Otto Ernst
Ein frohes Farbenspiel
Otto Ernst

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Asmodi

oder

Der hinkende Teufel im Theater

Über der berühmten Stadt Hamburg lag die dichte Finsternis eines regnerischen Oktoberabends, als ich in schwebender, bebender Herzenslust und Herzensangst, sonst aber warm und wohl geborgen, in einer kleinen Loge des Stadttheaters saß. Ich mußte den »Faust« sehen, that es aber nicht gern. Denn der hat auf der Bühne, vom Gretchendrama abgesehen, nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren. Mich interessierte auch unendlich viel mehr ein Fläschchen mit Syringenparfüm, das ich verstohlen in der Hand hielt. Einen Gegenstand, der der Geliebten gehört, in der Hand halten ist immer eine Lust, was auch die Ehemänner dagegen sagen mögen. In jener Abendgesellschaft, wo sie mir aufgegangen war wie Morgenlicht über einer stimmungslosen Sandwüste, hatte ich ihr das Flacon gestohlen. Ich hatte während unserer Unterhaltung damit gespielt und es nachher behalten, und sie schien es nicht zu vermissen.

Syringen! Das paßte so gut zu ihr. Sie schien Einen auch aus hundert treuen blauen Augen anzublicken. Sie hatte sicherlich nur zwei Augen; aber hatte man einmal hineingeblickt, so sah man überall diese Syringenaugen, wenn man auch auf einen alten Ofenschirm oder auf die schwarze Weste eines Ökonomierats starrte. Syringen sind so einfach und so reich in ihrer Einfachheit und so weich und duftig, daß man lange, lange seine Wange hineinschmiegt. Vielleicht war ich auch darum gleich so heilig verliebt, weil Syringen mir von Kindheit an verknüpft sind mit Pfingstfreude, mit dem ersten großen Leuchten und vollen Klingen der neuen Frühlingslust.

Hoheit umhüllte sie ganz. Weiß einer, was Hoheit ist? Nicht die Hoheit mein' ich, die angenommen und abgelegt werden kann, die man behaupten muß, sondern Hoheit, die von allem Anfang her da ist und immer da ist und da sein wird auch in Niedrigkeit und kümmerlichen Leiden und die auch den Ärmsten anzieht. Nicht Hoheit, die streng oder hart oder gar kalt sein kann, sondern Hoheit, die über Gerechte und Ungerechte leuchtet und auch bei hingebendster Milde noch Hoheit bleibt, vor der der Rohe verlegen wird und dem Zyniker seine eigenen Witze schal erscheinen . . .

Auf der Bühne setzte sich Mephisto in einem scheußlichen, Franz Moorigen Vorstadt-Nasen-Intrigantentone mit »dem Herrn« auseinander. Ich floh zu meinem Fläschchen, drückte die Augen zu, sog begierig den Duft ein und – hörte mit einem Male einen tiefen Seufzer, der nur aus dem Fläschchen kommen konnte.

»Holla!« rief ich. »Wer ist da?«

»Ach,« klang ein leises Stöhnen aus dem Fläschchen, »die alte Geschichte! Ich! Asmodi!«

»Ei sieh da!« rief ich. »Und nun möchten Sie wohl gern wieder heraus?«

»Ach ja! Bei der früheren Besitzerin dieses Fläschchens war es ja recht angenehm; aber bei Ihnen – das hat wirklich keinen Reiz!«

»Danke. Kann ich mir denken. Aber warum entweichen Sie nicht durch eines der kleinen Riechlöcher im Stöpsel?«

»Ich kann nicht an der Schleife vorbei.«

»Nicht an der Schleife vorbei?«

»Nein, betrachten Sie sie recht, sie ist zu einem Brrrrrrrr . . . . Ich kann das Wort nicht aussprechen . . . . Sie wissen schon . . . .«

»Ach sieh da! Richtig, sie ist zu einem Kreuz gebunden. Und nun soll ich wohl die Schleife lösen?«

»Ich thät recht schön bitten.«

»Ja, was wollen Sie denn anlegen für Ihre Befreiung?«

»Ich werde Sie einen Blick thun lassen in alle Gehirne der hier Versammelten, und Sie sollen sehen, was darin vorgeht.«

