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Und wieder entdeckte der Frühling, als er eines Tages ein schneeweißes Wolkenschiff bestieg und vom Wiener Wald her über die große Stadt dahinfuhr, tief unten im Gewirr der Straßen und Dächer den armen, zwischen Feuermauern und Hofgebäuden vergrabenen kleinen Garten hinter dem Haus in der Schutzengelgasse. Da ließ er Anker werfen, stieg aus und kam herunter.

»Beinahe hätte ich ihn vergessen«, sagte der Frühling; »man hat auch gar soviel zu denken und zu sorgen! Aber weil er bescheiden im Winkel steht und nicht murrt und sich nicht unmanierlich vordrängt, so soll er nun doppelt belohnt sein.«

Und er zündete an den Fliederbüschen hellgrüne spitze Flämmchen an, hauchte warm hinter die Gebüsche, daß Schneeglöcklein, Leberblümchen, Krokus und andere von Rumpsack insgeheim gepflanzte Wald- und Wiesenrainblumen jäh hervorschossen und zu blühen begannen, holte feinen Farbtopf hervor, bestrich die anmutig geschwungenen Zweigrispen der Forsythien über und über mit einem schönen, grellen Ockergelb und freute sich unbändig, als sie schließlich wie frisch vergoldet in der Sonne leuchteten. Hierauf berührte er die von ihrer schützenden Strohhülle längst befreiten Kletterrosen am »Salettl« mit leisem Finger, daß sie ihre lederglänzenden Blätter entfalteten und aus ihren quillenden Säften einen Duft verbreiteten, der beinahe so süß und stark war, als trügen sie bereits die prangende Last ihrer in allen Spielarten von Rot abgeschatteten Rosentrauben. Und nachdem er auch den großen alten Maulbeerbaum mit einem zarten Schleier von erstem Grün umsponnen und schließlich nach über den Rasen, der unter den weichen Federbetten des Winters ohnedies grün geblieben war, ein paar Handvoll Maßliebchen ausgestreut hatte, schwang er sich mit einem Jauchzer wieder hoch empor in die Lüfte, der leichtbeschwingte Frühling, auf seinen regenbogenschillernden Libellenflügeln, und setzte sich wieder auf seine weiße Wolke, die er in ausgelassener Fröhlichkeit so lange mit beiden Fäusten bearbeitete, bis sie Wasser ausließ und auf den kleinen Garten hinunterzuregnen anfing.

Der Erfolg blieb nicht aus, die große Gießkanne tat ihre Wirkung, und eh' man sich's versah, war der kleine Garten wieder eine liebliche Oase in der unendlichen Steinwüste, oder, wie Frau Staudenmayer ihn genannt hatte, eine grüne, weltabgeschiedene Insel, auf der man viel Schönes sehen und erleben konnte, wenn man die Gabe dafür besaß, wie die Kranke sie besessen hatte. Denn, ach, sie besaß sie nicht mehr! Die gute arme Frau Staudenmayer konnte sich dieses neuerwachten Frühlings auf ihrer grünen Insel nicht mehr freuen! Sie hatte sich auf eine noch weltabgeschiedenere Insel zurückgezogen, auf der man unter Umständen vielleicht noch viel Schöneres erleben kann und eine noch viel umfassendere Aussicht genießt.

Um diese Zeit hielt wieder Georg Leodolter vorübergehend sich in Wien auf. Die Bekanntschaft auf Probe, die er im Spätherbst mit Fräulein Resi Pimper geschlossen hatte, und die sich während des Winters, so oft er abwesend war, in einem lebhaften Briefwechsel zwischen Sebendorf und Wien fortspann, führte allmählich zu jenem bezaubernden Gefühl des Einandersicherseins, das eine der reizvollsten Begleiterscheinungen junger Liebe ist, und gedieh mit dem Erblühen der ersten Märzveilchen zu dem Beschluß, einander gelegentlich einmal zu heiraten, ohne daß deshalb etwas wie eine Verlobung in aller Form an die große Glocke gehängt worden wäre.

