Bruno Ertler
Die Königin von Tasmanien
Bruno Ertler

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Der Musikant

Herrn Professor Dr. Otto Zucker-
kandl, dem Arzt und Menschen



Das Zimmer Numero 13 war das Zimmer der Toten.

Aus allen anderen Räumen in dem weitläufigen Krankenhaus kamen hin und wieder stille Menschen, die mit fragend lächelnden Augen Form und Farbe neu entdeckten, die sie nie mehr zu sehen gehofft hatten. Von liebender Sorge umgeben gingen sie mit tastenden Schritten die Stiege hinab, durch die weite, leere Halle zum Tor hinaus, in die Sonne, ins Licht, ins Leben.

Und wenn auch etwas wie Heimweh in ihren Herzen war, – denn die Stätte, an der wir leiden, wird uns schnell zur Heimat – so war doch eine Welt von Glück in einem solchen Gang.

Die von Nummer 13 taten ihn selten – sehr selten.

Und wenn es schon einmal geschah, so sahen alle zweifelnd dem Scheidenden nach, und keiner glaubte, daß der einen weiten Weg machen werde. Denn auf Nummer 13 war es üblich zu sterben.

Gewiß; Das hatte seinen Zusammenhang mit der ominösen Zahl; denn wer noch so viel Lebensübermut besaß, um abergläubisch zu sein, kam nicht dahin, und die hinkamen, kümmerten sich nicht mehr um Zahlen, die Glück oder Unglück bringen. – So kam es, daß die von Nummer 13 gewöhnlich ganz still und auf fremden Füßen aus dem Zimmer gingen. Dort aber reinigte die dicke Wärterin das weißlackierte Eisenbett, wechselte das Leinenzeug, steckte einen neuen Kopfzettel auf, – und das leere Bett wartete auf den nächsten, der darin sterben sollte.

Das dauerte nie lange.

Immer kamen welche, die aus dem Leben gingen und dort ihre letzte, diesseitige Station machten. Die Ärzte untersuchten, klopften, drückten, zuckten mit den Achseln und der Professor machte dann gewöhnlich jene kleine, überlegene Handbewegung, die nur die Wärterin und der Assistenzarzt verstanden. Dann gab es höchstens noch eine kurze Zeitangabe. – Man sprach überhaupt wenig und stets gedämpft innerhalb der vier weißen Wände, niemand lachte und selten hörte man weinen. Denn die da in den sechs lichten Betten ihre letzte Stunde abwarteten, hatten gewöhnlich niemand, der um sie trauerte. Sie warteten schweigend und starben still, nur daß die andern alle die Köpfe mit ängstlich fragenden Augen hinwandten, wenn einer »drankam« – das war alles. Dann kam die Rollbahre und wenige Tage später ein »Neuer«. Das einzige Leben – sozusagen – auf Nummer 13 war der Tod, der da mit stillen Werktagsschritten aus und einging.

*

An einem regnerischen Aprilabend brachte der Aufnahmsarzt einen bleichen, aufgeschossenen Menschen auf Nummer 13, dem das letzte Fieber in den dunklen Augen flackerte. Die Wärterin sah ihn an, nickte leicht und sagte gleichgültig:

»Na, legen sie sich halt da hin.«

Dabei wies sie auf das einzige leere Bett im Zimmer, welches neben der Tür in der Ecke stand und von den anderen durch eine schmale Straße getrennt war, die zum Fenster führte.

Der Kranke setzte sich auf die Bettkante und sah auf den Boden. Er atmete schnell und stoßend. Sein Anzug war arg beschmutzt und zeigte einige Risse; auf Ärmel und Weste waren Blutspuren zu sehen.

Die Wärterin stand vor ihm, sah ihn eine Weile erwartend an und sagte dann gegen das Fenster hin:

»Ziehen sie sich aus.«

Die in den anderen Betten kümmerten sich nicht um den Ankömmling. Nur der bleiche, junge Mensch auf Nummer 3 wandte langsam den langhaarigen Kopf und schaute den Mann, der mit vieler Mühe seine Kleider ablegte, aus großen, leidvollen Augen an. –

Nach einer Weile kam der dicke Verwalter an das Krankenbett, schneuzte sich in ein blaues Taschentuch, setzte umständlich seinen Kneifer auf die Nase, zog ein Blatt Papier und einen Bleistift aus der Tasche und begann seine Amtshandlung.

