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Ein Ausflug mit Appelschnut und anderem Kleinzeug

Bild: Richard Scholz

Ein Mann, der gestern mittag in mein Haus getreten wäre, würde vielleicht den Eindruck einer schauerlichen Familientragödie empfangen haben; er würde geglaubt haben, der Erstickung und Zerfleischung eines Vaters durch seine Kinder beizuwohnen. Es handelte sich indessen nur um den etwas lebhaften Ausdruck der Freude, die diese Kinder darüber empfanden, daß der halberstickte Vater ihnen einen Ausflug nach Blankenese versprochen hatte. Es war nämlich ein halber Festtag: Erasmus war der Mannheit um einen gewaltigen Schritt nähergerückt; er war von Untertertia nach Obertertia versetzt worden. Er hatte sich schon am Morgen von seiner Mutter Geld geben lassen, damit er sich unmittelbar nach Schluß der Schule eine Obertertianer-Mütze kaufen könne. Meine Frau sah ein, daß man einem Obertertianer nicht zumuten könne, mit einer Untertertianer-Mütze nach Hause zu gehen. Er ist ein höflicher Bursche; aber in diesen Tagen geht er zeitweilig auch im Hause bedeckten Hauptes einher. Auch gibt sein Organ schon hin und wieder versehentlich tiefe Töne von sich, und auf der linken Hälfte der Oberlippe treten bei günstiger Beleuchtung zwei Härchen hervor, ein kürzeres und ein schon ziemlich langes. O pudelnärrische, gottselige Zeit, da die Vernunft noch zwischen Sopran und Baß hin- und herzappelt und die Seele sich im Körper hin- und wiederwälzt wie ein junger Neufundländer! Als ich die vier Blutegel der Dankbarkeit endlich von mir abgeschüttelt hatte, kam auch er, der sich männlich zurückgehalten hatte, schüttelte mir die Hand wie einem alten Freunde (der ich auch bin) und gab mir einen Kuß. Gottlob, er hält es noch nicht für kindisch, seine Eltern zu küssen! Nur vor kurzem einmal, als er von einer Tertianerkonferenz heimgekommen war, küßte er meine Frau und mich zur guten Nacht in auffallend oberflächlicher Weise; seine Lippen streiften die unsern nur wie ein Hauch – effleurer nennt es der Franzose – und dann war er verschwunden. Und meine Frau und ich waren übereinstimmend der Meinung, unter unseren Nasen so etwas wie den Duft einer Zigarette gespürt zu haben.

Bild: Richard Scholz

So unverkennbar nun der Tabak etwas spezifisch Männliches hat, so unzweifelhaft geschehen doch hin und wieder Dinge, die an der Mannheit des bald Fünfzehnjährigen irremachen. So zum Beispiel als ein Lehrer seines Gymnasiums gestorben war und die größeren Schüler der Anstalt mit umflorten Mützen an der Beerdigung teilzunehmen hatten. Es soll nicht behauptet werden, daß ihm die umflorte Mütze so viel wert war wie der gestorbene Lehrer, beileibe nicht; aber das steht außer allem Zweifel, daß das Gefühl, mit solch einem interessanten Attribut durch die Straßen gehen zu dürfen, die Trauer ganz außerordentlich milderte, ja, sie in unbewachten Augenblicken vielleicht in ein sanftes Vergnügen umwandelte. »Trauer wird durch Trauer zum Genuß,« sagt Goethe, wenn er damit auch etwas anderes meint. In einem gewissen Alter kann ein neues schwarzes Kleidchen den Verlust einer Mutter vergessen machen.

Und ebenso vibrierte die Männlichkeit des Erasmus in bemerkbarer Weise, als er einen Choral auswendig lernen sollte und sich zu Weihnachten eine Kreeke, das ist einen kleinen Schlitten ohne Handhaben gewünscht hatte. Er ging im Zimmer auf und ab und memorierte mit lautem Sopran:

»Aus tiefer Not schrei ich zu dir«

und fragte seine Mutter, ob er die Kreeke wohl bekommen werde, sie sei nur billig, und dann rief er mit Baßtönen:

»Nur deine Gnad' vermag allein
Die Sünde zu vergeben«

und versicherte seiner Mutter, mit solch einer Kreeke könne man den Abhang an der großen Wiese ganz famos hinuntersausen. Das klarste Bild von dieser Mannesseele erhält man vielleicht, wenn ich mitteile, wonach er begehrte, als er sagen sollte, welche Näschereien er sich zum Geburtstag wünsche. Er wünschte sich Puderzucker, Mandeln, Rosinen, grünen Kräuterkäse und Salzgurken. Ein Charakteristikum dieses Alters ist es auch, daß einem solche Dinge nicht nur nacheinander, sondern auch neben- und durcheinander schmecken.

Und dann – ach ja – wenn ich ihm vor solchen Ausflügen und ähnlichen Freuden sage: Erst muß noch ein Stück Grammatik oder Mathematik oder Welthistorie, ein Stück Cäsar oder Daudet oder Marryat bewältigt werden, dann, ja dann überzieht sich sein Auge noch mit einem feuchten Schimmer! Aber ich kann's nicht ändern – auch mein Herz, wenn ich dergleichen verlange, überzieht sich mit einem Nebel – aber ich kann es nicht ändern, daß die Götter vor Rosinen und Kräuterkäse den Schweiß gesetzt haben, und daß die Traube erst süß wird durch den Frost. Und wenn mein Weib oder ich dann mit ihm an die Arbeit gehen, dann hat er nach einer Minute alle Rosinen und Salzgurken vergessen, dann sitzt er mitten in den Dingen, einerlei, ob wir von Sesostris oder von Leydener Flaschen oder vom Schnabeltier oder von der Teppichweberei oder von den Absichten der Engländer in Tibet reden, und dann hab' ich das Gefühl, daß doch ein Mann in ihm steckt, daß schon damals einer in ihm steckte, als er früh morgens um fünf mit nackten Beinchen zwischen Rouleau und Fenster stand und die Kaubewegung der Rinder studierte.

Die vier Vatermörder aus Freude haben sich endlich einigermaßen beruhigt und zeigen, obwohl Kinder eines Hauses, ihre Lust auf die verschiedenste Weise. Gertrud, die Älteste und nach ihrer Meinung Vernünftigste, kann vor Wonnebeben ihre Schuhe nicht zuknöpfen und vergießt im Vorübergehen ein halbes Dutzend Tränen, weil um 2 Uhr ihre Handschuhe noch nicht schließen wollen, da doch um 3 Uhr schon aufgebrochen werden soll!

