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Die Ehe von Karl und Johanna hatte sich immer grausiger entwickelt in Haß und Sehnen; und er gewann bald das heimliche Gefühl des Sieges, und wußte, daß er in Kürze frei sein mußte von seiner Kette, und sie war gänzlich ratlos und sah sich von Unverständlichem umgeben. Unmerklich hatte sich eine Wand erhoben zwischen ihnen, deren Wachsen hatte er gesehen und kannte ihre Fugen, sie aber war erstaunt über die neue Mauer, denn ganz plötzlich merkte sie von ihr, dann schlug sie zornig gegen die empfindungslosen Steine, und zuletzt sank sie in sich zurück.
Er hatte schon lange geahnt, daß sie ihn nach einiger Zeit vor andern lächerlich machen werde, und nun hatte sie damit begonnen, indem sie über seine Tracht spottete, seine Gangart, seine Art zu sprechen. Und wiewohl sie wußte, daß er sehr litt und sich in ihm Bitterkeit häufte, so fuhr sie doch fort in dieser Weise; aber der Grund war, daß sie die Mauer einreißen wollte, denn sie verspürte wohl, daß sie ihn gar nicht hatte, weil sie nichts von ihm wußte wegen dieser Mauer, und sie wollte ihn ja verzehren. Auch stellte sie in seiner Gegenwart Betrachtungen über seinen Charakter an. So fühlte er zuzeiten deutlich hinter diesen Roheiten ein Flehen zu ihm, eine Sehnsucht, und einen Willen, der ihn halten wollte, das machte ihn glücklich durch befriedigte Rache. Ihr dunkler Trieb suchte weiter und äußerte sich in andrer Form, und dachte, daß Karl vielleicht nach irgendeiner andern Seite eine starke Neigung hatte, die ihn unangreifbar machte, deshalb suchte sie mit heftiger Eifersucht in allem, das ihn beschäftigte, und begann Bücher zu hassen, Bekannte zu verfolgen, gegen Gewohnheiten zu schelten, aber fand nichts, das ihr eine Erklärung gab. Da bezwang sie ihre Natur zu Freundlichkeit, zu Entgegenkommen, suchte ihn auf seinem Zimmer auf, indem sie eine andre Absicht vorschützte, und wollte ihn bewegen, zu ihr zu sprechen, ja, sie ging zu ihm, der gebückt über seinem Buche saß, und streichelte ihm die Stirn mit ihrer Hand, und ihre Hand war weich und kühl, und etwas Seltsames floß aus ihr. Aber sein Haß wurde so heftig, daß er sich nicht ruhig halten konnte, und er stand hastig auf und ging fort. Da setzte sie sich und weinte; und wie er zurückkam und sie mit verweintem Gesicht in seiner Stube fand, mußte er sich zwingen, daß er sich nicht auf sie stürzte, um sie zu töten.
So war die Vorbereitung zum Ausbruch. Sie hatte eine große Gesellschaft ihrer Freunde, die ihm alle verhaßt waren, denn er sah in einem jeden von ihnen einen Teil ihres Wesens lebendig vor sich. An jenem Tage erschienen ihm alle Gesichter unnatürlich verzerrt, und wie sie um den runden Tisch sich drängten und verwirrt durcheinander sprachen, da saß er für sich und war zusammengesunken und vergrübelt. So hörte er wie durch einen Schleier eine Weile einzelne Worte aus dem allgemeinen Gespräch, die Johanna mit Krechting wechselte, und langsam wurde es ihm bewußt, daß die sich auf ihn bezogen, und wie er aufblickte, nahm, er einen Blick des Einverständnisses der beiden wahr, das auf seine Kosten ging. Da stand gerade vor ihm ein Tellerchen mit Backwerk, das nahm er und warf es Johanna ins Gesicht. Er warf mit Absicht so, daß es ihr Gesicht flach traf, nicht mit der Kante, damit sie nicht verletzt wurde. Während er das tat, war es ihm, als ob nicht er es sei, der das tue, sondern ein andrer, der ihn gar nichts anging, denn er war ganz ruhig, äußerlich wie innerlich, und wunderte sich, wie er den Teller vor ihrem Gesicht sah. In dem Augenblick, wo er zielte, waren alle stumm geworden und hatten erstarrt auf ihn geblickt. Das Tellerchen traf, und das Backwerk fiel wohl vor ihm auf die Erde, aber das Tellerchen traf sie mitten ins Gesicht. Sie fing es im Herabfallen auf und hielt es in der Hand, ohne Gedanken, indes sie ihn mit großen und erstarrten Augen ansah; mit einem Male schrie sie laut auf und warf es auf den Boden, als sei es glühend. Er aber erhob sich und ging aus der Tür, machte sich in seinem Zimmer straßenfertig und schritt langsam die Treppe hinunter und aus dem Hause. Alles ließ er dort, und nie kehrte er wieder zurück.