»Sie heißen?«

»Amadeus Wegerer«, sagte der Kranke leise, indem er zur Decke emporblickte.

Der Verwalter wiederholte und schrieb:

»Wegerer – Amadeus. – Wie alt?«

»Sechsundzwanzig Jahre.«

»Religion?«

Der Kranke schwieg, als besänne er sich.

Der Verwalter sah ihn über den Kneifer an und fragte:

»Katholisch?«

Der Kranke nickte kaum merklich; ein leises, wehes Lächeln, wie eine Erinnerung an ferne Schönheit, glitt über das blasse, magere Gesicht und blieb zwischen den leichtgeöffneten Lippen stehen. Der Verwalter brummte etwas und schrieb, über das Nachtkästchen gebeugt, »katholisch« in die fragliche Rubrik. Dann fragte er weiter:

»Stand? Verheiratet?«

»Nein.«

»Also ledig«, sagte der Verwalter und schrieb.

»Was sind sie?«

Der Kranke sagte kaum hörbar: »Musiker.«

»Reden sie doch deutlicher. Also: Musikant – nicht?«

Da lächelte Amadeus Wegerer und nickte: »Ja – Musikant.«

Der Verwalter schüttelte den dicken Kopf, schrieb noch einiges auf seinen Zettel und wackelte dann eilig hinaus. In der Türe begegnete er der Wärterin und dem Zimmerarzt, der die Abendrunde machte.

Der Arzt warf einen prüfenden Blick auf den Kranken, fühlte seinen Puls, sah flüchtig nach dem Kopfzettel, wo die Wärterin bereits die Temperatur eingetragen hatte, und sagte dann:

»Na ja – gut. Also morgen kommt ja so der Professor.«

Darauf redete er noch halblaut mit der Wärterin und ging die andern Betten ab. Überall sah er rasch nach dem Zettel, fragte »Wie geht's?«, sagte »Na also – gut« und ging weiter.

Nach der Runde kam die Wärterin an das Bett in der Ecke, legte dem kranken Musikanten einen Eisbeutel auf die fiebernde Stirn und rührte ein Pulver in sein Wasserglas.

»Das trinken sie dann«, sagte sie ruhig, indem sie weiterging um nach den anderen zu sehen. Da und dort rückte sie ein Kissen zurecht, und zu dem stillen Mann auf Nummer 3 sagte sie:

»Schreien sie nicht wieder in der Nacht. Wir wollen doch schlafen.«

Alles, was sie sagte, war deutlich, fest und einfach. Es war weder Härte noch Milde im Tonfall ihrer Stimme, sie sprach gleichmäßig halblaut und sah dabei stets über den Kranken weg. Jeder Satz, jedes Wort klang so, als hätte sie es in völlig gleicher Weise, ja zur selben Zeit an derselben Stelle schon tausendmal gesprochen. In dieser Stimme war der Raum mit den vier leeren, kalten Wänden und das stumpfe Weiß der Einrichtung mit restloser Vollkommenheit in Töne umgesetzt.

So dachte Amadeus Wegerer mit halbgeschlossenen Augen, nachdem die Wärterin die große Mittellampe abgedreht und sich in ihren Stuhl gesetzt hatte, der in der Ecke neben dem Tisch mit den Schalen, Instrumenten und Wäschestücken stand, wo eine kleine Nachtlampe mit Milchglasschirm brannte.

Dort nickte die Wärterin ein.

Es war still.

Irgendwo ging eine Tür, schnelle, kurze Schritte klapperten über einen steinernen Gang, eine zweite Tür fiel unsanft ins Schloß – der Ton war einige Schwingungen höher als der erste – und lange nachhallend schwebte der Schall in der leeren Halle.

Mit diesem Ton im zuckenden Hirn schlief Amadeus Wegerer müde ein.

*

Er schlief schwer und traumlos.

Nur einmal riß ein grelles Bild wie ein Windstoß den dunklen Vorhang von seiner Seele. Er sah viele Menschen um sich, sah, wie sie Martha von ihm wegdrängten – fühlte einen Stoß – schrie auf und stürzte hin, während ihm helles Blut aus dem Munde quoll.