»Famos! Das interessiert mich. Aber ich werde mich auf Stichproben beschränken; denn das Menschengeschlecht ist reich an langweiligen Wiederholungen.«

»Wie Sie wollen.«

»Aber,« fuhr ich fort, »wenn ich mich recht erinnere, verstehen Sie noch andere Künste.«

»Gewiß!« flüsterte die feine Stimme. »Ich verheirate Grauköpfe mit minderjährigen Mädchen, Herren mit ihren Mägden, arme Mädchen mit schmachtenden Liebhabern, die keinen Heller im Vermögen haben . . .«

»Halt, stop!« rief ich. »Das letztere ist mein Fall. Ich bin gegenwärtig wohl der zur Liebesheirat begabteste Zeitgenosse. Wollen Sie mir behilflich sein?«

»Aber gewiß! Das ist ja mein Geschäft.«

»Nun denn, Asmodi-Cupido, so gebe ich Ihnen hiermit die Freiheit zurück.« Ich riß die Schleife auf – ein feiner knirschender Laut – und zwischen meinen Knien stand le diable boiteux, gänzlich unverändert und noch genau so, wie er dem edlen Don Kleophas Leandro Perez Zambullo erschienen war.

»Erlauben Sie, daß ich Sie zuvörderst unsichtbar und unhörbar mache,« sprach Asmodi, tippte mir leise mit dem Finger auf die Nase und erklärte, ich sei nun für jeden Sterblichen Luft; ein neues Genie könne nicht sicherer darauf rechnen, von den Menschen unbemerkt zu bleiben, als ich. Dann zog er mich mit sich fort.

»Sie werden also,« begann ich von neuem, »diesen Menschen die Schädeldecken abnehmen, wie Sie einst die Dächer von Madrid abgehoben haben?«

Asmodi schlug eine laute Lache auf. »Sie glauben wohl,« rief er, »wir Teufel blieben im I7. Jahrhundert stecken, während ihr gewaltigen Menschlein bald ins 20. hineinschlaft! Komm ich Ihnen so rückständig vor? Seh' ich aus wie ein Eisenbahnminister unter dem Zeichen des Verkehrs? Die Schädeldecken abheben! Entsetzlich! Wozu lebte denn unser Röntgen.«

»›Unser‹ Röntgen!« wiederholte ich. »Sie thun gerade, als ob dieser vortreffliche Mann des Teufels wäre.«

»Alle Erfinder, Entdecker, Forscher und großen Neuerer sind des Teufels, und ihre Werke sind Werke des Teufels: darin spricht die Konkurrenz einmal wahr,« versicherte Asmodi. »Überhaupt sind wir Teufel die Wohlthäter der Menschheit und die thätigen Diener des Herrn, wie Ihnen unser Goethe noch eben von der Bühne herab verkündet hat, während jene augenverdrehenden Herren – na – ich schimpfe nicht gern auf die Konkurrenz – ich halte das nicht für anständig, obwohl jene Herren sich in diesem Punkte keine Beschränkung auferlegen.«

»Ja, ja,« rief ich, »Sie reden wie Ihr Kamerad auf der Bühne und geben sich für eine Kraft aus, die stets das Böse will, doch nur das Gute schafft. Aber ich habe das immer für einen Schwindel gehalten, gemacht, um den armen Faust zu bethören.«