Irene, die scheinbar so Ruhige, scheinbar so Phlegmatische, die gelegentlich Krallen des Temperaments hervorstreckt, hat sich in einen Schaukelstuhl ergossen und schnurrt und spinnt auf dem Untergrunde des Himmels behagliche Träume vom Kommenden. Sie geht ihre stillen Wege für sich; darum, als sie noch kleiner war und meine Frau den Kindern vorgesungen hatte »Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh'n«, fragte sie unmittelbar nach dem letzten Tone: »Mut – ter, kann man auch zweimal die Ma – sern kriegen?« Dafür denkt sie ein anderes Mal, wenn die andern von Masern reden, an das Land, wo die Zitronen blüh'n. Meine Frau behauptet boshaft, das habe sie von mir.

Hertha, die Handfeste, kehrt in Zwischenräumen von 5 Minuten immer wieder zu mir zurück, um mir in zärtlichster Dankbarkeit den Brustkorb zusammenzudrücken; Erasmus hat sich den Tell geholt und schwört als Vierunddreißigster auf dem Rütli mit – wehe dem Landenberger, wenn er's mit Obertertianern zu tun hätte! – Appelschnut aber, obwohl sie bald das gesetzte Alter von 6 Jahren erreicht haben wird, hat für ihre Lust noch nicht die hinreichende körperliche Auslösung gefunden; sie liegt noch auf dem Teppich, stößt alle vier Gliedmaßen abwechselnd oder gleichzeitig in die Luft und ruft: »Gott, ich freu' mich zu doll! Ich freu' mich zu doll!« und als meine Frau eintritt, ruft sie: »Mutter, Vater is doch zu süß, daß er mit uns ausgehen will, nich?«

»Ja, das glaub' ich«, sagt meine Frau, »solchen Vater möcht' ich auch haben.«

Das geht Appelschnut ans Herz; sie läßt alle vier Gliedmaßen fallen, starrt nachdenklich die Zimmerdecke an und sagt dann beschwichtigenden Tones:

»Na, du hast ihn ja als Mann, das is auch ganz nett.«

Wie sie denn überhaupt von unserer Ehe eine schmeichelhafte Vorstellung haben muß, was daraus hervorgeht, daß sie die ihrige genau nach demselben Schema einzurichten gedenkt.

Bild: Richard Scholz

»Nächstes Jahr bin ich doch groß, nich? Un wenn ich denn groß bin, denn geh ich los un nehm' mir 'n Mann. Un das muß auch 'n Dichter sein, un denn muß er auch immer solchen Spaß machen wie Vater. Das mag ich zu gern leiden, wenn Vater un Mutter sich so aus Spaß zanken.«

Als sie das gesagt hatte, blickte sie eine Weile tiefsinnig vor sich hin und sprach dann mit tiefem Ernste: »Latürlich muß es nich übertrieben werden.«

Seit halb drei hält sich Gertrud in der Nähe der Haustür. In vierzig Minuten fährt unser Zug, und bis zum Bahnhof sind's 5 Minuten. »Wenn wir bloß den Zug nicht versäumen«, raunt sie ihrer Schwester zu. Sie hat schon dreimal probeweise den neuen Sonnenschirm aufgespannt. Er funktioniert.

Ich werfe einen Blick zum Fenster hinaus und sage: »Wenn's nur keinen Regen gibt!«

Einen Augenblick starres Schweigen – und dann ein Sturm der Entrüstung.

»Aber Vaaater!! Heute gibt es doch keinen Regen?? Die Sonne scheint ja!!«

»Ja, aber sie scheint verdächtig. Sieh mal da die Wolken.«

»Och, die paar!« ruft Hertha. »Die gehen gleich wieder weg.« In der Wetterkunde forsch wie in allem.

»Va–ter, wie kannst du bloß so was sa–gen!« schnurrt Irene.

Ja, wie konnt' ich nur. Ich begreife meinen Frevelmut selber nicht. Alles kann ja verregnen: Hochzeiten, Säkularfeste, Jahrtausendfeiern, Entscheidungsschlachten können verregnen. Muspell, der Weltbrand kann verregnen; aber der heutige Ausflug? O nein, so grausam ist kein Gott, und wenn's ein alter phönizischer wäre.

Man muß bedenken: es handelt sich ja nicht nur um den Ausflug! Da stehen noch andere Dinge auf dem Spiel. Eine Obertertianermütze, mit der man nicht heute paradieren kann, hat ihren Beruf verfehlt; ein neuer Sonnenschirm, den man nicht heute spazieren führen kann, hat seinen Duft, seinen Schmelz verloren; ein halblanges Kleid, wie es Irene vor drei Tagen bekommen, hat, wenn es nicht heute gezeigt wird, eigentlich überhaupt keinen Sinn, und was ist Herthas Spitzenkragen, wenn man ihn nicht heute noch nach Blankenese trägt? Bei Appelschnut fallen nun gar zwei Gründe ins Gewicht: erstens ihr »schärpenes Kleid« (das ist ein Kleid mit einer Schärpe) und zweitens Männe, der Dackel, der zum erstenmal mit ihr spazieren soll. Also ist jeder Regen ausgeschlossen.

Inzwischen ist, zu Gertruds tiefster Beruhigung, auch die Mutter mit ihrer Toilette fertig geworden.

»Mutter ist doch wirklich eine schöne Frau!« ruft Hertha mit einer vehementen Umarmung, durch die sie der Bewunderten sämtliche Spitzen, Rüschen, Falbeln und sonstigen Ornamente zerdrückt.

Erasmus aber spricht mit verweisendem Tone: »Das bedarf doch gar nicht erst der Erwähnung.«

Bild: Richard Scholz

Gegen zwei Damen des Hauses ist er ritterlich, gegen seine Mutter und gegen seine jüngste Schwester. Mit den andern läßt er sich zuweilen zu Rempeleien herbei, die man geradezu untertertianerhaft nennen muß; aber seiner Mutter gegenüber ist er Kavalier; wenn ich nicht dabei bin, zahlt er sogar für sie aus ihrem Portemonnaie – und von Appelschnut läßt er sich alles gefallen. Eines Tages sah ich, wie sie mit beiden Beinen auf seinem Leibe kniete und ihm das Rohr einer enormen Gartengießkanne in den Mund steckte.

