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Bald danach, während Justine, Georg und Ursel noch im »Salettl« beisammensaßen, trat Tobias Jellen, der Torwart des »Seidenbaums«, in den Garten und meldete Justinen einen Herrn, der um die Erlaubnis bitte, ihr seine Aufwartung machen zu dürfen. Befremdet warf sie einen Blick auf die ihr überreichte Karte, gab sie auch Georg und Ursel zu lesen und sagte: »Ich lasse bitten.«

»Ferry Shykenstool« stand gedruckt auf der Karte.

»Scheint ein Engländer zu sein«, sagte Georg Leodolter und wollte sich verabschieden.

Die Erscheinung des jungen Mannes aber, der sich durch den Garten näherte, fesselte ihn dermaßen, daß er Justinens Aufforderung, noch zu bleiben, gerne entsprach. Herr Shykenstool mochte ungefähr gleichaltrig mit ihm sein, wenn auch die schlanke, knabenhafte Gestalt und das glatte, magere, fast indianerbraune Gesicht, wie beides bei Angelsachsen vorkommt, keinen ganz sicheren Schluß hierüber zuließ. Die Kleidung war aus gediegenstem Stoff, sonst schmucklos praktisch und bar jeder Überflüssigkeit; nicht einmal eine Uhrkette trug er, nur einen gezackten Kautschukring um den Bügel der Uhr, die er, ins ›Salettl‹ tretend, hervorzog, um einen Blick darauf zu werfen.

»Verzeihen Sie«, sagte er heiter und ohne jede Befangenheit; »hier speist jeder zu einer andern Stunde. Man muß eigentlich immer zuerst fragen, ob nicht die Suppe inzwischen kalt wird.«

Man lachte und war miteinander schon halb und halb bekannt. Justine bot dem Ankömmling, der sie mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete und beinahe nicht aus seinen großen, hellen Augen ließ, einen Stuhl an.

»Ich suche Spuren von Ähnlichkeit«, sagte Herr Shykenstool. »Ihre Mutter war eine geborene Leodolter. Und meine Großmutter ebenfalls.«

»Dann wäre ich ungefähr Ihre Tante?« fragte Justine, die sich nicht gleich zurechtfand.

Er lachte: »O nein, so einfach steht die Sache nicht. Der Stammbaum der Familie Leodolter, den mir mein Vater mit auf den Weg gegeben hat, erweist, daß Ihre Linie hurtiger im Heiraten und Kinderkriegen war als die meinige. Ihr Urgroßvater und meine Großmutter waren Geschwister. Sonach wäre eher ich Ihr Oheim als Sie meine Tante.«

»Wie ein Oheim sehen Sie gerade nicht aus«, sagte Ursel trocken. »Aber in Familienchronik bin ich Fachmann. Wie hieß Ihre Großmutter, die geborene Leodolter, mit dem Taufnamen?«

»Sie hieß Susanne.«

»Dann kenn' ich mich schon aus!« rief Ursel erfreut, denn sie fühlte sich in vertrautem Fahrwasser. »Eine Susanne Leodolter hat in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen ehemaligen Hauslehrer der Familie geheiratet, der Ferdinand Scheichenstuhl hieß. Es ist derselbe, von dem überliefert ist, daß er stets auf legalem Boden stand. Dennoch scheint er sich in der Revolution von 1848 irgendwie kompromittiert zu haben, vielleicht war es auch die nach den Oktobertagen einsetzende Reaktion, die ihm die Heimat verleidete – kurz, er wanderte bald nach Niederringung der freiheitlichen Bewegung mit seinem jungen Weibe, eben jener Susanne Leodolter, und einem Kinde, das ihm noch hier in Wien geboren worden war, nach Amerika aus und begründete in Peoria im Staate Illinois eine große Kerzen- und Seifenfabrik.«

»Ganz recht,« sagte Ferry Shykenstool, »ich bin in Peoria zu Hause, jener Ferdinand Scheichenstuhl war mein Großvater.«

»Sind Sie ebenfalls Seifensieder?« fragte die Principessa.

