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Jaufré und Melisande

Es war Pfingsten des Jahres 1165, daß der Graf Raimund von Toulouse in seinem Land Quercy weilte. Da hatte er eine Burg, die spitz und gezackt auf einem Felsen aufragte und weithin gesehen wurde, in dem ganzen Land Quercy.

Der Graf Raimund stand am Fenster und sah die niedergehende Sonne, die beblümten Wiesen am Fuß des Berges, die blühenden Obstbäume, wie mit weiß und rotem Schaum bedeckt, und in weiter Ferne blaue Hügel, welche den Blick begrenzten. Da öffnete sich rasch die Tür, und ein junger Herr trat hastig ein, er eilte mit ausgebreiteten Armen auf Raimund zu, die beiden küßten sich und lachten, sie drückten sich die Hände und sahen sich ins Gesicht. Der Gast war Jaufré Rudel, der Dichter, der Prinz von Blaya.

Nun standen die beiden Arm in Arm am Fenster und schauten in die blühende, blitzende Wiese. »Schlecht singt, wer nicht Melodie im Herzen hat und das Wort nicht im Gehirn«, sagte Jaufré, »nie fehlt es mir an Wort und Melodie. Doch was nutzt Wort und Melodie dem Gemeinen? Nur der Edle ist ein Dichter.«

Raimund sagte: »Ich war im vorigen Jahr in Tripolis bei meinem Vetter. Da sprach ich oft mit seiner Tochter Melisande, sie ist dem Kaiser Manuel Comnenus verlobt durch ihren Vater. Dieselben Worte hörte ich von ihr, welche du eben sprachst, und sie sagte sie mit demselben Klang wie du. Sie sang eines deiner Gedichte, und ihre weiße Kehle bewegte sich beim Singen, und dann sagte sie: ›Ich habe immer einen Menschen gesucht, der mir solche Worte sagt, und ich habe ihn nie gefunden.‹«

Da füllten sich Jaufrés Augen mit Tränen, ungestüm faßte er die Hand des Freundes und sprach: »Immer habe ich einen Menschen gesucht, dem ich solche Worte sagen konnte, und ich habe ihn nie gefunden.«

Jaufré Rudel ging auf sein Zimmer, das ihm bereitet war, und dachte an Melisande. Der Mond stieg auf, und in silbernem Licht waren die zarten Blätter der Bäume, die noch schlaff hingen und harzig dufteten. »Ebenen sind und Berge«, dachte er, »und weites Meer; nie habe ich sie gesehen, und wenn ich an sie denke, so rührt sich mir das Herz. Ich will einen Knaben ein Lied lehren und will ihn dann zu ihr schicken, der soll sich zu ihren Füßen setzen und soll ihr das Lied singen, er soll die Melodie nicht ändern, und für kein Wort soll er ein anderes setzen. Wie kam mir solche Sehnsucht an, ich habe sie ja nie gesehn!«

Die Diener hatten ihm das Bett gerüstet, er legte sich auf das Kissen und schloß die Augen. Da trug ihn der Traum fort, über blühende Wiesen und felsige Berge und über weites, spülendes Meer, da sah er Melisande sitzen am Fenster und auf das Meer hinausschauen, in der Hand hielt sie ein Himmelschlüsselchen. Er wachte auf, und es war ihm, als spüre er noch den zarten Duft der Blume.

Er hielt seine Hand in das silberne Mondenlicht und sprach: »Wie kann ich nun anderes denken, als Melisande? Mein Herz pocht laut; wie könnte es sein, wenn ich nun wirklich hielte ihre Hand in meiner? Mein Herz müßte aufhören zu schlagen, ich könnte nicht mehr leben vor Glück. Gleich soll mein Knabe ziehen, das schnellste Pferd soll er reiten und auf das rascheste Schiff steigen, er soll ihr sagen, daß ich komme; und wenn ich bei ihr bin, dann werde ich neben ihr sitzen und sie auf den Mund küssen, nie kann Liebe den Liebenden töten!« Er lachte auf: »Nun klingt mir im Ohr die Melodie des Verses, nun fühle ich die Worte, nun formt sich das Lied, gut wird das Lied, kein andrer kann so dichten.«

Er lehrte den Knaben, der Knabe ritt und kam ans Meer und bestieg das Schiff und überfuhr das Meer, und da waren die Häuser von Tripolis, und der Hafen war mit Marmor eingefaßt. Er stieg die Treppe hinauf zum Schloß und kniete vor Melisanden nieder, er stimmte seine Leier und sang das Gedicht, das Jaufré Rudel gedichtet hatte. Da errötete Melisande, und Tränen standen in ihren Augen.

