Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kapaunen – Kapaunen mit süßem Kuchen gefüllt – bringt mir mehr davon! Und du, Stadtweibel, vergiß nicht den öligen roten Wein«, so schmatzte und schnaufte in einer der braun geräucherten Kammern des Hamburger Rathauses an einem der letzten Septembertage des Heilsjahres 1402 der dicke Wichbold, und in der Wonne über die ausgewählten Leckerbissen, die gebraten und gesotten dicht um ihn herum den Tisch bevölkerten, knöpfte er sich ein paar Seitenknöpfe seines verschossenen grünen Schifferkittels auf und schuf Raum für weitere Genüsse. Neugierig verschlang er bereits mit den Augen einen der roten Hummern, der auf silberner Schüssel liebevoll seine Scheren nach ihm breitete.
»Gut, gut«, belobte er kurzatmig den ihn bedienenden gebückten Stadtweibel, der während dieses ganzen Imbisses ein eigenartiges Grinsen in dem weiten schwarzen Kragen seines Wamses verschwinden ließ. »Ihr guten Bürger von Hamburg wißt, was ihr einem frommen Seefahrer schuldig seid. Bei Sankt Paul, soll euer Schade nimmer sein. Will euch redlich vergelten. He«, erinnerte er sich, nachdem er wieder einen vollen Guß des dicken Italerweines in sich hineingeschüttet, »weißt du schon, mein Lieber, wo euer Gast heute nacht hausen wird? Wäre mir wohlgefällig, wenn ich einen Gebetschemel vorfinden würde, denn ich habe der heiligen Anna bei gefährlicher Fahrt eine Nachtwache gelobt.« Auf diese Frage des alten Helden versank das Kinn des Weibels abermals tief in die Schwärze seines Kragens, und es dauerte geraume Zeit, bevor er sich auf eine würdige Antwort besinnen konnte.
»Ich hörte«, bückte er sich, »der Rat rüste ein eigen Haus für Euch.«
Verwundert quollen dem Schmausenden die Augen aus dem Kopf. Auf so viel Ehre war er nicht gefaßt, und betroffen berechnete sein listiger Verstand eine Weile, ob seine Geheimnisse wirklich für die geizigen Krämer so hoch im Preise stehen könnten. Allein die Köstlichkeit des Mahles sowie die ganze achtungsvolle Art seiner Aufnahme zerstreuten dem Dicken die aufsteigenden Zweifel bald wieder, so daß er sich eben mit gesteigerter Aufnahmefähigkeit an die Vertilgung des Hummers begeben wollte, als ein Gewappneter eintrat. Der stieß seine Hellebarde auf den Estrich und meldete:
»Anjetzo ladet Euch der würdige Bürgermeister Tschokke zum Verhör.«
»Nun, nun«, zwängte sich der Wichbold, von neuem gestört, hinter dem Tisch hervor. »Was faselst du, Freund? Um ein Verhör handelt es sich nicht, da ich dem Rat gegen freies Geleit eine Unterredung angetragen.«
»Weiß nicht«, versetzte die Wache barsch.
Hinter der Tür schlossen sich dem Zuge noch einige der schwarzen Hellebardiere an, und während der Wanderung durch dunkle Gänge und über windschiefe Treppen, da begannen dem grauhaarigen Sünder die alten Kopfwunden zu pochen, und das Herz krampfte sich ihm in feiger Ohnmacht, ob sein Rachegelüst ihm nicht doch einen allzu närrischen Streich gespielt. Allein kaum hatte er den weiten, niedrigen Ratssaal betreten, da schöpfte er neues Vertrauen, denn an einem grün verhängten Tisch an der Fensterseite saß ein einzelner Mann, der die Stadtknechte durch eine müde Handbewegung abtreten hieß.
Sie blieben allein.
In dem einsamen Raum summte eine Schar Fliegen unter der Decke umher, und durch die vergitterten Fenster drang zuweilen Wagenrollen und das Geräusch einer handeltreibenden Gemeine. Alles schien friedlich, besonders aber der Mensch hinter dem Tisch. Über dem karmesinfarbigen Kragen seiner schwarzen Ratsgewandung hob sich ein ehemals volles, jetzt faltig gewordenes Haupt, und seltsam, auf die harte Stirn fielen dem noch Unbetagten grauweiße Haare. Der Mann mußte frühzeitig gealtert sein.
Mit einemmal richtete der Würdenträger ein paar stahlblaue Augen auf den Freibeuter, und in diesem Blick wohnte etwas so Kaltes, Abschätzendes, daß den Fettwanst zu frösteln anfing. Auch behagte es ihm wenig, daß man ihn nicht zum Sitzen einlud, obwohl man einen mächtigen Lederstuhl hinter ihn geschoben hatte.
»Wer bist du?« hob der Bürgermeister ruhig an.
