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Mir immer wieder ein wunderlicher Tag, dieser Silvester! Ein »Festtag«? Ich weiß es nicht. Aber ein gewöhnlicher Tag, ein Alltag, ist er auch nicht. Ganz gewiß nicht. Wir kennen alle die gewohnte Punschrede: »Das verflossene Jahr hat nicht viel getaugt; möge das kommende Jahr besser sein.« Gott bewahre mich vor der Engherzigkeit, daß ich den armen Teufeln, die es mit gutem Grunde sagen, über den Mund führe; aber oft ist es gelogen. Das erhellt schon daraus, daß es immer gesagt wird. Ich habe freilich nur in Deutschland Silvesterreden gehört, und vielleicht ist es eine deutsche Eigentümlichkeit, an allen Dingen nur die üblen Seiten zu sehen und recht ans Licht zu kehren. Wenn das wirklich deutscher Brauch ist, so ist es ein Brauch, »von dem der Bruch mehr ehrt als die Befolgung«, ist es ein sehr häßlicher Brauch, weil er die gläsernen Augen des Undanks hat. Mir hat das vergangene Jahr manchen Verlust und Verdruß, manchen Schmerz und manchen Ärger, manches Niederträchtlein meiner Feinde und manche Lendenschwachheit meiner Freunde gebracht; aber weit mehr des Guten, Großen und Schönen hat es mir gespendet, und da halte ich es einfach für meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, für seinen Charakter zu zeugen und öffentlich zu bekennen: »Für mich war das Jahr gut; wohl mir, wenn kein schlimmeres folgt,« Daß es darum nicht für alle gut war, weiß meine Nachtmütze – die ich übrigens gar nicht besitze – aber das allgemein verbreitete Weltbild würde um ein Gewaltiges klarer sein, wenn die Leute ihr Heil und Unheil auf einer guten und feinen Wage abwägen und nicht so undankbar lügen wollten.
Aber wenn ich nun mit derselben Wage ebenso sorgsam und ehrlich abwäge, was ich im dahingegangenen Jahr geleistet habe – ja, dann freilich schlägt die Stimmung jäh und gewaltig um.
Wenn de Dag is vergahn,
Harrn (hätten) de Fulen geern wat dahn –
das gilt vom Jahre wie vom Tag. Abends wird der Faule fleißig, und am Silvesterabend wird der Lebensverschwender ein Rechenmeister. Am letzten Tage fällt mir ein, um wie vieles ich in diesem Jahr eigentlich klüger und tüchtiger und besser werden wollte, daß ich meinem Leben eigentlich einen tieferen, klareren und reineren Sinn geben wollte – am 31. Dezember fällt es mir ein; vorher hatte ich leider keine Zeit dazu, »beim besten Willen nicht« (natürlich!); es war so viel anderes, Dringlicheres zu erledigen. Und dann kommt wieder dasselbe Gefühl über mich: Heut ist der Katzenjammer des Jahres, der Katzenjammer eines Rausches, der ein Jahr lang gewährt hat. Ein Frost und Übelkeitsgefühl, von dem mir Hirn, Herz und Beine schlottern. Und ich greife schnell nach Hut und Mantel und gehe in die Stadt.