»Drei meiner Brüder sind es; sie führen in Gemeinschaft mit meinem noch lebenden Vater, der 1848 in Wien geboren ist, die Kerzen- und Seifenfabrik in Peoria und gehören zu den hervorragendsten Vertretern der Fettindustrie in den Vereinigten Staaten. In mir, dem Viertgeborenen, scheint dagegen ein starker Einschlag Weberblut von der großmütterlichen Seite her wirksam zu sein. Wenigstens hatte ich schon als kleiner Junge eine besondere Vorliebe für die Weberei, die mir immer als das klügste, reinlichste und netteste aller menschlichen Gewerbe erschien. Mein Vater, ein freiheitlich gesinnter Mann, der uns Söhnen auch in der Berufswahl volle Freiheit gewährte, trug meiner Neigung Rechnung, indem er mich der Textilbranche widmete, in der ich nach einer kurzen schulmäßigen Vorbildung mich von der Pike auf hinaufdiente. Nach meiner Lehrzeit, die sich natürlich auch aufs Kaufmännische erstreckte, ermöglichte es mir der gute Vater, eine Seidenwarenfabrik in Peoria zu eröffnen, die so gut gedieh, daß ich schon nach einem Jahrzehnt daran denken konnte, eine Konkurrenzfirma in Chikago an mich zu ziehen, wodurch sich der Umfang meines Unternehmens bedeutend erweiterte. Nun hätte ich mich allenfalls zufrieden geben können, aber Stillstand ist Rückschritt, auch zog ein seelisches Heimweh, vielleicht das Erbe meiner Väter, mich nach dem alten Kontinent hinüber. Ich beschloß, an die Gründung eines Zweiggeschäftes in Europa zu schreiten. Im Lauf dreier arbeitsreicher Jahre ist es mir gelungen, auch diesen Plan zu verwirklichen. Die Fabrik, mit der ich auf deutschem Boden festen Fuß faßte, befindet sich in einem kleinen Industrieort, der Dülken heißt und im Regierungsbezirk Düsseldorf liegt. Aus Dülken, wo ich mich wiederholt aufgehalten und zuletzt ohne Unterbrechung beinahe ein ganzes Jahr zugebracht habe, um den Betrieb so weit in Gang zu bringen, daß er von selbst läuft, komme ich auch eben jetzt.«

»Und was führt Sie nach Wien?« fragte Justine.

»Das Bedürfnis, die Geburtsstätte meiner Großeltern und meines Vaters kennenzulernen. Der Wunsch, ehrwürdigen Familienbeziehungen nachzuforschen und mit deren Hilfe vielleicht auch Einblick zu gewinnen in die Verhältnisse der österreichischen, beziehungsweise ehemals österreichischen Seidenindustrie. Eigentlich vermutete ich noch die alte Firma Leodolter hier vorzufinden, aus der meine Großmutter hervorgegangen ist. Ich höre, daß diese Firma ihren Sitz schon seit Jahrzehnten nach einem schlesischen Fabriksorte verlegt hat, der nach dem Krieg zum polnischen Gebiet geschlagen wurde und Sabliczka oder so ähnlich heißen soll. Da ich durch einen Zufall erfuhr, daß auch Sie, verehrte gnädige Frau, mütterlicherseits von der Familie Leodolter abstammen, so wollte ich nicht versäumen, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen und Sie als Verwandte unseres Hauses zu begrüßen. Zugleich möchte ich Ihre gütige Auskunft darüber erbitten, welche andern Leodolterschen Nachkommen sonst noch am Leben sind, insbesondere, ob die Seidenfirma Leodolter sich noch im Besitz eines Familienmitgliedes befindet. Für diesen Fall würde ich den Katzensprung nach Polen hinüber nicht scheuen, um den gegenwärtigen Chef der Firma kennenzulernen und meine Gedanken über die allgemeine Lage unserer Industrie mit ihm auszutauschen.«

»Sie haben es nicht nötig, erst nach Polen zu reisen«, sagte Justine lächelnd. »Hier, mein Vetter Georg Leodolter ist der Firmeninhaber der Leodolterschen Fabrik in Sebendorf.«

»Wenn vorgestellt wird, überhört man leicht die Namen«, lachte Georg, die Entschuldigungen des Amerikaners ablehnend. Und er fuhr fort: »Ursel, meine Schwester, die sich in der Familiengeschichte auskennt wie niemand sonst, wird festzustellen haben, ob ich Herr Vetter zu Ihnen sagen darf, oder respektvoll Herr Onkel sagen müßte. Vorderhand lassen Sie mich nur der freudigen Genugtuung Ausdruck geben, daß Sie eine so liebenswürdige Anhänglichkeit an die Stätte Ihrer Herkunft und die Quellen Ihres Blutes bekunden. Da wir ungefähr im gleichen Alter stehen dürften, so ermutigt mich diese Ihre Gesinnung dazu, Sie um das verwandtschaftliche Du zu bitten.«

Sichtlich erfreut schüttelte der Amerikaner ihm die Hand.