Ruhe und Frieden suchte er und etwas, das er nicht nennen konnte. So ging er zu Luise. In ihren Schoß hatte er seinen Kopf gelegt, und langsam stiegen ihm die Tränen in die Augen, denn er hatte nicht sprechen müssen, sondern sie hatte ihn angesehen, und dann hatte er sein Gesicht in ihren Schoß gelegt, und nun streichelte sie ihm die Haare. Ruhig wurde ihm, wie wenn nun alles Meer glatt wäre, und er dachte an nichts, nur fühlen konnte er, und er fühlte, wie Ruhe in sein Herz floß. Dann wußte er, daß er aufstehen mußte, und er stand auf und setzte sich neben sie, und sie sagte mit gütigem Gesicht, daß er älter geworden war. Wie sie das sagte mit gütigem Gesicht, strömte ihm das Blut zum Herzen, und er sah zwei feine Linien um ihre Mundwinkel. Sie lächelte, wie sie seinen Blick bemerkte und scherzte, daß auch sie nun die Jugend verlassen habe. So plauderte sie weiter, und er wußte, daß ihr das schwer wurde, jetzt so sorglos zu plaudern, und einmal fing er einen besorgten Blick auf, den sie auf sein Gesicht warf; aber er selbst hätte nichts sagen können, sondern er hörte nur zu, ihrem leisen und freundlichen Wortfall. Von Bekannten erzählte sie, und von Bäumen und Blumen. Er liebte eine Bewegung an ihr, wenn sie mit beiden Händen zurück an das Haar faßte. Seine Seele wiegte sich auf ihren Worten, und er schloß die Augen, damit er nur den Klang allein habe.
Jetzt wußte er, daß er jeden Tag und jede Stunde an sie gedacht hatte, und daß er zusammengeschreckt war, wenn jemand einmal aus Zufall ihren Vornamen genannt hatte. Und nun saß sie neben ihm mit ihrer Güte und wollte ihm Liebes erweisen in Zartheit. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, und wie er eine zufällige Bewegung machte, berührte ihn ihr Kleid. Sie merkte das, und diese Berührung war ihr peinlich, aber sie beherrschte sich und sah ihn mit gutem Lächeln an, und erst eine Weile nachher nahm sie ihr Kleid zusammen und von ihm weg, mit einem entschuldigenden Blick. Dann ging sie zu ihrem Flügel und spielte, und die Töne fluteten langsam heran und schienen groß, und umgaben ihn weich und hoben ihn, und er fühlte sie um sich, wie sie weich waren. Dann begannen sie in ihn einzudringen, und mit einem leichten Schauer rührte etwas an sein Herz, und dann noch etwas, da wurde es ihm frei im Haupte und leicht, und es war, als ob alles sich im Herzen befinde, in dem war eine süße Lust, und es verschwand auch alles um ihn, weil es unbedeutend war, und er sah nur, wie Luise spielte, und in ihrem keuschen Nacken kräuselten sich dunkle Löckchen.
Von nun an lebte Karl wieder in der Weise wie vor seiner Verheiratung, nur daß auch ihn die Einsamkeit überkam und er viel auf seiner stillen Stube saß, und in seiner Seele bewegte sich herzkränkendes Grübeln, und es war, als sei ihm das Band lockerer geworden, das die verschiedenen Eindrücke, Strebungen und Ausflüsse zu unserm Ich vereinigt, denn hierhin und dorthin begaben sich Teile seines Selbst, und wie von Schmetterlingen flatterte es bunt und willkürlich um sein Haupt. Aber das machte ihn nicht unglücklich, sondern es schien ihm, als ob er Frieden und Ruhe wolle, und wie wenn er in einem schweigenden Flusse schwimme und seine Glieder sich lösten in dem Wasser mit leuchtenden Spitzen.