Nun fuhr Jaufré auf dem Schiff und stand am Vorderteil; er sah, wie der Schaum zu beiden Seiten des Kieles tanzte, und blickte in die Ferne, wo Meer und Himmel zusammenstießen. Hinter ihm drückte der Wind in die Segel, er fuhr in Jaufrés Haar. So lief das Schiff, die Wellen krausten sich, so fuhr es Tag und Nacht.

An einem Morgen sagte er: »Kann Sehnsucht krank machen? Ich fühle mich so schwach, ich wage es nicht, das Bett zu verlassen.«

Er hatte einen Knaben bei sich, den er seine Lieder lehrte, damit er sie sang an den Höfen. Der pflegte ihn. Oft weinte er, wenn er nicht bei seinem Herrn saß. Es waren Leute auf dem Schiff, die hatten die Geschichte Jaufrés gehört, daß er sich in ein Mädchen verliebt hatte, das er nie gesehen, und daß er vor Sehnsucht nach der Geliebten krank geworden war. Sie spotteten über ihn und sagten, er sei überspannt. Der Knabe erwiderte: »Ihr freilich könnt das nicht verstehen. Ihr geht auf die Straße, und da findet ihr euresgleichen. Wenn ihr einen Satz sagt: ›Das Korn ist teuer dieses Jahr‹ oder ›In jener Kneipe gibt es einen guten Wein‹ oder ›Mit Holz kann man jetzt ein gutes Geschäft machen‹, so versteht euch jeder, mit dem ihr umgeht. Aber mein Herr hat noch keinen Menschen gefunden, mit dem er sprechen konnte, und ich bin noch zu jung. Es wird gesagt, daß seine Geliebte schön ist. Aber wie kann sich ein Mann in Schönheit verlieben, die er nie gesehen hat? Da ist etwas, das ihr nicht wißt. Er hat gehört, wie edel sie ist, und nun ist er krank vor Sehnsucht.«

Nun kam das Schiff im Hafen an und lag neben den Marmorsteinen, welche ihn einfaßten. Alle Leute gingen aus dem Schiff, und der Knabe holte Diener, welche seinen Herrn tragen konnten. Sie trugen ihn vorsichtig in eine Herberge. Dort lag er in seinem Bett.

Der Knabe aber ging zu Melisande, kniete vor ihr und sprach: »Ich war bei Euch und sang Euch ein Lied, das mein Herr auf Euch gedichtet. Nun ist er selber gekommen. Aber die Sehnsucht hat ihn schwach gemacht, er liegt in seiner Herberge und kann nicht gehen.«

Da rief Melisande ihre Frauen und ging mit ihnen in die Herberge und fand Jaufré in einer Ohnmacht liegen. Sie setzte sich auf den Bettrand, schob den Arm unter sein Haupt, richtete ihn auf und lehnte ihn an ihre Brust. Jaufré erwachte aus seiner Betäubung, da wußte er, daß Melisande ihn im Arm hielt. Er sagte: »Ich habe Euch nie gesehen und habe Euch doch gleich erkannt. Nun danke ich Gott, der mich so lange am Leben erhalten hat, daß ich noch an Eurer Brust ruhen darf. Faltet mir die Hände, denn ich bin zu schwach, sie zu bewegen; ich will nun sterben.«