»Man spricht viel von deutscher Treue,« sagte er, »dabei ist das deutsche Volk im allgemeinen das ungetreueste der Erde. Es ist das einzige, das im Ausland sein Volkstum verleugnet und in kürzester Zeit zu vergessen pflegt. In unserer Familie dagegen, obgleich sie gut amerikanisch geworden ist, wäre ein Aufgeben des angestammten Volkstums ebenso wie ein Verleugnen der Herkunft immer als eine schäbige Charakterlosigkeit empfunden worden. Von dem nebensächlichen Umstand abgesehen, daß wir unsern Namen, um den Mitbürgern die Aussprache zu erleichtern, angelsächsisch schreiben, sind wir gute Deutsche, ja, in unserm Herzen gute Österreicher geblieben, hierin ließen wir uns auch durch die lächerlichen Anfeindungen nicht beirren, die mir während des Weltkriegs zu erdulden hatten. Die englische Lügenhaftigkeit und Verleumdungssucht vermochte den Mob gegen das Deutschtum aufzuhetzen, dem Geist der Menschheit und der Menschlichkeit aber trieb dies nur ein Schamerröten auf die Wangen. Das Volkstum muß für jeden ein heiliger Hort des Herzens bleiben und bleiben dürfen. Und dies wird um so eher der Fall sein können, je mehr die friedliche Arbeit einen übervölkischen, überstaatlichen, weltbürgerlichen Charakter annimmt. Dies ist es, lieber Vetter,« sagte er, »was ich gern mit dir des näheren besprochen hätte.«

»Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein,« erwiderte Georg, »aus deinen reichen Erfahrungen auf geschäftlichem Gebiete Nutzen zu ziehen, wenn ich dich recht verstehe, so bist du der Meinung, daß vermehrte und gesteigerte internationale wirtschaftliche Zusammenhänge zwischen den Völkern das Nationalgefühl nicht zu verwischen oder gar aufzuheben brauchen.«

»Ich halte es für eine ganz müßige, ja schädliche Utopie,« sagte Ferry, »den dauernden Weltfrieden dadurch für erreichbar zu halten, daß die Unterschiede zwischen den Völkern ausgeglichen würden und eine fortschreitende Annäherung zwischen den Nationen gleichsam nivellierend wirkte. Alle Werte der Seele sind in Sprache und Volkstum eingeschlossen; je eigenständiger jede Nation sich entwickelt, um so reicher wird die Menschheit. Somit ist es von höchster Wichtigkeit für diese, daß jedem Volk sein geistiges und kulturelles Eigenleben in vollster Freiheit gewahrt bleibe. Jede Vergewaltigung eines Volkes durch ein anderes ist ein Verbrechen an der Menschheit und darum der Krieg das größte aller Übel. Der Krieg wird aber nicht am grünen Tisch abgeschafft. Er wird in dem Maße unmöglicher, in welchem die wirtschaftlichen Interessengegensätze zwischen den Völkern wegfallen. Sind Kapital, Gütererzeugung und Güteraustausch einmal restlos übervölkische Angelegenheiten geworden, so wird jedes Volk die Güter seines nationalen Lebens unbehelligt ausbilden können. Darum muß auch die Industrie über die Grenzen der Staaten und Völker hinweg zur Einheit streben. In jedem Zweige muß sie zu einer internationalen Welt-Gewerkschaft aufwachsen. Das allein ist es, was den Völkern dauernden Frieden, das heißt Freiheit und Unabhängigkeit beim Auf- und Ausbau ihrer eigenständigen nationalen Kultur sichert.«

Etwas wie freudiger Schreck durchrieselte Georg Leodolter bei diesen Worten des Amerikaners. Er meinte aus ihnen seine eigenen Gedanken, in einen erweiterten, weltpolitischen Lichtkreis gerückt, widerklingen zu hören. Auch Justine und Ursel horchten erstaunt auf. waren das nicht ähnliche Ideen, wie sie der geplanten Seiden-Union, der ›Moralba‹, wie die Principessa sie genannt hatte, zugrunde lagen? Gespannt hingen sie an Ferry Shykenstools Lippen, ob er sich noch näher über die berührten Fragen erklären und aussprechen wolle.