Er erwachte schweißbedeckt und voll Angst. Es war ihm, als schwebe der Widerhall seines Schreies noch in dem leeren Raum. Da rief eine laute Stimme voll Qual und Anklage:

»Gott, warum schlägst du mich mit deinem Zorn!?«

Der letzte Laut schlug hart gegen die Wände und erstarb in einem schmerzlichen Wimmern. Die Wärterin zischte. Man hörte, wie sich jemand im Bette wälzte; dann war es wieder still.

Auch Amadeus Wegerer sank zurück ins wehrlose Dunkel des Schlafes. Kein Bild quälte ihn mehr in dieser Nacht.

*

So waren die Nächte. Zuckend und ruhelos.

Fast jedesmal schrie der gemarterte Mensch zu Gott, und in jeder Nacht zerriß, wie ein Blitz durch schwarze Wolken leuchtet, ein grelles, gewaltsames Bild den traumlos tiefen Erschöpfungsschlaf des kranken Musikanten.

Selten waren es freundliche Gesichte aus der Zeit, da ein Finden war zwischen ihm und dem Weibe, ein Wollen, ein Ineinandersinken grenzenlos. Da er Martha gefühlt hatte als den Ruf Gottes nach seiner Kraft, da sie ungeheures Sehen in ihm aufwühlte. Selten nur waren die Bilder aus den Jahren der Fülle, da er mit vollen Händen gegeben hatte aus dem Überfluß der gehobenen Schätze.

Andere Gestalten aber kamen oft.

Vom ersten Schatten, vom frühesten Flügelrauschen des schwarzen Engels, dem er nun ruhig entgegensah, bis zur grotesken Fratze der ohnmächtigen Gewalttat, die das Ende war, schlangen sie ihren Gespenstertanz, fieberverzerrt und martervoll, so daß der Kranke jedesmal mit Bangen der Nacht entgegen sah, die ihn unbarmherzig den bösen Dämonen überlieferte.

So waren die Nächte.

Anders aber waren seine Tage.

Da war Verstehen in ihm, mildes Einsehen und klare Ruhe. Welch ein Tor bist du gewesen! dachte er. Mußte nicht alles so sein? War nicht Sinn und Ebenmaß in allem? Wer hätte es auch nur anders wünschen dürfen? Mußte Martha nicht den Weg jener gesunden Kraft gehen, die sich mit Notwendigkeit von allem abwendet, was krank und unzureichend ist? Heilig ist das Leben! Wie kurzsichtig war sein unfruchtbarer Trotz gewesen, der nicht die Kraft zu entsagen fand, da er die Kraft zu halten doch nicht mehr hatte!

Er erkannte nun plötzlich das falsche Urteil seiner letzten Jahre, das über Wert und Unwert richten wollte, wo in Wahrheit nur der selbstverständliche Gegensatz steigender und sinkender Lebenskräfte sich immer rücksichtsloser zwischen ihn und Martha stellte.

*

So gingen seine Gedanken, indeß der Tag still und unpersönlich an ihm vorbeiglitt. Man ließ ihn ruhig liegen, weil ihm nicht zu helfen war. Das ahnte er und lächelte. Aber was ihm noch an Leben verblieb, umfaßte mit hellsehender Innigkeit jede geringste Erscheinung seiner armen Umgebung.

Mit besonderer Gier suchte sein Ohr nach Klang und Ton. In einigen Tagen kannte er alle Geräusche des weiten Hauses, das Klopfen der Schritte in den einzelnen Stockwerken, den Schlag jeder zufallenden Türe, die einzelnen Signalglocken und Stimmen, die das Echo der Mittelhalle zu seltsamer Größe verzog. So wenig Wohllaut in all diesen Tönen war, verbanden sie sich dennoch für Amadeus Wegerer zu einer neuen Harmonie, die über dem dumpfen Brausen der Großstadt, das hin und wider wie fernes Gewitterrollen durch die geschlossenen Fenster hereindrang, in klaren Linien von herber Bestimmtheit dahinschwebte. Nach und nach liebte er diese Töne und nickte ihnen zu, wie man an fremden Menschen Anteil gewinnt, die einem auf täglichen Wegen mit fester Regelmäßigkeit begegnen.