Melisande faltete ihm die Hände und küßte ihn auf den Mund mit ihren Lippen, die noch kein Mann geküßt hatte. Da fühlte sie, wie sein Körper schwer wurde. Sie legte ihn zurück auf das Kissen und drückte ihm die Augen zu. Dann sagte sie: »Nun habe ich einen Edelmann und Dichter geküßt, und ich weiß, wer er war, denn über das Meer und das Land hin habe ich ihn gekannt, weil ich alle seine Lieder auswendig weiß. Kein andrer Mann soll mich nun wieder küssen.«

Sie schrieb an den Kaiser Manuel Comnenus nach Byzanz und schickte ihm alle Geschenke zurück, die er ihr gesendet, und dann ging sie in ein Kloster und bat die Oberin, daß sie aufgenommen werden möchte als Nonne. Sehr schönes Haar hatte sie, das war blond und lang; das wurde ihr abgeschoren. Sehr schöne Gewänder hatte sie, aus Seide mit Gold gestickt, die legte sie nicht mehr an, sondern trug eine Kutte aus hartem und schwarzem Wollenstoff. An ihren zärtlichen Füßen hatte sie Sandalen aus rotem Leder getragen, mit Gold und Edelsteinen verziert; nun trug sie grobe Schuhe aus Holz geschnitzt.

 

Nun hatte der Dichter geendet, und die junge Gräfin sah still in ihren Schoß, und eine Träne rollte aus ihren Augen in ihren Schoß. Sie sagte: »Ja, so selten sind die Edlen in der Gemeinheit dieser Welt verstreut, daß durch weite Meere voneinander getrennt sind, die doch zueinander gehören.«

Da sprach der Dichter: »Ich habe nicht gelernt, falsche Worte zu machen. Als ich die Geschichte erzählte, da mußte ich einmal stocken, denn da fiel mir plötzlich ein, daß auch Sie mich nicht gekannt haben und nur Worte von mir gehört haben. Aber dann fiel mir ein, daß ich ein alter Mann bin, und Sie sind ein junges Mädchen.«

Die Gräfin sah still vor sich hin, dann sagte sie: »Wir sprechen wohl nun beide nicht so, wie die Menschen sonst sprechen. Ich weiß, daß Dichter anders sind als die andern Männer. Sie sind immer jung. Als ich Ihnen heute zur Begrüßung die Hand gab, da spürte ich, daß Ihnen ein Klatsch zu Ohren gekommen war über uns beide. Ich habe darüber nachgedacht die ganze Zeit; auch als Sie erzählten, waren die Gedanken darüber im Grund meiner Seele. Ich dachte an Goethes Leben und an seine Liebe zu Marianne. Die drei Menschen standen sehr hoch: Goethe, Willemer und Marianne. Sie konnten die leidenschaftlichen Gefühle haben, und sie waren doch so frei, daß sie diese Gefühle als ein Spiel gebrauchen konnten, und so dichtete Goethe seine wunderbaren westöstlichen Gedichte, die wohl nur wenige Menschen verstehen können. Dann, viel später, hatte er seine Liebe zu Ulrike. Die hat mich immer verletzt. Wie war eine solche Liebe für Goethe möglich? Das Kind war ein Wiesenblümchen, wie konnte der Greis dieses harmlose Kind leidenschaftlich lieben?«

Als der Dichter antwortete, da zitterte seine Stimme. Er sagte: »Ja, das Volk mußte wohl sterben, in welchem Jaufré Rudel lebte. Es wurde ermordet von den andern Völkern, wie vielleicht wir heute ermordet werden von den andern, vielleicht, wenn wir nicht wieder, wie schon zweimal, ein anderes Volk werden; aber es war nun eben so, daß es ermordet werden konnte. Was ist denn Vornehmheit? Sie ist Tragik. Die Menschen leben als verstandesbegabte Wesen, die sich ihre Nahrung suchen. Und nun werden Menschen unter ihnen geboren, die verspüren, daß sie göttlich sind. Solche Menschen können ja nicht leben; sie müssen in den Tod gehen, der Tod ist ihr Ziel. Der Pöbel mag denken, der Tod ist ein Ende. Aber solche Menschen wissen: unser Leben ist nichts als ein Gehen zum Tod, und wenn der Tod erreicht ist, dann, ja, dann -- der Pöbel sagt: dann kommt der Lohn für unsere Tugend; aber diese Menschen wissen: dann kommt ein übermenschlich helles Licht, dann verstehen wir alles. Und dieses Verstehen, das ist es, um das wir uns immer bemüht haben.«

