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Wenn das Schicksal mit einem Besonderes vor hat, dann sendet es ihm zu Zeiten wohl einen Tag oder eine Stunde, wo alle Nebel sich heben, die sonst die Dinge des Lebens und ihr Zueinander verdecken. Das sind die Zeiten hellsehender Ahnung, wo in eines Knaben Brust »das Herze schwillt« und alles wunderbar, beziehungsreich und voller Tiefe ist. Im Zurückschauen aus der Entfernung späterer Jahre ist solch ein Tag wie ein klares Bild in tiefem Rahmen, losgelöst von allem Vorher und Nachher, und auch was etwa taub und fremd nebenher ging, ist zurückgeschoben und überdeckt, als wäre das Bild klug abwägend von der Hand eines Künstlers gemalt, der ein reines Herz und ernstverstehende Gedanken hatte.
*
Als ein solches Bild erscheint mir der ferne Sommertag in meiner Heimat, der mich Liebe und Tod in bedeutungsvoller Ahnung begegnen ließ.
Ich war damals fünfzehn Jahre alt und weiß noch, wie sehr ich mich schämte, als meine Schwester bei meiner Ankunft auf dem Bahnhof in lebhaftem Backfischeifer laut und lachend feststellte, daß ich seit den Osterferien aus einem Mädchen beinahe ein Mann geworden sei.
Verstohlen warf ich einen schnellen Blick nach dem fortrollenden Zug, um zu erfahren, ob die blonde Hedwig, deren Augen so rätselhaft glänzten, wenn ich mit ihr sprach, diese vorlaute und – wie mir vorkam – unpassende Bemerkung gehört hatte. Aber von den glänzenden Augen war nichts mehr zu sehen, und Hedwig fuhr weiter bis zur nächsten Station, wo sie von ihrem Vater, dem Doktor Klee mit dem dicken, schwarzen Vollbart und der goldenen Brille, erwartet wurde.
Sie hatte mir unterwegs erzählt, daß sie sich schon »unbändig« auf den Sommer freue und jeden Tag baden gehen wolle, daß sie ein neues »Dirndlkleid« bekommen habe mit einem »entzückenden« Tuch und langem Rock – bis daher – sie zeigte gegen die Mitte ihrer Schienbeine – nicht mehr so patschig und kurz wie früher, denn Papa habe gesagt, von einer Dame dürfe niemand wissen, daß sie Knie habe – er mache überhaupt immer Witze – es sei zum »totlachen« –.
Und so hatte sie fortwährend etwas Neues gewußt – es war zum Staunen – während ich meist schweigend ihre Worte und Blicke auf mich wirken ließ. Denn das Schweigen schien mir männlicher, und dann fiel mir auch gar nichts ein, wofür ich bei der beweglichen Hedwig hätte Mitleben voraussetzen können. Aber ich war bei weitem nicht teilnahmslos. Im Gegenteil: Ich bebte vor innerem Leben und konnte mich nicht erinnern, jemals so aufmerksam einer Rede gelauscht zu haben.
So verging diese Fahrt natürlich unerwartet rasch, und nun war man plötzlich da.
Die Schwester küßte mich sonderbar stürmisch, und als ich sie ansah, bemerkte ich auch in ihren Augen dieses seltsame, glitzernde Feuer. Dann schloß mich die Mutter in die Arme und sah mich prüfend und voll Liebe an. In diesen Augen war kein Zucken und Blinken, man konnte lange hinsehen und fühlte sich wohl und geborgen; es war also doch nicht alles anders geworden in diesen wandlungsreichen letzten Monaten.
Unter Fragen, Grüßen und Händeschütteln – denn hier war jeder Mensch ein Bekannter – ging ich über den Bahnsteig. Das Dienstmädchen, das mich zum erstenmal mit »Sie« anredete und rot wurde, so oft ich hinsah, trug mit Stolz den kleinen Lederkoffer, über den kühn und herausfordernd ein Rapier geschnallt war. Es war eine ausgemusterte Übungsklinge, die ich von einem Kollegen bekommen hatte, dessen Vater Fechtmeister war; daß daran ein spannenlanges Ende fehlte, tat der Wirkung keinen Eintrag.
»Aha! Ein Schläger!« sagte der Herr Bahnvorstand in einem Gemisch von Bewunderung und Kennerschaft und, als gedenke er absolvierter Akademien, fügte er mit leiser Wehmut hinzu:
»Ja – die Studentenzeit! Oh, alte Burschenherrlichkeit –.«
Ich kam mir großartig vor und dachte an Hedwig.
Auf dem kleinen Platz vor dem Bahnhofgebäude standen streng gerichtet, nach der Größe geordnet, in vollem Waffenschmuck vierzehn indianische Krieger. Der Anger Gottfried, der ihr Häuptling war, trat vor, salutierte mit der hölzernen Streitaxt, als wäre sie ein Infanteriesäbel, und meldete feierlich stramm:
»Der Stamm der ›Krähenfüße‹ grüßt dich, großer Häuptling!«
Darauf erhoben die Krieger das Begrüßungsgeheul, indem sie ihre Waffen schwenkten und im Gänsemarsch um mich herumhüpften. Ich erinnerte mich erst jetzt daran, in den letzten Osterferien den »Stamm« selbst ins Leben gerufen und dieses Zeremoniell eingedrillt zu haben. Nun aber fühlte ich mich von der kindischen Komödie aufs peinlichste betroffen und empfand zugleich eine leise Rührung über die unbeholfene Art, in der mich hier ehrliche Freundschaft empfing. Ich gab dem »Häuptling« schnell die Hand und sagte ein wenig gestört:
»Servus! Das ist hübsch von dir – das ist hübsch von euch – wie geht's dir immer, Gottfriedl? – Ah, da ist ja auch der Willi – der geht ja auch schon in die Schule – nicht?«
Die Indianer standen still und sahen mich erwartend an. Auch Gottfried hatte auf eine feierliche Gegenformel gerechnet und war nun etwas enttäuscht. Es war demnach eine allgemeine Erlösung, als meine Mutter die Freunde und ehemaligen Schulkameraden lächelnd aufforderte, nun wieder recht oft in unseren weiten Garten hinüberzukommen, wo sie doch immer ihre Jagdgründe gehabt hätten. Sie versprachen es freudig und lebhaft, indem sie dabei ganz aus ihrer Rolle fielen, die ein sonderbares Gemisch von indianischer Wildheit und militärischem Drill darstellte, und zogen, die Holzwaffen schwingend, ab.
Seither waren vierzehn Tage vergangen. Ich war daheim und fühlte mich dennoch mit jeder Stunde fremder. Es war etwas Neues, etwas Unbekanntes in mein Blut geraten, das mich lockte und störte, mich stundenlang aus dem Fenster über den Garten hin nach dem Walde sehen ließ, ohne daß ich dort etwas suchte. Wandte ich mich dann ins Zimmer zurück, so war es mir wieder um viele Züge entrückt, obgleich sich seit den letzten Ferien gar nichts darin geändert hatte; zuweilen machte ich dann, wie um den quälenden Geist zu bannen, einen raschen, zornigen Schritt gegen die Bücherstelle, riß einen beliebigen Band aus der Reihe und begann mit fester Absicht darin zu lesen, als müßte ich so den Faden wiederfinden, der mich mit den Indianer- und Seemannsgeschichten des »Guten Kameraden« so innig verbunden hatte. Immer aber warf ich das Buch nach wenigen Minuten hin, und es war mir schon geschehen, daß ich in unbeholfenem Zorn hart und widerwillig zu weinen anfing.