Aber wie uns unter ihnen etwa stets zu gleicher Stunde ein helles Kind anlacht und aller andern Bild überstrahlt, so war gleich am ersten Abend ein fernes, feines Singen im Ohr des Musikanten gewesen, unwirklich und flüchtig, wie eine Erinnerung, die für Augenblicke Gestalt wird und wieder verschwebt, aber die Unrast vergangener und versäumter Lebensfülle süß und herb zugleich erwachen läßt.

Wie einer, den die Liebe führt, harrte der Einsame jeden Abend zwischen Bangen und Hoffen auf den fernen Klang. Denn manchmal, wenn der Frühjahrswind winterrauh durch die Gassen fuhr oder Regen an die Fenster streute, blieb das feine Singen aus. Das waren schwere Stunden für Amadeus Wegerer, und zuweilen weinte er dann leise und unbemerkt tief in die Nacht hinein. Am andern Tag aber war seine ruhelose Sehnsucht nach der Stunde zwischen Licht und Nacht umso stärker, und er war wunschlos und befreit, wenn das sanft ziehende Klingen in zitternden Wellen nach ihm rief.

Es war eine Geige, die da sang; eine einsame, schüchterne Geige.

Durch das geschlossene Fenster war die Weise nur schwer zu verfolgen. Sie senkte sich zuweilen in die tiefen Saiten, verlor sich oft ganz, tauchte wieder empor, schwebte Augenblicke lang vibrierend, wie eine Libelle über dem Wasser, in gleicher Höhe und überschlug sich plötzlich in jauchzenden Trillern nach oben. Oder sie seufzte in einzelnen, traurig-langen Zügen, deren Verbindung unhörbar blieb, in den herben Aprilabend hinaus, und es klang durch das geschlossene Fenster, wie heimwehbanges Rufen aus weltweiten Fernen.

So einfach und unbeholfen die Kunst dieser Töne war, so tief und klar fühlte Amadeus Wegerer das reine Herz ihres Schöpfers. Etwas rührend Schuldloses lebte in ihnen, ein Funke jener großen, gottnahen Einfachheit, die Kind und Künstler Hand in Hand gehen läßt, Lächeln und Tränen vereint und uns den Feind verstehen lehrt.

Wer die Geige spielte, wußte der Musikant nicht. Es wäre ihm schwer möglich gewesen, durchs Fenster zu schauen, das sich hinter dem Kopfende seines Bettes befand; eines Abends aber fing er im Handspiegel das Bild eines vielstöckigen Zinshauses auf, das jenseits des öden Platzes mit vielen ähnlichen Gebäuden dem Spital den Rücken zuwandte. Er sah Stiegenhausfenster und Küchenbalkone mit armseligen Eisengeländern und daran flatternden Wäschestücken.

Auf einem aber, hoch oben im vierten Stockwerk lehnte ein Mädchen und strich die Geige. Die arme, schmale Figur des Kindes hob sich in klaren Umrissen von der weißen Hauswand ab, der magere rechte Arm führte den Bogen langsam und gleichmäßig auf und nieder. Den Kopf auf die Geige gelegt, die sie voll Liebe an sich zu drücken schien, war das Mädchen ganz im Lied verloren, und aus der trostlosen Öde von Feuermauer und Hinterhaus hob sich das zarte Singen empor über Dächer und Schornsteine und streckte verlangende Kinderhände durch Dunst und Rauch in die blaue, flimmernde Unendlichkeit.

Und Amadeus Wegerer, dem Musikanten, schien es, als töne Antwort von dort zurück, als halte das feine, einsame Kind, über alle Dürftigkeit erhöht, ein seltsam freies Zwiegespräch mit reinen Fernen.

*

Um die Besuchsstunde war das Haus auf Stiegen und Gängen lebendig von schnellen Schritten, in denen Amadeus Wegerer Sorge und Hoffnung schwingen hörte. Auf Nummer 13 kam jeden Tag eine kleine, alte Frau, deren von tausend Falten und Fältchen zerwittertes Gesicht durch eine Hakennase und eine breitrandige, schwarze Hornbrille durchaus an eine stillblickende Eule denken ließ. Wortlos trippelte die Frau mit kurzen, schnellen Schritten auf das dritte Bett in der Reihe zu, wo der blasse, langhaarige Junge lag, der jede Nacht laut Gott anklagte, setzte sich auf den Stuhl neben dem Krankenlager und schaute ihrem Sohn still und unbeweglich in die Augen. So blieb sie die ganze Stunde. Nur selten unterbrach, kurz und schnell geflüstert, Frage oder Antwort diese stummlebendige Zwiesprache, in der das ewige Mysterium leidgesegneter Liebe glühte, das jede Mutter heilig sein läßt, wie die Eine unter dem Kreuz auf Golgatha.