»Ich bin Ihre Schülerin«, sagte das Mädchen; »ich habe solche Gedanken lange gehabt. Ich weiß auch, daß wir in einer Zeit leben, da unser Volk stirbt -- denn was bedeutet es, daß es ein anderes Volk wird? Wahrscheinlich doch nichts anderes, als daß die Knechte am Leben bleiben und nun in unsern leeren Häusern wohnen. Wahrscheinlich; denn es kann auch wirklich ein richtiges Volk wiederkommen, und Ihre Arbeit hatte die Aufgabe, ein solches Volk zu erziehen. Aber in einer solchen Zeit des Todes gelten andere Gesetze als in Zeiten des Lebens. Sie haben nie auch nur eine Bewegung Ihres Gesichtes, ein Blitzen Ihrer Augen gehabt, durch welche Sie mir eine Mitteilung gemacht hätten, wir haben uns in der Gewalt, solche Menschen, wie wir sind, nicht wahr? Aber ich weiß, daß Sie mich lieben. Ich erröte, aber ich will nicht erröten. Ich will ruhig sein, denn ich habe ein Ich in mir, welches das andere Ich beherrscht, daß es wie ein Rad ist, welches dem Finger gehorcht.«

Nun wußte keines von beiden, wie das geschah, sie hielten sich umschlungen, und der Dichter küßte das Mädchen, und des Mädchens Augen waren glücklich geschlossen.

Der Dichter sprach: »Es ist gegen die Natur. Ich bin ein alter Mann, du aber hebst eben den Fuß zum Gang durch das Leben. Ich würde dich betrügen, ich würde deine Unerfahrenheit mißbrauchen.«

»Ja, es ist gegen die Natur«, sagte das Mädchen; »aber wir sind nun eben gegen die Natur, wir. Als mein Vater sich vor dem leeren Zimmer ermorden ließ, aus dem der König heimlich geflohen war, ohne ihm auch nur eine Nachricht zu geben, da handelte er gleichfalls gegen die Natur, denn die Natur hat uns den Trieb eingepflanzt, unser Leben zu erhalten. Ja, was wir Kultur nennen, du und ich, was in Wirklichkeit Gottverbundenheit ist, das ist eben ein Gehen zum Tode. Als ich dich erwartete, da war eine arme Frau, sie hatte zwei Kinder bei sich. Sie bat mich, ob sie das Gras am Zaun des Parks absicheln könnte. Sie bat einfach, ich war ihr ein Wesen, von dem man etwas erbittet. Sie war eine schöne, gesunde Frau, mit bräunlichen Wangen und blitzenden Zähnen. Sie will leben und ihre Kinder großziehen. Ja, was will ich? Ich könnte keinen Menschen um etwas bitten, nicht einmal von Gott kann ich erbitten. Ich kann nur schenken. Ich weiß, was du sagen willst. Heute bist du sechzig Jahre alt und bist gesund. Gut. Aber vielleicht in fünf Jahren macht sich das Alter bemerkbar, in zehn Jahren bist du siebenzig, und ich bin dann eine junge Frau von dreißig. Das willst du sagen. Ja, wenn wir in einer guten Zeit lebten, dann hätte ich wohl einen Mann, der in seinem Alter zu mir paßte, ich brächte ihm Kinder, viele Kinder, und stürbe vielleicht glücklich mit dreißig Jahren; denn in den guten Zeiten, da sterben die Menschen meistens jung: die Männer werden im Kampf erschlagen, und die Frauen sterben aus Erschöpfung, weil sie viele Kinder gehabt haben. Aber heute, was sollte ich da für einen Mann haben? Heute leben die Leute so lange, sie werden so alt, und darauf bereiten sie sich schon in der Jugend vor. Ich aber bin ein vornehmes Mädchen und liebe das Leben nicht.«

Der Dichter sagte: »So will ich dir eine andere Geschichte aus der Handschrift des alten Mönchs erzählen:


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