Da er jetzt schwieg, fragte Georg erwartungsvoll und nicht ohne Ungeduld: »Hältst du, lieber Vetter, auch unsere Industrie für reif genug, die ersten schritte zur Welt-Gewerkschaft zu tun?«

»Die Zeit der Eigenbrödelei ist endgültig vorüber, auch für die Seidenindustrie!« antwortete Ferry mit Überzeugung. »Unsere Urgroßväter sahen in einer Fabrik mit zwanzig oder dreißig Handwebstühlen schon einen recht ansehnlichen Betrieb. Unsere Großväter und Väter hielten hundert oder zweihundert mechanische Webstühle schon für etwas Großartiges. Die Zukunft wird sämtliche Seidenkraftstühle der Welt in der Hand einer einzigen großen Innung oder Gewerkschaft vereinigen und nach einem einheitlich ausgebildeten Plane laufen lassen. Sollte die Gegenwart hierfür noch nicht reif sein, so muß vorderhand wenigstens versucht werden, alles, was deutsch ist, über die Grenzen der Staaten hinweg zu einträchtiger Arbeit in industrieller Hinsicht zusammenzuschließen: Deutsch-Amerika, vielleicht auch die deutsche Schweiz, jedenfalls aber das große, arbeitsame und tüchtige Deutschland und das durch den sogenannten Völkerbund widerrechtlich zu politischer Selbständigkeit verurteilte Österreich, auch die in politischer und nationaler Hinsicht so schandbar vergewaltigten reindeutschen Gebiete von Böhmen und Südtirol. Nur eine Erzeugung im allergrößten Maßstab bei entsprechend durchgeführter Gliederung der gesamten Leistung und möglichster Einbeziehung aller Hilfsgewerbe verbürgt die Herstellung denkbar wohlfeilster Ware bei angemessenem Gewinn für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ... Ich will aufrichtig sein,« sagte er wie in plötzlicher Entschlossenheit: »einer der Hauptgründe, warum ich nach Wien gekommen bin, war der, Ausschau zu halten, ob nicht der eine oder andere Fabriksbetrieb meines Zweiges sich fände, der sich meinen Unternehmungen in Peoria, Chicago und Dülken anschließen wollte und angliedern ließe. Ich weiß, daß das Kapital hier knapp ist; amerikanisches Geld vermag viel im Lande einer so verheerend entwerteten Währung. Vielleicht ließe sich Tüchtiges und Brauchbares, das der Ungunst der Zeit zu unterliegen droht, retten und für die Gesamtheit fruchtbar machen, schon durch die Angliederung der einen oder andern Wiener Seidenfirma an meinen deutschen Betrieb im Rheinland wäre ein, wenn auch unscheinbarer, erster Schritt getan und die auf die Dauer durch Gewaltmittel doch nicht aufzuhaltende Heimkehr Österreichs ins deutsche Mutterland wenigstens auf dem Gebiete einer bestimmten Industrie durch Zusammenarbeit der österreichischen mit der rheinländischen Seidenweberei sinnbildlich vorbereitet. Weitere Schritte würden nicht ausbleiben, dessen bin ich gewiß. Zusammenschluß ist heute die Losung, nicht Trennung! Keine Konkurrenz vieler gegeneinander, sondern Zusammenarbeit womöglich aller am gleichen, einheitlichen, großen Bau der Weltindustrie! Es wäre mir eine Freude, fände ich hier Gelegenheit, einen Schritt vorwärts zu tun nach dem Ziele, das mir vorschwebt. Und eine besondere Freude wäre es mir, könnte ich Hand in Hand mit jener Seidenfirma, mit der mein eigenes Dasein durch geschichtliche Überlieferungen und Lande des Blutes verknüpft ist, dem hohen Ziele entgegengehen.«

»Und wie heißt dieses Ziel?« fragte Georg in höchster Erregung.