Der Vater des Mädchens, Herr Thomas Pimper, der im Werksaal von Hocheder und Sohn beschäftigte ehemalige Fabrikbesitzer, gab gern seinen Segen dazu, doch bedang er sich aus, daß der künftige Schwiegersohn nichts dagegen einwenden dürfe, wenn er seine Tätigkeit als Handweber fortsetze, solange das gichtische Bein es gestatte. Georg indessen, der über eine gutmütige Beharrlichkeit sondergleichen verfügte, wenn es dahinterzukommen galt, wo einen der Schuh drücke, wußte auch aus ihm die Grillen gar bald herauszukitzeln. Er pflegte zu sagen, niemand sei befähigt und berechtigt, Einfluß und Gewicht in der bürgerlichen Gesellschaft zu erlangen, der nicht die Kunst verstünde, jedem, mit dem er irgend in Berührung komme, ein Nein zu nehmen, um ihm dafür ein Ja zu schenken. So bestärkte er nun den an seinem armen Handwebstuhl auf alle Erfolgreichen schmälenden Pimper in dem Gedanken, daß er eigentlich das Zeug zu einem Großunternehmer ersten Ranges in sich gehabt hätte und an der Pleite seines rückständigen Fabrikleins nur widrige Umstände und das Unverständnis einer kleinlichen Umgebung schuld gewesen seien. Und er redete dem mit der Welt Zerfallenen ein, daß er seines bewährten fachmännischen Rates und seiner Mitwirkung bei den großen Plänen bedürfe, die er selbst auf der Pfanne habe, und machte ihn dadurch zum glücklichsten aller Sterblichen.

Georgs frommer Betrug verfehlte sein Ziel nicht. Der entgleiste und zermürbte alte Mann begann aufzuleben, er hielt es jetzt für seine Pflicht, keine Kärrnerdienste mehr zu tun, wo er doch berufen sei, den Königen bauen zu helfen. Er ging nicht mehr in die Fabrik, sondern saß in heller Begeisterung in dem Kontor, das Georg gemietet hatte, über Entwürfen, Rissen, Berechnungen, in ziemlich kindlicher Weise mit Wolkengebilden der Zukunft beschäftigt, deren sein schon schwach gewordener Kopf jeden Tag ein neues ausbrütete. Das beste dabei war, daß er wertvolle Arbeit zu leisten glaubte und sich auch ohne Bedenken von Georg dafür besolden ließ. Übrigens verrichtete er wenigstens nebenher, wenn nicht hochwertige, so doch recht erwünschte Arbeit und war keineswegs unnütz; indem er nämlich seiner Tochter mit Abschreiben, Einordnen und sonstigen Hilfsdiensten zur Hand ging. Denn Resi war es eigentlich, für die das Kontor bestand. Sie hatte die Stellung bei Jacques Pinkas und Kompanie gekündigt und führte mit großem Geschick Georgs Geschäfte in Wien. Er hatte nun, was für ihn wertvoll war, ein Büro zur Verfügung, so oft er nach Wien kam, und, da Resi eine kleine Wohnung, die an dieses Büro anschloß, gegen ihre frühere ausgetauscht hatte, auch ein Absteigequartier.

Denn er wohnte bei ihr, so oft er kam, und da das durch den Reiz der Neuheit doppelt anziehende Ehemannspielen, das doch mit der größten Freiheit des Kommens und Gehens vereinbar blieb, ihm nicht übel zusagte, so kam er vielleicht öfter und blieb vielleicht länger, als unbedingt nötig gewesen wäre. Trauen wollten sie sich erst lassen, bis über die Zukunft der Fabrik entschieden wäre; vorderhand stand es ja noch nicht einmal fest, an welchem Orte sie sich ihr dauerndes Zusammenleben würden einrichten können. Doch befreundete sich Georg mehr und mehr mit Jacques Pinkas' Vorschlag, die Fabriksanlagen von Dorotheen-Wiese gegen den Auenwaldschen Besitz hin zu erweitern, wenn es wirklich zur »Union« käme. Und eine solche Ortswahl für die Arbeitstätten wäre natürlich auch bestimmend gewesen für die Ansiedlung des persönlichen Hauswesens.