Diese Indianergeschichten waren zweifellos dumm. So viel stand fest. Das alles war erlogene Oberfläche, in Wahrheit mußten Männer ganz anderes denken und wollen, was mit Kriegspfad, List und Mord gar nichts zu tun hatte und doch wichtiger und bedeutender war. Daß ich aber trotz dieser sicheren und sehr lebendigen Ahnung nicht im geringsten wußte, um was es sich dabei handelte, das trieb und jagte mich, ließ mich grübeln und sinnen und konnte mich bis zu Tränen martern.
Aber nicht nur die Bücher, auch die Wirklichkeit wollte nichts von mir wissen. Gedankenverloren sah ich die Sonnenflecken auf dem Teppich des Zimmers tanzen, hörte im großen Lindenbaum die Vögel zwitschern und spielende Kinder in der Ferne ein Reigenlied singen. Die Kameraden bekriegten einander, indem sie sich in feindliche »Stämme« teilten, stellten Vogelfallen, hoben Wieselnester und Eulenhorste aus und schossen mit der Schleuder nach den Eichhörnchen. Ich tat wohl zuweilen mit, galt ich doch seit Jahren als bester Schütze und kühner Baumkletterer, war aber stets nur halb dabei, sah mir gleichsam selbst zu und fand es mit einem Male läppisch, einen eingebildeten Feind zu beschleichen oder eine Wieseljagd für einen Löwenkampf zu nehmen.
Wo es anging, vermied ich nun diese Kindereien, denn so empfand ich plötzlich alles, was mir noch vor wenigen Monaten Lebensinhalt gewesen war. In der Welt der Erwachsenen aber war für mich gleichfalls keine Heimat. Meine Schwester und ihre Freundinnen, die alle kaum ein oder zwei Jahre älter waren als ich, sahen gleichwohl spöttisch und überlegen auf mich herab, hatten stets Geheimnisse und trällerten allerlei neue Lieder, die von Sehnsucht, Liebe und Küssen schwärmten. Versuchte ich jedoch ein solches Verslein nachzusingen, so wurde ich von ihnen allen rücksichtslos ausgelacht. Das kränkte und erbitterte mich umsomehr, als ich deutlich fühlte, daß diese Lieder wirklich etwas sagten, was ich noch nicht sagen konnte und die Mädchen also mit ihrem Spott nicht ganz unrecht hatten. So kam es, daß ich mich oft aus Trotz kindischer und ungebärdiger gab, als ich war, und die verachteten Knabenspiele mit verbissenem Eifer wieder aufnahm – freilich nur für kurze Stunden, um dann desto vollständiger an mir zu verzweifeln.
Kurz: Ich erlebte in diesen Tagen eindringlich und leidenschaftlich alle die treibende Qual, die man oft gedankenlos als glückliche Jugend bezeichnet, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß es nur der ungeheure Überschuß an aufbauenden Kräften ist, der die jungen Menschen über die gefährlichsten Klippen der bewegtesten Lebensjahre hinwegreißt, ohne daß sie selbst ahnen, wie ihnen geschieht.
*
Im Hause wohnten auch dieses Jahr Sommergäste, ferne Verwandte, die ich noch nie gesehen hatte, aber das stündliche Beisammensein in Hof und Garten machte mich ihnen bald vertrauter, als es meiner Anteilnahme an und für sich entsprochen hätte. Auch saßen wir an warmen Abenden oft plaudernd auf der Veranda, und es kam mir vor, daß die Gespräche, die da im Halbdunkel aufstanden und sich langsam oft über Mitternacht fortspannen, ein seltsam vertieftes Leben hatten. Indem jemand ins Dunkel spricht, ohne den Hörer zu sehen, gibt er sich echter und einfacher, gleichsam ohne Maske, und ist auch nicht durch Blicke oder Mienen aus seiner Linie zu bringen. So kamen mir die Fremden in diesen Stunden näher, als sie wohl selbst ahnen mochten.
Die Familie bestand aus einer alten Tante, zwei erwachsenen Söhnen und einer Tochter, die ebenfalls etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte und Marianne hieß. Sie trug stets weiße Kleider und helle Schuhe, und da sie schwarzes Haar und dunkle Augen hatte und bald recht sonnengebräunt aussah, war etwas Zigeunerhaftes in ihrer Erscheinung, was auf mich einen starken, fremdartigen Eindruck machte. Sie lehrte mich das Zigarettenrauchen, forderte mich gerne zum Streiten und noch lieber zu kleinen Ringkämpfen heraus, in denen sie sich stets besiegen ließ, trotzdem sie, wie ich bald feststellen konnte, sehr gewandt und griffsicher war. Aber das Unterliegen schien ihr Freude zu machen, und wenn ich sie etwa mit ungestümem Schwung in einen Heuhaufen geschleudert hatte und erhitzt und triumphierend über ihr stand, konnte sie mir bisweilen aus ihren schwarzen Augen einen Blick zuschießen, der mir fremd und lockend zugleich erschien, mir aber alle Freude und Sicherheit meines Sieges nahm.
»Wenn du einen packst, das spürt man außen und innen –«, sagte sie dann etwa, und im Klang ihrer Stimme schien mir jenes Geheimnis zu zittern, das mir in diesem Sommer ins Blut geschlichen war und überall in tausend Gestalten verborgen gegenwärtig schien. Und wieder war ich voll Ärger, daß ich seine Deutung nicht wußte.
Je öfter ich Marianne besiegte, desto weniger wollte sie es zugeben, aber ich empfand schließlich eine mir selbst ungewohnte Scheu davor, mit ihr anzubinden und zu ringen, und wich ihr am Ende immer öfter aus, wenn es irgendwie möglich war.
*
Was mich aber von ihr wegtrieb, war nicht allein der Unwille darüber, daß Marianne trotz meiner Siege mir stets überlegen blieb, sondern wohl in erster Reihe die unentwegte, ziehende Sehnsucht nach der blonden Hedwig Klee, deren Bild eindringlich stark in mir lebte, seit wir damals zugleich aus der Stadt in die Ferien gereist waren.
Sie wohnte im Nachbarort, eine halbe Gehstunde weit, und ich sah sie deshalb nie, obgleich ich fast jeden Tag mit dem Zweirad ausfuhr und die Villa des Doktor Klee zuerst von weitem, dann aber immer enger umkreiste. Den Doktor, der auch Radfahrer war, grüßte ich mit besonderer Freundlichkeit, schon wenn ich ihn aus der Ferne herankommen sah, von Hedwig aber konnte ich keine Spur entdecken. Um so hungriger zehrte die Sehnsucht an mir, und vollends überraschte mich deshalb ein kleiner, rosafarbener Brief, den ich eines Tages auf meinem Tische fand.