In dieser Zeit wurde er vorbereitet auf das Einfließen eines Neuen in ihn, das schon lange sich um ihn geballt hatte. Denn schon seit einiger Zeit war er, was ein wunderlicher Zufall in einer Großstadt scheint, auf seinen Wegen öfters einem Menschen begegnet, der ihm in eigener Art auffiel, vielleicht hätten ihn andere kaum beachtet; das war ein seltsam linkischer und verlegener Mann, dessen Kleidung nicht absonderlich war und dessen Gesicht, Haltung und Gliedmaßen ebenfalls nichts Merkwürdiges zeigten, und doch war er im ganzen so eigentümlich linkischer und verlegener Art, wie Karl noch nie einen Menschen gesehen hatte. Wie das so geht, schien der Mann umgekehrt auch für Karl ein gewisses Interesse zu haben, denn er sah ihn immer mit einem gewissen Aufleuchten des Gesichtes aus den andern Menschen auf der Straße hervortauchen. An einem naßkalten Novemberabend etwa gegen neun Uhr, wo die entlegene Straße recht einsam war, traf Karl den Fremden, wie er unter dem aufgespannten Regenschirm mit Verdruß eine kalte Zigarre betrachtete, trat zu ihm und bot ihm seine Streichhölzer an; der Fremde dankte mit etwas übertriebener Höflichkeit, und dann begann ein Gespräch daraufhin, daß sie sich so oft schon auf der Straße begegnet waren, und wie ihnen dann die ersten gleichgültigen Worten bald ausgingen, da verspürten sie beide den Wunsch, einander nahe zu kommen, und deshalb setzten sie sich zusammen in eine Wirtschaft, es stellte sich heraus, daß sie Nachbarn waren. Der Fremde, der sich Roch nannte, wußte das Gespräch bald auf einen Weg zu leiten, den Karl mit großer Freude beging.
Er stammte aus einer wohlhabenden und guten Familie und war in wohlerzogenem und bravem Zustande auf die Universität gegangen, um nach dem Willen seiner Eltern Jurisprudenz zu studieren. Es entwickelte sich in ihm damals eine ganz besondere Liebhaberei für Bücher, die fast die Art einer Leidenschaft annahm, über der vernachlässigte er beinahe seine Studien, und um die gewöhnlichen Vergnügungen seiner Altersgenossen und Kameraden bekümmerte er sich gar nicht, so daß er sich zu einem etwas sonderlinghaften Menschen entwickelte. Hierüber war seine Familie nicht sehr vergnügt, die wünschte, daß er sich benehmen solle wie andere, und ihm auch einige Jugendtorheiten gern verziehen hätte, wenn sie von der gewöhnlichen Art gewesen wären, denn sie befürchteten, daß er als ein wunderlicher Mann später keine glatte Laufbahn haben werde, die ihnen allen als das Erstrebenswerteste erschien. Deshalb wurde er in den Ferien auf Besuch zu einem unverheirateten Oheim geschickt, der in einer kleinen Stadt als Kreisarzt lebte und als ein fröhlicher und allen Lebensgenüssen in Unbefangenheit ergebener Mann bekannt war. Vor dem hätte man ein leichtes Blut wohl sehr gehütet, diesen jungen und allzubraven Mann aber hoffte man durch ihn zu der gewünschten mittleren Art von Führung und Auffassung des Lebens erziehen zu können.