Es war die Blütezeit der zwar nicht tödlichsten, aber widerlichsten und aufreizendsten aller Nachkriegsnöte, die Zeit der angeforderten Wohnungen, der Knappheit des Raumes, der aneinandergeschmiedeten Zuchthäusler auf der Strafgaleere der geschändeten Häuslichkeit. Angesichts der herrschenden Wohnungsnot erschien es so gut wie ausgeschlossen, in der Stadt selbst einen entsprechenden Rahmen für den zu gründenden neuen Hausstand zu finden. Unter diesen Umständen deuchte dem Georg und der Resi das alte Leodoltersche »Himmelhaus«, das sich nicht weit von Dorotheen-Wiese befand, für den Fall, daß Dorotheenwiese als Fabriksort wirklich in Betracht kam, nicht nur ein recht günstig gelegenes, sondern auch das denkbar reizvollste Ehenest. Sie vergnügten sich, mit dem Gedanken zu liebäugeln, und da dieser vorderhand noch keine feste Gestalt annehmen konnte, verliehen sie ihm Scheinleben durch ein entschlossenes »Als ob«. So fuhren sie manchmal hinaus, ergingen sich in dem verwahrlosten und verwilderten Garten, in welchem ein kleines Gedächtnismal die merkwürdig an seine eigenen erinnernden Züge von Georgs Urgroßvater Alfred Leodolter in Marmor festhielt, und betraten das alte, verlassene, seit langer Zeit leerstehende biedermeierische Haus. Mit leisem Bangen schritten sie durch die seltsam hallenden Räume, verweilten bei mancher verblichenen Erinnerung und erwogen, wie sich ein neues Lebensreis hier würde aufpfropfen lassen, ohne die überlieferte Erscheinung der altehrwürdigen Daseinsform bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen ...

Mit der Verwirklichung solch lieblicher Luftschlösser hatte es freilich noch seine guten Wege. Das große vorhaben der Zusammenfassung der Betriebe war ins Stocken geraten. Der Kapitalsmangel hielt an, die Geldentwertung machte noch immer Fortschritte, die Leute an der Spitze, die Sanierungsversuche unternahmen, wurden reicher und verschoben insgeheim Kapitalien in die Schweiz, die Wirtschaft selbst fuhr fort zu verarmen.

An einem heiteren Frühlingstag kam Georg ins Haus »Zum Seidenbaum«, um seine Base Justine Hocheder endlich einmal wiederzusehen, die zu besuchen er wegen Zeitmangel länger versäumt hatte, als es ihm lieb war. Es wurde ihm gesagt, Justine befinde sich im Garten. Als er sich durch den Hof dahin begeben wollte, hörte er aus einer zu ebner Erde gelegenen Werkstatt das Schnarren einer Drehbank, wurde neugierig, trat ein und fand den ihm unbekannten Spulendrechsler Staudenmayer an der Arbeit.

»Mir scheint, Ihr lebt noch im vorigen Jahrhundert«, sagte er lachend, »werden bei Tuch die Spulen noch mit der Hand gemacht?«

Der alte Staudenmayer gab keine Antwort. Er ließ die Schärfe des Eisens am Lindenholz pfeifen, daß man sich am liebsten beide Ohren hätte zuhalten mögen.

Georg seinerseits war sich natürlich immer klar darüber gewesen, daß der vergrößerte Betrieb nicht allein die eigentliche Fabrikation, sondern auch alle Hilfsgewerbe, insbesondere Färberei und Appretur umfassen und selbstverständlich auch eine Spulendrechslerei enthalten müsse. Falls Hocheder und Sohn sich dem Konzern doch noch anschlössen, würde man, dachte er, unter vielen andern beuten auch diesen alten Mann irgendwie unterbringen und versorgen müssen. Drum schrie er ihm die Frage ins Ohr: »könnt Ihr zur Not auch mit dem maschinellen Betrieb umgehen?«

»Bin heut nit zu sprechen! Hab' zu tun!« schnauzte der Meister ihn kurz ab.

Und während er fortfuhr, einen Höllenlärm zu verbringen, behandelte er den Besucher als Luft und gab sich keine Mühe es zu verbergen, daß er nichts als einen lästigen Eindringling in ihm erblicke.

Georgs Meinung hierüber, die sich am zutreffendsten in das knappe Wort »Grobian!« hätte zusammenfassen lassen, blieb unausgesprochen, vergleichen vermochte ihm die Laune nicht zu verderben. Scherzweise die Angst eines Fliehenden nachahmend, verließ er belustigt die Werkstatt und trat wieder in den Hof hinaus, um seinen weg nach dem kleinen Garten fortzusetzen. Er traf Justinen im »Salettl«, zu seiner Überraschung trug sie Trauerkleider. Das tiefe Schwarz stand ihr vorzüglich zu der zarten Gesichtsfarbe und dem reichen Goldhaar.