»Warum kommen Sie nicht näher?« stand da in zierlicher Schrift, und außer einem Gruß und ihrer Unterschrift war auf allen vier rosigen Seiten, so sehr ich auch suchte, nichts zu finden.
Diesen einen Satz aber las ich eine ganze Stunde lang.
Dann band ich einen roten Seidenschlips unter meinem kühn zurückgeschlagenen Hemdkragen, schwang mich aufs Rad und fuhr der Liebe entgegen.
*
Ich traf Hedwig früher, als ich erwartet hatte. Schon auf halbem Wege kam sie vom Waldrand her einen schmalen Steig herab, der zwischen hohen Feldern und Gebüsch hügelauf und -ab in mancher Windung außen um den Ort herumführte und an weitüberschauenden oder lauschig verborgenen Plätzen kleine Bänke stehen hatte. Ich wußte, daß dieser Steig allgemein der »Liebesweg« genannt wurde, aber jetzt erst, als ich mein Rad führend mit klopfendem Herzen und stockender Rede neben Hedwig herging, empfand ich die Lebensfülle dieser Bezeichnung, die ich früher gedankenlos nachgesprochen hatte.
Hedwig trug die liebe Volkstracht meiner Heimat, durch keine Zutaten und Ziermätzchen geändert, weit entfernt von den schillernden Faschingskostümen, die sich so oft für ein Bauernkleid ausgeben möchten. Rock und Leibchen waren aus sogenanntem Blaudruckleinen, der Brusteinsatz und die kurzen Ärmel aus gelblichem Nesselzeug, Schürze und Strümpfe von mattblauer Farbe, etwas lichter als das Kleid. Sie hatte feste, dunkle Niederschuhe an, und nur das weiche, feingeblümte, langfransige Schultertuch – offenbar ein wertvolles Familienerbstück – unterschied ihre Tracht vom Alltagskleid der Landmädchen. Freilich: Wie sie gehen konnte, wie sie den klugen Kopf mit den mehrmals herumgeschlungenen, goldschimmernden Zöpfen zu tragen und zu drehen verstand, das machte ihr nicht jedes Dirnlein nach.
Wieder, wie auf unserer Bahnfahrt, führte sie die Unterhaltung. Sie habe mich schon oft vorbeifahren sehen, auch ihr Vater habe von mir gesprochen und gestaunt, wie groß und stark ich im letzten Halbjahr geworden sei. Diese Bemerkung machte mich sehr stolz.
Bei einer Bank, von wo man über die Ortschaft hinsehen konnte, blieben wir stehen. Auf den Dächern lag die späte Sommersonne, da und dort sah man einen Menschen langsam und feierabendlich über die Straße schlendern, und wir beide hätten jeden beim Namen rufen können. Dort schlurfte auf Holzpantoffeln der Schuster Kohl und im Tor des »Sandwirts« politisierte der alte Singer mit dem Wachtmeister Wiegl. Alles da unten, Stein und Leben, war uns lang und innig vertraut; das Gefühl der Heimat überkam mich plötzlich heiß und neu, und indem ich das liebe, blonde Mädchen im einfachen Kleid neben mir stehen und still hinunterschauen sah, erschien sie mir wie die Seele dieser Landschaft, wie die Vereinigung alles dessen, was ich hier so eingeboren liebte, wie ein kleines, oft gehörtes Liebeslied, das durch den Sommerabend schwebt.
Ich tastete nach ihrer Hand und fand sie auf dem gleichen Weg; ohne ein Wort zu sagen, setzten wir uns auf die Bank und sahen noch eine Weile auf unsere Heimat hinunter.
»Es ist so schön –,« sagte Hedwig langsam ohne den Blick zu lösen, »das alles – daß Sie gekommen sind – und daß wir hier sitzen – und hier daheim sind –«, und als ich in der Überfülle meines Herzens keine Antwort fand und nur ihre Hand ein wenig fester nahm, wandte sie sich auf einmal zu mir, sah mich gerade an und fragte hell und lustig:
»Waren Sie denn schon einmal richtig verliebt?«
Was da in mir vorging, ist am besten dem plötzlichen Felsensturz eines ruhig fließenden Baches zu vergleichen. Es schäumte und sprudelte, ich fühlte jähe Hitze in meinen Wangen, und Dorf und Wald und Mädchen tanzten vor meinen Blicken. Ich konnte weder ja noch nein sagen, denn beides wäre nicht wahr gewesen. So schwieg ich denn und sah ihr eine lange Weile in die blanken, dunkelblauen Augen und hörte auf den jagenden Hammerschlag meines Blutes.
»Nun?« fragte sie auffordernd.
Da sagte ich statt jeder Antwort einfach heraus, was ich vor mir sah:
»Sie haben so schöne, glänzende Augen –. Warum glänzen Ihre Augen so schön –?«
Ich war überrascht, daß meine Stimme auf einmal anders klang, und fühlte, daß hier etwas mitschwang, was bisher geschwiegen hatte.
Hedwig lachte kurz auf.
»Meine Augen? Was ist Ihnen daran nicht recht? Die sind von selber so.«
Sie machte eine kleine Pause und sagte dann, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen:
»Aber man kann sie noch viel stärker glänzen machen –.«
Und nun erzählte sie mir in ihrer munteren Art, sie habe neulich wieder in den medizinischen Büchern des Vaters herumgestöbert, – das tue sie öfters, und man finde da »fabelhaft interessante« Dinge – und diesmal habe sie in einem Werk gelesen, man könne den Glanz der Augen erhöhen, wenn man Tollkirschensaft einträufle. Deshalb heiße die Tollkirsche auch »bella donna«, weil die Frauen durch sie viel schöner würden.
»Aber Tollkirschen sind doch giftig«, wandte ich ein.
»Freilich, essen darf man sie nicht!« rief Hedwig, »aber ich möchte doch welche haben, ich muß Tollkirschen bekommen! Sie können sich dann auch die Augen damit glänzend machen. In dem Buch stand: ›Der Blick wird lockend, von dunklem Feuer, und bekommt etwas Verführerisches. Deshalb wird ‘ bella donna’ häufig von den Priesterinnen der Venus gebraucht –.‹«
»Die gibt's ja nicht mehr,« sagte ich, »das war im Altertum – bei den Römern –.«
»Aber das Buch ist ganz neu,« entgegnen Hedwig, »es steht erst seit einem Jahr im Bücherschrank –.«
Ich zuckte die Achseln. Es fiel mir ein, daß zwei Stunden von unserem Haus waldaufwärts ein Platz war, an dem Tollkirschen wuchsen. Die Gegend hieß das Eichkreuz, denn es hatte einmal eine Wegkapelle dort gestanden, von der freilich bis auf ein morsches Kreuz nichts mehr da war. Selbst war ich noch nie dorthin gekommen, aber von den Försterbuben wußte ich, daß das Eichkreuz ein verrufener, unheimlicher Ort war. Einmal hatte man dort im Gebüsch den verwesten Leichnam eines Jägers gefunden, der schon ein ganzes Jahr gesucht wurde. Man konnte nicht feststellen, wie der Jäger gestorben war; zuerst riet man auf einen Kampf mit Wilderern, es gab aber keine Anhaltspunkte, und als zu derselben Zeit eine junge Bauernfrau dieser Gegend, die seit Jahresfrist mit einem alten Geizhals verheiratet war, plötzlich wahnsinnig wurde und immer beim Eichkreuz im Wald herumstreifte, setzte sich allenthalben die Meinung fest, der Jäger habe sich wegen der unnatürlichen Geldheirat seiner Herzliebsten mit den Tollkirschen vergiftet, die dort üppig wucherten.
