Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Im Vorhof des Lebens

Auf meinen täglichen Spaziergängen in O. begegnete mir mit vollkommener Regelmäßigkeit ein alter, hagerer Mann, der von Anfang an mein besonderes Interesse erregte, zunächst durch seine milden Züge, die durch ein Paar großer, schwärmender Augen belebt wurden, sodann durch die erstaunliche Akkuratesse, mit der er seinen offensichtlich schon lange nicht mehr neuen Anzug instand hielt. Er trug zu diesem Anzug unabänderlich einen Zylinder und ein Paar Knöpfstiefel, deren fabelhafter Glanz schon von weitem blendete wie Drummondsches Kaltlicht. So sah er schier elegant aus, und erst bei näherer Bekanntschaft merkte man, daß der Rock in den Nähten mit Behutsamkeit geschwärzt und das Beinkleid an den unteren Rändern mit virtuoser Künstlerschaft gestopft war.

Wie es so geht: wenn man einander täglich begegnet ohne etwas voneinander zu wollen, so lernt man sich ohne Worte kennen und – je nachdem – sogar gern haben. Eines Morgens rief er mir im Vorübergehen zu: »Bitte, betrachten Sie sich die Buchen im Ackermannschen Park – wundervoll!«

»Danke schön!« rief ich mit verbindlichem Lächeln, »werd' ich tun!«

Ich sah mir die Buchen an und fand nichts eben Besonderes an ihnen. Sie trugen freilich schon blanke Knospen, daneben aber auch noch das vorjährige Laub, und bekanntlich bietet die Buche in solcher Zeit keinen überwältigend schönen Anblick. Aber seitdem grüßten wir einander und warfen uns öfter und öfter im Vorübergehen ein freundliches Wort über Weg und Wetter zu.

Und eines Tages, als ich meinen Spaziergang etwas früher als sonst unternommen hatte, fand ich meinen Freund auf einer Bank des genannten Parks sitzen. Da auch ich ein Ruhebedürfnis empfand, setzte ich mich zu ihm.

»Das ist doch der herrlichste Einfall der Natur,« sagte ich: »Syringen und Goldregen zusammen! Für mich wenigstens ist es ihr lieblichstes und vornehmstes Blumengedicht. Und in welcher Fülle sie hier blühen!«

»Ja – ja,« sagte er lässig, mit einer Gleichgültigkeit, die mich bei diesem offenbaren Naturfreunde in Erstaunen setzte.

»Diesmal,« fuhr ich weniger originell als herkömmlich fort, »diesmal hält der Wonnemonat reichlich, was sein Name verspricht.«

»Ja – ja,« machte er mit sanftem Kopfnicken, und jetzt klang es fast wie Wehmut aus seiner Stimme.

»Oder sind Sie mit dem Mai unzufrieden?« fragte ich.

»Ja,« sagte er jetzt entschiedener, und dann noch einmal besonders entschieden: »Ja! – Er gibt zu viel. Er nimmt dem Sommer zu viel weg. Überhaupt: je mehr er erfüllt, desto weniger ist er ein ›Wonnemond‹. Erfüllung ist keine Wonne.«

»Nah,« rief ich kapierend, »danach wäre der wind- und regenzerfetzte April eigentlich wonniger gewesen!«

»Gewiß,« versetzte er lächelnd; »aber der Wonnemond ist es natürlich auch nicht.«

»Nein, nach dieser Auffassung natürlich nicht,« erwiderte ich. »Sie sind ein Freund der Erwartung. Da wird der März mit seinem amtlichen Frühlingsanfang und seinen ›neun Sommertagen‹ diesen neun Anweisungen auf Sonnenlicht, die meistens nicht eingelöst werden, Ihr Liebling sein?«

»O nein!« versicherte er mit milder Entschiedenheit. »Fabian, Sebastian läßt den Saft in die Bäume gahn – und wahrscheinlich steigt da auch ein neuer Saft in den Menschen. Der Januar wäre also schon eher ein Wonnemond; aber eigentlich ist es der Dezember.«

Ich mochte wohl große Augen machen.