»Ich?«
Der Dicke gab sich ein Ansehen. »Ich bin der Hauptmann Wichbold«, pustete er sich auf, faltete aber zugleich demütig die Hände über dem Leib, »ein Knecht Gottes, der mit Freibriefen von Rostock und Wismar die gute Stadt Stockholm entsetzte. Zuletzt führte ich zu Nutzen des gemeinen Mannes die ›Goldene Biene«.«
Das unbewegte Antlitz des Hamburger Gebietenden veränderte sich nicht im geringsten bei dieser harmlosen Schilderung; gleichgültig in ein paar Pergamenten stöbernd, erwiderte er:
»Ich kenne deine Taten. Du kommst vom Störtebecker.«
»Den Gott verdamme«, schaltete hier der Hauptmann ein, indem die roten Narben zwischen seinem grauen Haarwulst aufzuglühen schienen. »Möge dieser Leuteverderber ein unrühmlich Ende finden.«
»Was weiter?« drängte der Bürgermeister, eine große Schwanenfeder putzend.
Jetzt sah der Dicke ein, daß er seine Karte spielen müsse, wenn er nicht jede Bedeutung oder Wichtigkeit verlieren wollte. In heiliger Entrüstung wiegte er deshalb sein plumpes Haupt, und seine aufgeworfenen Lippen zuckten vor innerer Bedrängnis, als er zerknirscht anhob:
»Euer Würden, nicht jedem sieht man an, welchem Herrn er dient. Der meine – gelobt sei sein Name in Ewigkeit – hat mich nicht umsonst durch Undank und Schmach gewälzt, durch Eiter und Schwären, so daß meine Seele bereit ist zu Besserung und Einkehr.«
»Mann, verkünde jetzt kurzfertig, was du uns zu hinterbringen gedenkst, sonst –«
»Herr«, ereiferte sich nun der Wanst gereizt, wobei alles Salbungsvolle ungewollt von ihm abfiel, »ich bringe Euch, was mehr ist als Euer Bier, Leder, Erz oder Getreide. Und Ihr werdet es mir gern nach Gebühr lohnen –«
»Des sei gewiß«, lehnte sich der Alderman bestimmt zurück.
»Gut, gut – so liefere ich Euch den Erzfeind Eures Handels und friedlicher Schiffahrt in die Hände, damit diese Plage des Menschengeschlechts, nachdem ich sie bußfertig als solche erkannt, nicht fürder durch Prunk, Laster und Hurerei allen Gesetzen Hohn spreche.«
Als der unselige Lebenswandel des Störtebecker erwähnt wurde, da verfielen die Züge des Mannes hinter dem Tisch zum erstenmal zu einer seltsamen Starrheit. Eine wächserne Leblosigkeit ließ sie für den Augenblick fast durchsichtig erscheinen, und er verdeckte die Augen mit der Rechten, bevor er dem Freibeuter ein Zeichen gab fortzufahren.
Dieser ergötzte sich an dem sichtlichen Eindruck, und rasch und kollernd folgte nun sein Vorschlag.
»Herr«, grunzte seine Säuferheiserkeit, und die verschwollenen Äuglein glitzerten dazu, »in spätestens vier Tagen macht der Störtebecker in Marienhaven klar, um sich zum Gödeke Michael durchzuschlagen. Aber seine Flotte ist bemoost, zudem nur halb bestückt, seine Mannschaft schwierig, auch die Friesen in seinem Rücken grollen dem wahnwitzigen Schwärmer, da sie sich die verkauften Ländereien gern wieder aneignen möchten. Wenn Ihr die Zeit nützt, dann könnt Ihr ihn noch zwischen den Inseln abfangen. – Ich selbst will – getrieben von meinem Gewissen – Euch Führerdienste leisten –, und dann mögt Ihr den Verkünder eines gotteslästerlichen Zeitalters, mögt den Verbreiter aller stinkenden Lüste foltern, pfählen und schmerzhaft zum Tode bringen.«
Er atmete schwer und befriedigt.
Auch Herr Nikolaus Tschokke stützte sich auf den Tisch und hielt sein ergrautes Haupt eine Weile verdeckt über seinen Pergamenten. Dann erst äußerte er wie nebenbei:
»Deine Angaben treffen nur halb zu. Der Störtebecker wird nicht zum Gödeke segeln.«
»Mit Verlaub, warum nicht?«
»Weil man die Toten nicht besucht. Das Haupt des Michael verwest schon zwischen den Vierpfählen auf unserem Grasbrook.«Die Richtstätte zu Hamburg.