»Was macht ihr denn da?« fragte ich.

»Ach«, rief sie, »er hat'n hohlen Zahn, un nu gieß ich ihm Aswald hinein.« Sie hat nämlich gesehen, daß die Ritzen des Straßenpflasters mit Asphalt ausgegossen werden.

Eine Bewegung des Aufbruches geht durch die Massen – Gertrud legt die Hand auf die Klinke – nur hat sich bei Roswitha-Appelschnut eine Schleife gelöst, Hertha hat – natürlich – ihr Taschentuch verlegt, Gertrud entdeckt, daß sie ihre Eisenbahnkarte vergessen hat und muß die Klinke fahren lassen usw. usw.

Mittlerweile verbreitet sich ein magisches, seltsam gedämpftes Licht durchs Zimmer. Und es wird immer magischer und immer weniger Licht und immer mehr Dämpfung. Jetzt kann man es schon sozusagen dunkel nennen.

Na –?

Na – – –???

»Tip – terip – terip« – da schlägt es gegen die Scheiben. Es regnet.

Es wagt zu regnen!

Es entblödet sich nicht!

Meine gesunden Kinder haben lauter blasse Gesichter.

Dann wird zunächst die Tatsache geleugnet.

»Es regnet überhaupt gar nicht! Das waren nur so'n paar Tropfen!«

Die Antwort kommt von draußen.

»Rrrrrrr!« geht es gegen die Scheiben wie auf einer Trommel.

Bild: Richard Scholz

Sie sind schon halb überzeugt, daß es regnet.

Grenzenlose Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. So eine Falschheit.

»Vater, Vater!« schreit Appelschnut, »das Barmometer steigt!«

»Wer sagt, daß das ›Barmometer‹ steigt?«

»Rasmus!«

»Ja, Vater,« versichert mein junger Gelehrter, »gestern abend stand es hier und jetzt steht es da.«

Wenn hier nicht jene Täuschung vorliegt, auf der ein großer Teil des menschlichen Denkens beruht, dann ist das Barometer in der Tat um ein Stück gestiegen, das man vielleicht als Zehntel eines Millimeters bezeichnen könnte.

Und außerdem geniert das den Regen draußen durchaus nicht.

»Das ist überhaupt nur ein Gewitterschauer,« stellt Erasmus fest.

Da hat er recht; es wird sogar immer schauriger.

Da nun die Tatsache, daß es regnet, ziemlich feststeht, verlegen sie sich auf eine andere Taktik.

»Mutter, wir können ja Regenschirme mitnehmen,« meint Irene.

Wer da weiß, daß fünf Kinder nur mit größter Abneigung einen Regenschirm mitnehmen, und daß sie den im letzten Augenblick auch noch mit Vorliebe »vergessen«, der wird die Größe dieses Zugeständnisses würdigen.

Aber die Mutter schüttelt den Kopf. »Kinder, wie kann man bei solchem Wetter gehen!«

Bleierne Stille.

»Mutter, wir ziehen auch Regenmäntel an,« beteuert Gertrud.

Wer da weiß, daß Kinder bei 10 Grad Kälte, wenn sich im Laufe des Tages ein einziger Sonnenstrahl gezeigt hat, versichern, man schwitze sich tot, wenn man einen Mantel anziehe, der muß zugeben, daß Regenmäntel das Äußerste an Konzession bedeuten.

Die Mutter blickt lächelnd ihre Älteste an und sagt nur »Gertrud!«

Ich werde ja schon schwach; aber die Frauen sind darin anders. Im allgemeinen sind sie ja weicher als wir, und besonders die meinige hat ein weicheres und besseres Herz als ich; aber bei Wolkenbrüchen und neuen Kleidern sind sie härter, auch meine.

Jetzt hat Hertha einen rettenden Gedanken. »Regen ist überhaupt gesund,« erklärt sie, »da wird man ordentlich aufgefrischt.«

Sie hat's nötig. Ihre Augen funkeln wie zwei Roßkastanien.

Aber auch der hygienische Gesichtspunkt versagt.

»Es klart schon auf,« behauptet Erasmus.

Da er länger ist als ich und folglich einen weiteren Horizont hat, so ist nicht ausgeschlossen, daß sich irgendwo am Himmelsrande ein blaues Fleckchen findet, das mir entgeht. Ich kann ihm wenigstens nicht das Gegenteil beweisen.

Bild: Richard Scholz

Sie machen es mit allen Freuden, ja, mit dem Leben selbst wie mit den Früchten. Für Kinder gibt es eigentlich keine unreifen Früchte. Den grünsten Apfel kneifen und begucken sie so lange, bis sie ihn für reif halten, und dann beißen sie hinein. Wir hatten als Knaben sogar einen Übergangsbegriff gebildet; eine Pflaume, die sich durch angestrengtes Drücken bis zu einem gewissen Grade erweichen ließ, nannten wir »drückreif«. Weil sie so viel Zeit haben, können die Kinder nicht warten; der Greis, dem nur noch wenig Zeit geblieben, wartet gern.

Der heutige Ausflug ist nun einmal »drückreif«, und sie drücken emsig, das muß man ihnen lassen.

Und mit einemmal erhebt sich ein Aufruhr. »Es läßt nach!« – »Es hört auf!« – »Es regnet nicht mehr!« – »Es wird klar!« – »Es wird hell!« – »Das schönste Wetter!«

Ich öffne die Tür zum Altan und trete hinaus. Der Regen macht in der Tat eine Atempause; es ist auch etwas heller geworden.

»O Vater, nun laß uns gehen!«

Als Schwächling, der ich bin, zucke ich die Achseln. »Fragt Mutter.«

»O Mutter, man zuuu!«

»Kinder, es regnet ja gleich wieder. Seht nur die Wolken!«

»Ach Mutter, das sind keine Regenwolken.«

»Vater, man zuuu!«

»Vater hat schon so'n bißchen gelacht; denn sagt er bald ja,« erklärt Appelschnut.

Und in der Tat: in mir erwacht der Demagog, der um die Gunst der Masse buhlt.

»Meinetwegen,« sag' ich, »wenn's Mutter recht ist.«

Ich erfahre von neuem, daß die Gunst des Volkes unter Umständen mit Lebensgefahr verknüpft ist.