»Ich bemerke mit Bedauern – du hast einen Verlust erlitten?«

»Eine arme Dulderin, eine seit Jahren schwerkranke Frau, die mir eine mütterliche Freundin war. Sie überragte an Weisheit und vornehmer Gesinnung manchen hochgeborenen und hochgebildeten. Denn ohne eine Spur von Bitterkeit wußte sie Leid zu tragen.«

»Wer war sie?«

»Die Frau des Spulendrechslers im Hof.«

»Ihn fand ich doch eben noch wütend an der Arbeit?«

»Schon seit frühem Morgen höre ich seine Drehbank surren, vermutlich weiß er seines Schmerzes anders nicht Herr zu werden. Ich wagte mich noch nicht in seine Nähe, immer wartete ich, daß er aufhören sollte, sein Eisen schrillen zu lassen.«

Als wäre dem ausgesprochenen Wort die Macht der Fernwirkung verliehen gewesen, so verstummte in diesem Augenblick das in Hof und Garten widerhallende, nichts weniger als angenehme Geräusch.

»Ich mache mir Vorwürfe,« sagte Georg, »daß ich, ahnungslos wie ich war, ihn nach mit Fragen behelligte und mich über seine kurz angebundene Art lustig machte. Falls du dich zu ihm begeben willst, möchte ich dich begleiten, wenn du nichts dawider hast.«

»Durchaus nicht. Der Gang fällt mir schwer, ich bin dir dankbar, wenn du mir zur Seite stehst.«

Sie begaben sich in den Hof und traten in die kleine Wohnung ebener Erde. In der winzigen Küche stand Marfa am Sparherd und rührte mit der rechten Hand in einem Topf, während sie mit der Linken das Taschentuch an die Augen drückte. Durch die offenstehende Tür der Werkstatt sah man den Meister mit gestützten und ineinandergekrampften Händen auf einer Kiste neben der Drehbank unbeweglich sitzen. Er arbeitete jetzt nicht mehr und betrachtete nur mit dem Ausdruck völliger Ratlosigkeit den Fußboden. Auch die Tür nach der Wohnstube stand offen. Dort lag im Bette, während auf dem Nachttisch eine einsame Kerze brannte, eine weißgekleidete Gestalt mit wächsernem Antlitz und wächsernen, über der Brust gefalteten Händen. So unglaublich ruhig lag sie da, ein ganz leises Lächeln um die fahl gewordenen Lippen, als lausche sie, wie damals beim Konzert dem Melodienreichtum Schuberts, so jetzt irgendwelchen fernen Tönen; oder als beobachte sie eine weiße Wolke, die auf dem schmalen blauen Himmelsausschnitt über dem Hof vorübersegle...

Wie treu hatte doch ihr Gott die schlichte, wackere Frau durch ihr Leben geleitet bis zu diesem friedlichen Verstummen! Aber ihre Justinen gegebene Zusicherung, daß dieser Gott eine Tat der christlichen Nächstenliebe nicht mit Versuchungen lohnen werde, war trügerisch geblieben. Nichts als einen Unglücklichen, dasselbe wie in den Schwerverwundeten, die einst ihrer Pflege anvertraut gewesen, hatte Justine damals in Severin gesehen, als sie seine Aufnahme ins Haus befürwortete. Und doch trat die Versuchung an sie heran, vielleicht hielt einem Frau Staudenmayers Herrgott die Treue nur dann, wenn man so kindlich fest in seiner Führung stand wie sie selbst? Nur dann, wenn man der Heiligkeit so nahe kam? Oh, wie fern fühlte Justine sich dieser Heiligkeit. Ach, was für ein schwaches Menschenkind war sie doch! Und für Menschen von Fleisch und Mut eignete sich vielleicht kein anderer Gott als jener entschlossene und stürmische Gott Severins, der dem Willen des Herzens eher gehorchte als gebot.