Des Oheims Betragen machte aber einen ganz unerwarteten Eindruck auf den Jüngling; denn der hatte bis dahin ganz treuherzig alles aufs Wort geglaubt, was öffentlich von unserm gesellschaftlichen Leben gesagt wird, und hatte nichts geahnt von den Veränderungen, durch welche die einzelnen Stände, Berufe, Klassen und Personen diese Meinungen ihren besonderen Bedürfnissen anpassen, und nun machte sich der Oheim, der von altjunggesellenhaftem Zynismus war, einen besonderen Spaß daraus, den jüngferlichen Neffen aus diesen Vorstellungen zu entfernen und begann damit, daß er ihm seine sämtlichen Liebesgeschichten nach der Reihe erzählte. Er war aber ein hochgewachsener schlanker Mann mit schneeweißem Knebelbart, rötlichem Gesicht und blitzenden blauen Augen, der so recht herzhaft aus der Brust heraus zu lachen vermochte über den etwas verkümmerten Neffen. Wie er noch Junge war, wohnte neben seinem Elternhause eine Hebamme, die eine Tochter hatte, in seinem Alter, ein schwarzäugiges, rasches und hübsches Mädchen. Einmal mußte er eine Bestellung ausrichten und traf sie allein in der Stube; da hängte sie sich um seinen Hals, küßte ihn stürmisch ab und bestellte ihn auf den Abend in den Garten, und die war seine erste Liebe gewesen, damals war er zwölf oder dreizehn Jahre alt; eine Art Rührung huschte über das Gesicht des alten Erzählers, wie er davon sprach. Vor wenigen Jahren kam er einmal wieder in seine Heimat; und wie er allein durch das Holz ging, begegnete ihm ein sauberes und freundliches altes Mütterchen, die sprach ihn an und fragte, er kenne sie gewiß nicht mehr, und dann nannte sie sich ihm als diese alte Liebste und sagte seufzend, es seien nun fünfundvierzig Jahre vergangen seitdem, nun sei sie lange Großmutter, und da wolle er gewiß nichts mehr von ihr wissen; aber da sei doch die Jugend noch einmal wieder in ihm wach geworden. Es stand da aber eine schöne alte Buche, die ihre Äste weithin breitete, daß in einem runden Kreise unter ihr kein Unterholz war, sondern nur die gerollten braunen Blätter, zwischen denen einige weiße Blümchen wuchsen.
Dem Jüngling tat sich in diesen Wochen ein zauberischer Garten auf voll herrlicher Früchte, die ihn lockten, daß er sie pflücken sollte, nur dürfe er nicht zu zaghaft sein, sondern müsse ohne Furcht den Fuß über die Schwelle setzen; und so zog eine ganz unbändige Lebenslust in die fast vertrocknete Seele des Jünglings. Es floß aber am Ende des Gartens ein Fluß leise und rasch dahin, der sehr tief war und klardunkles Wasser hatte, und über ihn neigte sich, genau auf der Grenze des Nebengartens, eine alte Weide mit tiefhängenden gelben Ruten, an denen der Frühling kleine helle Blättchen hervorgetrieben hatte. Hier stand der Jüngling oft auf einer vorstehenden Wurzel, hatte den Stamm umfaßt und sah in das still dahinschießende Wasser, denn in seiner Klarheit schwammen kleine Fischchen in einem langen Zuge; sie schwammen gegen den Strom, und oft standen sie unbeweglich, und plötzlich zuckten sie einmal blitzschnell mit den Schwänzen und flohen auseinander. Diesem Spiel sah er lange zu mit behaglicher Freude und ohne sich Gedanken zu machen; denn wie der Frühling unsere Sehnsucht erregt und unsre Lust zum Leben, so spendet er uns auch eine süße und träumerische Mattigkeit, in welcher die Stunden rasch dahinfließen mit leisem und gleichmäßigem Rauschen.
An einem Nachmittage, wie er an diesen Platz gehen wollte, erblickte er auf der Nachbarseite durch das Gebüsch, das noch licht war, ein Mädchen in hellen und zarten Kleidern, das ganz in derselben Stellung stand wie sonst er selbst, denn sie stand auf der äußersten und unterspülten Wurzel des schrägstehenden alten Baumes und hatte den zarten Arm um den ausgehöhlten Stamm geschlungen und die Gestalt mit dem Köpfchen vorgeneigt, und schaute angestrengt in das lautlos fließende Wasser. Wie sie sein Rascheln hörte, blickte sie sich schnell um, und hatte kornblumenfarbene Augen und ihre Gesichtshaut sah aus wie ein Rosenblättchen, und schien verlegen, und es fiel ihm auf, daß unter der Oberlippe, die etwas zu kurz war, weiße Zähnchen hervorblinkten, das ganz wundervoll reizend erschien.