»Mutter, man zuuu!«

Und meine Frau spricht ein arithmetisches Wort, das sich auf die Sommerkleider bezieht.

»Mutter, wir nehmen uns ja so in acht!« Die Bande gibt die frivolsten Versprechungen.

»Ach was,« sag' ich, »man los! Aber 20 Regenmäntel und 40 Schirme nehmt ihr mir mit.«

»Ja, ja, Hurra, ja, Hurra, ja!« Sie sind schon draußen.

Ich kann's ja nämlich selber nicht erwarten.

»Du bist ein leichtsinniger Mensch!« sagt meine Frau, und sie weiß, daß sie mir damit etwas ganz, ganz Altes sagt. – – –

Als wir hinaustreten, scheint sogar die Sonne, und die Wege sind leidlich trocken. Gleichwohl nimmt Appelschnut energisch ihr Kleidchen auf, das ihr bis an die Knie reicht. Erstens, weil es die Mutter auch tut, und zweitens hat sie versprochen, sich »in acht zu nehmen«.

Wir betreten den Bahnsteig.

»Pappi, weiß du was?« flüstert Appelschnut mir ins Ohr, »laß uns'n Buffet nehmen (sie meint ein Coupé), was noch ganz leer is, da kann man tüchtig Ulk machen!«

Für den Ulk ist sie nun einmal sehr.

Bild: Richard Scholz

»Hertha!« rief sie am letzten Sonnabend, als sie aus dem Badezimmer kam, »laß dich bloß heute von Mutter baden; sie is heute zu ulkig, du lachs dich tot!«

Und dieselbe Leidenschaft hat sie für das Traurige, ist das nicht seltsam? Nein, es ist gar nicht seltsam; denn wer ein Kind ist, saugt das Leben durch alle Poren ein.

Im »Buffet« muß sie natürlich am Fenster sitzen, sie und Hertha, damit sie schauen können. Es hat mich tief ergriffen, als ich einmal von einem Kinde hörte, das am Tode lag, das seltsamerweise sein Schicksal kannte und das die Worte sprach: »Wie schade, daß ich sterben muß! Na – ich habe ja alles gesehen.«

Sehen – sehen! Das ist die große Leidenschaft der Kinderseele.

»Mutter!« ruft Appelschnut plötzlich, »Kramers haben doch 'n Boden, nich?«

»Ja, ich weiß nicht,« sagt meine Frau, »aber sie werden ja wohl.«

»Ja, sie haben 'n Boden, un wenn man da aus'm Fenster guckt, denn kann man die ganze Welt sehen!«

Und dabei reißt sie die Augen auf, als wenn die ganze Welt hineinsollte. Und als sie wieder eine Weile hinausgelugt hat, fährt sie fort – und in ihren Augen glänzt das Märchen der Ferne –:

»Weiß du was, Mutter? Lottis Vater is verreist, gans weit weg, ich glaub, noch weiter als Malaga« (Malaga bedeutet für sie gewissermaßen die Säulen des Herkules) »ich glaub, es heißt Helgoland oder so.«

Am Ziele der Fahrt gibt es einen neuen Hochgenuß. »Vater, bitte, laß mich selbs mein Bullet abgeben, bitte, Vater, man zu!«

Erinnert ihr euch noch aus eurer Kinderzeit, wie das Leben voller Freuden war? Man brauchte nur etwas, was sonst die Erwachsenen für einen taten, selbst zu tun – und die Erde war ein Sonnenland. Selber handeln, selber wirken – darin fühlt das Kind sich zum Menschen, zum Gotte wachsen. Was ist ein Streichholz, das Roswitha selbst entzünden darf! Eine neue Entdeckung des Feuers, eine Schöpfertat! In unserm neuen Hause, wo wir zum erstenmal elektrisches Licht hatten, durfte ich in den ersten Tagen keine Lampe andrehen; wenn ich Licht haben wollte, mußte ich erst meine Jüngste herbeirufen, und wenn ich dennoch in Gedanken einmal selbst den Schalter drehte, so rief sie vorwurfsvoll »Ach Vater!« und ich mußte ihr erlauben, die Lampen aus- und abermals anzudrehen. Und dank ihren Augen war es dann auch wirklich heller im Zimmer.

Die Lichtrechnung in jenem Monat war merkwürdig hoch. Ich habe noch andere im Verdacht, daß sie drehten.

Ich händige also Roswithen ihre halbe Fahrkarte aus. Und seltsam: sofort wird ihr Schritt fester und weiter ausgreifend, er wird sozusagen männlich. Der Kontroleur sieht sie verständnisinnig lächelnd an – er scheint zu Hause ähnliche Gewächse zu ziehen – und sagt: »Du bist'n fixe Deern.« Das hat noch gefehlt. Mit überirdischen Augen gibt sie mir die Karte zurück. Wenn der deutsche Reichstag das Selbstgefühl hätte!

Und nun beginnt die Wanderung! Es gibt bekanntlich in der Mathematik einen Lehrsatz, der lautet: Zwischen zwei Punkten ist der gerade Weg der kürzeste. In der Geometrie der Kinder gibt es dagegen einen Satz, der heißt: Zwischen zwei Punkten ist der gerade Weg der langweiligste. Kein Euklid oder Archimedes hat ihn gefunden, das erste Kind hat ihn entdeckt. Auf den Umwegen liegt der Reiz des Lebens. Über jenen – zum Glück ausgetrockneten – Bach führt zum Beispiel eine Brücke mit einem Geländer. Einfach über diese Brücke gehen, wäre banal, reizlos, abgeschmackt. Aber den mäandrisch gekrümmten Weg um jede einzelne Stütze des Geländers gehen, von außen nach innen, von innen nach außen, von außen nach innen und so fort und um Gotteswillen keinen Balken überschlagen – das ist das Wahre; darin liegt die Würze des Lebens. Es ist ja wahr, Roswitha hat versprochen, ihr »schärpenes Kleid« »in Acht zu nehmen«, aber wer kann an alles denken! Brückengeländer machen überhaupt eine Ausnahme. Als sie den schlangenförmigen Weg zurückgelegt hat, soll »Männe« dasselbe machen. Aber Männe ist überhaupt mit Geistesgaben nicht übermäßig gesegnet; er sieht sie mit seinen melancholisch dummen Dackelaugen an, als wenn er sagen wollte: »Was wünschen Sie eigentlich?«

»Männe, du solls da immer so 'rum gehen!«

Männe sieht sie an und hat offenbar keine Ahnung.

