten noch tief in der Vergangenheit, wo der Edelmann Träger von Idealen war, wo sich Ritterlichkeit und Noblesse nicht nur in der Gesinnung zeigten, sondern sich auch in Äußerlichkeiten bethätigen mußten, wo das, was am fin de siècle zum unnötigen Aufwand geworden, noch als Taktbegriff, ja direkt als Pflicht seine Ansprüche an den Adel stellte. –
In jener Zeit glänzten die Wappenschilder noch golden, und im Schoß der eigenen Scholle barg sich noch ein Segen, welcher dem schönen Worte » Noblesse oblige« den nötigen Nachdruck verleihen konnte. Damals konnte der Adel seinen Verpflichtungen noch gerecht werden, und er that es mit höchstem Opfermut bis zur heroischen Selbstverleugnung, indem er all sein Hab und Gut, bis auf die Schmuckstücke und Zöpfe der Frauen und Töchter herab, auf dem Altar des Vaterlandes opferte, als die heiligen Flammen der Begeisterung während der Befreiungskriege emporlohten. –
Die Vaterlandsliebe und der Idealismus gingen Hand in Hand. Trotz des einschneidenden Wandels in den meisten Verhältnissen hielt die Pietät der Kinder dennoch an den Ansichten und Gepflogenheiten der Väter fest, sie waren ihnen zu Fleisch und Blut geworden, sie ließen sich nicht verleugnen, wie man nicht willkürlich die Gesichtszüge ändern kann, welche in ihrer Ähnlichkeit das Antlitz der Eltern spiegeln.
Auch Excellenz Torisdorff war in der Atmosphäre eines Grundbesitzes aufgewachsen, auf welchem noch der Geist vergangener Zeiten durch die so schlicht und einfach gewordenen Säle und Zimmer wehte. Die Titel waren geblieben, die Mittel aber von Jahr zu Jahr bedenklicher zusammengeschmolzen, so daß nur der äußerste Fleiß und die praktischste Ökonomie des Vaters, den ehedem so reichen Besitz der Familie erhalten konnte.
Die Lebensweise, die Erziehung der Kinder war schlicht und anspruchslos, dennoch wurde das einfachste Mahl von dem Diener in großer Livree serviert, und man setzte sich zu Pellkartoffeln und Hering mit derselben würdevollen Feierlichkeit nieder, wie ehemals die Groß- und Urväter in diesem Saal ihre opulente Speisenfolge eingenommen hatten. Die alte Kutsche hätte längst einem modernen, eleganten Landauer Platz machen müssen, und wer sie in ihrer ganzen, fadenscheinigen Dürftigkeit hätte stehen sehen, würde es nicht an Spott und Witz haben fehlen lassen, – wenn aber vier gut geschirrte Pferde davor gingen, und Kutscher und Diener in Gala darauf saßen, – wenn die hohen, imponierend stolzen Gestalten der Gutsherrschaft voll etwas altfränkischer Grandezza einstiegen – dann war das Ganze ein so harmonisches Bild, daß es nie seinen guten Eindruck auf den Beschauer verfehlte. Noblesse oblige! Die Töchter heirateten nicht unter ihrem Stand, sondern wurden – falls sich kein geeigneter Freier fand, – Stifts- oder Hofdamen, je nachdem es Neigung und Begabung bestimmten und die jüngeren Söhne hatten lediglich die Wahl zwischen Studium und Militärdienst, während der älteste das Gut übernahm und es im Sinne der Eltern weiterbewirtschaftete. –
Staatsdienst oder Militär! – Jeder andere Beruf war für einen Torisdorff ausgeschlossen, und wenn ein noch so eminentes Talent die glänzendste Künsterlaufbahn garantierte, oder besondere Passion oder Befähigung für den Kaufmannsstand sprach, – solch ein Gedanke allein wäre Verrat an den Traditionen der Familie gewesen.
Josefs Vater war der drittgeborene Sohn. Da zu dem Studium die Mittel nicht ausreichten, ward er für die militärische Laufbahn bestimmt. Sie sagte ihm zu, – er war ein geistvoller, strebsamer Offizier, welcher sich trotz seiner knappen Zulage als allgemein beliebter Kamerad in den besten Regimentern hielt und gute und schnelle Carriere machte.
Da ihm seine strenge Gesinnung eine Geldheirat als verächtlich, – ja geradezu ehrlos erscheinen ließ, und diejenigen Damen, für welche sein Herz in Liebe entbrannte, nicht in der Lage waren, einen mittellosen Leutnant heiraten zu können, so entsagte er der Ehe, bis ihm seine Einkünfte gestatten würden, ganz nach Neigung zu wählen. Er war bereits Oberstleutnant, als sich sein Schicksal entschied, und er das Ideal all seiner Träume in der reizenden Gräfin Ines Hagendorf verkörpert fand. –
Die junge Dame war früh verwaist und in einem königlichen Stift erzogen worden, – alsdann, sehr jung noch, der Kronprinzessin als Hofdame zuerteilt, mit welcher sie anfänglich längere Zeit auf Reisen und der Kränklichkeit der hohen Frau wegen in tiefer Zurückgezogenheit auf einem südlich gelegenen Schloß lebte.
Anläßlich einer Denkmalsenthüllung lernte Ines den Freiherrn von Torisdorff kennen, auf welchen die schlanke, so äußerst anmutige Blondine sogleich einen derart tiefen Eindruck machte, daß er voll glühender Leidenschaft um sie warb, und sie noch vor Schluß der ersten Saison als Braut in die Arme schloß.