Nun wurden die beiden bald miteinander bekannt, und es zeigte sich, daß sie die Tochter einer Witwe war, deren Mann einen Kaufmannsladen gehabt, die recht ärmlich und allein in dieser kleinen Stadt ihr Leben hinbrachte. Das Mädchen hatte viel gelesen aus den Büchern ihres Vaters, aber nur unsre Klassiker, und zwar neben Schiller und Goethe auch Wieland und Klopstock, und dann Bulwer und Cooper, und ein Buch, das hieß das Buch der Natur. Hieraus hatte sie sich ein wunderliches Wesen entwickelt, das ebenso weltfremd war wie des Jünglings, nur daß in ihrer Seele sonderbare Phantasiegebilde lebten, in denen die verschiedenartigen Helden ihrer Bücher sich zusammengeschlossen hatten.
So einigten sie sich bald zu gegenseitiger Liebe, und nachdem sie sich zuerst am Tage häufig im Garten getroffen hatten, verabredeten sie sich endlich auch zu Zusammenkünften in nächtlicher Weile.
Indem nun aber in dem Jüngling damals zweierlei entgegengesetzte Wesen waren, kam er zu widersprechenden Handlungen, denn durch die Reden seines Oheims war auf der einen Seite seine Phantasie derartig verändert, daß er in seiner Liebe keine Grenzen mehr innehielt, auf der andern Seite aber blieb er in seinem eigentlichen Kern doch ein ganz andrer Mensch wie der Oheim, und wurde durch seine Liebe feinfühliger und gewann eine mehr edle Gesinnung, so daß ihm nun dessen Gespräche zuwider wurden, weil es ihm schien, als ob etwas Heiliges durch sie beschmutzt werde, während er doch selbst nach dem Sinn dieser Gespräche gehandelt hatte, und dann wurde ihm dieser Widerspruch immer quälender, so daß er am Ende, trotz seiner immer noch wachsenden Leidenschaft für seine Geliebte, nicht mehr bei dem Oheim ausharren konnte und Abschied von ihm nahm. Dabei wußte er keinerlei Rat, wie nun mit seiner Verbindung mit dem jungen Mädchen geschehen sollte, denn sie als seine Braut zu erklären, wagte er vor seiner Familie nicht, und so schob er diese Sorge auf die Zukunft, indem er sich für die Gegenwart nur dem Gram über die Trennung hingab. Nun geschah es aber, daß die natürlichen Folgen eintraten. Wie seine Geliebte das merkte, schrieb sie in ihrer tödlichen Angst an ihn einen Brief und erzählte ihm das, er aber war inzwischen wieder gänzlich in sein eigentliches Wesen verfallen, indem er eine heftige Angst vor den Menschen hatte und nicht wußte, was er tun müsse; aus dieser Verfassung heraus schrieb er an sie zurück, und wie sie mit ihrem großmütigen Herzen diesen Brief verstanden hatte, da wußte sie genau, daß sie nun allein stand in der Welt und ihr keinerlei Hilfe kommen werde, und so gab es nach ihrer Vorstellung denn nur einen einzigen Weg noch, den sie gehen konnte. Inzwischen war Roch wieder in seine Universitätsstadt zurückgekehrt, und indem sein unruhig gemachtes Gewissen ihn zwecklos hin und her trieb in einsamen Wanderungen, wurde er noch einsamer, wie er schon gewesen und hatte wenigen Schlaf. Da geschah es ihm, daß er in einer Nacht ein Gesicht sah, nämlich, er saß in seiner Stube und ohne Licht, und hatte seit Stunden schon sich in Gedanken abgegrämt, und es mochte schon gegen Mitternacht sein, da erblickte er plötzlich deutlich den Weidenbaum, auf dessen schrägem Stamm jetzt Schnee lag, und unter ihm eine schwarze Stelle des Flusses, der sonst unter schneebedecktem Eise dahinschoß, aber an dieser einen Stelle war er frei, und an dem Baum, vor der eisfreien Stelle kauerte seine Geliebte und hatte nackte Arme und loses Haar, wie sie aus dem Bett gestiegen, und blickte in das dunkle Wasser, und ganz deutlich sah er die kurze Oberlippe, welche die Zähnchen sehen ließ, und das rührte ihn besonders am Herzen, daß er diese Oberlippe so deutlich sah, aber ganz blaß war das Gesicht und grauenhaft ernst und entschlossen; er schrie laut auf und stürzte auf das Bild zu, aber indem glitt die Gestalt nach vorn über in das dunkle Wasser, und noch während er schrie, war auch schon das ganze Bild verschwunden. Wie er die Nacht verbracht hatte, erhielt er am andern Morgen einen Brief von