Dieser Toten, die immer ihre vertraute gewesen, bekannte Justine jetzt, was sie noch nicht einmal sich selbst bekannt hatte: daß sie sich nach Severin sehnte und es täglich bereute, ihm nicht gefolgt zu sein...

Mittlerweile war Meister Staudenmayer ins Sterbezimmer getreten, Georg Leodalter sprach ihm seine Teilnahme aus und entschuldigte sich wegen seines ahnungslosen Eindringens von vorhin.

»Ich hab' gemeint,« sagte der Alte, »wenn die Späne fliegen, daß mir leichter ist...Nützt auch nichts! Ist alles umsonst!«

Die Diener der Bestattungsanstalt trafen ein, mit Bahre, Sarg, Kreuz und schwarzen Tüchern. Leute aus dem Haus standen neugierig umher oder lugten aus den Fenstern, durchs offenstehende Tor stahlen sich Nachbarn herbei. Nach einem kurzen Gebet kehrten Justine und Georg in den Garten zurück.

Während sie im »Salettl« beisammensaßen, erkundigte er sich um dieses und jenes von den Familienmitgliedern. Durch Herrn Pimper, seinen künftigen Schwäher, hatte er etwas läuten hören von dem Getratsch in Werksaal und Haus, das zu Severins Entfernung geführt hatte. Auch von Herrn Michael Hocheders Wüten gegen den Sohn. Jetzt erfuhr er, daß man von Severin seit Monaten nichts wisse, er war verschollen, man mußte annehmen, er hätte die Stadt verlassen. Der alte Herr führe seither ein Leben, das eher ein Hindösen genannt werden müsse, und sei noch einsamer geworden als früher. Denn auch General von Mairold, den er wie so viele andere vor den Kopf gestoßen, besuchte ihn nicht mehr.

»Die arme Marianne!« sagte Justine, »wie mag sie sich nach ihrem Eybel sehnen, den sie oft monatelang nicht zu sehen bekommt. Denn daß er als Bewerber das Haus beträte, daran ist gar nicht zu denken, der Vater würde es nie erlauben!«

»Weshalb nicht?« fragte Georg.

»Ein Generalstabshauptmann, selbst wenn er noch aktiv wäre, denk' einmal! Und die Tochter eines Schottenfelder Fabrikanten! Kannst du dir eine unebenbürtigere Heirat auch nur vorstellen?«

Georg lachte und meinte: »Der Eybel ist ein tüchtiger Mensch, er wird seinen Weg machen. Er spitzt seine maschinentechnischen Studien vorwiegend auf den mechanischen Webstuhl zu, wir haben es schon miteinander besprochen. In der großen A. G. werden wir einen umsichtigen Maschinenmann brauchen, der auf Weberei spezialisiert ist; auch Pinkas ist derselben Meinung... übrigens – die gute Marianne Hocheder und Konrad Eybel...« sagte er, verstummte und sann eine Weile vor sich hin.

Der Anblick der toten Frau auf ihrem dürftigen Lager ging ihm nach. Er hatte sie nicht gekannt, es war nicht der Anblick einer bestimmten Toten, was ihn so eigen herzzusammenschnürend berührt hatte und nach halb unbewußt auf ihm lastete. Für ihn war diese Tote das Sinnbild des Todes selbst. Daß Augen, einst lebensprühend, auslöschen können! ... Daß Wangen, einst jugendlich und froh durchblutet, wächsern werden! ... Und es kam über ihn wie Lebensdrang, wie Lebensfreude, der Wunsch, das Bedürfnis, dem Leben zu dienen, alles Leben zu fördern, damit der Tod sich nicht als Sieger dünke.

»Warum helft ihr ihnen nicht?« fragte er unvermittelt, mit einer Art von keckem Übermut.

»Wem?« fragte Justine erstaunt.