Obwohl der Altersunterschied zwischen dem Paar ein sehr großer war, garantierte die gegenseitige sehr innige Zuneigung doch ein großes Glück, welches sich auch während der ganzen Ehe bethätigte. Dennoch war dieselbe eine jener unverantwortlichen, bei welchen nur an die Gegenwart, aber nicht an die Zukunft gedacht wird. –
Beide Ehegatten besaßen kein Vermögen, beide waren in mancher Beziehung verwöhnt und durch Namen und Stellung zu einem geselligen Leben gezwungen, bei welchem keine Ersparnisse zu machen waren.
Das hohe Gehalt des Freiherrn gestattete ja ein in jeder Beziehung behagliches Leben, und Ines, viel leidend und von einer sylphenhaften Zartheit, welche den besorgten und verliebten Gatten veranlaßte, sie auf Händen zu tragen, umgab sich gern mit einem Komfort, welcher ihrem eigenartigen Wesen erst die rechte Folie zu geben schien. –
Der einzige Sohn, welcher dem Ehepaar geboren wurde, wuchs, verhätschelt und verwöhnt wie ein kleiner Prinz, umgeben von zärtlichster Liebe und all den Huldigungen derer, welche in dienstlichen Beziehungen zu dem Vater und gesellschaftlichen zu der Mutter standen, als »Sohn des Regiments« gleich einem Bäumchen im Sonnenschein auf. –
Glückliche Kinderjahre! Seliges Genießen alles Schönen und Begehrenswerten, ohne Sorge, ohne Kummer, bestrahlt von dem Nimbus des höher und höher steigenden Vaters, – bis plötzlich die Nacht hereinbrach, welche all die blendende Helle in trostloser, grausamer Öde und Dunkelheit untergehen ließ! –
Ein Sturz von höchster Höhe in beklagenswerteste Tiefe!
Ein Schlaganfall machte dem Leben des Vaters ein jähes, unerwartetes Ende.
Die junge Witwe und ihr Söhnchen blieben ohne nennenswertes Vermögen, lediglich auf die spärliche Pension angewiesen, zurück.
Welch ein grauenvoller Umschwung! Unerträglich für eine Frau, welche so sehr des Sonnenscheins und des Glücks bedurfte, um ihre zarte Blumenseele zu erhalten!
Was sollte sie beginnen? Sich losreißen von allem, was ihr lieb und unentbehrlich war, und sich in einem bescheidenen Winkel verstecken, um kümmerlich ihr Leben zu fristen? – Nein, lieber sterben! Der Name Torisdorff durfte nicht im Armenviertel untergehen, – Noblesse oblige! –
Eine wohlhabende Verwandte nahm sich der jungen Frau an, – bei Hofe interessierte man sich voll warmer Teilnahme für die ehedem so glückliche, gefeierte Begleiterin der Kronprinzeß. Von allen Seiten erwies man ihr Freundlichkeiten und so wurde die Einsame voll doppelter Aufmerksamkeit in den ihr gewohnten Kreisen festgehalten.
Und Ines sagte sich abermals: » Noblesse oblige!« – dieses Lieblingswort des verstorbenen Gatten, welches derselbe ihr und seinem Sohn so oft als Richtschnur fürs Leben gegeben, und sie richtete mit Hilfe der Tante ihr Leben ein, daß kein Schatten auf den blanken Schild der Torisdorff fallen konnte.
Eine Wohnung im guten Stadtviertel, in elegantem Haus, – ein Heim, in welchem man aus dem ehemaligen luxuriösen Quartier ein vornehm behagliches Nestchen einrichten konnte.
Die Menschen sehen ja nur, was vor Augen ist! Dementsprechend muß der Zuschnitt, das Äußere sein, – wie sie und Josef sich hinter den Coulissen einschränken, das wird nie jemand erfahren und ahnen. – Noblesse oblige« –
All die vielen, vorteilhaften Beziehungen, welche Excellenz zeitlebens kultiviert hat, dürfen nicht abgebrochen werden, – um des Sohnes willen nicht. Josef muß Konnexionen haben, wenn er dereinst als mittelloser Offizier in die Armee eintritt, – ohne thatkäftige Hilfe von oben kann nichts aus ihm werden, denn er ist leider Gottes allzusehr das Kind seiner kränklichen Mutter. Ines gab ihn auch darum nicht in das Korps, ihre ganze Seele hängt an dem Liebling, dem einzigen Glück, welches ihr noch geblieben!
Wird er überhaupt Soldat werden können? – Dieser Gedanke peinigt und quält die besorgte Mutter Tag und Nacht. – Was soll sonst aus ihm werden? Zum Studium reicht die Witwenpension nicht – und ein anderer Beruf? – Er ist ein Torisdorff! er kann und darf nichts ergreifen, was nicht standesgemäß ist! – Noblesse oblige!
Priester! – Ja, Priester, – das wäre noch die einzigste Möglichkeit, – die katholische Kirche sorgt für die Söhne ihrer glaubenstreuen Edelleute, und Josef würde gewiß zu Rang und Ehren steigen – – aber seine Jugend – sein Herz – sein Glück ist geopfert!
Die jugendliche Excellenz, welche selber so gern gelebt und so heiß geliebt hatte, schlägt bei solchen Gedanken die Hände voll Entsetzen vor das zarte Antlitz.
Ihr einziges Kind! – Ihr Liebling! – Nein, tausendmal nein! Er soll auch glücklich werden! Aber wie? Ach, daß sie es mit ihrem Herzblut erkaufen könnte, das Glück! – Wer aber handelt es ihr ein?
Voll bitterer Qual ringt sie oft die feinen, ringgeschmücktcn Hände, welche wie blasse Rosenblätter in ihrem Schoß ruhen; sie ist viel zu matt, viel zu kraftlos, um voll kühnen Muts den Kampf mit dem Schicksal wagen zu können, – für ihr Kind! –