ihr, in dem sie ihm ihre Absicht mitteilte, daß sie aus dem Leben gehen wolle; und so hatte er nun die Bestätigung, denn bis dahin hatte er noch nicht geglaubt, daß das Gesicht ihm einen wahren Vorgang geoffenbart. Über dieses verfiel er in eine schwere Krankheit, und nachdem er die überstanden, kam ein langdauernder Trübsinn über ihn, er gab alle seine früheren Pläne auf und verwendete seine Zeit auf die Arbeit in den okkulten Wissenschaften; denn nach seinem Erlebnis hatte nichts mehr Bedeutung für ihn, was in dem engen Kreise geschehen war, der durch das Licht erleuchtet ist, und nur das erschien ihm wichtig was in der unendlichen Dunkelheit verborgen ruht, die jenseits dieser nahen Grenze liegt, und so fand er eine Beruhigung für sein Gewissen, denn in Wahrheit war ja, was er getan, unwichtig und sinnlos gewesen, und seine Bedeutung war gar nicht verständlich für den blöden Blick, den wir haben. So war es möglich für ihn, daß er sich am Leben erhielt.
Mit diesem Roch nun freundete sich Karl an, und seine Lehren nahm er mit großer Begierde auf. Wie die beiden derart vertraut miteinander geworden waren, da erzählte ihm Roch, er habe sich schon lange einen Freund gewünscht, mit dem zusammen er einen wichtigen Versuch anstellen könne, der deshalb zwei Personen erfordere, weil er mit Gefahren verknüpft sei, denn in einem alten mystischen Buche, das nur handschriftlich vorliege, habe er eine Vorschrift für ein Räucherpulver gefunden, das früher von Beschwörern benutzt wurde, um Geister erscheinen zu lassen, und enthalte das in seinen wirksamen Bestandteilen gewisse berauschende Stoffe, die wohl geeignet sein möchten, den gewünschten Zweck zu erfüllen, da von ähnlichen Stoffen bekannt sei, daß ein südamerikanischer Indianerstamm sich seiner mit den gleichen Absichten bediene, indem die Leute die Geister ihrer Vorfahren sehen oder zu sehen glauben; denn eben inwieweit hier eine wunderliche physiologische Wirkung oder wirkliches Hereinragen andrer Welten stattfinde, das sei zu untersuchen.
Karl ging mit jener gewissen schauerlichen Freude auf den Vorschlag ein, die wir alle in solchen Fällen empfinden mögen; und nachdem Roch auf seinem Zimmer die Vorbereitungen getroffen, lud er nun Karl an einem Abend zu sich. Sein Zimmer war ein sonderbarer Raum, der ganz hoch oben in einem Hause lag, das nur von Arbeitern, und zwar recht geringen, bewohnt war. Auf den Treppen spürte man einen namenlos scheußlichen Geruch, den erklärten die vier und fünf Namenszettel übereinander an den Korridortüren, indem sie zeigten, wie dicht die elenden Stuben bewohnt sein mochten durch allerhand Schlafburschen und sonstige ärmliche Leute. Von einem solchen Korridor ging es auch in Rochs Zimmer, das war etwa drei Meter lang und zwei Meter breit, so daß schon das Eintreten schwierig war, weil die Tür auch nach innen ging, und man sich neben dem Bett durchdrängen mußte. An den Wänden hingen sehr viele Vogelbauer, in denen Waldvögel auf Sprossen schliefen. Außer dem Bett standen nur noch eine alte Kommode und zwei Stühle in dem Kämmerchen, das in der Tat für weitere Möbelstücke keinen Raum aufgewiesen hätte. Nach einer verlegenen Bemerkung über die Dürftigkeit seiner Wohnung wies Roch auf die Kommode, wo bereits eine flache Schale mit dem Pulver neben einer Spirituslampe bereit stand. Die Vorschrift des alten Zauberbuches lautete, nach Abzug von allerhand Geheimniskrämerei, daß man vorher lebhaft an die Person denken solle, deren Geist man zu sehen wünsche, wobei es gleich war, ob man einen Lebenden oder Toten haben wollte, und daß man die Erscheinung weder anrede noch sich ihr nähere, weil sonst ein großes Unglück geschehen könne, denn es seien Beschwörer von den erzürnten Geistern erdrosselt worden. Nachdem sich die beiden fest versprochen hatten, daß sie dieses erste Mal die Vorschrift genau befolgen wollten, zündete Roch die Spirituslampe an, welche in dem sonst dunkeln Zimmer mit blauem und flackerndem Flämmchen brannte, und dann streute er etwas von seinem Pulver auf.