Eines Tages nun – so erzählten die Försterbuben weiter – hätten zwei Holzknechte, die nahe am Eichkreuz Bäume schlugen, im Wald eine Frauenstimme wunderfein singen hören; als sie nachsahen, fanden sie die närrische Bäuerin mitten in den Tollkirschen sitzen, und während sie eifrig eine Beere nach der andern in die hohle Hand pflückte, sang sie mit einer klaren und ein wenig traurigen Stimme ein einsames Lied von der Liebe. Wie aber ihr Blick auf die zwei bärtigen Waldknechte gefallen sei, habe sie hastig, wie ein Kind, das um seinen Besitz fürchtet, die ganze Hand voll Giftbeeren schnell in den Mund gestopft. So eilig die beiden Holzer auch zusprangen, es war schon zu spät; die Bäurin hat den andern Tag nicht mehr gesehen.
Diese merkwürdige, wehe Geschichte kam mir wieder in den Sinn, als ich Hedwig von Tollkirschen reden hörte, und nun war es mir erst ganz sicher, daß die junge Bäuerin und der Jäger einander geliebt hatten und daran gestorben waren. Vielleicht hatte auch sie Gift in den Augen gehabt, und ihr Blick, der dem Jäger den Frieden nahm, war gewiß dunkel und lockend gewesen.
Ich schwieg und dachte an die schwarzen Giftbeeren, die in den Augen das Liebesfeuer anzünden und zugleich den Tod bringen.
»Wenn ich nur wüßte, wo hierherum Tollkirschen wachsen, ich würde sie mir gleich holen«, sagte Hedwig. »wissen Sie keinen Platz?«
»O ja«, entgegnete ich langsam und nachdenklich.
»Wo?«
Ich wußte nicht recht, ob ihr die traurige Begebenheit, deren Kunde sich um das Eichkreuz spann, bekannt war. Wahrscheinlich hatte auch sie schon davon gehört, und so hätte eine Erwähnung dieses Ortes die herzleidige Sache wieder herangerufen. Dagegen aber stemmte sich in mir eine fast abergläubische Angst um den reinen Frieden dieser Stunde, und so sagte ich nach kurzem Nachdenken:
»Das verrate ich Ihnen nicht. Aber wenn Sie mitkommen wollen, so führe ich Sie hin.«
»Was für Geheimnisse!« lachte sie, »gut, ich komme mit. Wann gehen wir?«
Wir bestimmten gleich den nächsten Tag, und da der Weg zum Eichkreuz starke zwei Stunden verlangte, so bestellten wir uns für die dritte Stunde nach Mittag zum Jägerhaus, das am Waldessaum stand, und zu dem wir beide gleich weit hatten. –
Als die Aveglocke heraufklang, standen wir auf.
Wir hatten einander während der ganzen Zeit nicht losgelassen, und so gingen wir auch jetzt Hand in Hand den »Liebesweg« hinunter, zwischen reifen Ährenfeldern, in denen wir ganz verschwanden, dann ein kurzes Stück neben den flüsternden Weiden am Bach, über den kleinen, wankenden Steg und schließlich durch eine weite, sirrende Wiese, darüber kleine Abendschmetterlinge einen stummen Reigen tanzten.
An der Straße, nahe bei ihrem Hause, trennten wir uns.
»Also morgen!« sagte ich.
»Ja – morgen –.«
»Bestimmt!«
»Ganz sicher.«
»Gute Nacht –.«
»Schlaf wohl!«
»Träume süß!«
»Du auch –.«
Ich sprang aufs Rad und schaute oft zurück. Sie sah mir nach. Auf einmal winkte sie lebhaft. Ich kehrte um und war gleich wieder neben ihr.
»Wenn aber morgen an der geheimnisvollen Stelle keine Tollkirschen stehen, dann schau ich dich nie, nie mehr an!« sagte sie lachend und drohend zugleich, und ehe ich noch beteuern oder versichern konnte, hatte sie sich schnell gedreht und lief, ohne zurückzusehen, ihrem Hause zu.
*
Auf der Heimfahrt geriet ich in ein rasendes Zeitmaß, denn eine ungestüme, drängende Kraft war plötzlich in meine Glieder gefahren. Hedwig hatte »du« zu mir gesagt, und ich hatte es erwidert, ohne daß sie sich daran stieß. Es war einfach von selbst gekommen, ohne Abmachung, ohne förmliche Bruderschaft – wieder und wieder hörte ich den leise singenden Tonfall ihrer Stimme – »Schlaf wohl –«.
Und morgen würden wir mitsammen durch den Wald gehen – ganz allein – wie zwei richtige Liebesleute – zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück – uns immer an der Hand führen – und wohl auch einmal eine Weile rasten –. Ich konnte es gar nicht ausdenken, daß wir uns vielleicht auch küssen würden; aber undeutlich schwebte eine Szene dieser Art doch immer im Ziel aller meiner wirbelnden Gedanken.
*
Der Abend schmeichelte wie laues Wasser, als ich nach dem Nachtessen in den Garten ging. Die Blätter hingen sonnenmüde und satt an Büschen und Bäumen, vom Blumenbeet herüber wehte schwerer, honigsüßer Duft. Große Windenschwärmer schnurrten geheimnisvoll durch die weiche Dämmerung. Früher hatte ich sie gefangen und aufgespießt; heute sah ich ihnen staunend zu, wie sie mit langausgestrecktem Saugrüssel von Blume zu Blume schwebten, einander umgaukelten und dann plötzlich ins Dunkel schossen. Auch sie waren mir mit einem Male irgendwie näher gekommen, wie der tote Jäger und seine Herzliebste, die an den Tollbeeren starben, wie dieser ganze Abend mit der unendlichen Fülle von raunendem Leben und verborgenem Glück.
Ich ahnte plötzlich, daß zu dieser Stunde auf heimlichen Wegen Hand in Hand Liebespaare gingen, einander »du« sagten und sich küßten. Das »dunkle Feuer«, wovon Hedwig in dem Buch gelesen hatte, schien mir im Augenblick überall zu glosen, im Saft der Bäume und Büsche, in den lockenden Blumen, den surrenden Schmetterlingen und in mir selbst, und ich dachte gar nicht daran, daß dieselbe Kraft, aus der dieses Feuer sprang, auch ein Todesgift sein konnte.