Die ungewöhnliche Klarheit, die Amadeus Wegerer in diesen Tagen hell in alle Dinge sehen machte, zeigte ihm hier im Blick der Mutter auf den gemarterten Sohn eine ganze Welt von Hoffnung, Schmerz und Gram, Liebe voll tiefster Opferbereitschaft, beschwörendes Gottvertrauen neben den Schaudern grauenvollster Verzweiflung. Er lebte tief inmitten zuckender Wunder und Offenbarungen, und indem er in unscheinbaren Ereignissen: dem sehnsüchtig zitternden Geigenstrich eines Mädchens und dem sorgenvollen Blick einer Mutter auf ihren Sohn mit einem Male letzte Dinge umfassende Weiten erkannte, überkam ihn mächtig das Glück der Befreiung, hob ihn leicht über alles weg und streifte sanft noch den letzten Erdenstaub von seinem Herzen. Weiter und weiter rückten die Bilder, die ihn in den ersten Tagen noch gequält hatten, wurden klein und bedeutungslos in all der Fülle, die er hier zwischen vier leeren, weißen Wänden erfuhr.

Erst hatte er Schmerz empfunden, daß er Tag um Tag allein blieb. Jetzt hätte er es gar nicht haben wollen, daß Martha käme.

Seit er sie, von trüber Leidenschaft gehetzt, mit seinen beiden Händen mitten aus glänzender Gesellschaft hatte reißen wollen, war er so tief in sich geraten, hatte so Großes ihn berührt, daß der Gedanke, es trennten ihn kaum ein paar Wochen von jener verworrenen Stunde, ihm völlig unfaßbar schien.

Stets war seine Seele fremd und sonderbar gewesen in der Welt. Weil ihn aber ruhelose Sucht nie einsam bleiben ließ, war sein Leben ein verzehrendes Auf und Ab zwischen Unterwürfigkeit und ungeheurem Stolz, Unterliegen und höchster Überlegenheit. Jetzt aber hatte jene Sucht zu brennen aufgehört und Amadeus Wegerer erlebte als staunendes Kind das große, milde Glück wunschloser Ruhe. Es war so überwältigend, daß er eines Tages, als man zum ersten Mal die Fenster offen lassen konnte und herber Duft nach einem Frühlingsregen mächtig hereinschwoll, dem Professor von dieser versöhnten Daseinsstille Mitteilung machte, die er als den Boden neu werdender Lebensfülle auffassen wollte.

Der Arzt nickte dazu, als hätte er diese Erscheinung vorhergesehen, sagte auch einige trostreiche Worte, und Amadeus Wegerer fühlte eine Seligkeit in sich aufquellen, die ihm Freudentränen in die Augen trieb. Mit tausendfacher Liebe begleitete er an diesem Tage den Besuch der schweigenden Mutter, aus deren leidverständigem Sorgenblick ihn Bild und Klang ferner Kindertage grüßte.

*

Die alte Frau ging heute später fort, als sonst, und kummervoller, wie es dem Musikanten schien. Auch kam gegen Abend zu ungewohnter Stunde der Zimmerarzt noch einmal an das Bett ihres Sohnes, der unregelmäßig in kurzen Stößen atmete. Der Arzt blieb ziemlich lang, und als er ging, merkte Amadeus Wegerer plötzlich eine Leere und Unruhe in sich und erkannte mit jähem Schreck, daß dies die Stunde gewesen war, in der jeden Abend die einsame Geige sang. Er reckte sich auf seinem Lager und lauschte mit gespannten Nerven. Aber obgleich das Fenster noch offen stand und draußen ein warmer, heller Abend war, blieb es heute still. Da drehte er mit größter Anstrengung seinen Oberkörper, bis er das Haus sehen konnte.

Aber er fand das Mädchen nicht.

Müde und zerschlagen, als habe er schwerste Muskelarbeit geleistet, sank er zurück.