Eine lange Weile warteten die beiden, indes das blaue Flämmchen hüpfte und wie unentschlossen zuweilen ganz vergehen wollte. Aber es ereignete sich nichts Auffälliges; nur war zuweilen ein Knistern hörbar, wahrscheinlich wenn ein Körnchen von dem Räucherwerk verbrannte; merkwürdig laut schien den beiden dieses Knistern. Aus dem engen Hofe schallte in die Höhe, und war verstärkt durch die eng zusammenstehenden Wände der Häuser, das Brüllen eines Betrunkenen; nach einer Zeit, die den beiden wohl eine halbe Stunde schien, mischte sich in das Brüllen das Schreien und Jammern seiner Frau, der hatte er heimlich das Geld fortgenommen, das sie durch Scheuern verdiente, und sie konnte den Kindern nichts zu essen geben. Roch und Karl dachten fast nur an den Vorgang, der sich da unten im Hofe abspielte, aber sie hielten sich doch noch immer ruhig. Plötzlich hob sich das blaue Flämmchen und erlosch. Nun zeigte sich, daß der Lichtschein vom Hofe her eine ganz schwache Helligkeit ins Zimmer verbreitete, so daß nicht gänzliche Dunkelheit war. Ein schwerer Rauch legte sich den beiden auf die Brust, und die Stimmen auf dem Hofe schienen sich in immer weitere Entfernung zurückzuziehen, indessen die Vögel in den Käfigen mit einem Male in seltsamer Weise flatterten und sich geängstigt zeigten.
Plötzlich war es aus der Erde gestiegen wie eine graue Gestalt; dann schwebte es langschleppend in der Luft, in der Entfernung von den beiden, die sie vorher auf dem Boden bezeichnet hatten. Nachdem erhob sich aus dem Boden ein zweites Wesen, gekrümmt stieg es von unten auf und mit Anstrengung. Nach einer Weile schwebte es ebenso langschleppend. Aber ganz undeutlich war das alles, das waren Schatten ohne Wunsch und Gesicht. Langsam schwebten sie.
Eine lange, lange Zeit währte das; aber es war nicht klar, ob Stunden dahinflossen oder Minuten.
Da wurde langsam deutlich der ersten Gestalt Gesicht und Wesen und rann zusammen zu der Figur Luisens. Gramvoll sah sie aus, und in ihren Augen ruhten schwere Leiden, die keine Form annahmen. Eine heftige Liebe und tiefes Mitleiden wallten auf in Karls Herzen, er hatte den Willen, auf den Schimmer zu eilen und dieses schwermütige Gesicht an seine Brust zu drücken. Aber indem erzitterte schon das schwanke Wesen wie ein Bild im Wasser, das plötzlich bewegt wird durch eine Blüte, die von einem überhängenden Baume leise herabfällt auf den glatten Spiegel. So bezwang er sich und hielt still, und langsam glättete sich wieder das Wesen und ward ruhig.
Derart verharrte alles eine lange Weile in atemlosem Schweigen; da geschah etwas in der andern Figur, die bis dahin noch unbestimmt gewesen, denn eilfertig schoß es in ihr hin und her, ballte sich und trennte sich wieder; aber die Züge wurden fester und schärfer, und schon hatte Karl eine heimliche Angst, daß ihm Johanna erscheinen werde; da tauchten in dem leeren Gesicht auf die Linien von Johanna, und es erschienen willensstarke Augen, und ein auf Böses gerichteter Blick wurde klar, und haßerfülltes Gesicht. Bis ins Innerste erschauerte Karl vor Entsetzen, denn alles Furchtbare, dessen dieses Weib vielleicht einmal fähig war, hatte seine Äußerung in diesem Gesicht gefunden, in den Linien sowohl wie im Ausdruck. Wenn im Leben solche Gesichter wären, so würden alle Menschen Furcht haben voreinander, weil solches Aussehen möglich ist.