»Männe, verstehst du mich denn gar nicht?«

Männe bedauert unendlich.

»Hund, du bis wirklich zu dumm!« ruft sie. Sie hat es mir auch kürzlich nach Berlin schreiben lassen, in einem Brief, den sie ihrer Mutter diktierte.

»Männe ist sehr faul und sehr dumm. Aber er hat mich lieb und ich ihn auch.«

Und das ist wahr; er attachierte sich ihr sofort, als er in unser Haus kam, und wenn sie ausgegangen war, setzte er sich hin und starrte nach der Haustür wie Ritter Toggenburg. Ihre Liebe haftet freilich weniger an dem Individuum; wenigstens erklärte sie vor einiger Zeit, wenn sie groß sei, wolle sie drei Kinder und drei Hunde haben.

Bild: Richard Scholz

Übrigens gibt Männe seiner Herrin auch sonst noch Anlaß zur Klage. »Er is noch immer so ungehöflich,« ruft sie, »wenn man die Tür aufmacht, läuft er immer zuerst hinaus! – Überhaupt: ich will ja lieber das schwerste Gedicht auswendig lernen als dem Hund was beibringen!« Aber lieben, wie gesagt, muß sie ihn doch; die Liebe prüft nicht, wägt nicht, sondert nicht – sie liebt.

Und nun hat Appelschnut was gefunden, und was hat sie gefunden! Eine dicke, fette, schwarze Wegschnecke, die zusammengekrümmt am Wege liegt!

»Vater, warum hat sie sich so zusammengekrümmt?«

»Nun, sie ruht wohl aus, oder sie fürchtet sich, daß du ihr was tust.«

»Du süße kleine Schnecke, sei doch nicht so bange, ich tu dir ja nix. – Vater, wann krümmt sie sich nun wieder auseinander?«

»Dscha – das weiß ich nicht.« Schneckengedanken sind nicht meine Gedanken, und Schneckenwege sind nicht meine Wege. Das Letztere dacht' ich aber nur.

»Vater, wo is eigentlich ihr Mund? Un wo sind ihre Augen? Un was frißt sie eigentlich? Vater, laß sie mal fressen!«

Und einen größeren Gefallen kann sie mir nun nicht tun, als wenn sie mich so mit dürstenden Augen fragt und mir mit trinkender Seele zuhört. Es gibt kein schöneres Glück, als einem Dürstenden zu trinken geben. Einem Hungernden zu essen geben ist auch schön; aber viel schöner ist, einen Dürstenden trinken sehen. Schneller als andre Nahrung geht der Trank ins Blut; im Nu durchrinnt er den ganzen Leib, und sogleich kommt er im frischen Glanze des Auges und im leisen Erbeben des Körpers wieder zur Erscheinung.

Eine Blume hat Roswitha gefunden.

»Vater, wie heiß die eigenlich?«

»Campanula.«

Sie bemüht sich, den Namen nachzusprechen; aber es will nicht ohne weiteres gelingen.

»Vater, ich kann es,« ruft Hertha: »Campanula«.

»Großartig.«

Dann kommen wir an einer Bierbrauerei vorüber, in der eine mächtige Dampfmaschine arbeitet.

»Vater, was is das eigenlich, was immer so hin- un herfunkelt?«

Ich beschließe, mir einen Spaß zu machen.

»Das ist der Zentrifugalregulator. – Was ist das?«

»Der Zentifrugal – nein – der Frentigal –«

»Vater, ich kann es!« ruft wieder die glimmeräugige Hertha.

»Na?«

Und mit umfassenden Vorsichtsmaßregeln spricht sie »Zen – tri – fu – galregulator«.

»Fabelhaft« sage ich.

»Campanula und Zentrifugalregulator« repetiert Hertha mit triumphierendem Blick.

Und ich verfehle nicht, nochmals meiner Anerkennung Ausdruck zu geben. Sie hat das erhebende Gefühl der um ein wesentliches angeschwollenen Bildung.

Bild: Richard Scholz

Appelschnut hat sich inzwischen wieder mehr der Wissenschaft des Lebendigen zugewandt.

»Mutter, was is das, was die Kuh da unten hat?« Sie zeigt nach einer Kuh auf der Wiese.

»Das ist das Euter,« sagt meine Frau, »darin ist die Milch, und daran saugen die kleinen Kälber.«

»Mm. – Mutter, trinken die kleinen Pferde auch bei der Mutter?

»Gewiß.«

»Die Menschen auch,« erklärt Hertha.

Da bricht Appelschnut in ein schallendes Gelächter aus. »Die Menschen auch!« Sie kann sich gar nicht wieder beruhigen. Sie hält das für einen wundervollen Witz. »Hertha, was machst du für'n Schnack!«

»Ach du,« ruft Hertha mit dem heiligsten Eifer der Überzeugung, »ich hab doch selbst gesehen, wie du an Mutters Brust getrunken hast!«

Appelschnut sieht mit einem jähen Ruck ihre Mutter an und hat plötzlich ein ganz ernstes Gesicht.

»Ja ja, es ist so,« sagt meine Frau lächelnd. »Hertha hat ganz recht.«

Da versinkt Appelschnut in tiefes Nachdenken.

Hertha aber ist stolz, daß sie es gewußt hat, und nach einer kurzen Weile fragt sie ihre Mutter:

»Mutter, trinken die Jungens denn auch bei der Mutter?«

»Ja natürlich!«

In Hertha ist nämlich eine Ahnung aufgestiegen, daß Mann und Frau nicht in jeder Hinsicht dasselbe seien. Sie macht aber, wie man sieht, noch eine verkehrte Anwendung von dieser Erkenntnis. Sie hält die Geschlechter für gar zu verschieden, während sie ihnen früher die gleichen Funktionen zuwies. Einen Aufsatz über Mozarts Jugend, den sie für die Schule schreiben mußte, begann sie nämlich folgendermaßen:

»In Salzburg lebte einmal ein Kapellmeister Namens Mozart, der brachte einen kleinen Sohn zur Welt.«

»Aber Hertha,« rief meine Frau, »er doch nicht! Seine Frau brachte ihn zur Welt!«

»Gott, Mutter, das 's doch egal!« rief Hertha, offensichtlich verwundert über diese Wortklauberei.