»Ja, ja,« nickte er. »Denn im Dezember ist der kürzeste Tag! Und mit Recht legen die Menschen in diese Zeit das schönste Fest. Vom kürzesten Tage kann es nicht mehr rückwärts, kann es nur noch vorwärts und aufwärts gehen. Das ist Wonne.«

Dagegen konnt' ich gar nichts sagen.

»Haben Sie,« fuhr er fort, »sich einmal das Vergnügen gemacht, die Leute zu fragen, in welchen Jahreszeiten der Tag zu- und in welchen er abnehme?«

Ich mußte verneinen.

»Versuchen Sie's einmal; die Menschen wissen nicht einmal das. Sie werden fast immer die gedankenlose Antwort erhalten: »Das ist doch sehr einfach: Im Frühling und Sommer nimmt er natürlich zu, im Herbst und Winter ab!« Bekanntlich nimmt aber der Tag im Sommer ab und im Winter zu.«

»So feiern Sie freilich einen erfreulichen Winter, tauschen dafür aber einen tristen Frühling ein.«

»Ei, wer sagt Ihnen das?« rief er. »Im Frühling freu' ich mich ja auf den Sommer!«

»Und im Sommer auf den Herbst?«

»Und im Herbst auf den Winter!« nickte er bestätigend.

»Und warum diese ›Schiebung‹?«

»Weil die Erwartung immer schöner ist als die Erfüllung.«

»Immer?«

»Glauben Sie es mir: immer. Wer jemals Frühlingsgedichte gemacht hat – und wer hätte das nicht? –, der weiß, daß sie niemals besser gelingen als bei 20 Grad Kälte oder mehr.«

»Das ist richtig,« sagte ich.

»Denken Sie an alle Weihnachtsfeste, die Sie erlebt haben: hat jemals eines gehalten, was Sie erhofften?«

»Doch!« rief ich. »Es kam sogar vor, daß meine Erwartungen übertroffen wurden.«

»Nun, durch das Quantum der Gaben vielleicht.«

»Nein, durch die Qualität des Glücks.«

»Dann sind Sie von besonderer Anlage. Aber selbst wenn einmal dieser seltene Glücksfall eintritt – die rechte Ökonomie des Glücks ist es dennoch, sich vorher zu freuen, weil diese Freude fast immer feiner und länger ist. Der Genuß ist immer kurz, die Hoffnung darauf ist lang; der Genuß ist immer massiv, die Erwartung ist leicht und beflügelt. Im Reiche der Erwartung herrschen noch Oberon und Titania, an die unsere »Genießer« nicht mehr glauben. Der Duft eines feinen Apfels – nebenbei bemerkt: der schönste aller Wohlgerüche – verwandelt mein Zimmer auf Tage hinaus in ein Paradies; wenn ich ihn endlich esse, merke ich, daß sein Geschmack bei weitem nicht seinem Dufte gleichkommt, und mir ist zumute, wie nach einem Sündenfall. Aber das Beste des Apfels habe ich dann doch gehabt und habe es tagelang gehabt.«

»Was Sie da sagen,« bemerkte ich, »erinnert mich an die Gellertsche Fabel von Till Eulenspiegel, der die Berge vergnügt hinan und betrübt hinabstieg. Sie werden das Gedicht als Knabe sicher auch gelernt haben.«

»Und ob!« rief er. »Und wie gern! Der herrliche Gellert! Wer würdigt ihn noch? Seine Grazie, seine Schalkheit, seine herzinnige Güte?

»Ich!« rief ich lebhaft.

Der Alte begann zu rezitieren:

»Ich bin, sprach Till, nun so.
Wenn ich den Berg hinuntergehe,
So denk' ich Narr schon an die Höhe,
Die folgen wird, und da vergeht mir denn der Scherz,
Allein, wenn ich berganwärts gehe,
So denk' ich an das Tal, das folgt, und faß ein Herz.