»Aller Himmel Gerechtigkeit«, stammelte der Freibeuter. Offenen Mundes, grüne Fahlheit auf dem schwammigen Fleisch, sank er ohne Einladung in dem großen Lederstuhl zusammen, denn eine düstere Befürchtung für sich selbst ließ ihm die Brust stillstehen. Welche Verdienste würden diese Krämer wohl noch achten, wenn sie es wagten, den mächtigsten Seeherrscher der damaligen Zeit, den Verbündeten von Königen und reichen Städten gleich einem gemeinen Straßenräuber der Schmach und dem Schwerte preiszugeben? »Sankt Peter gewähre mir bei der Urständ ein leichtes Erwachen«, stöhnte er geistesabwesend, und seine Angst ließ den Verwirrten nach Rechtsgründen suchen, »gelten denn keine Freibriefe mehr? Der Michael lag mit Euch in ehrlicher Fehde!«
Als hätte der andere keinerlei Einwand erhoben, so stutzte der Bürgermeister kaltblütig weiter an seiner Feder herum, bis er endlich, ohne den Versuch einer Rechtfertigung, den Schwanenkiel fortwarf, um von neuem zu beginnen:
»Tu mir jetzt kund, wer bürgt mir dafür, daß deine Angaben der Wahrheit entsprechen? Hast du ein Zeugnis, wie weit man dir und deinesgleichen trauen darf?«
Oh, der Allerheiligsten Jungfrau sei Dank, jetzt nahte die Rettung. Befreit atmete der Dicke auf, wischte sich die runden Schweißtropfen von der Stirn, und während er hastig und doch unendlich erleichtert ein dünnes Goldkettlein aus seinem Kittel nestelte, raffte er seinen gebrochenen Körper wieder zuversichtlicher empor.
»Hier, Euer Würden«, versuchte er vertraulich zu lächeln, obwohl es immer noch eine angestrengte Grimasse blieb, »dies gab mir eine gar zarte Dirn für Euch mit, damit Ihr erkennt, daß all meine Worte aus ihrem Munde stammen. Schon lange haust sie bei dem Störtebecker, dieweil er ihr schändlich Gewalt angetan und sie auch jetzt sonder Zucht noch Scham in Mannskleidern mit sich schleppt. Ist gar ein Elend, dies fein Ding zu sehn. – Hier – hier – überzeugt Euch.«
Mit zitternden Fingern legte er das Kleinod dicht vor den Würdenträger auf den Tisch.
Herr Nikolaus Tschokke aber rührte sich nicht. Nur von der Seite schickte er einen fast furchtsamen Blick nach dem Schmuckstück aus, um zu prüfen, ob wirklich die Schaumünze an dem Kettlein hing, die Linda einst als Kind aus den Händen seines Vaters empfangen. Und als er die Echtheit des Stückes festgestellt, blieb er unbeweglich sitzen und schloß von neuem die Augen. Nur einmal zuckte seine schon geöffnete Hand von dem Schmuck zurück, als ob Befleckung und Krankheit an ihm hafte. Dem Wichbold aber entging die eigenartige Schwäche des Mannes nicht.
»Nun«, forschte er selbstbewußt, »traut Ihr dem Ding da?« Das blasse Antlitz mit den geschlossenen Augen nickte.
»Dann lohnt mir nach Gebühr«, heischte der Wichbold jetzt frech, denn die Habsucht verführte ihn, und er schlug mit der Faust auf das grüne Tuch. »Wie wollt Ihr mich bezahlen?«
»Wie du's verdienst«, drang plötzlich eine Stimme durch den stillen Raum, die aus dem Himmel zu fallen schien, so wenig traute man dem beherrschten Stadtgebieter eine derartig stählerne Leidenschaft zu. Was bedeutete das?
Stier, mit einem eigentümlichen Schlottern in den Knien schaute sich der Freibeuter um. Ehe er sich noch auf sich selbst besinnen konnte, auf den Ort, wo er weilte, an den hart geschnitzten Bürger, mit dem er einen solch gefährlichen Streit ausfocht, da war ein bis ins Hirn reichender Blitz durch ihn gefahren, der schleuderte den schwammigen Leib des Schuimers widerstandslos in den Sessel. Er wollte die Hände ausstrecken, er vermochte es nicht. Er wollte irgend etwas vorbringen, am liebsten ein Flehen um Gnade, statt dessen zwang ihn seine grausige Willenlosigkeit nur zu einem mühsamen Lallen.
Der Bürgermeister hatte sich erhoben, seine kalten blauen Augen schnitten prüfend in die Qual seines Gegners, er winkte, die Scharwache quoll zur Tür herein, und auf ein neues Zeichen des Graukopfes hob sie den Stuhl samt seiner Last in die Höhe und trug die gelähmte, zur Schweigsamkeit verdammte Masse mit sich fort.
Eine Weile blickte ihnen der Bürgermeister regungslos nach, dann ließ er sich nieder, schob das Kettlein weit von sich und führte seinen Schwanenkiel kritzelnd über das Pergament.