Hinter der Laube, wo frisches Heu auf der Wiese lag, begegnete mir Marianne. Kaum sah sie mich, hatte sie mich auch schon gepackt und rief:
»Ich muß dich doch wieder einmal unterkriegen, du bist mir schon lange zu stolz und spröde –!«
Und sie bemühte sich mit voller Kraft, mich zu werfen. Ich beschränkte mich aufs Abwehren, drehte ihren Arm zurück, daß sie vor Schmerz aufschrie, und hielt sie mir, so gut es ging, vom Leibe. Sie ließ denn auch bald von mir ab, indem sie vorgab, ich hätte ihr den Arm ausgerenkt, zog ihr schmales, silbernes Zigarettenetui, das sie immer im Gürtel stecken hatte, hervor und trat in die Laube.
»Komm, kleiner Grobian, rauchen wir die Friedenspfeife«, sagte sie und streckte sich auf den Liegestuhl, auf dem sie fast den ganzen Tag, Romane lesend, zuzubringen pflegte. »Eigentlich sollte ich böse auf dich sein, denn du hast mir sehr weh getan. Aber ich will Milde walten lassen, weil du so schöne Augen hast. Da – du darfst dir sogar eine Zigarette nehmen.«
Sie hielt mir die Tabaksdose entgegen, so daß ich näher kommen mußte.
»Setz dich,« sagte sie, und deutete einladend auf den Rand des Liegestuhles, »wir haben schon beide Platz –.«
Ich folgte ihrer Aufforderung, nahm eine Zigarette, und sie reichte mir die eigene hin, daß ich daran anrauchen konnte. Dabei wandte sie keinen Blick von mir, verfolgte stets lächelnd durch die langen, dunklen Wimpern jede meiner Bewegungen und freute sich offenbar an meiner Verlegenheit.
Ein Schweigen entstand.
Verstohlene Mondlichtflecken glitten, wie sich das Weinlaub in der Abendluft regte, über Boden, Bank und das weiße Kleid Mariannens, über ihren braunen Arm und die schmale Hand, die die glimmende Zigarette hielt; ein säuselnder Nachtfalter hatte sich zu uns verirrt und stieß fortwährend an das Dach der Laube.
Ich suchte möglichst unbefangen zu rauchen, und um nicht länger schweigend ihren Blicken ausgesetzt zu sein, sagte ich, ein Wort, das ich vor einigen Stunden gehört hatte, gedankenlos zum besten gebend:
»Sie haben Augen wie eine Priesterin der Venus –«
Marianne fuhr in die Hohe.
»Was redest du da!« rief sie aufs höchste überrascht, »was weißt du von –?«
Ich fühlte, daß ich ihr in diesem Augenblick über war, obgleich ich keine Ahnung hatte, warum.
»Die hatten nämlich › bella donna‹ in den Augen,« sagte ich belehrend, »das gibt dem Blick ein dunkles Feuer –.«
Sie sah mich zweifelnd an. Der Nachsatz schien meiner Überlegenheit stark geschadet zu haben. Um mich aber noch wissender zu zeigen, fuhr ich fort:
»Bei den Römern natürlich oder bei den Griechen als es solche Priesterinnen noch gab –.«
»A so –,« sagte Marianne, und legte sich wieder zurück, »bei den Griechen –?«
Wieder rauchten wir wortlos, indes das Mondlicht in den Blättern spielte. Plötzlich erhob sich Marianne, kam mir ganz nahe, so daß ich ihren Atem an meiner Wange spürte, und flüsterte:
»Du bist ein dummer, dummer Junge –!«
Zugleich packte sie mich an der Schulter und wollte mich niederringen. Aber da war ich auch schon los und sprang auf.
»Wer ist dumm?«, rief ich keck, und begann wütend auf sie einzuboxen. Sie war mir plötzlich nicht mehr das Fräulein, das man achten, auch kein Mädchen, das man schonen mußte, nur jemand, der mich dumm haben wollte, was mich gerade am Abend eines solchen Tages aufs tiefste beleidigte.
Schreiend entfloh sie, ich jagte hinter ihr her, und so stürmten wir erhitzt und mit fliegendem Atem mitten in die Gesellschaft, die, wie jeden Abend, auf der Veranda eben ihre bedächtige Plauderstunde hielt. Dort stimmten wir beide in das allgemeine Gelächter ein, das uns empfing, und die züngelnde Flamme, die zwischen uns zweien aufgezuckt war, mit breiter Ahnungslosigkeit verdeckte.
So wenig, wie ich um sie, kümmerte sich Marianne den weiteren Teil des Abends um mich.
*
Früh morgens stand ich am Fenster meiner Kammer und schaute über den Garten nach dem Wald hinüber. Aber heute gingen meine Augen nicht mehr leer und unstät, sie verstanden alles, was sie sahen, und ich nickte voll klarer Freude dem jungen Tage zu, in dessen morgenfrischem Antlitz Heimat und Liebe lächelten.
Ich sah nach dem Wetter. Leichte Taunebel schleierten über den Wiesen und zogen sich bis gegen die Mitte der Berghänge. Da sie nicht höher stiegen, sondern sich leicht in die Mulden senkten, stand ein sonniger Tag zu erwarten. So gut ich aber auch seit Jahren hier alle Wetterzeichen kannte, an diesem Vormittag traute ich mir selber nicht, schaute lange nach jeder kleinen Wolke, die am Horizont auftauchte, beobachtete argwöhnisch ihre Richtung und ihr Wachstum, fragte jeden Menschen, ob es wohl heute nachmittag nicht regnen würde, und sah sogar nach dem Barometer, das ich sonst immer mit Geringschätzung behandelte.
Mit solcher Forschung brachte ich den ganzen Vormittag hin, kümmerte mich nicht um die Indianer, die in den »Prärien« hinter der Laube lärmende Kämpfe aufführten, und suchte vor allem jede Begegnung mit Marianne zu vermeiden.
Ruhelos durchstreifte ich alle Winkel in Haus, Hof und Garten, fing allerlei Handwerk an, um es gleich wieder stehen zu lassen, und wo immer ich mich auch festsetzen wollte, nirgends fand ich an diesem Vormittag einen Platz, wo ich mich hätte verbergen und meiner Stunde entgegenträumen können.
*
Durch eine Wiese, die mit tausend Stimmen sang, ging ich langsam dem Walde zu.
Ich hatte es nicht eilig, denn ich war eine ganze Stunde früher dran. Auch war, seit ich dem Ziel entgegenging, eine glückliche Ruhe in mir, die mich auf alles, was lebte und rief, innig achten und mit jedem Schritt neue Offenbarungen erfahren ließ.
Ich blieb stehen und sah einem Käfer zu, der einen hohen, wankenden Halm hinaufkletterte. Auf der Spitze angelangt, schien er sehr überrascht, daß es nun nicht mehr weiter ging, tastete mit den Fühlern nach allen Seiten in die Luft und überlegte, was zu tun sei. Schließlich kehrte er gemächlich um und kletterte vorsichtig zurück. Ein anderer Kerf jedoch, schlanker und behender als der erste, kam flink denselben Halm heraufgekrabbelt. Als die zwei einander begegneten, hielten sie an und streckten die Fühler aus. Der Neuangekommene war gleich kampfbereit, hob sich in den Vorderbeinen und wies dem andern die Zange. Dieser aber spreitete plötzlich die Flügeldecken, pumpte ein wenig Luft, und indem er den ungemütlichen Stänker mit der gierigen Freßzange unten stehen ließ, entschwebte er selig summend in die blaue, glitzernde Höhe.