Dieser Till ist also, wie Sie sehen, nur ein halber Weiser. Auch das Unglück ist selten so groß wie die Erwartung. Die Furcht vor dem Unglück ist das wahre Unglück. Also fürchten wir es nicht! Steigen wir den Berg hinan im Genuß des Künftigen, und steigen wir ihn hinab im Vorgenuß des Tales!«

»Kommt man dabei ganz auf seine Rechnung?«

»Ich denke doch! Wenn dann eines Tages ein wirkliches Unglück kommt, dann haben wir doch ein Glück gehabt, und was wir gehabt haben, kann uns niemand nehmen. Im Gegenteil; es wird noch immer mehr und immer schöner durch Erinnerung. Die Dinge dieser Welt werfen lange Schatten nach vorwärts bis zur Wiege und nach rückwärts bis zum Grabe; aber sie selbst sind klein.«

»Und was nennen Sie ›wirkliches Unglück‹?«

»Krankheit, und vor der soll man sich hüten, ohne sie zu fürchten. Denn Krankheit fürchten ist ja schon Krankheit.«

»Und ist nicht auch Schande ein Unglück?«

»Kaum. Schande ist Menschenurteil, und Menschen haben kein Recht zum Urteil. Wer aber wirklich seine Schande verdient hat, der war schon lange vorher unglücklich.«

»Und der Verlust geliebter Menschen?«

»Den habe ich nicht zu befürchten,' sagte er sehr leise.

Ich schwieg.

»Ich stehe allein,« fuhr er fort, »und habe mit niemandem Verkehr. Ich bin, wie jedenfalls auch Sie wissen, der ›Sonderling‹, das ›Original‹ dieser Stadt. Die Leute erzählen sich, ich hätte immer hundert Krawatten auf Lager und fünfundzwanzig Regenschirme, mit denen ich abwechselte. Und sie starren mich an, wenn ich ihnen begegne. Sie sind hier der erste Mensch, dem ich Konfidenzen mache. Und wissen Sie warum?«

»?«

»Sie haben mich nicht angestarrt. Ja, als Sie mir das erstemal begegneten, starrten Sie auch, aber nur für ein Zehntel einer Sekunde; dann besannen Sie sich, daß Sie nicht starren wollten, und fortan sahen Sie mich an oder sahen an mir vorbei, als wäre ich kein ›Sonderling‹. Das hat mich für Sie eingenommen.«

Ich verbeugte mich dankbar.

»Und Sie leben ganz nach Ihren Grundsätzen?« fragte ich.

»Soweit ein Mensch sein Leben in der Hand hat, ja. Und zwar bis ins kleinste, bis ins Alltäglichste hinein. Nie wird das Leben genießen, wer nicht den Alltag zu genießen weiß. Der Alltag ist das Brot auf dem Tische des Lebens, und wem das Brot nicht schmeckt, der hat eine verdorbene Zunge und ist ein bitterarmer Mensch.«

»Mir aus der Seele gesprochen,« warf ich ein.