»Die große deutsche Seiden-Union, die sich später einmal, so Gott will, zu einer Seiden-Weltunion auswachsen soll!«

Schweigen trat ein. Ein Staunen, daß der Amerikaner dasselbe Wort ausgesprochen, das seit Georg Leodolters Wirken in diesem Sinne auch hier bereits eine Zukunftshoffnung geworden war, machte alle verstummen. Fragend blickte Ferry rundum. Er begriff nicht recht, warum seine Ausführungen einen sichtlich so großen Eindruck hervorbrachten, verstand den Grund der merkwürdigen Erregung nicht, die sich insbesondere in Georgs Zügen so sprechend ausdrückte.

Plötzlich sprang dieser von seinem Sitz auf und schloß den Vetter in seine Arme.

»Willkommen! Tausendmal willkommen! Ich wüßte mir keinen Bundesgenossen, dessen Mitarbeit mir erwünschter wäre!«

Justine aber wendete sich liebenswürdig an den verblüfft dreinsehenden Ferry und sagte: »Es mag Ihnen zur Aufklärung dienen, daß Sie Gedanken ausgesprochen haben, die uns alle, insbesondere unsern Vetter Georg seit langer Zeit beschäftigen. Die unerwartet sich eröffnende Aussicht einer Zusammenarbeit mit Ihnen wird den daran sich knüpfenden Plänen einen mächtigen Antrieb geben ...«

Und sich erhebend, fügte sie hinzu: »Darf ich sie einladen, lieber Vetter, unser einfaches Mahl mit uns zu teilen? Mein Mann wird sich freuen, sie kennenzulernen. Und wenn Georg uns das Vergnügen machen will, auch mit von der Gesellschaft zu sein, so zweifle ich nicht, daß im freundschaftlichen Gespräch die freudigen Erwartungen, die vorderhand erst in schwanken Umrissen sichtbar wurden, bald feste und greifbare Gestalt annehmen werden.«

Dankbar nahm Ferry an, und während Justine mit der Principessa vorausschritt, folgte er den beiden Frauen Arm in Arm mit dem neuentdeckten Vetter und Duzbruder Georg.

 

Zu Beginn des Sommers fand sich im Haus ›Zum Seidenbaum‹ eine Wohnungskommission ein.

»Hier ist jemand gestorben«, sagte der Amtsleiter zu Tobias Jellen, dem Torwart und Hausmeister.

»Jawohl, leider! Die brave Frau des Spulendrechslers im Hof«, antwortete Tobias, »wollen die Herren die freigewordenen Appartements vielleicht besichtigen?«

Der Beamte merkte die Honigelei und erklärte, daß dies allerdings der Fall sei. Er zitierte sogar einen Paragraphen, der den Schlüsselbewahrer des Hauses mit allerhand netten Dingen bedrohte, wenn er sich nicht sofort als Wegweiser und Angeber zur Verfügung zu stellen bereit sei.

»No, so kommen S' halt mit«, brummte Tobias und trottete mißvergnügt und schimpfend wie ein Nationalrat durch den langgestreckten Hof voraus. Mit einem Ernst, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre, wälzte sich die Kommission, die aus einer Anzahl diätenhungriger Kostgänger der verschiedensten Parteien zusammengewürfelt war, hinter ihm drein.

Meister Staudenmayer und dessen Nichte Marfa erschraken nicht wenig, als unversehens eine ganze Hammelherde wimmelnder Amtsbeine den Straßenschmutz der Schutzengelgasse in die sauber gehaltene kleine Küche hereintrug und sich auch in die Werkstatt und das Sterbezimmer der Verewigten ergoß. Rumpsack, der Zimmerherr, der einem in der Schule sitzengebliebenen Fabrikantenssöhnlein aus der Nachbarschaft eben die Verben auf Mi einzutrichtern versuchte, kam aus seiner durch eine Holztreppe erreichbaren Stube herunter, eine lange Studentenpfeife im Mund, das rundlich schwammige Antlitz von allerhand verschwiegenen Humoren durchzuckt.