Wie verstand ich plötzlich diesen Käfer, wie liebte ich ihn, den ich noch vor wenigen Tagen für einen Feigling gehalten hätte.
Ein Lustschauer durchrieselte mich, indem ich weiterging und tief empfand, wie sich mir alles wie durch einen Zauberschlüssel auftat, seit ich mit Hedwig den »Liebesweg« hinangegangen war. Ich fühlte mich sicher und daheim, wenn ich an sie dachte und Sonne, Wiese und Wald um mich waren. Da war alles rein, und es gab keine unausgesprochenen Fragen, wie sie stets in den lockenden, halbverdeckten Augen Mariannens lauerten und mir allen festen Boden gleichsam unter den Füßen wegzogen. Ich spürte in diesem Augenblick etwas wie Feindschaft gegen die zigarettenrauchende Romanleserin mit ihrer lächelnden Überlegenheit und konnte mir gar nicht denken, daß man etwa mit ihr Hand in Hand durch Feld und Wald gehen konnte und dabei wunschlos und heiter war.
*
Das Jägerhaus, der Ort unserer Zusammenkunft, stand am Ausgang einer Senkung, die sich stundenweit ohne Weg in den Wald hinaufzog und schließlich im dicken Gestrüpp verlor, wo das Eichkreuz stand. Näheres über die Richtung wußte ich nicht, aber ich war ganz sicher, den Platz zu finden.
Auf einer kleinen Anhöhe, die mit Haselbüschen bewachsen und so gelegen war, daß ich den heranführenden Weg gut überschauen konnte, ohne indes selbst gleich sichtbar zu sein, legte ich mich ins dürre Berggras und wartete.
Ich hatte mich sorgfältig auf diesen Gang vorbereitet, mein bestes Gewand angezogen, den höchsten steifen Kragen ausgesucht und eine karierte Mütze mit Vorbedacht etwas nach hinten aufgesetzt, so daß einige Haarlocken sich ungezwungen unter dem Schild hervor auf die Stirne ringelten. Unter meinen Krawatten schien mir ein herrliches, schwarzseidenes Stück mit hellergroßen, grasgrünen Tupfen am besten jenen Grad von Geschmack und Kleidsamkeit kundzugeben, der mir von vielen Seiten für den Umgang mit Damen als erste Unerläßlichkeit bezeichnet wurde. – Auch hatte ich ein kleines Bändchen goethescher Gedichte in einer Tasche stecken, in der andern aber befand sich meine Schleuder und einige grobe Schrotkörner, denn von meinem vertrauten Schießzeug konnte ich mich trotz allem nicht trennen.
Ich schwankte zunächst, ob ich mir die Zeit nicht mit einer kleinen Schleuderübung vertreiben sollte, entschied mich aber schließlich für Goethes Gedichte, weniger, um mich gerade literarisch zu bilden, sondern aus der hoffenden Ahnung, vielleicht hier den Lebenshintergrund zu finden, den mir die Geschichten meiner Knabenbibliothek in letzter Zeit immer mehr schuldig blieben.
Ich blätterte und las endlich:
»Freudvoll und leidvoll gedankenvoll sein – Langen und bangen in schwebender Pein – Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt; Glücklich allein ist die Seele, die liebt.« |
Erschrocken sah ich auf diese Verse. Da sagte mir jemand kurz und klar, in lebhaften, farbigen Worten, so daß mir das Herz bis zum Hals herauf klopfte, was ich in allerjüngster Zeit als tiefstes und – wie ich glaubte – nie dagewesenes Geheimnis erfahren hatte.
Mit heißen Wangen las ich noch einmal:
»Freudvoll und leidvoll gedankenvoll sein – –« |
Drüben im Kirchturm schlug es langsam drei Uhr. Ich suchte den Weg entlang. Niemand war zu sehen. Wieder fielen meine Augen auf Goethes kleines Gedicht.
»– – – – – Langen und bangen in schwebender Pein – –« |
Hedwig hatte sich wohl den Weg zum Jägerhaus kürzer vorgestellt – vielleicht ging sie eben erst von daheim weg – da hatte sie eine Viertelstunde her – vielleicht war sie schon unterwegs – jeden Augenblick konnte da drüben unter den Bäumen das blaue Kleid sichtbar werden – und dann kam sie näher und näher – ich würde mich nicht rühren – sie nur ansehen, wie sie die zierlichen Füße fest und sicher aufsetzte und die Welle der Bewegung ungebrochen und schön durch ihren Körper ging – wie die blonden Haare in der Sonne lachten, wenn sie den feinen Kopf suchend hin und her wandte – oh, sie sollte nur suchen – für jede Minute, die sie mich warten ließ, sollte sie büßen – aber dann – dann – was dann? Ich würde artig sagen: »Guten Tag, Fräulein« – sonst nichts. Ach, daß man nicht sagen durfte, was einem im Herzen schrie –. Du Liebe! Du Liebe! Du Allerliebste –!
Freilich, erst mußte sie da sein – und sie kam noch immer nicht – wie, wenn sie gar nicht –.
Das wollte ich nicht zu Ende denken und sah wieder ins Buch.
»Himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt – –« |
las ich da.
Ich seufzte tief und sah den Weg entlang. Ein leiser Wind streichelte die Wiesen und Felder, so daß sie in langen Wellen hinzufließen schienen. »Sommer«, dachte ich. Ich wußte nicht, wie mir gerade jetzt dieses Wort in den Sinn kam, aber es war plötzlich da und nicht wegzubringen.
Sommer – Sommer –, fließende Ährenfelder im Sonnenschein und das Lied von der Liebe im Blut, – Sommer – Sommer –.
Ich hörte Schritte.
Ein kleines Mädchen strampelte den Weg heran. Es hatte ein erdbeerrotes Kleidchen an, und die weizenblonden Haare waren in einen kurzen, festen Zopf gedreht, der steif im Nacken stand und mit einer kleinen, blauen Masche zusammengebunden war. Das Kind trug eine blecherne Milchkanne, die leer sein mußte, denn sonst hätte es nicht so lustig damit schlenkern können. Auch schlug es einmal damit nach einer Hummel, die über den Weg summte.
Als das Mädchen unter mir vorbeikam, blieb es einen Augenblick stehen und sah nach dem Jägerhaus hinüber. Dann nahm es den Weg, den ich gekommen war, und hüpfte wie ein Zicklein in drolligen Sprüngen durch die Wiese. Lange sah ich den roten Fleck in der sonnigen Weite tanzen, eine kleine, in sich geschlossene Welt von Sorglosigkeit und hellem Glück.