»Sehen Sie: indem ich am Abend einschlafe, freue ich mich aufs Erwachen. Wenn ich erwache, freue ich mich – nicht aufs Ankleiden, darauf freuen sich wohl nur Damen –, aber auf mein Sturzbad, und während des Bades atme ich das Aroma meines Morgenkaffees. Während ich ihn trinke, macht meine Seele schon ihre Morgenwanderung durch Felder und Wälder, und während meines Morgenspazierganges sehe ich so recht deutlich mein kleines, friedsames Zimmer, das mich wie ein treuer Freund erwartet. Die Frau, bei der ich wohne, und die für meine bescheidenen Bedürfnisse sorgt, weiß, daß sie mir beim Frühstück das Mittagsmenü nennen muß; heute werde ich Reis essen, und jedesmal, wenn es mir einfällt, freue ich mich. Während des Speisens sehe ich die ersten, feinen, bläulichen Wölkchen der nachfolgenden Zehnpfennigzigarre steigen, die ich freilich nur selten rauche, und wenn ich sie rauche, betrachte ich liebevoll das Sofa, auf dem ich ruhen werde. Wenn ich mich darauf ausstrecke, lege ich vor mir auf den Tisch das Buch, das ich am Nachmittag lesen werde, und in den Seligkeiten seiner Bilder- und Gedankenwelt schlafe ich ein. In den gelegentlichen Pausen der Lektüre denke ich an Theater oder Konzert, das ich am Abend besuchen werde; ein göttliches Thema der Pastoralsymphonie klingt auf; ein paar Verse aus dem ›Wallenstein‹ rauschen mit Geisterfittichen an meinem Ohr vorüber, oder ich sehe schmunzelnd den lustigen Filou des ›Zerbrochenen Kruges‹ sein Knie verbinden, und lese weiter. Wenn ich das Buch weggelegt habe, nehme ich die Zeitung her und lese das Programm des Abends, und dann beschließe ich, mir einen Stehplatz auf der Galerie der Oper oder im Konzertsaal zu kaufen. Sofort befällt mich das wundervolle Fieber, das mich als Jungen tagelang vor meinem jährlich einmal erlaubten Theaterbesuch umfangen hielt; sofort hebt das köstliche Geigengewühl der Ouvertüre zum ›Figaro‹ an, den ich als Achtzehnjähriger hören durfte; der Vorhang stiegt hoch, und ich höre: ›Fünfe – zehne – zwanzig‹ und weiter geht's durch alle Akte bis ›O Engel, verzeihe!‹ und dann fasse ich den Entschluß, zu Hause zu bleiben; denn nichts auf der Welt kann ja so herrlich singen und spielen wie meine Erwartung.«

»Und verbringen Sie alle Tage in der gleichen Weise?«

»O nein!« rief er, »o nein! Jetzt kommt ja zum Beispiel die Reisezeit. Da lese ich zunächst Reisebeschreibungen. Den deutschen Wandertrieb trage ich in mir, so lange ich denken kann. Nichts kaufte ich mir schon als Junge so gern von der Bücherkarre, wie Reiseschilderungen mit Kupfer- und Stahlstichen oder auch Holzschnitten. Vor manchen dieser Bilder konnte ich stundenlang sitzen, bis ich jeden Quadratmillimeter durchwandert hatte; ja, in solch einer Stunde machte ich oft jahrelange Reisen, Reisen voll staunenden Schauens, Träumens und glückseligen Hoffens. So war ich bald im Schwarzwald und im Altai, am Rhein und am Orinoko zu Hause. Meine bescheidene Pension erlaubt mir immerhin eine kleine Reise im Jahr. Und wenn nun die Ferien kommen, sehen Sie, da verbringe ich halbe, ja, ganze Tage am Bahnhof oder am Hafen. Und freue mich mit den Abreisenden in alle Fernen der Welt. Welch ein eigenes Glück liegt auf diesen Gesichtern, namentlich auf den jungen! Wie köstlich ist diese Mischung von sehnsüchtiger Hast und sicher-behaglicher Erwartung! Wie köstlich ist die Behäbigkeit solch eines Studenten, der sich Obst und Zeitungen und Zigarren kauft, weil das Reisegeld noch so maßlos groß ist, und in seinen Augen, in allen Augen schimmern alle Fluren und Seen, alle Wälder und Berge der Erwartung! Und wenn ich dann daheim bin, studiere ich Fahrpläne und Reiseführer und zeichne mir meine eigene Reisekarte; das ist ein unendlicher Genuß!«

»Und wohin soll's denn diesen Sommer gehen?«

»O,« machte er sehr verlegen, »das weiß ich noch nicht – ich werde wohl kaum reisen.«

»Nicht?«

»Nein. Ich bin ja noch nie gereist. Mit einer einzigen Ausnahme. Da hatte ich ein Rundreisebillet für den Harz genommen. Aber ich war schon nach einem Tage so enttäuscht, daß ich schnell wieder heimgefahren bin. Ich könnte ja reisen, wenn ich wollte – das genügt mir.«

»Nun!« rief ich und konnte nicht umhin, ein wenig zu lachen. »Da bin ich freilich weniger genügsam. Ich freue mich, um ein tiefsinniges Beispiel aus meinen Schuljahren zu gebrauchen, auf die Reise und auf der Reise.«

»Wirklich?« fragte er mit starkem Zweifel. »Und Sie überreden sich nicht nur zur Freude? Man hat sich vorher auf einen großen Genuß gespitzt, und – aus einer gewissen Eitelkeit – will man dann nicht der Hineingefallene sein. Sie nehmen mir diesen etwas impertinenten Zweifel doch nicht übel!« rief er ängstlich.