*

Im Traume der Nacht war ein Gesicht in des Musikanten Seele. Er sah die Straße vor dem Krankenhaus, wie damals, als er vor Wochen hereingekommen war. Da trippelte mit schnellen, kurzen Schritten die kleine, alte Frau mit der Hornbrille herbei und wollte zu ihrem Sohn. Aber eine Gestalt kam ihr entgegen, kaum den Boden berührend, zart und leicht wie ein Engel schwebend, und Amadeus Wegerer erkannte das Mädchen mit der Geige. Es hob den feinen, rechten Arm, während es Geige und Bogen in der Linken hielt, gegen die Frau, die stehen blieb und mit großen, stillen Eulenaugen halb ängstlich, halb vertrauend auf die Erscheinung schaute. Da sagte der Engel mit einer Stimme die den Ton der tiefen Geigensaiten hatte:

»Kehre um, Mutter, dein Sohn ist tot.«

Die kleine Frau rührte sich nicht; wie zu Stein geworden starrte sie das Mädchen an. Das sagte wieder:

»Kehr' um, er ist tot.«

Da zuckte die Mutter zusammen, fuhr sich mit beiden Händen in die grauen Haare, riß die Augen weit auf und öffnete den Mund. Aber es schrillte kein Schrei. Wieder blieb sie wie erstarrt. Der Engel nickte leise. Da rang die Frau die ineinandergekrampften Hände gegen ihn, fiel auf die Knie, suchte bettelnd die Gestalt zu umfassen und ihr Kleid zu küssen, indes ihre Lippen sich immerfort bewegten, ohne daß sie ein einziges Wort formen konnten. Der Engel, der die Gestalt des geigenden Kindes hatte, sah still auf sie nieder und auf alles Bitten, Jammern und Händeringen schüttelte er nur mit herber Wehmut den Kopf.

Allmählich war die kleine, alte Frau ruhig geworden und kauerte auf der untersten Stufe der Torstiege, indem sie wieder mit unbeweglichen Augen durch die runde Hornbrille sah. Da beugte sich der Engel über sie, streifte ihr über den Scheitel und sagte mit seiner singenden Stimme:

»Du hast gelitten; heilig ist dein Weh,
Und nur wer leiden kann, darf Mutter sein.«

Große Tränen quollen aus den Augen der Mutter, der Engel legte einen Arm um ihre gebeugten Schultern und führte sie sanft hinweg.

Die Tränen aber fing er mit der hohlen Hand auf und streute sie vor sie hin auf den Weg. Da wurden lauter blitzende, reine Diamanten daraus, und auf einer Straße von leuchtenden Kristallen gingen sie langsam nach oben, wo in strahlender Weite Maria von ihrem Sohn gekrönt wurde. Amadeus Wegerer hörte noch ein fernes Tönen, als die beiden Gestalten schon längst in lauter Licht zergangen waren, und er wußte nicht, ob der Engel sprach oder die Geige sang.

*

In dieser Nacht hatte niemand den Gequälten zu Gott schreien hören. Am Morgen war das Bett Nummer 3 leer, und die Wärterin war eben dabei, es frisch zu überziehen und einen leeren Kopfzettel anzubringen. Da kam es Amadeus Wegerer in den Sinn, daß er in grauer Morgenstunde zwischen Schlaf und Wachen Schritte und Flüstern gehört hatte, und nun wußte er auch, daß ein sonderbares Quieken und Schleifen, das er nicht zu deuten vermochte, von der Rollbahre herrührte, die über den Gang geschoben worden war.

Aber niemand im Zimmer fragte, niemand sprach ein Wort.

*

Der Tag war unruhig und heiß. Schon am Morgen lag starke Sonne auf dem Fenster, und als man es öffnete, war keine Erfrischung zu spüren.

Amadeus Wegerer zuckte in jähem Fieber. Wohin er auch den hämmernden Kopf legen mochte, immer klebte er alsbald unerträglich heiß auf dem Kissen. Umschläge und Arzneien trieben das Fieber zurück, aber die Unruhe blieb, ja sie wurde drängender, so daß der Musikant am liebsten aufgestanden und davongegangen wäre, weit, immer weiter. Denn er ahnte plötzlich, daß ihm am Ende die Zeit nicht mehr gegeben sein könnte, alles zu erfahren, was ihm ungeschaute Fernen noch vorenthielten. Die Angst, auch nur eine Stunde zu versäumen, wo doch jeder Augenblick so unermeßlich reich sein konnte, warf ihn in verzweifelten Schauern hin und her. Mit aller Macht suchte er sich zu sammeln, entwarf Pläne, führte kühne Phantasiegebäude aus und kam sich stark und frei vor – um plötzlich wieder aus all der Höhe in bange Unkraft zurückzusinken.