Ich versank in Nachdenken, versetzte mich in die Zeit, da ich selbst wie dieses Mädchen durch die Wiesen gelaufen war, nach Hummeln und Schmetterlingen haschend, und versuchte mich zu erinnern, was ich damals gefühlt und gedacht hatte. Aber ich fand nichts klar Bestimmtes, weder Lust noch Leid, nur farbige Eindrücke einzelner starker Tatsachen, den Brand eines Hauses, den Tod eines Schulkameraden, der beim Baden vom Mühlrad erfaßt worden war, einen Flintenschuß in unserem Garten und einen oder mehrere Christbäume. Das waren jedoch nur Bilder, die ich in mich aufgenommen hatte; von einem Erlebnis fand ich nichts und konnte mir auch gar nicht im entfernteren Rechenschaft geben, ob ich in all den Jahren irgendwann glücklich oder unglücklich gewesen war. Erst in den jüngsten Tagen begann sich dieses Wissen in mir zu regen und machte mich horchen und staunen.
Lange sah ich in die flüsternden Grashalme, die sich vor mir leise bewegten, und hatte alles vergessen, Zeit und Ort und Ziel meines Wartens.
»Das ist das Leben –«, dachte ich immer wieder, so wie mir früher die Worte »Sommer« und »Liebe« nicht aus dem Kopfe gingen, und ich war voll stiller, tiefer Freude, daß mich das Leben nun an der Hand nahm und reiche Weiten ahnen ließ, in denen Wunder neben Wunder stand.
Durch eine Bewegung fiel mein Blick wieder auf das offene Buch im Grase.
»Glücklich allein ist die Seele, die liebt – – –« |
Lange starrte ich auf diese zwei Verse, bis mir die Augen zu schwimmen anfingen.
*
Es schlug halb vier. Hedwig kam nicht. Ich stand auf und steckte das Buch ein. Was war zu tun? Es schien mir ausgemacht, daß sie überhaupt nicht kommen würde. Also brauchte auch ich nicht zu warten.
Sollte ich nach Hause gehen, mich verkriechen und trauern? Dazu war ich gar nicht gestimmt. Im Gegenteil: In mir war ein zorniger Triumph. Ich hatte mein Wort gehalten, war gekommen und bereit gewesen, den Weg weiter zu gehen, den wir nun doch betreten hatten. Ich war gerüstet, »ja!« zu sagen – sie hatte offenbar Angst davor bekommen, war ausgebogen, hatte mit dem Feuer nur gespielt, solange man die heiteren Flämmchen sah, aber nicht die rote, heiße Glut, die im Grunde lag.
Oh, sie war falsch –!
Dann stellte ich mir wieder die reinen, dunkelblauen Augen vor und die schimmernden Goldhaare über der klaren Stirn und biß die Zähne zusammen vor Schmerz und Unwillen, daß Hedwig nicht da war.
Nein, gelogen hatte sie nicht – das konnte ich nicht denken – sie war nur zu schwach, ein bißchen feig vielleicht –.
»Sie ist eben ein Weib –«, stellte ich seufzend fest, und erkannte, daß darin Entschuldigung und Anklage zugleich lag.
Ich aber war ein Mann und redete mir ein, daß ich auch ohne sie auf jeden Fall zum Eichkreuz gegangen wäre. Ich würde ihr triumphierend die Tollkirschen bringen und nebenher leichthin erzählen, wie schön der Weg war.
»Schade, daß Sie nicht gekommen sind«, würde ich sagen und so tun, als bedauerte ich das bloß um ihretwillen, als wäre ich um drei Uhr nur gerade am Jägerhaus vorbeigegangen, einen flüchtigen Blick nach ihrem Wege werfend, ohne richtig stehen zu bleiben –, und während ich dies dachte, schaute ich unverwandt nach dem Waldrand hinüber, als müßte ich Hedwig durch meine beschwörenden Blicke herbeizwingen.
Ärgerlich über diesen Widerspruch meines Tuns und Denkens gab ich mir schließlich einen Ruck und ging in den Wald hinein. Erst lief ich mit gesenktem Kopf trotzig und gedankenlos bergan, bis ich stehen bleiben mußte, um ein wenig Luft zu schöpfen. Ich fand mich in einer Gegend, die ich nicht kannte. Die Fichten standen dicht und hoch und ließen nur selten einen Sonnenstrahl durch, der dann um so geheimnisvoller über den dunkelgrünen Moosboden huschte, als sei er auf verbotenen Wegen.
Hoch in den Wipfeln war rauschendes Leben, unten aber, zwischen den Stämmen, stand das Schweigen und sah mit tausend regungslosen Augen lauernd auf mich her. Ein leiser Schauer lief mir den Rücken hinauf. Um ihn zu bannen, fing ich einen niederhängenden Ast und wollte mir einen Stock schneiden. Wie aber das Holz beim Brechen knackte, erschrak ich so, daß ich den Ast hängen ließ und weiter ging, so schnell es die scharfe Steigung erlaubte.
Geraume Zeit drang ich so vor. Die ungewohnte Kleidung und der steife Kragen beengten mich, mein Atem flog und Schweiß stand mir unter den Haaren, aber ich getraute mich nicht, wieder stehen zu bleiben, denn nur, wenn ich in stärkster Bewegung war, fühlte ich nicht das unnachsichtige, drohende Schweigen des Waldes.
Plötzlich hörte ich über mir im Baume das wohlvertraute Knicken und Kratzen fliehender Eichhörnchen. Mit einem schnellen Gewohnheitsgriff hatte ich die Schleuder gefaßt und hielt sie im Augenblick schußbereit in den Händen. Ich sah hoch oben in den dunkelgrünen Nadelkronen zwei fuchsbraune Schrätlein und merkte bald, daß sie nicht vor mir, sondern eines vor dem andern auf der Flucht waren. Mit Schnurren und Pfeifen jagten sie einander durch die Wipfel, ließen sich tief herunterfallen, schossen die Stämme hinauf, die Äste entlang, fanden sich und trennten sich, und schließlich begann ein Tanzen, Werben und Lieben hoch in den wiegenden Zweigen.
Staunend folgte ich ihnen mit den Augen; oft hatte ich die Schleuder erhoben und gezielt, als ich aber sah, daß der vermeintliche Zwist in Wahrheit ein Liebeständeln war, ließ ich die Hände sinken und empfand im Augenblick etwas wie Beschämung und zugleich in meinem Blut ein sonderbares Prickeln und Spannen, das mich plötzlich an die Scheinkämpfe in unserem Garten denken und zum ersten Male Marianne und Hedwig nebeneinander fühlen ließ. Vom »Liebesweg« in seiner sonnigen Klarheit zur mondsilbernen Laube in lauer Sommernacht spannte sich eine geheimnisvolle Brücke.
Langsam ging ich weiter; die Schleuder schlenkerte ich in der Hand, denn ich hatte vergessen, sie einzustecken. Das Ereignis war in mir und hatte mich für den Augenblick von den stummen Fragegeistern des Waldes befreit. Auch mußte ich der Zeit nach schon nahe am Ziel sein und hielt deshalb aufmerksam Umschau.