Die Sonne scheint jetzt sogar stechend, und durch den Sonnenschein kommt ein Käfer gerad auf uns zugeflogen und ist ganz von einem Strahlenglanz umgeben. Dieser Käfer ist Appelschnut.

Bild: Richard Scholz

»Mutter, ich hab Glück, ich hab Glück, Mutter, ich hab Glück!« ruft sie. Sie hat ein vierblättriges Kleeblatt gefunden. Und da könnten nun alle Völker der Erde versammelt sein: Eskimo und Feuerländer, Papua und Tscherokese, sie würden alle darin einig sein, daß Appelschnut Glück hat.

Ihr Glück im Finden ist überhaupt unerhört. Dann mal ein abgepflücktes Gänseblümchen, dann mal eine echte Gänsefeder, dann mal einen wundervoll roten Wollfaden und gestern gar ein leeres Sperlingsei! Sie findet sogar im Traum.

»Mutti, diese Nach hab ich was Süßes un was Schreckliches geträumt. Ich hab geträumt, ich fandte eine Puppe, die war lebendig, und da gab sie dir die Hand un sagte: »Guten Tag!« und da fiels du um un wars tot. Und da hatt' ich solche schreckliche Angst, und da wachte ich auf, un da kamst du grade 'rein und sagtest so recht süß: »Guten Morgen.« Wie hab ich mich gefreut!«

Sie hat beinah ihre eigene Geschichte geträumt. Als ich die lebendige Puppe Roswitha fand und als sie meiner Frau sehr laut und kräftig »Guten Tag« gesagt hatte, da war diese Frau umgefallen und wäre bei einem Haar gestorben. –

Plötzlich hat Roswitha eine großartige Idee.

»O Mutter, man zu, stiefmutter mal wieder 'n bischen, man zu, stiefmutter mal 'n bischen!«

Das Verbum »stiefmuttern« wird der geneigte Leser ohne meine geneigte Unterstützung nicht verstehen. Es war einmal rechte, warme Märchenstimmung in der Wohnstube, da mußte meine Frau darstellen, wie sich so eine richtig bösartige, greuliche Märchenstiefmutter eigentlich benimmt. Sie mußte ihre Kinder schelten, schlagen, kratzen, beißen, an den Haaren zerren und in die Ecken schleudern, natürlich immer so, daß das Vergnügen gewahrt blieb. Es war eine ebenso lustige wie geräuschvolle Familientragödie, und meine Frau muß seitdem die Rolle wiederholen wie Sarah Bernhardt die Cameliendame. Auch heut' hat Roswitha Verlangen nach diesem Kunstgenuß.

»Ich mag das zu gern haben, wenn du stiefmutters,« sagt sie; »du bis doch sons immer so freundlich un sanft mit uns, nich? un wenn du denn stiefmutters, das ist so'ne Abwechslung.«

Und in einem Park, der selbst ein Märchen ist und den der großherzige Besitzer – man soll solche Menschen nennen: Wriedt heißt der Mann – Tag für Tag seinen Mitmenschen geöffnet hält, in diesem Park also muß nun mein Weib zur Hyäne werden, obgleich ihr die Rolle gar nicht »liegt«. Aber ihren Opfern gefällt sie außerordentlich – mir übrigens auch; denn eine lachende Hyäne mit roten Wangen ist etwas Apartes – und erst als das Spiel bis zur Erschöpfung gespielt worden ist, denken einzelne daran, daß sie ihre neuen Kleider in acht nehmen wollten.

Bild: Richard Scholz

Übrigens tun diese Kleider, das halblange sowohl wie das »schärpene«, der Spitzenkragen, der Sonnenschirm und die Obertertianermütze ihre volle Schuldigkeit. Wenigstens haben ihre Träger die Überzeugung, daß diese Dinge nicht spurlos an der Menschheit vorübergehen. Ich muß dabei an einen jungen Dichter denken, von dem zum erstenmal ein Gedicht gedruckt wird und der das Gefühl hat, daß Klio aufhorchend das Haupt hebt und im Schreiben innehält, um dann mit erhöhter Kraft das neue Ereignis in die Tafeln der Geschichte einzugraben.

Wie weit bei diesem Genuß der eigenen, gehobenen Persönlichkeit, bei Spiel und lustigen Sprüngen die Schönheit der Landschaft zur Geltung kommt, ist schwer zu sagen. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie weit Kinder im allgemeinen für den landschaftlichen Reiz der Natur empfänglich sind, bin aber noch zu keinem bestimmten Ergebnis gekommen. Doch neige ich zu der Ansicht, daß der Sinn für paysages intimes sich verhältnismäßig spät entwickelt, und daß bei Kinderausflügen das neue Gewand, der Inhalt der Frühstücksdose und der Flasche und ein Spiel mit Sprüngen und Purzelbäumen das Interesse stärker in Anspruch nehmen als träumende Teiche und sinnendes Gebüsch. Gewiß gibt es spezifisch veranlagte Kinder, die schon das Ohr für den stummen Gesang der Dinge haben, und ich entsinne mich sehr wohl, daß ich schon früh in einem Weg mit Bäumen noch andres sah als Weg und Bäume. Aber das muß ich doch auch gestehen, daß sich in solche Gesichte oft genug die Vorstellungen eines festlichen Schinkenbrötchens und eines köstlichen Himbeergetränkes eindrängten, ja, daß diese zufolge ihrer substantiellen Energie nicht selten die luftigen Bilder eines verklärten Schauens weit in den Hintergrund drängten.