Dort kauf ich in einem Papier- und Buchbindergeschäft furchtbar rote Nasen und Schielbrillen und Narrenkappen und Zigarren, die explodieren, und Teufel, die aus dem Kasten springen, und Zündhölzer, die nicht brennen, und Bleistifte, die nicht schreiben, und Knallbonbons mit Versen, die nicht von mir sind, und Nachtwächterknarren, die einen Heidenlärm machen, und noch viele solcher Dinge; denn viel muß es sein, sonst hilft es nicht. Besonders bei mir braucht es viel; ich kann mich totlachen über einen guten Excentric-Clown oder Harlekin und Bajazzo; aber ich selbst bin keiner; ich bin gänzlich unitalienisch. Wenn ich mich solcher Späße unterfange, so haben sie immer einen unausgesprochenen Begleittext: »Entschuldigen Sie, daß ich auch mitmache; ich weiß, ich habe nicht das geringste Talent dazu; aber vielleicht nehmen Sie vorlieb, wenn Sie sehen, daß es mir ernst um die Sache ist.« Trotzdem verbringen wir dank der Hilfe leichterer Temperamente und mit gütiger Unterstützung der Herren Punsch und Genossen die Nacht der Jahreswende immer recht vergnügt, riesig vergnügt sogar; aber die richtige Quellenlustigkeit ist es nicht. Sie ist nicht einmal so ursprünglich wie die Faschingslustigkeit, die für mich auch niemals den Beigeschmack des Präparierten verliert. Der echte Frohsinn ist ein Gnadengeschenk des Augenblicks; er kommt aus unbekannten Quellen wie der Rausch des Dichters; er läßt sich nicht auf ein Datum bestellen, nicht vorbereiten, nicht rufen. Die Silvesterlustigkeit ist gewollt, und sie soll etwas: sie soll betäuben. Es ist eben die absichtliche Lustigkeit eines aufgewärmten Katzenjammers. Zu übertäuben gibt es selbst bei denen etwas, die aus zwingenden Gründen keine Seeleninventur aufnehmen können und keine andere Jahresbilanz aufmachen als die der zählbaren und wägbaren Dinge. Denn am Silvestertag ist sozusagen der Mietzins für unsern biedern Hauswirt Kronos fällig. Ein sauberer Herr, dieser Hauswirt! Seine Wohnungen werden mit jedem Jahre baufälliger; machen läßt er nichts, wie die meisten Hauswirte; aber steigern kann er; alle Jahre müssen wir mehr bezahlen, und dabei hab' ich den alten Gauner noch im Verdacht, daß er betrügt: er kommt in immer kleineren Zwischenräumen; seine sogenannten »Jahre« werden immer kürzer. Der jährliche Tribut, den er einfordert, ist den meisten Leuten ein »ärgerliches Geld«, um so ärgerlicher, als sie wohl wissen, der alte Harpax und Raffegut werde sie eines Tages, wenn sie nichts mehr zu zahlen haben, erbarmungslos aussetzen auf die Gemeindewiese der Ewigkeit.
Am deutlichsten erkennt man die einunddreißigste Dezember-Lustigkeit an ihrem Nachhall. Alle großen, schönen, reinen Dinge haben einen großen, schönen, reinen Nachklang. Was aber ist der Nachklang des Silvesterabends? Die Stimmung des 1. Januar! Ich kenne keinen leereren, nüchterneren, charakterloseren, öderen, dümmeren Tag als diesen. Und der will ein Festtag sein, der! Alle Feste leben von der Erinnerung an ein großes Vollbringen oder doch an bedeutsames Geschehen; alle haben eine Rechtfertigung. Was kann der Neujahrstag als seine Rechtfertigung vorbringen, auf welche Vergangenheit kann er sich berufen? Er kommt mir immer vor wie ein anmaßender junger Bengel, der dummdreist ins Zimmer tritt und meint, man müsse ihn Wunders fetieren, weil er ein glattes Gesicht und einen tadellosen neuen Frack und Zylinder habe. Was kann ich zur Charakteristik dieses Tages Vernichtenderes sagen, als daß er uns die Wassersnot der Neujahrsgratulationen, daß er uns 17 Schock Überflüssigkeiten, Unwahrheiten oder Selbstverständlichkeiten auf den Schreibtisch schüttet!?