»Ich denke nicht daran. Wenn Sie mir nur auch eine Frage erlauben wollen.«

»Bitte?«

»Wenn Sie Ihren Reis essen und an die Zigarre denken, schmecken Sie dann mehr den Reis oder den Tabak?«

Die Frage machte ihn stutzig. »Sie können recht haben,« meinte er zögernd und mit einem liebenswürdigen Lächeln, »vielleicht schmecke ich mehr den Tabak als den Reis.«

»Sehen Sie?« rief ich mit höflicher Schadenfreude, »und vielleicht gar Reis und Tabak durcheinander. Das ist aber schade um den Reis, wenn wir bei diesem materiellen Beispiel – materielle Beispiele sind so schön anschaulich – bleiben wollen. Wenn ich meinen Reis esse, so widme ich mich ihm unbeschadet der genossenen Vorfreude; denn auch ich liebe dieses viel mißhandelte, edle Korn. Ich freue mich auf alle künftigen Sonnenstrahlen; aber wenn mir einer aufs Buch fällt, freue ich mich an ihm. Ich freue mich auf alle hohen und herrlichen Dinge, die mir das Leben vielleicht gewähren will; aber wenn ich einen echten Künstler den Don Juan singen höre, dann rinnt mir sein Champagnerlied so gewiß, so gegenwärtig, so gegenständlich in Ohr und Herz, wie wirklicher Champagner über eine Zunge rinnt. Ich freue mich im Winter auf den Frühling wie Sie; aber wenn er da ist, dann feire ich dies Fest des Blutes so redlich wie der Südländer den Karneval.«

»Merkwürdig,« murmelte er. »Und Sie sind nie enttäuscht?«

»Mein Leben ist reich an Enttäuschungen; aber der Genuß enttäuscht mich selten; oft übertrifft er meine Erwartungen.«

»Ein sehr merkwürdiger Fall,« murmelte er abermals.

»Vielleicht liegt der Fall einfacher, als Sie denken,« versetzte ich. »Wir Menschen sind – die Anwesenden wie immer ausgenommen – eine sehr unbescheidene Gesellschaft, oder sagen wir richtiger: eine unverschämte Bande. Wir sind alle mehr oder weniger von der Art jener Leute, die beim Anblick des Amazonenstromes ausrufen: ›Ach – hab' ich mir viel breiter gedacht!‹, oder wenn sie von der Geschwindigkeit des Lichtes hören: ›Ach – hab' ich mir viel schneller gedacht!‹, oder wenn sie das hohe C eines Tenors hören: ›Ach, das hab' ich mir aber höher gedacht!‹, Die Rosinen, die wir von der Zukunft erwarten, malen wir uns immer in der Größe von Orangen aus, und wenn wir ein wenig darauf warten müssen, werden sie wie Kürbisse. Verstehen Sie mich recht: ich meine nicht, daß wir unsere Erwartungen künstlich herabstimmen sollen – dann ist es keine Kunst, Enttäuschungen zu entgehen; wir sollen nur ein wenig Gefühl für das Maß aller menschlichen und irdischen Dinge bewahren. Wir sollen uns schon freuen auf den Frühling; aber wir sollen nicht meinen, daß dann aus jedem Laternenpfahl eine Magnolie werde. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter. Unter den mancherlei feinen Worten, die Nietzsche gesprochen hat, ist auch das vortreffliche Wort: ›Man soll nicht genießen wollen.‹, Auch hier bitte ich, mich nicht falsch zu verstehen. Man soll kein steifes Genick haben, soll bereit zum Genuß sein, willig zum Genuß, und wenn er da ist, soll man ihn mit jubelnder Unschuld umfangen; aber man soll nicht auf ihn lauern, soll um Gottes willen sein Leben nicht auf Genuß anlegen. Es ist bekannt, daß improvisierte Vergnügungen die besten sind. Warum? Weil keine Erwartung vorhergeht, die sie enttäuschen könnten. Nun, wir haben es in der Hand alle unsere Vergnügungen in diesem Sinne zu erhöhen.«