»Auf Wort« – Asmodi blieb stehen, legte mir seine Rechte fest auf den Arm und sah mich mit einem ehrlich resignierten Gesichte an – »auf Wort, mein Verehrtester, es ist so.« Und dann weitergehend: »Sehen Sie, werter Freund, das mußte ja schließlich auch dem dümmsten Teufel klar werden, daß gegen das Licht, gegen das Gute, gegen den ›Herrn‹ da hinter dem Wolkenprospekt der ganze Höllenschlund nicht anjappen kann. Was wirklich gut ist, kann man nicht mal durch Reklame totmachen. Also thaten wir Teufel, was man in solchen Fällen oft thut: wir gaben die fruchtlose Opposition auf und traten in die Dienste der Regierung als agents provocateurs, natürlich im anständigen, nicht im menschlichen Sinne des Wortes. Wir bringen den faulen Menschenbrei in Bewegung, stänkern überall nach Kräften herum, haben unsern Spaß dabei und verschaffen dem ›Herrn‹ das Vergnügen einer Schachpartie. Dem einzelnen Menschen können wir dabei unangenehm genug werden; aber dem verdammten Zeug der Tier- und Menschenbrut, dem ist nun gar nichts anzuhaben. Sie sehen, ich verfalle von selbst in die Goetheschen Worte; man kann's gar nicht besser ausdrücken. Es ist alles so, wie Sie's noch eben von der Bühne her gehört haben. Wir arbeiten im besten Einvernehmen mit dem ›Herrn‹ und erfreuen uns seines entschiedenen Wohlwollens, während er die Herren von der Konkurrenz, die sich auch für seine Agenten ausgeben, geflissentlich ›schneidet‹, wie Sie wohl gleichfalls bemerkt haben. Beiläufig bemerkt, ein verdammt schlauer Kerl, der Goethe; er ragte in unsere Welt hinauf und hat Gewalt über uns wie Byrons Manfred, bloß mit dem Unterschied: der Manfred hat's im Maul und der Goethe im Hirn.«

»Aber wirkt nicht auch die Konkurrenz im Interesse des Lichts?« warf ich ein.

»Im Interesse des dickeren Wachslichts? Freilich. Aber das Licht des Verstandes erklären sie für den Feind der Menschheit. Und wir dürfen nicht aus unserer Welt hinaustreten und die Karten aufdecken, verstehen Sie?«

»Aber wenn ich nun Ihre Enthüllungen den Menschen mitteile!«

»Dann glaubt Ihnen keiner. Das ist ja eben der Spaß, verstehen Sie? Die Menschheit muß sich ganz allmählich selbst herauswuseln. Die Menschen wollen nur durch Schaden klug werden. Deshalb z. B. verheirate ich sie miteinander.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie auch mich aus diesem Grunde verheiraten –«

»In Ihrem Falle liegt die Sache natürlich anders,« versetzte er eilfertig und wandte das Gesicht ab; aber ich müßte mich sehr getäuscht haben, wenn nicht im äußersten rechten Mundwinkel ein Stück eines Lächelns bemerkbar gewesen wäre.

»Aber,« rief Asmodi, »versäumen wir nicht das Spiel: der Vorhang hebt sich wieder.«

Wir traten hinter einen Mann mit ziemlich vierkantigem Schädel und zugeknöpftem Jägerschen Normalbusen. Asmodi brachte unbemerkt seinen Apparat » Non plus ultra« an und sprach in dozierendem Tone:

»Sie blicken hier in das Gehirn eines Freidenkers von der wüsten Sorte, eines Mannes, der alles mit dem Verstande machen will, und zwar mit seinem. Sie bemerken, wie er soeben die Zeile ›und leider auch Theologie‹ versteht. Er glaubt, Goethe schimpfe auf die Theologie überhaupt. Sie werden bemerken, daß er Goethe als Gesinnungsgenossen begrüßt und ihm Anerkennung zollt.«

»Hier das etwas verlederte Gehirn eines Schulpedanten. Sie sehen, er begreift nicht, daß Faust nach soviel Studien nur so klug ist wie zuvor. ›Das Studium wird eben nach Art dieser ›genialen‹ Leute nicht solide und methodisch betrieben worden sein; andere Leute wissen doch was!‹ Sehen Sie gut? Sie müssen jeden Gedanken lesen können!«

»Brillant!« rief ich. »Die Selbstgefühlszellen zappeln vor Vergnügen!«

»Richtig. Feiner Apparat, he?«

»Großartig!«

»Hier das Gehirn eines Geistlichen.« ›Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel‹, klang es von der Bühne. – »Sie werden die Entrüstung bemerken –«

»Ja.«

›Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen.‹ Die Entrüstungszellen beruhigen sich und die Zellen der Genugtuung leuchten in einem satten Glanze. ›Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren.‹ »Ja, ja, das kann freilich niemand, der freventlich den Mutterschoß der Kirche verlassen hat!« ›Es möchte kein Hund so länger leben!‹ »Nun ja, das ist immer das Ende dieser Verlorenen! Jammer und Verzweiflung!« – »Sehen Sie, wie die Behaglichkeitszellen glänzen?«

»Wie lauter Öl!« rief ich.