Um sich wenigstens in einer Form an die Wirklichkeit zu klammern, begann er ganz unvermittelt mit fliegenden Worten und lichternden Augen der Wärterin von dem neuen Leben zu erzählen, daß er nun führen wolle.

»Es wird bald sein, Schwester, nicht wahr?«

»Ja, Herr Wegerer, – sicher –.«

»Wie lange wohl?«

»Nicht mehr lang –.«

»In einer Woche –?«

»Vielleicht früher schon«, sagte die Wärterin. »Aber Sie dürfen nicht so viel sprechen. Das schadet Ihnen. Sie müssen jetzt ganz ruhig bleiben –.«

Da schwieg er still. Aber sein Herz zuckte und die Gedanken flogen. Leben! Ach, nur leben –!

Am Nachmittag kam ihn mit einem Male die Sorge an, er könnte heute die Geige wieder nicht hören.

»Lassen Sie heute das Fenster offen«, bat er die Wärterin.

»Es ist ja offen«, sagte sie ruhig.

»Ja – aber – – dann auch –.«

»Wann?«

»Am Abend –.«

»Da muß ich es zumachen.«

»Bitte nicht früher –, noch eine Weile –.«

Die Wärterin schaute auf den Platz hinunter, von wo die kleinen, hellen Rufe spielender Kinder heraufkamen.

»Es kann noch eine Stunde offen bleiben«, sagte sie, »heute ist es ja warm – schon ganz Frühjahr – –, und da drunten an der Mauer blüht wirklich schon der Marillenbaum.«

Amadeus Wegerer seufzte. Da unten blühte ein Baum – und wie viele blühten fern irgendwo – wie viele!

Dann zuckte es wieder durch sein Hirn: Eine Stunde noch – nur eine Stunde –?

Er wollte sprechen, aber er wußte nicht, was er sagen sollte. Denn daß er auf das ferne Klingen der Geige wartete, davon zu sprechen, hätte er als Verrat empfunden.

Und wenn nun in dieser einen Stunde die Geige nicht klang – –?

Er wälzte sich ruhelos hin und her und horchte ängstlich auf das eilfertige Ticken der kleinen Weckeruhr, die auf dem Tisch der Wärterin stand. Er konnte nicht hinsehen, hörte nur die Sekunden laufen, spitz und fein wie kleine, hämische Geister, und jede raubte ihm ein Körnchen Hoffnung und jede pisperte: »Noch klingt sie nicht – noch nicht – noch nicht –.«

Plötzlich aber stemmte er sich gegen diese Tyrannei des Zweifels – mit einem jähen Entschluß – mit zusammengenommener Kraft. Und nun wußte er: Die Geige würde klingen! Plötzlich wußte er das. Es war ihm die Gewißheit fertig ins Herz gesprungen. Und nun war er auch gar nicht mehr unruhig, es verließ ihn Furcht und Sorge, das treibende Wollen und Sehnen, jeder Zweifel, es könnte verderben, jede Angst und Unrast – – alles – alles. Er lag völlig klar und kühl, sein Blut ging langsam, sein Denken versöhnt und heiter.

Draußen neigte sich die Sonne, der Himmel wurde licht und über den Dächern lag ein seines, unirdisches Flimmern.

Da klang die Geige.

Wie die Stimme des Engels, voll und tief, werbend und wehmütig herb. Sie sang und zitterte, stieg klagend abwärts, rief in sanften Zügen voll Sehnsucht, sprang auf und jubelte nach oben. Sie streichelte über die Stirn des Musikanten, griff mit sacht befreiender Hand nach seiner Seele, führte sie auf glitzernden Wegen leicht empor, zeigte ihr in fernverklärten Bildern Mutterhaus, Kinderland und Liebesgarten und ließ sie aller ersehnten Weiten reine Wonne erfahren.

So starb Amadeus Wegerer, der Musikant, erlöst und glücklich, ein Lächeln auf den Lippen, die Arme ausgebreitet und die Augen weit offen.


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