»Wie das?«

»Wir brauchen nur recht ernst und streng zu arbeiten – nach der Arbeit schmecken alle Genüsse wie improvisierte.«

»Fragt sich immer nur, ob die Vorbereitungen, die Erwartung, nicht köstlicher sind als aller Genuß.«

»Ich bestreite die Allgemeingültigkeit dieser Behauptung. Ich mußte als Jüngling in einem wahren Hundeloch von einem Zimmer meine Studien betreiben und betrieb sie mit großen Ausblicken in die Zukunft; aber jeden Morgen freute ich mich auch, daß Fenster, Fußboden und Geräte frisch gesäubert waren, freute ich mich, daß ich von diesem Zimmer aus viele Dächer und ein gutes Stück des Himmels überblickte, genoß ich die Wolkenbilder des Tages, und wenn ich ein Buch aufschlug und mich darüber neigte, schwamm ich in Seligkeiten des Augenblicks. Auf meinen Reisen fühle ich oft und tief die Vorfreude des Wiedersehens mit Weib und Kind; aber wenn einem dann im Augenblick der Heimkehr Weib und Kind an den Hals fliegen und einen abküssen, dann hat das beim Himmel seine eigenen, nichtzuverachtenden Reize.«

»Sie sind glücklich verheiratet?« fragte er mit einer sehr zarten Hervorhebung des Wortes ›glücklich‹.

»Ja. – Sie sind ledig, wie ich glaube.«

»Ledig, ja, das ist das richtige Wort. Meine Erwartung ist an keine Realität gefesselt. Ich liebe die Frauen über alles. Sie sind das Beste, was wir auf der Erde haben. Sie sind so viel besser als wir; darum ist es ja so töricht von ihnen, wenn sie uns ähnlich werden wollen. Ich weiß, daß wir in vielen, vielleicht in den meisten Dingen stärker sind als sie; ihre schöpferischen Fähigkeiten sind gering. Aber sie brauchen auch nicht das Schönste und Beste zu schaffen, weil sie das Schönste und Beste dieser Erde sind. Natürlich gibt es weibliche Kanaillen, das weiß ich. Aber auch in der Verworfensten ist noch ein Himmelsrest; das möchte ich von dem verworfensten Manne nicht behaupten. Wenn ein Weib nur von weitem in meinen Kreis tritt, so fühl' ich es wie die Gegenwart eines Gottesboten; das Weib verbindet uns in Wahrheit mit dem Göttlichen; ich fühle mich dann reiner, besser, höher; ich wäre dann nicht fähig, Niedriges zu denken oder zu tun. Und ein Weib, das man mit den unschuldigsten Kräften seines Herzens verehrt, mit Leib und Seele besitzen – und das Weib, das man ganz besitzt, aus dem kindlichsten Grunde der Seele vergöttern – das ist ganz gewiß und ohne allen Widerspruch, ohne allen Zweifel die höchste aller Glückseligkeiten, ist ein Glück, bei dessen Vorstellung mich von jeher ein Taumel ergriffen hat. Und sehen Sie, darum habe ich nicht geheiratet. Wenn auch das verworfenste Weib einen Himmelsrest bewahrt, so wird auch das vollkommenste einen Erdenrest bewahren, und das reinste Bild, das ich von menschlichem Wandel und Wesen in der Seele trage, getrübt zu sehen, das würde ich nicht ertragen. Lieber noch will ich Ihnen lächerlich erscheinen und das höchste Glück mit meinen 65 Jahren noch – ›erwarten‹.«

Er erschien mir keineswegs lächerlich, sondern bemitleidenswert. Er war zu zart gebaut für die Welt und blieb darum im Vorhof des Lebens. Ich mußte an die Menschen denken, die niemals im Leben eine Wasserfahrt wagen, und die mir auch immer mehr bedauernswert als lächerlich erschienen.