»Der Marianne und dem Eybel. Was quält sich das Pärchen, das sich nun einmal gefunden hat, so zwecklos ab? Ich bitte dich, Justine, heutzutage –! Sie könnten sich doch hier und da einmal an drittem Ort treffen und ein bißchen liebhaben? ... Übrigens kommt dort meine Schwester«, sagte er aufgeräumt; »wenn du etwa mit mir nicht übereinstimmst, so dürftest du eine Bundesgenossin in ihr finden. Denn immer behauptet sie, ich hätte keine Moral, ohne daß ich recht dahinter kommen könnte, ob sie mich im Grunde nicht um diesen angeblichen Mangel beneidet.«

Wirklich näherte sich jetzt Ursel Fürst durch den Garten. Sie hatte sich eingefunden, Justinen ihr Beileid auszusprechen, denn schon war der Tod Anna Staudenmayers ihr zu Ohren gekommen. Nachdem die beiden jungen Frauen eine Zeitlang gemeinsam die hingeschiedene beklagt und ihr Andenken gebührend geehrt hatten, wurde Georg ungeduldig. Er wollte nicht immer nur vom Tode, er mochte überhaupt nichts mehr von ihm hören, er liebte das Leben! Und abermals brachte er das Gespräch auf das Verhältnis zwischen Eybel und Marianne.

»Eine eheliche Verbindung zwischen den beiden«, sagte er, »ist derzeit noch nicht ratsam, man muß den alten Herrn schonen, und der Hauptmann hat seine Studien noch nicht abgeschlossen. Aber ein harmlos heimliches Stelldichein ab und zu –? Mit süßen Küssen und so... Warum denn nicht? Das könntet ihr den guten Leutchen wirklich manchmal gönnen? Ladet sie doch ein, und dann verschwindet! Justine –? Oder du, Ursel? Wer ist die Vorurteilslosere von euch beiden?«

Vielleicht hatte er es auch ein wenig darauf abgesehen, den heiligen Eifer seiner Schwester herauszufordern? Immer machte es ihm Spaß, wenn die hübsche kleine junge Witwe sich über ihn entrüstete. Und die Principessa erwies ihm auch pünktlich den Gefallen, die Zumutung, die er an sie stellte, empört von sich zu weisen. Zu »ihrer« Zeit, versicherte sie, hätten junge Mädchen noch auf Anstand und Sitte gehalten, die neuzeitlichen Moden mache sie nicht mit; sie sei zu alt, an ihren ehrbaren Grundsätzen noch etwas zu ändern.

»Mit drei- oder vierunddreißig Jahren ist man noch nicht alt und kann noch immer gescheiter werden«, erwiderte Georg mit mephistophelischer Ausbündigkeit. Und um sie recht aus dem Häuschen zu bringen, fuhr er unverfroren fort: »Die Resel Pimper, meine Braut, ist gewiß ein anständiges Mädel, aber eine Zimperliese, wie man zu ›deiner‹ Zeit es war, ist sie gottlob darum noch lange nicht. Und warum sollten wir auch nicht unsere Freude aneinander haben? Wem schadet's? Wen geht's was an? Oder hängt wirklich die Ehrbarkeit des Weibes von der Erfüllung einiger hergebrachter Formalitäten ab? Dann wäre sie wahrlich schwach fundiert. Übrigens magst du dich trösten, Ursel, was die Formsachen sind, denen werden wir schließlich schon noch entsprechen, warum auch nicht? Aber sie laufen uns doch nicht davon! Und so ein Verhältnis, wenn's noch nicht ganz legitim ist, das kannst du mir glauben,« sagte er lachend, »hat einen ganz besonderen Reiz!«

Das war nun erst recht ein arger Schock für die gute Principessa, die nur immer an ihre Kinder und die geschäftlichen Sorgen zu denken hatte und es für Ehrenpflicht hielt, die Hüterin des Geziemenden zu spielen. Aufs Entschiedenste beteuerte sie, über Resi Pimper als über ihre künftige Schwägerin gewiß nicht absprechen zu wollen; was hingegen ihre eigene Person anlange, so verstehe sie nun einmal unter Schicklichkeit dasselbe, was man seit jeher und auch noch bis knapp vor dem Krieg in Bürgerkreisen darunter verstanden hätte ... Justinen aber war es bei Georgs leichtfertig klingenden Worten heiß und kalt geworden. Es dämmerte die Erkenntnis in ihr auf, daß ihr Entsagen das Begehren nicht aus der Welt geschafft habe. Und so wenig sie es gewagt hätte, dem Vetter, der sich in Dreistigkeiten gefiel, offen zuzustimmen, so war es ihr doch, als stellten die von ihm angedeuteten Seligkeiten der Erfüllung ein ehrlicheres Bild schöner und freier Menschlichkeit dar, als der vom Gewissen umzäunte schlummernde Wille zur Sünde.

Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fragte Ursel schließlich, wie es mit dem Plan der großen Seiden-Union stehe? Jacques Pinkas, mit dem sie unlängst zusammengetroffen, hätte gemeint, der Seiden- und Garnhandel müsse natürlich auch darin vertreten sein.

»Er legte mir nahe,« sagte sie, »meine Firma, wenn's einmal so weit käme, der künftigen A.-G. anzuschließen. Warum nicht? Ich bin nicht abgeneigt, es kommt nur auf die näheren Umstände an, die natürlich noch zu vereinbaren wären. Wir unterhielten uns dann damit, das Kind, noch eh' es geboren ist, zu taufen. Herr Pinkas war gut gelaunt, er zerbrach sich den Kopf, einen passenden Sammelnamen zu konstruieren, indem er bald Anfangs-, bald Endsilben wie üblich aneinanderleimte. Erst versuchte er's mit den Namen der Chefs: Mairold, Leodolter, Pinkas, Beywald, Hocheder und so weiter; dann mit den Namen der Orte, wo die Firmen ihren Sitz haben: Nedweditz, Sebendorf, Dorotheen-Wiese, Klopsdorf und wie sie alle heißen. Aber jedesmal kam ein scheußliches Wortmonstrum zum Vorschein, bis ich selbst mein Kolumbusei auf den Tisch stellte.«

»Und welchen Namen schlugst du vor?« fragte Georg gespannt. Auch er hatte sich ebenso wie Pinkas bisher vergebens bemüht, eine befriedigende Lösung zu finden. Eine sinnvolle und dabei klingende Bezeichnung für das ganze erschien ihm keineswegs ganz nebensächlich.

»Ich wählte sachlich«, sagte die Principessa, »und dachte gleichzeitig an eine hübsche Fabriks- und Mustermarke, die uns ein geschickter Künstler würde zeichnen können.«

»Nun –?«

Sie streckte die Hand aus und zeigte auf den Maulbeerbaum, der dem »Salettl« schräg gegenüber im Garten stand.

»Der Seidenbaum?«

»An so einer Firmenbezeichnung muß doch auch ein bissel was Mystisches sein, das sich nicht auf den ersten Blick von selbst erklärt. Seidenbaum wäre zu platt, hat auch keine Melodie. Der botanische Name aber ist: Morus alba. Darum lautet die von mir vorgeschlagene Firmenbezeichnung: Moralba.«

»Vortrefflich!« rief Georg aus. »Ein besserer Name ließe sich nicht finden, der setzt sich zweifellos ganz von selbst durch. Leider haben wir zugleich mit dem Namen nicht auch schon die Sache.«

»Wird kommen«, tröstete Ursel. »Du und der Pinkas zusammen, ihr deichselt es. Je eher, mir um so lieber. Als Verwaltungsrätin wird mir zumute sein, als atme ich Höhenluft, die alleinige Verantwortung des Firmenchefs drückt oft schwer auf meinen Barometerstand. Auch möchte ich Eybel und Mariannen baldige Erfüllung ihrer Wünsche gönnen.«

»Nun also, warum warst du ungehalten? sagte ich nicht dasselbe?«

»Aber in andern Worten, bitte,« eiferte sie, »und auch in anderer Meinung. Ich stehe, wie es von einem verschollenen Angehörigen unserer Familie aus dem Jahr achtundvierzig überliefert ist, stets auf legalem Boden. Und wenn ich meine, eine Frau sollte dem Manne gegenüber immer und überall auf herkommen und Sitte bestehen, so ist das nicht bürgerliche Borniertheit, wie du anzunehmen scheinst. Ich sehe in beidem, in Herkommen und Sitte, die einzige Waffe, die dem leider nur allzu schwachen Geschlecht zu Gebote steht. Läßt es sich diese entwinden, so verfällt es der Rechtlosigkeit. Bei Resi Pimper, die ich liebe und schätze, wird die Gefahr ja nicht übermäßig groß sein, weil du es sicherlich ehrlich mit ihr meinst. Aber grundsätzlich bleibe ich doch bei meiner Meinung.«

»Wo hätte es je eine Frau gegeben,« lachte Georg, »die nicht bei ihrer Meinung geblieben wäre!«

 


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