Ein hochnotpeinliches Verhör hub an, die gemachten Angaben wurden durch amtlichen Augenschein streng überprüft, der gesamte Tatbestand gewissenhaft zu Protokoll gebracht. Da sich herausstellte, daß außer dem dunklen Kämmerchen, in welchem Marfa schlief, auch noch eine mit Holzabfällen und verschiedenem Gerümpel angefüllte Kammer neben der Werkstatt vorhanden war, in der allenfalls auch noch ein Mensch, besonders ein Drechslermeister, schlafen konnte, so beantragte der Vorsitzende (der freilich nicht saß, sondern wie die ganze Kommission stehen mußte, weil nur drei Stühle vorhanden waren), das durch Frau Anna Staudenmayers Tod freigewordene Schlafzimmer wohnungsamtlich anzufordern und es einer obdachlosen Untermietspartei zuzusprechen.

Vielleicht trug Tobias Jellens Fürwitz schuld an dieser drohenden Entscheidung. Denn der Amtsleiter klopfte ihn auf die schütter und sagte mit siegreicher Gönnermiene: »Sehen Sie, ein Zimmer haben wir doch erwischt, daß es keine Appartements hier gibt, war uns ohnedies bekannt.«

Der alte Staudenmayer, seit dem Tode seiner Frau zermürbt und etwas kopfschwach, war zu bestürzt, um Einspruch zu erheben. Er fand nicht die richtigen Worte, sich zu wehren, es fiel ihm auch in der Geschwindigkeit nichts ein, was er hatte vorbringen können. Die Gedanken gingen ihm wirr durcheinander, hilflos versank er in die Kümmernis, das armselige, sonnenlose, aber altvertraute Zimmer, in welchem das Sterbebett seiner Gattin noch unberührt stand, von fremden Leuten besiegelt zu sehen. Aber der Ehrendoktor der Schutzengelgasse erwies sich in diesem gefährlichen Augenblick nun selbst als Schutzengel, indem er für seinen langjährigen Unterstandsgeber dachte und handelte und die bescheidene Stätte, die ihm durch die Güte und Weisheit der Verstorbenen geweiht war, gegen den in Aussicht gestellten behördlichen Übergriff in Schutz nahm. Zum Schrecken des Meisters und zu Marfas eigener Verblüffung machte er geltend, daß die Vermählung von Staudenmayers Nichte mit einem ehrsamen Webersmann namens Schinnerl unmittelbar bevorstehe, weshalb eine Anforderung des einzigen Zimmers, in welchem ein Ehebett Platz hätte, nach Paragraph soundsoviel des Gesetzes vom soundsovielten, Zahl soundsoviel, unzulässig sei.

Das angezogene Gesetz samt dem angezogenen Paragraphen hatte er kühn aus der Luft gegriffen, er vertraute darauf, daß die meisten Mitglieder der Kommission sich in den unzähligen bestehenden Gesetzen und Verordnungen als ebensowenig sattelfest erweisen würden, wie er selbst es war. Im übrigen hielt er es in solch kitzligen Lagen für ratsam, womöglich niemand zu Wort kommen zu lassen. Darum fuhr er mit einer Keckheit, die ihm nur das Bewußtsein der guten Sache verleihen konnte, für die er kämpfte, unentwegt zu reden fort und redete beinahe das Blaue vom Himmel herunter, wobei er seiner übermütigen Laune mit Behagen die Zügel schießen ließ.

»Denn das Ehebett«, sagte er, »ist gewissermaßen die Säule der Republik, oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, die Ursprungsquelle der künftigen Generationen, auf die Österreich seine Hoffnungen setzt. Wem verdankt der Arbeiter, der den Wohlstand des neuen Vaterlands begründet, seine Existenz? Dem Ehebett! Wem der Wehrmann, der dieses durch den Arbeiter zu besagtem Wohlstand gelangte Vaterland mit Mannesmut gegen den äußeren Feind verteidigt? Ebenfalls dem Ehebett! Und sogar die Führer des Staatswesens, alle leitenden Persönlichkeiten insgesamt, vom Bundeskanzler und Bundespräsidenten angefangen bis hinauf zu den Obmännern und Sekretären der politischen Parteiorganisationen sind auf gleiche Weise, wenn auch auf dem Umweg einer neunmonatigen embryonalen Entwicklung aus einem Ehebett hervorgegangen und sahen sich nur durch den Umstand in die mehr oder weniger angenehme Lage versetzt, das Licht der Welt überhaupt zu erblicken, daß ihre Herren Eltern solch ein nützliches Hausgerät, wie eben ein Ehebett es ist, ihr eigen nannten und auch über den nötigen Raum verfügten, es aufzustellen und in Verwendung zu nehmen. Aus diesem Grunde müßte die Anforderung und Beschlagnahme dieses Zimmers nicht nur als eine antisoziale, sondern geradezu als eine staatsgefährliche Maßregel betrachtet werden. Fräulein Marfa und ihr künftiger Gatte, denen zweifellos wie einem jeden neuvermählten Paare schon kraft der natürlichen Menschenrechte allein der Besitz eines Ehebettes zusteht, würden dann bedauerlicherweise genötigt sein, sich ohne ein solches zu behelfen. Und die schwerwiegenden Folgen davon, wenn man den Einzelfall verallgemeinern wollte, wären doppelter Natur. Erstens, daß nämlich der ordnungsmäßigen Vermehrung der Menschheit im allgemeinen ein Riegel vorgeschoben würde. Und zweitens, was gerade für unsern jungen Bundesstaat empfindlich ins Gewicht fällt, daß im besonderen der wünschenswerte Nachwuchs an überzeugungstreuen Republikanern für längere Zeit hinaus in unverantwortlicher Weise unterbunden bliebe.«