Ich kann mir nicht helfen; ich bin sonst das Gegenteil eines Spielverderbers und lache und feire und freue mich von Herzen gern; aber der Jahreswechsel ist mir nun einmal ein zweifelhaftes Fest. Indessen: ungerecht will ich auch nicht sein. Einen ernsten, aber schönen Augenblick hat die Silvesternacht auch für mich. Mein Haus liegt weit draußen am Rande einer großen Stadt, und wenige Minuten vor zwölf trete ich hinaus auf den Altan meines Hauses, nehme die Narrenkappe ab und erwarte ehrfurchtsvoll die Mitternacht. Und wenn sie da ist, hör' ich die Turmuhren schlagen und Schüsse knallen, und plötzlich braust von der Stadt ein vielstimmiger Ruf herüber: »Prost Neujaaahr! Prost Neujaaahr!« und am lautesten schallen die Stimmen der Kinder. Und dann denke ich mir, ich wohnte nicht am Rande einer Stadt, sondern am Rande der Welt, und was da riefe, wäre die ganze Menschheit. Und dann denke ich mir: sie hat noch Mut, diese Menschheit, sie hat noch Hoffnung und Jugend und will weiter leben und wagen und ringen und suchen. Und wenn ich dann zurücktrete in das Haus und die Arme um meine Lieben schlinge, dann ist es mir zumute, als wäre ich die ganze Menschheit, und ich habe Mut und Hoffnung und Jugend und will weiter leben und wagen und ringen und suchen.
Darum, wenn der Neujahrsmorgen mit wässrigen, nichtssagenden Augen ins Fenster glotzt, reiß ich wütend den ersten Januar vom Kalender, damit der schwarze zweite zum Vorschein komme, und mache den »Feiertag«, der kein Feiertag ist, zu einem wirklichen Feiertag durch lustgeschwellte, flügelfrohe Arbeit.
Vielleicht könnte man dem seelenlosen Tage noch eine heiligere Weihe geben. Die Franzosen pflegen sich am Neujahrstag zu beschenken; das ist schon ganz etwas anderes als Neujahrsgratulationen, ist sozusagen das Gegenteil. Geschenke sind ein Ausdruck der Liebe, und Liebe gäbe dem blassen Tage schon ein anderes Gesicht. Aber acht Tage nach Weihnachten schon wieder schenken – die Haushaltungsvorstände würden dagegen einen wilden, nicht ganz unbegreiflichen Protest erheben. Ich denke an etwas anderes. Die Juden haben einen Versöhnungstag, bei dem es sich freilich, der Bibel nach, um eine Versöhnung mit Gott handelt. Daß eine Versöhnung mit Gott eigentlich eine Versöhnung mit den Menschen voraussetzt, das ist den meisten Menschen, ob Juden oder Christen, wohl bekannt, aber nicht ins Blut gedrungen. Nun scheint mir, daß ein Tag der Versöhnung mit Gott nicht so notwendig ist, weil man sich mit ihm an jedem Tage versöhnen kann, maßen er geduldig, langmütig und von großer Güte ist. Hassende, zürnende Menschen aber sind darin viel schwieriger; sie sind hochmütig, selbstgerecht, hart und eigensinnig und wollen von Dritten behutsam zusammengeführt und zur Friedfertigkeit fleißig überredet sein. Wie wäre es, wenn wir den ersten Tag des Jahres zu einem großen Versöhnungsfest und damit zu einem Tage neuen Lebens machten? Dann könnten wir die Verstockten, die sich schwer überwinden, an das Gebot einer heiligen Sitte mahnen, und sie selbst könnten sich darauf berufen. Sie könnten ihren Feinden einen gedruckten Neujahrsglückwunsch schicken, »nur, weil's einmal so Sitte ist«, und wenn sie keine Gegenliebe fänden, könnten sie sagen, es sei ein Versehen gewesen. Man verstehe mich recht: Kampf und Streit sollen nicht aufhören; gestritten muß sein, damit die Erdenluft rein bleibe, und mit Schurken soll man sich nicht vertragen; nur ihre Einsamkeit kann ihnen die Augen öffnen. Aber wenigstens die vielen törichten Feindschaften könnten wir abwerfen, und wenn es uns gar zu schwer fällt, die Gratulationskarte abzusenden, so könnten wir am Neujahrstag, da wir doch über manche verjährte Geldschuld einen verzichtenden Strich machen, uns in unserem Herzen, wo uns niemand sieht und niemand verhöhnen kann, mit unseren Feinden versöhnen. Der erste Tag des neuen Jahres ein Allerseelentag der Lebenden, ein Tag, da unsere Seele sie besucht, die uns abgestorben, denen wir abgestorben sind! Wie hell und heimisch würd' es leuchten auf dem großen Friedhof der Lebendigen!