»Das Leben,« fuhr ich nach einer Weile des Schweigens fort, »bringt auch angenehme Enttäuschungen, auch die Ehe tut das. Und man muß, wenn man mit dem Leben fertig werden will, Glück und Unglück, angenehme und schlimme Enttäuschungen ineinanderrechnen, wie es ein mutiger Kaufmann tut. Ein Kaufmann, der nur auf Gewinn wartet und keinen Verlust wagt, wird es nicht weit bringen. Und soll ich Ihnen noch etwas ganz Verschrobenes sagen?«

»Hm?«

»Ich liebe die Enttäuschungen. Sie sind der Stachel, der uns treibt zu immer strebendem Bemühen. Der Weltenherr hat uns einen herrlichen Bissen in die Wolken gehängt: ›Das reine Glück.‹ Wenn wir glauben, es erschnappt zu haben, zieht er es höher hinauf, immer höher, bis in die Sterne. Das ist schmerzlich; aber es hat ein Gutes: wir lernen springen dabei. Und seltsamerweise hat es noch ein Gutes: gerade so bleibt in uns lebendig, was Sie über alles schätzen: die Erwartung, die Hoffnung. Und zwar eine immer verjüngte Erwartung, eine immer neugeborene Hoffnung. Wenn jede Hoffnung ganze Erfüllung fände, so würde niemand mehr hoffen, und das sogenannte ›Glück‹ wäre eine trübselige Selbstverständlichkeit. Wenn wir aber das Leben nicht anpacken und niemals Genuß und Enttäuschung wagen – muß dann unsere Hoffnung nicht versteinern?«

Die letzte Bemerkung schien ihn tiefer zu treffen, als ich wünschte.

»Es ist doch noch recht frisch,« sprach er mit einem Schauder und erhob sich.

»Meine Überzeugung vom Wert der Enttäuschung,« sagte ich, »gibt mir den Mut, Sie zu Tische zu laden. Wollen Sie mir die Freude bereiten, mit mir zu speisen?«

»Sie sind sehr gütig,« versetzte er, »und ich nehme Ihre Einladung an, aber für später. Gönnen Sie mir mindestens acht Tage lang die Vorfreude dieses Festes.«

»Dann leiste ich jede Bürgschaft für Ihre Enttäuschung!« rief ich lachend.

»O nein,« meinte er, »ich habe ein sicheres Gefühl, daß ich nicht enttäuscht sein werde. Und ich werde ernstlich versuchen, Ihren Reis mit vollster Konzentration auf jedes einzelne Korn zu genießen. Ich muß von Ihnen lernen.«

»Das habe ich nicht mehr nötig,« erwiderte ich; »denn ich habe bereits gelernt, mich auf unsere nächste Unterhaltung von Herzen zu freuen.«

»Sie verstehen nicht nur, das Glück des Augenblicks zu genießen,« versetzte er, »Sie verstehen auch, dauernd zu beglücken.«

Höher ging's nimmer. Sein letztes Kompliment schnitt mir den Atem der Seele ab; ich konnte mich nur errötend verbeugen, und wir schieden mit einem ehrlichen Händedruck.

Er ist nie gekommen. Er hat es mir später einmal gestanden: »Ich fürchte, daß Sie mich in meiner Anschauung erschüttern könnten. Und als Fünfundsechzigjähriger noch mit der Philosophie wechseln, das tut nicht gut. Alte Kanarienvögel sterben, wenn man sie an die Außenluft bringt. Zwar freue ich mich auf den Tod, weil er die ewige Ruhe bringen soll; aber ich will auch diese Vorfreude möglichst lange genießen.«


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