»Richtig. Gehen wir weiter! – Hier ein gebildeter und zufriedener Bankdirektor. ›Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält –‹ »Ja, so viel muß der Mensch eben nicht verlangen! Überspanntes Streben! Ist nun doch mal nichts für Menschen!« – »Haben Sie's gelesen?«

»Ja, aber jetzt wird alles trübe und dickflüssig – milchig –«

»Ja, das liegt nicht am Apparat, das ist allgemeine Zufriedenheit –«

»Halt, jetzt seh ich wieder was –«

»Aha!«

»18759 Mk. 75 Pfg . . . . . Bremer Staatsanleihe von 1859, 106 bezahlt . . . .«

»Na ja. Ein anderes Bild! Das Gehirn einer Schwärmerin für Blüten und Perlen der deutschen Poesie. ›O sähst du, voller Mondenschein, zum letztenmal auf meine Pein –‹

»Hurrrrjeh!!« rief ich unwillkürlich. »Alle Gefühlszellen wuseln durcheinander – ich sehe nichts als Nebel – nichts deutlich –«

»Richtig,« bemerkte Asmodi mit sachkundiger Trockenheit. »Sie liebt Goethe im allgemeinen nicht, ›er ist so kalt‹; aber diese Stelle findet sie himmlisch. Sie werden keine eigentliche Vorstellung bemerken –«

»Keine.«

»Nein. Sie ist auch so entzückt. Go on! Ein Student. ›Von allem Wissensqualm entladen, in deinem Tau gesund mich baden.‹ Sie werden über dieses ganze Hirn eine ungeheure Heiterkeit verbreitet finden. Wie Sie sehen, freut er sich, daß er die Wertlosigkeit der verfluchten Büffelei von Anfang an durchschaut hat; Sie würden dieses Hirn jedesmal besonders aufleuchten sehen, wenn Faust auf die Wissenschaft schilt. Sehen Sie gut?«

»Es geht.«

»Ja, das ganze Bild ist etwas getrübt durch Bier. Wie Sie bemerken werden, hält er das für Wissensqualm.«

»Ja!« rief ich lachend.

»Ein gar nicht seltener Fall von Selbsttäuschung. Sie werden aber ganz deutlich die Spuren vom Kindl, Zacherl, Hofbräu &c. unterscheiden können –«

»Vollkommen,« rief ich.

»Hier ein Leutnant,« erklärte Asmodi. Die Gehirnmoleküle schwangen ruckweise und sprunghaft. »Schlapper Herr, dieser jelehrte Mann. Ollen Faust endlich mal ruh'n lassen! Neulich Stück mit altem Dessauer drin. Sehr nett.« ›Und fragst du noch, warum dein Herz sich bang in deinem Busen klemmt?‹ Und sieh da – auch die Moleküle des Leutnants schwangen bang und beklommen; die ganze Gehirnthätigkeit erschien wirklich deprimiert, und ich las: Mr. Blackburne erkrankt. Kann meine Schimmelstute ›Blitz‹ beim Horner Rennen nicht reiten. – Äh! Schleimiges Pech!‹ Dann tauchte eine üppig ausgeschnittene Frauenschönheit auf, und als ich mich aufrichtete, um zu sehen, ob die Direktion hier etwa ein Ballet eingeschoben hätte, bemerkte ich, daß der Leutnant sein Opernglas auf eine nahegelegene Loge gerichtet hatte.

»Hier etwas ganz Apartes,« fuhr Asmodi fort. »Sie sehen hier –«

»Bst!« machte ich gebieterisch.