Dann verging wieder eine endlos lange Zeit, und es war Karl, als verrauschten vor ihm Jahre, während er angstvoll an seiner vorgeschriebenen Stelle stand und sah; denn wiewohl die Wesen stumm waren und ohne Bewegung schwebten, und ihre Gesichter rührten sich nicht wie bei toten Menschen, und wiewohl er bei allem innerlich wußte, daß diese Gesichte nur Trugbilder eines Rausches waren, den der betäubende Rauch in seinem Gehirn erzeugt; ja er dachte sogar, daß andre solcher betäubenden Mittel die Vorstellung eines schnellen Fahrens durch die Lüfte verschaffen; trotzdem wußte er als ganz gewiß, daß zwischen den beiden Wesen etwas geschah, und daß Entsetzliches zum Ende kommen mußte.
Siehe, da richtete das Wesen Johanna langsam, wie vom Tode erwachend, die haßerfüllten Augen auf das schwache Wesen Luise; und erst ging der Strahl der haßerfüllten Augen neben ihr vorbei, und dann streifte er sie, und endlich traf er sie ganz, und das Wesen Luise erzitterte wie ein Bild im Teiche, schwankte und wollte sich auflösen. Da durchfuhr es Karl, daß er sie retten müsse, und er stürzte vorwärts mit erhobener Faust auf den Schemen Johanna. Ein sehr lauter Schlag erscholl, dann fielen Glasscherben klirrend auf die Erde, und das Fenster war gänzlich zersplittert, auch die oberste Scheibe. Karl sah auf die Scherben vor seinen Füßen und wußte nicht, wie ihm geschehen. Der andre suchte mit zitternden Fingern das Licht anzuzünden. Durch das offene Fenster drang kühle Nachtluft, und plötzlich wurde ihnen bewußt, daß der Betrunkene unten auf dem Hofe lärmte, das war genau so wie vorhin; und mit einem Male fiel auch das Jammern der Frau ein, genau so, wie sie es schon gehört hatten, und der Mann antwortete dasselbe wie vorhin. Karl sah nach der Uhr; noch nicht eine Minute konnte verflossen sein, seitdem Roch das Pulver aufgeschüttet, und doch war es ihm wie vor einer ganz langen Zeit.
Schweigend stiegen die beiden die Treppe hinunter; der Zank des Betrunkenen und der streitenden Frau verfolgte sie Wort für Wort, wie sie ihn schon kannten. Karl erschauerte und hielt sich am Geländer fest, auch des andern Knie zitterten. Und nachdem sie lange durch belebte Straßen gegangen waren, sprach am Ende Karl: »Ich weiß, was ich gesehen habe, und es ist Übernatürliches dabei, aber ich kann es doch nicht glauben.« Roch schwieg lange, dann antwortete er: »Das eben ist das Grausigste bei diesen Dingen, daß man immer zweifeln muß, ob man nicht ein Betrüger ist oder ein Selbstbetrüger. Auch dies hat das Mittelalter gewußt, das gesagt hat, daß der Teufel ein Lügner und Betrüger ist. Aber ich muß tiefer hinein, wiewohl ich weiß, daß ich immer nur Lüge finden werde und Selbstverachtung, und ich weiß es nicht, ob mich nicht das treibt, daß ich mich nach der Selbstverachtung sehne, denn in der liegt die tiefste Wollust beschlossen.«
Roch sagte nicht näher, was er mit diesen Worten meine, auch erzählte er nie, was er selbst gesehen hatte. Und wie es oft geschieht, daß wir eines Menschen Leben in einem für uns beide wichtigen Punkte kreuzen und dann wieder so schnell von ihm gehen, wie wir ihn trafen, so kam Karl recht schnell wieder mit ihm auseinander, durch ein Gefühl der Unruhe und Nichtbefriedigung; für Karl war dieser einzige Versuch genügend gewesen, mit den unterirdischen Mächten in Beziehung zu treten, der andre aber verstrickte sich immer tiefer und fand endlich seinen Kreis, für den er geschaffen war, in einer Anzahl gleich Zerstörter, die nicht an Gott glaubten und eine Satansgemeinde gegründet hatten.