Die Senkung, der ich gefolgt war, hatte sich verlaufen und wuchernde Staudenbestände traten immer mehr an Stelle des Hochwaldes. Brombeerranken griffen unnachgiebig nach meinen Füßen, zuweilen mußte ich mich mit den Händen durch den verrankten Widerstand zäher Berberitzensträucher reißen. Immer häufiger stieß mein Fuß an Steine; Laufkäfer krochen darunter hervor und flüchteten schnellfüßig in neue Verstecke. Ich achtete ihrer nicht weiter.
Eben hatte ich wieder ein Strauchverhau überwunden, als ich mich einer mäßig großen Lichtung gegenüber fand, aus deren Mitte auf einem kleinen Schutthügel ein morscher Kreuzesstamm zum Himmel ragte. Vom Querbalken hing nur noch eine Hälfte daran, und beim Näherkommen bemerkte ich darin den rostigen Nagel, der wohl einmal des Heilands Hand durchbohrt hatte.
Die Lichtung lag, da die Sonne schon im Sinken war, im tiefen Schatten der jenseitigen hohen Baumwand, und man konnte sehen, daß sie aus dem Wald herausgeschlagen und vor langer Zeit vielleicht auch künstlich geebnet worden war; denn rings um das Kreuz wuchs bis zur Stunde weder Baum noch Strauch, nur dichtes, niederes Kraut wucherte da, und ich sah die schönen, feingeschnittenen Blätter des Adlerfarns und das verführerische satte Rotviolett einzelner Orchideen.
Ich blieb stehen und sah mich um, wie etwa ein Dieb im fremden Zimmer, bevor er die Hand nach dem Raub ausstreckt. Der Wald war voll grüner Dämmerung und sah mich schweigend an, das einarmige Kreuz stand unnahbar in seiner schattigen Einsamkeit. Lautlos und beklommen schlich ich daran vorbei und suchte nach den Tollkirschen. Nicht weit hinter dem Kreuz fand ich einen dichten Bestand von glänzenden Beeren, die merkwürdig ohne Stiel im Blatt saßen. Viele waren noch rötlich, einzelne aber funkelten in tiefem, schwarzen Glanz, geheimnisvoll, todschwanger, lockend und still.
Schon wollte ich danach greifen, da fühlte ich schaudernd, wie aus dem schweigenden Wald, dem starren Kreuz und den lockenden Giftkirschen drohende Schatten wuchsen und auf mich zukamen, ich sah in schrecklicher Deutlichkeit plötzlich die wahnsinnige Bäuerin vor mir, die in angstvoller Hast, die dunkelglosenden Augen auf mich gerichtet, nach den schwarzen Beeren langte, und drüben im Busch stand mit einemmal der tote Jäger, der hatte Tollkirschen in den Augenhöhlen und winkte mit beiden Armen nach ihr . . .
Da packte mich reißende Angst, ich sprang in weiten Sätzen über die Lichtung und lief durch den Wald zurück, als jagten tausend Gespenster hinter mir drein. Ich hatte kein Fühlen und Denken mehr, eiskaltes Grauen trieb und lähmte mich zugleich, und nur eines kreiste immer in meinem zuckenden Gehirn, eintönig und hart, ein schreckliches Bild, ein marterndes, furchtbares Wort: Der Tod –! Der Tod –!
Ich verfehlte den Weg, setzte über einen kleinen Bach, irrte stundenlang durch ein fremdes Revier, und überall, in Busch und Baum glühten Augen in dunklem Feuer, winkten Arme und Hände nach mir, und so oft ich mir auch mit aller Mühe zu sagen versuchte, daß dies alles nicht wirklich sei, immer rieselte es kalt durch meinen Körper und trieb mich in fliehender Hast bergab durch dick und dünn.
Mit zitternden Knien, zermartert und in allen Tiefen aufgewühlt, fand ich mich endlich in später Dämmerung beim Jägerhaus, und an derselben Stelle, wo ich am Nachmittag gewartet hatte, fiel ich hin, und alles Übermaß von Glück und Not, Ahnen, Erkennen, Lebensjubel und Todesangst strömte nun in wilden, unaufhaltsamen Tränenstößen in die warme, mütterlich bereite Erde.
Lange weinte ich so; nie hatte ich tiefer geweint, nie weniger gewußt, warum ich weinte. Aber am Ende konnte ich wieder lächeln.
Ich stand auf, dehnte meine Brust, riß die Muskeln an, und es war mir, als sei ich diesen Nachmittag um ein ganzem Stück größer und breiter geworden.
*
Unser Garten lag in tiefer Dunkelheit; ich war von rückwärts gekommen, um nicht gesehen zu werden, und ging langsam und leise über die Wiese hinter der Laube. Jenseits des Zaunes hörte ich flüstern. Da trat mein Fuß auf ein Stück Holz. Es knackte, und drüben huschten zwei Schatten ins Dunkel. Ich nickte verstehend. Dann beugte ich mich, um zu sehen, worauf ich getreten war. Ich fand eine kleine, hölzerne Streitaxt, ein Tomahawk der »Indianer«. Lächelnd zerbrach ich das Spielzeug in meinen Händen und warf die Trümmer wieder hin.
Nun wollte ich unbemerkt ins Haus auf meine Kammer schleichen und wich deshalb der Laube und Veranda soweit als möglich aus. Beim Blumenbeet aber, wo eine dichte Windenhecke stand, hörte ich plötzlich ein Rascheln neben mir, und ehe ich mich noch hindrehen konnte, hatten mich zwei Arme umschlungen und schnell an eine weiche Brust gezogen. Ich war zu sehr erschrocken, als daß ich mich des Angriffes hätte gleich erwehren können, und als Marianne immer und immer wieder in durstiger Leidenschaft meinen Mund küßte, hielt ich stand und erwiderte ihre Küsse, indem ich sie mit beiden Händen fest am Kopfe packte und meine Finger in ihr dunkles, aufregend duftendes Haar wühlte.
Endlich, wie aneinander vollgetrunken, ließen wir uns los. Marianne verschwand schnell und lautlos, als hätte sie sich in eine der großen, weißen Windenblüten verwandelt, die sich vor mir leicht bewegten. Ich stand noch eine Weile still, und als ich mir, wie um meiner selbst inne zu werden, mit der Hand übers Gesicht streifte, war der Duft der dunklen Haare an meinen Fingern. – Ich erschrak, wie auf einer Sünde ertappt, und tastete mich leise ins Haus.
Keines von uns beiden hatte ein einziges Wort gesprochen.
In meinem Zimmer machte ich kein Licht. Ich wollte die Gegenstände darin nicht sehen. Schwere, süße Schlaffheit lag in meinen Gliedern. Bis lange nach Mitternacht lehnte ich im offenen Fenster und sah über den schlafenden Garten nach dem Wald hinüber, der schwarz und stumm in der stillen Sommernacht lag.
Ich ahnte in dieser Stunde, daß nichts leblos war, sondern alles verwandt und Teil eines wunderbaren Ganzen. Ich wußte, wieviel dieses Schweigen barg. Liebe. Leben und Tod waren mir heute darin begegnet.