Ich sah Musik, Musik, wie ich sie nie gehört, wie sie nie geschrieben worden, vielleicht nie geschrieben werden konnte, wunderbare Musik, in der verschwiegenste Geheimnisse laut wurden, Musik, aus dem innersten Grunde der Welt geholt. Das Hirn dieses Mannes war ganz von himmelsklarem Lichte durchleuchtet, und die Teilchen dieses Hirnes schwangen in immer seligeren, immer berauschteren Kreisen, und immer mehr Zellen zerteilten sich und gebaren neue Zellen. Und ich sah, daß dieser Mann sich am Ufer des Meeres wähnte, und hinter ihm ragten ewige Felsen auf, und über ihm spannte sich allesumarmender Himmel. Und er hörte ein flüsterndes, murmelndes Raunen vom Meere kommen, fast schon ein Sprechen war es; immer war es ihm, als müßte er nun gleich Worte vernehmen, so drängend deutlich war es, und ward doch kein Sprechen. Und das Raunen zog durch seinen Leib mit bebenden, seligen Schauern und stieg durch den Felsen hinauf und lief wie fernster Donner durch den Himmel und kam wieder übers Meer gegangen und kehrte freundlich zurück in seinen Leib und zog durch sein Herz wie ein ewiger Lebensstrom. Und ein verzücktes Heimgefühl quoll in ihm, bis in die letzten Äderchen hinein. Er hatte sich heimgefunden; Meer und Erde und Himmel und er selbst redeten nun endlich dieselbe Sprache. Und immer sah und hörte ich die Musik, diese Musik, die immer kühner emporstieg, sich immer wieder übergipfelnd und dann wieder langsam zurückkehrend in eine große, allmächtig befriedende, heimatliche Ruhe. Und zu einem Orchesteraufschwung, der blitzschnell meinen ganzen Leib durchfuhr mit rieselnder Glut, jauchzte menschlicher Gesang auf:

»Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Dir ird'sche Brust im Morgenrot!«

»Ein Dichter und Sänger des Makrokosmos,« erklärte Asmodi. »Wie Sie sehen, ist er mitten im Produzieren. Goethe hat ihn gereizt.«

»Herrlich!« rief ich. »Haben Sie mehr von der Sorte?«

»Nee!« lachte der Hinkende. »Die sind dies Jahr selten. Aber hier etwas Possierliches, wenn's Ihnen Spaß macht. Ein elfjähriger Junge. Ein helles, lebendiges Kerlchen, wie Sie sehen; ein Hirn, das den ›Faust‹ mal sehr gut verarbeiten wird. Aber die Makrokosmosgeschichte und diverses Andere ist ihm natürlich schleierhaft. Sehen Sie die Schleier?«

»Natürlich.«

»Wie alles sich zum Ganzen webt!
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!«

»Merken Sie wohl? Er begreift nicht, was der Faust immer zu gucken hat, wo doch nichts zu sehen ist. Er möchte so gern mal die goldenen Eimer sehen, hihihihi! Wird ihm wohl nicht glücken.«

»Na, vielleicht später mal!« meinte ich.

»Dieser Gelehrte wird Sie noch interessieren,« sprach Asmodi. Ich blickte hinein und war höchlichst überrascht. »Er denkt an das japanische Maskenschwein!« rief ich.

»Ja,« antwortete Asmodi. »infolge einer ganz natürlichen Ideenassociation. Faust sprach erst soeben die Worte:

»Du Geist der Erde bist mir näher;
Schon fühl ich meine Kräfte höher . . .«

Sie werden die Spur der Ideenkette noch verfolgen können; die zuerst berührten Zellen müssen noch schwach phosphoreszieren. Die Worte Fausts brachten ihn darauf, daß der Menschengeist immer von kosmischen Versuchen zur Erde, zum Realen, zum Materiellen zurückkehren muß, um neue Kraft zu gewinnen. Ganz flüchtig fiel ihm dann Antäos und Herakles ein, sehen Sie hier! Dann dachte er an seine augenblickliche Forschung und daß er nach langer Mühe gefunden habe, wie die deutsche Schweinezucht durch das japanische Maskenschwein wirksam zu heben sei. Sie sehen, diese Vorstellung vom Schwein war von einem sicheren, fröhlichen Kraftgefühl begleitet. Dann dachte er an die Stelle im zweiten Teil – denn er ist zugleich ein guter »Faust«-Kenner –:

›Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,‹

und jetzt ist er schon längst wieder bei dem monologisierenden Faust, von dessen Worten ihm nicht eines entgangen ist, wie Sie wohl an dieser zweiten Spurenreihe sehen. Der Ablauf der ganzen Kette dauerte genau eine Zeile lang.«

»Ja!« rief ich aufs höchste interessiert. »Und das wunderbarste ist: das ganze Gehirn ist in schönster Stimmung und ist gar nicht herausgekommen. Alle scheinbaren Gegensätze von einer großen Weltanschauung nmfaßt! Ein starker und harmonischer Geist!«

»Hier ein kleiner Diplomat,« fuhr Asmodi fort.