Aufs höchste belustigt bemerkte Rumpsack, daß der hochtrabende Stuß, den er von sich gegeben, wenigstens auf einige der Kommissionsmitglieder seine Wirkung nicht verfehlte. Er sah, wie sie zustimmend mit ihren Schafsköpfen nickten, und fuhr noch eine Zeitlang in dem gleichen Tone fort, bis auch der Amtsleiter selbst einigermaßen eingeschüchtert oder doch halbwegs totgeredet schien. Noch wehrte sich in diesem das Vollbewußtsein seiner Geltung gegen eine bedingungslose Waffenstreckung, und einem vielleicht nicht ganz unberechtigten Mißtrauen Raum gebend, wollte er genau wissen, für welchen Zeitpunkt die Trauung des Fräuleins in Aussicht genommen sei.

»Heut in vierzehn Tagen ist sie bestimmt schon unter der Haube«, sagte der aus seiner langen Pfeife gemächlich blaue Wölklein paffende Schutzengel mit unumstößlicher Überzeugtheit. »Ich weiß es genau, denn ich bin Trauzeuge und habe schon einen sogenannten Brennaborwagen erstanden, den ich der liebreizenden Braut als Hochzeitsgeschenk zu verehren gedenke.«

Der Brennaborwagen mochte die letzten noch vorhandenen Zweifel des leitenden Beamten zerstreut haben, er war jetzt nur noch darauf bedacht, sich einen ehrenvollen Rückzug zu sichern.

»Nehmen Sie diese Äußerung zu Protokoll, Fräulein,« befahl er der mitgebrachten Schnellschreiberin, »und merken Sie dazu an, daß heute über vierzehn Tage ein Magistratsbeamter sich persönlich davon zu überzeugen hat, ob dieses Zimmer wirklich von einem Ehepaar namens Schinnerl bewohnt wird.«

Damit war die Amtshandlung beendet. Die Mitglieder der Kommission, erschöpft von der geleisteten Geistesarbeit, zerstreuten sich in alle Winde, um ihren irdischen Menschen für neue Taten zu stärken. Denn die Stunde der Mittagsmahlzeit war inzwischen angebrochen.

So kam Marfa, obgleich der Oheim sich verschworen hatte, gegen ihre Vermählung mit dem braven Webergesellen und Weltreisenden ein sogenanntes »Wetto« einzulegen, tatsächlich mit einer für alle Beteiligten gleich überraschenden Geschwindigkeit unter die Haube und hieß bereits nach vierzehn Tagen Frau Schinnerl. Pater Wilfrid hatte von dem Rechte Gebrauch gemacht, die einer Trauung vorausgehenden kirchlichen Förmlichkeiten in berücksichtigungswürdigen Fällen abzukürzen. Er brachte es nicht übers Herz, die vor der Wohnungskommission gemachten Aussagen des Ehrendoktors der Schutzengelgasse Lügen zu strafen. Und Meister Staudenmayer fügte sich ins Unabänderliche und hatte es nicht zu bereuen.

Das junge Paar, welches das vereinsamte Zimmer der Verstorbenen bezog, sorgte für ihn mit kindlicher Hingebung und Treue und bereitete dem alternden Manne einen beschaulichen und verhältnismäßig sorgenfreien Lebensabend.

 


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