Bild: Richard Scholz

So habe ich denn auch ein weitgehendes Verständnis dafür, daß, als wir uns am Ziele der Wanderung um den sauber gedeckten Tisch versammeln, die laute Gesellschaft in ein tiefes und frommes Schweigen innerster Sammlung versinkt. Nur als Hertha, die Hastige, so heiß wie sie ist, vom kalten Wasser trinken will, ruft Appelschnut warnend und wie eine Mutter:

»Hertha, tu das lieber nich; sons kriegst du 'n Umschlag!« Sie will damit sagen: du kriegst einen Schlag und fällst um. Dergleichen hat sie erzählen hören, und solch ein memento mori vergißt sie niemals wieder. Sie pflegt denn auch mäßig und mit Vorsicht und Auswahl zu essen, und als ihr ein etwas holziger Spargel vorkommt, schiebt sie ihn zurück, weil er »so sehnig« sei. Darin denkt Erasmus nun anders; ein bißchen Holz macht ihm nichts aus. Er steht in jenem herrlichen Mannesalter, wo das Quantum bei weitem wichtiger ist als die Qualität, und wo man bedauert, daß man statt der nutzlosen Luft nicht ununterbrochen Klöße inhalieren kann. Wenn meine Frau und ich ihn essen sehen, das ist ein Lustspiel in sechs Akten. Wenn Jünglinge essen, greifen die Väter unwillkürlich nach dem Portemonnaie und denken an den Jahresabschluß. Und wenn ich bedenke, daß die Armee fast nur aus jungen Leuten besteht, die täglich in der frischen Luft exerzieren, dann begreife ich nicht die Bescheidenheit und Winzigkeit unseres Militärbudgets, obwohl ich ganz gut weiß, daß es in den Kasernen nur selten frischen Spargel gibt.

Einen heiligen Eifer zum Essen und Naschen bewähren auch die weiblichen Glieder der Gesellschaft; immerhin erscheint er durch jene Anmut gebändigt, die diesem lieben Geschlechts innerstes Gesetz ist. Aber als Gertrud im Krankenhause an dem jetzt so beliebten Wurmfortsatz des Blinddarmes operiert worden war und als sie den ersten Besuch empfangen und einige Sätze sprechen durfte, und als ich mich über sie neigte und sprach: »Weil du so tapfer und vernünftig gewesen bist, sollst du eine Prämie haben – du darfst wünschen, was du willst – was möchtest du wohl haben?« – siehe, da hauchte sie mir ins Ohr die geflügelten Worte:

»So viel Fruchteis essen, wie ich will.«

Und als Irene bei dieser Gelegenheit ihrer Schwester einen Tag lang Gesellschaft geleistet hatte und wir sie fragten, wie's denn in der Klinik gewesen sei, da berichtete sie das Menu. Ich finde das so lieb und so schön von den Kindern, daß sie auch aus ihrem Magen keine Mördergrube machen. Wie anders ist da die »menschliche Gesellschaft« in einem fashionablen Kurort, wenn der Gong zur Table d'hote gerufen hat. Ich könnte mich krank lachen, wenn ich sie eine halbe Stunde lang im Vorraum sitzen und »konversieren« sehe. Sie denken alle an die Suppe und tun, als dächten sie an den Phädon des Platon, und sie machen lächelnde Gesichter, als knurrte ihr Magen die Ouvertüre zum »Figaro«. Jeder von ihnen hat Hunger; aber was jeder hat, ist unfein. Bis ein frisches junges Paar auftritt, das den höheren »Ton« noch nicht kennt oder auf denselbigen pfeift und – womöglich gar mit dem plebejischen Ausruf: »Hach, hab' ich einen Hunger!« – stracks Laufs auf die Tafel zuschreitet. Dann erheben sich ritenuto auch die übrigen und freuen sich, daß sie endlich essen dürfen und daß sie nicht angefangen haben.

Uff! Kinder, bei euch ist's besser. Ihr habt zwar immerhin – man muß zufrieden sein – etwas Erziehung, aber noch keine »Büldung«. Appelschnut zum Beispiel ist noch so ungebüldet, daß sie, nachdem sie sich mit ihrer »Servisette« gründlich die Lippen abgewischt hat, vor der Öffentlichkeit auf mich zuläuft und mir mit den Worten »Du bist ein engeliger Vater, daß du mit uns ausgegangen bis, dafür muß ich dir tausend Küsse geben!« unzählbare – nach ihrer Meinung tausend – Küsse gibt.

Als nun der Kaffee aufgetragen wird, da zeigt sich, daß die Vertilgungssucht des Erasmus denn doch vor gewissen Rücksichten der Standesehre halt macht. Meine Frau schiebt ihm ein paar Stücke Zucker zu und zwinkert mit den Augen.

»Gott, Mutter!« stößt er errötend und schamhaft lächelnd hervor. Und ich muß sagen, ich finde es auch von meiner Frau etwas kindlich, daß sie glaubt, ein Obertertianer mit Stehkragen von 5 Zentimetern Höhe werde noch Zucker naschen wie ein Hosenmatz ...

Da läuten ein paar sanfte Glöcklein der Campanula! Ich rufe Hertha herbei und frage sie: »Also, Hertha, was ist das?«

»Zentrifugalregulator!« ruft sie mit Stolz.

Es gibt noch immer Pädagogen, die die Methode »Campanula-Zentrifugalregulator« verteidigen und befolgen. Ich sage euch, sie taugt nichts.

An Erasmus fällt mir ein merkwürdig starrer Blick auf. Ich verfolge die Richtung dieses Blickes und gelange in gerader Linie auf den Zucker.

»Mutter, geht die Elbe da noch weiter hin?« fragt Roswitha. Sie zeigt elbaufwärts.

»Ja, noch sehr weit,« sagte meine Frau.

»Bis zum Riesengebirge!« ruft Hertha. »Die Elbe kommt vom Riesengebirge, da entspringt sie,« belehrt sie ihr Schwesterchen.

Bild: Richard Scholz

Roswitha reißt weit die Augen auf und sagt nichts. Wenn ein Mensch nach innen blickt, macht er besonders große Augen. Das Wort »Riesengebirge« ist tief in ihre Seele gefallen. In ihrem kleinen Köpfchen steigt ein Riesengebirge auf und eine springende Elbe.

Und nun streckt sich langsam und lässig eine Obertertianerhand aus, erfaßt, allem Anschein nach mechanisch, ein Stück Zucker und schiebt es gedankenvoll in einen Obertertianermund. Ich nenne absichtlich die Hand gedankenvoll, und auch das Gesicht scheint gedankenvoll; es scheint die Unterschiede zwischen Cirrus-, Stratus- und Kumuluswolken zu erwägen; aber die Zunge, darauf wett' ich, die Zunge ist bei der Sache und weiß, was sie tut.

Schließlich, warum soll ein Obertertianer keinen Zucker essen? Er muß nur das Dekorum wahren und es mit einer gewissen Geringschätzung tun.

Meine Frau und ich sehen uns an – im selben Augenblick sieht er uns an – und unsere Elternblicke schauen diskret in die Bäume hinauf.