»Er betrachtet sich das Publikum mit großem Wohlwollen,« bemerkte ich. »Das glückliche Völkchen, denkt er, braucht sich nicht um höhere Dinge zu sorgen wie unsereins. Er seufzt und befindet sich sehr wohl. Er ist sich bewußt, daß er für das Wohl all dieser Leute zu sorgen habe. Er findet, daß das Theater doch immer noch die beste Beschäftigung für die Masse ist und sie am wirksamsten von lächerlichen politischen Ambitionen fernhält. »Eine Fanny Elßler oder eine Maria Taglioni wäre ein wahrer Segen heutzutage!« seufzt er.

So durchwanderte ich unter Asmodis Führung noch einen großen Teil des Auditoriums, bald beobachtend, bald dem summarischen Vortrage des Hinkenden lauschend. wenn sich Wiederholungen mit geringfügigen Abweichungen boten, z. B. noch ein Gymnasialprofessor, der Goethes Sprachfreiheiten regelmäßig mit halblauter Stimme korrigierte, ein Schnittwarenhändler, der überlegte, auf welche Weise er den großen Rest eines aus der Mode gekommenen Stoffes loswerden könne, ein Seemannsschüler, der seiner Begleiterin während der Erscheinung des Erdgeistes heimlich die Hand kniff, was man schon ohne Apparat sehr gut beobachten konnte u. s. w. u. s. w.

Da – Faustens zweiter Monolog näherte sich dem Ende – da, als wir in eine Loge des dritten Ranges traten, durchfuhr mich ein lieblicher Schreck, ach ein köstlicher Schreck! Da saß vorgebeugt, in gespannter Haltung, die Lippen ein wenig geöffnet, sie, meine Syringe!

»Asmodi!« rief ich mit unterdrückter Stimme, obwohl uns ja niemand hören konnte, »Asmodi, das ist sie ja!«

»Wahrhaftig,« rief der Schalk mit spöttischem Erstaunen, »sie ist es! Nun, so beeilen Sie sich; es ist gerade eine günstige Gelegenheit.«

Ich schaute hinein in dieses schöne, ovale Köpfchen und hatte bald alles um mich her vergessen. Sie horchte fromm auf die herrlichen Worte und bewegte sie ernst in ihrer Seele. Da – ei sieh – als Faust die Phiole ergreift – denkt sie an ihr Riechfläschchen, an mich und daß ich es ihr entwendet habe! Schau einer dies Mädel an. Sie wußte es und sagte nichts. Ich zitterte vor Freuden so sehr, daß ich ihr Haar berührte; ich erschrak heftig; sie wandte sich flüchtig um, schien dann aber die Berührung für eine Täuschung zu halten. Ich schaute wieder hinein: alles da drinnen war in einer köstlichen, leise fiebernden Erregung; sie strengte sich an, nur auf die Worte des Schauspielers zu hören; aber jetzt – ha! – jetzt hörte sie meine Stimme dazwischen – Gott, wie das wohlthut! Wie weich das unsere Eitelkeit streichelt! – Jetzt sah sie das edel durchgeistigte Gesicht des lebensmüden Gelehrten und jetzt sah sie meine verwegene Hurrahnase – ach ja, wenn ihr die nicht gefällt – aber sie geht mit Freundlichkeit darüber hinweg – sie findet sie sogar ganz nett! – ach, Gott sei Dank: sie ist blind vor Liebe –

Asmodi wippte ungeduldig mit den Füßen: die Sache dauerte ihm zu lange; aber was ging das mich an!

Ah – da fielen himmelher und rein die Ostergesänge herein mit ernstem, großem Orgelton! Wie herrlich und rein das da drinnen wiederhallte; wie die ganze Seele zu klingen begann und auch nirgends ein verstocktes und verhocktes Eckchen war, das nicht andächtig miterbebte!

»Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst drängt sich der Himmelsliebe Kuß –«

Huiiiii – was war das! Bei dem Worte »Kuß« wirbelte alles dadrinnen durcheinander wie Milliarden von Sternen in einem rosigen Dunkel! Überrascht blickte ich auf: sie schüttelte heftig ihr Köpfchen, wie erzürnt über sich selbst, war purpurrot und starrte krampfhaft auf die Bühne.

»Nun –?« fragte Asmodi ungeduldig.

»Es wirbelt alles durcheinander,« rief ich, »ich erkenne absolut nichts mehr.«

»Ja, das versteh ich auch nicht,« erklärte er. »Was in einem verliebten Kopfe beim Gedanken an den ersten Kuß vorgeht, das weiß kein Teufel.«

Mit diesen Worten nahm er den Apparat an sich und erklärte, keine Zeit mehr zu haben. Ich fragte ihn, ob ich auch zukünftig den Apparat einmal würde haben können. Er verneinte. Auf die Dauer sei er nicht zuträglich, namentlich nicht für Liebende. »Sie dürften jetzt auch genug wissen, um den Mut zu einer Erklärung zu finden,« meinte er ironisch. Das mußte ich ja zugeben. Er ergriff meine Hand zum Abschied; ich wollte eben noch sagen: »Wenn Sie mal wieder im Buttel sitzen –,« als ich von einem leichten Schwindel ergriffen wurde. Er dauerte höchstens eine Sekunde; aber als ich wieder klar zu sehen vermochte, saß ich in meiner Loge wie zu Anfang der Vorstellung. Ich suchte mit meinem Glas ihre Loge – richtig, da saß sie. – – – – – – – – – – – – – –

Gott, was hat der Goethe den Faust lang gemacht! Warum streicht denn dieser Regisseur oder Dramaturg nicht mehr!? – – –

Ich kann ihr doch auch nicht oben in der Loge mein Herz ausschütten; überhaupt – sie so brutal überfallen mit einer Liebeserklärung – sie könnte Mißachtung darin sehen und sich gekränkt fühlen. Sie weiß nicht, daß ich in ihr Köpfchen geschaut habe –und – – wenn überhaupt alles Blendwerk wäre? Zwar bin ich sicher mit Asmodi umhergegangen und habe gewiß in allerlei Köpfe geschaut; aber wer bürgt mir dafür, daß er mich nicht in puncto puncti beschwindelt hat? Ich will es ihr schonend beibringen . . .

Im Vestibül trafen wir uns. Als sie mich sah, wurde sie blaß, und dann wurde sie rot, weil sie blaß geworden war, womit man bekanntlich nichts bessert. Ich bot ihr meine Begleitung an; sie willigte ein, bemerkte aber, daß sie nur etwa fünfzig Schritt vom Theater entfernt wohne.

»Wie scheußlich!« rief ich. »Warum wohnen Sie nicht in Cuxhaven?«

Sie lachte; wir sprachen begeistert über die Ellmenreich als Gretchen; sie war besonders ergriffen von einem großen, genialen Moment in der Wahnsinnsscene, das auch mich trotz meiner Zerstreutheit mächtig gepackt hatte, und dann standen wir unter der Laterne vor ihrem Hause.

»Sie haben sich schwarz gemacht!« sagte sie lächelnd.

»Wo?«

»Auf der Nase.«

Ich versuchte vergeblich, die Spur von Asmodis Finger zu verwischen.

»Warten Sie!« rief sie eifrig, zog ihr Taschentuch hervor und wischte an meiner Nase herum – Syringen!

»So!« rief sie, »jetzt ist's fort!« Das heißt: »fort« sagte sie nicht mehr; ich hatte erst das Tuch, dann die Hand, dann ihren Arm, dann sie selbst ergriffen und sie hierauf geküßt; aber alles viel schneller, als ein gewöhnlicher Mensch sich das vorstellen kann.

Sie sagte gar nichts, aber als wir nach vielen Küssen endlich Worte fanden, duzten wir uns.


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