Und dann brechen wir auf, um den Heimweg anzutreten, und als ich mich umsehe, ob man auch nichts habe liegen lassen, da ist nichts liegen geblieben, auch das zweite Stück Zucker nicht.

Und alles geht vortrefflich, wenn auch nur zehn Minuten lang. Dann nämlich bricht ein Regen los, für den eine ganz andere Bezeichnung erfunden werden müßte. Die Tropfen, nein, die Wasserballen prasseln mit solcher Wucht herab, daß sie wie Gummibälle wieder emporspringen. Es regnet von oben, von unten, von vorn, von hinten, von rechts, von links, von links oben, von rechts hinten usw. usw. Ja, aus der Erde scheinen Ströme zu brechen; denn in einer Minute haben wir bei heilem Fußzeug 14 nasse Füße. Der Regenschirm ist bekanntlich ein Institut, das man das ganze Jahr mit sich herumschleppt, um zu erfahren, daß er im Ernstfalle so wenig Wert hat wie verfassungsmäßige Garantien. Und nirgends ein Unterschlupf – doch, da steht eine junge Kastanie, die immerhin schon so etwas wie eine Krone hat. Es ist nicht viel; aber es ist doch etwas. Meine Großmutter pflegte zu sagen: »Besser eine Laus im Kohl als gar kein Fleisch«, worüber sich freilich streiten läßt. Wir verzichten denn auch bald auf diese Laus von einem Kastanienbaum und ziehen weiter wie die melancholischen Überreste einer geschlagenen Armee. In meinen Stiefeln steht das Wasser schon so hoch, daß es bei jedem Schritte gluckst und aufquietscht, und das macht mir eine Art von Vergnügen. Es ist doch eine Art Marschmusik. Endlich sind wir am Straßenbahngeleise. Hier warten wir.

Er läßt lange auf sich warten, der Straßenbahnwagen. Warum auch nicht. Und zuletzt kommt doch einer. Ich winke dem Führer mit fanatischen Bewegungen: Halten! Er winkt wieder: An der nächsten Straßenecke ist Haltestelle. Hoch das deutsche Pflichtgefühl! Also spornstreichs auf vierzehn Füßen zur nächsten Straßenecke. Aber da standen schon viele, und als wir einsteigen wollen, klappt der Schaffner die Tür zu und brüllt: »Voll!« Der Wagen ist wirklich übervoll; aber der Mann brauchte sein »Voll« nicht so herzlos herauszubrüllen. Ich überlege noch, ob ich ihm nicht nach dem Beispiel eines berühmten Kollegen zurufen soll: »Ich bin Otto Ernst, der Dichter des ...« aber der Schuft ist im stande und kennt mich trotzdem nicht. Ich werde ihn in einem Straßenbahngedicht brandmarken; ich habe mir seine Nummer gemerkt.

»Jetzt können wir auch zur Eisenbahn gehen; es ist alles eine Flüssigkeit,« sage ich.

Da ertönt es plötzlich hinter mir mit einem Stimmchen, das zwischen Erstaunen und Enttäuschung hin- und herzittert:

»Wollen wir denn schon nach Hause?«

»Ja, Appelschnut, hältst du es noch für zu trocken?«

Da brechen zu allem Überfluß auch noch aus Appelschnuts Augen die dicken Tropfen hervor, und schluchzend ruft sie:

»Ich möchte aber so gern noch das Riesengebirge sehen!!«

Und da brechen wir übrigen sechs in solch schallendes Gelächter aus, daß Appelschnut uns ganz erschrocken anblickt. Heil dir, Appelschnut; du hast wieder blauen Himmel gemacht, obwohl es unvermindert fortregnet und außerdem hagelt.

Ich mache ihr nach Kräften klar, warum das Riesengebirge heute nicht mehr erledigt werden kann, und sie beruhigt sich sofort, als ich ihr sage, daß sie es in vierzehn oder fünfzehn Jahren wohl zu sehen kriegen werde. Sie ist ein Mensch, der vernünftig mit sich reden läßt.

Die Kleinen haben geheime Vorräte von Unternehmungslust, von denen wir keine Ahnung besitzen. Einst waren mein Weib und ich mit dem kleinen Erasmus den ganzen Nachmittag umhergestreift und hatten zum Schluß noch den Bismarckstein bei Blankenese an seiner steilsten Stelle erstiegen. Wir kamen müd und matt zu Hause an, und als meine Frau den Kleinen entkleidete, weinte er laut.

Bild: Richard Scholz

»Wir haben ihn überanstrengt; das Kind ist übermüdet,« sagte ich, und meine Frau fragte ihn: »Was fehlt dir denn, Junge?«

»Ich will noch mal auf'n Bismarckstein hauftlettern,« heulte er.

Da waren wir beruhigt.

»Gott zürnt nicht ewig,« heißt es in Schubarts »Ewigem Juden«, und in der Tat, als wir ins Coupé stiegen, hörte es auf zu regnen. Aber als wir ausstiegen, zürnte er schon wieder, und es regnete brünstig. Nun geriet ich doch allmählich in den Zustand der stummen Verwünschungen und langatmigen inneren Flüche, und meine Frau – da Frauen nicht fluchen – tat innerlich etwas dem Entsprechendes. Die Ärmste! Unsere ungemein praktische Frauenkleidung wird beim Regen so schwer, wie die Kugeln eines Galeerensträflings. Mein Weib ist vollständig erschöpft, und ich dulde alle Qualen des schlechten Gewissens. Hätte ich mich dem Drängen der Kinder gegenüber als Charakter bewährt, so säßen wir jetzt alle im Trocknen.

Es fragt sich nur, ob ein trockenes Leben von zweifellosem Reize sei. Als in den Schlafgemächern ein jubelndes Durcheinander von Stiefeln, Armen, Strümpfen, Beinen, Hosen, Röcken und Gelächter begann, und als Hertha heimlich der Jüngsten zuraunte: »Das war 'ne feine Tour, nicht?« und Roswitha aus tiefstem Herzen antwortete: »Ja, das war die feinste Tour, die ich in meinem ganzen Leben gemacht habe!« da dachte ich: »Sie sind die Weisen! Sie tragen ihr Wetter im Herzen mit sich, und da hinein fällt kein Regen.«

Und als ich meine Frau ansah, dachte sie schon dasselbe und lachte, obwohl ihr noch ein großer Regentropfen über die königliche Nase rann.

Bild: Richard Scholz

 


 


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