Auf den Schiffen zu Marienhaven klopften inzwischen die Hämmer, Sägen knirschten, fauliges Holz wurde ausgewechselt, die Seiler lieferten neue Taue, und die Weber halfen, die rötlichen Segel auszuflicken. In überraschend kurzer Zeit bekleideten sich die abgetakelten Gerippe mit jener Haut und allen Nerven, welche die toten Meervögel wieder zum Flug befähigten, ja, die springend fieberhafte Ungeduld ihres Führers konnte man förmlich in den gewaltigen Holzleibern pochen und schwingen hören. Den Mächtigen aber, dessen Wink sich all diese unbotmäßigen, nach fesselloser Freiheit trachtenden Gesellen von neuem verschrieben hatten, der Wilde, Zügellose, von dem sie meinten, er allein könne ihre Sehnsucht nach Raub, Vergeltung und schrankenloser Besitznahme aller Güter der Erde gewährleisten, ihn trieb es in diesen Tagen der Vorbereitung ungestümer und wüster denn je umher. Oftmals mußte sich Licinius, der aus der Ferne jeden seiner Schritte überwachte, unter zehrenden Tränen bekennen, daß die Schmach verflatterter Hoffnungen oder die Scham, vor der Menge unterlegen zu sein, in dem Gebieter nichts anderes ausgelöst hätte als die Gier, all jenes Strahlende in sich auszulöschen, das ihn bisher von den Verderbten unterschied. Nächtelang praßte er mit allerlei verkommenem Frauenvolk in den Tavernen des kleinen Fleckens, ja, er veranstaltete sich zur Lust Einbrüche und Diebstahl in den Werkstätten und Läden der Eingeborenen, um freilich die davon Betroffenen gleich darauf in irrsinniger Freigebigkeit wieder zu entschädigen. Das Fürstliche des ehemals so Gottgesegneten äußerte sich nur noch in Verschwendung oder in der Sucht, die Verderbnis der Herrschenden zu übertreffen.
Kam er dann abgezehrt, mit tiefliegenden, flackernden Augen auf die »Agile« zurück, dann erfrischte er seinen Geist nicht etwa, wie früher, an dem Studium der Dichter und Philosophen, die er einstens so fröhlich durchstöbert, sondern er strich, gleich einem gefräßigen Wolf, auf Deck umher, um schimpfend und wetternd Fehler und Unterlassungen aufzuspüren.
»Fertig – fertig«, das war das einzige Wort, das er von den fieberhaft Beschäftigten erpressen wollte. Dazu schlug und mißhandelte er die ergrimmten Matrosen, wozu der Vornehme sonst nimmer seine Hand mißbraucht, oder er zwang seine Unterführer, daneben aber auch gemeines Volk, zu Zechereien und waghalsigem Kartenspiel, bis die minder Ausdauernden, von seinem Hohngelächter verfolgt, unter den Tisch der prunkhaften Kajüte fielen.
Es war klar, der Wein dieses Lebens wurde schal und ging in Zersetzung über.
Einmal fragte ihn der kleine Wichmann, der selbst diesen Verfall seines Zöglings mit der Aufmerksamkeit eines messenden und vergleichenden Gelehrten beobachtete:
»Wohlan, Cläuslein, zu welch letztem Ziel voll Purpurglut und betörender Klänge willst du uns nunmehr steuern?«
Das Ende eines jener übermäßigen Gelage war gerade herangenaht, so daß der Riese mit dem ehemaligen Magister nur noch allein hinter der weinbesudelten Tafel lehnte. Aus seinen Grübeleien aufgeschreckt, hob der Störtebecker das Haupt und strich sich die wirren Locken aus der Stirn. Offenbar mußte die Frage des Zwerges in einer sehr ähnlichen Bahn laufen wie seine eigenen Gedanken, denn der benommene Mensch griff nach der winzigen Hand seines Gefährten, als wolle er sich überzeugen, ob Fleisch und Bein jene Auskunft von ihm verlange. Dann sprach er, den Kopf gestützt, mit einem zerrissenen, nach innen dringenden Lächeln:
»Heino, hast du jemals an das Aufhören dieses ganzen Gewimmels gedacht? Welche Ruhe muß kommen, wenn das Erdherz seinen letzten Schlag tut.« Er riß sich die rote Schecke über der Brust auf, um an sein eigenes Schlagwerk zu greifen. Das hämmerte laut und stürmisch. »In den Eismärchen unserer Vorfahren, so man auch hierzulande noch erzählt«, fuhr er dann in sich gekehrt fort, »läuft ein Wolf herum, der die Sonne verschlingt und nicht satt wird, bis er alles Leben gefressen. Ich kenn' nunmehr das Untier, Heino. Es ist dein und mein Geschlecht und heißt Mensch. Es stürmt nach der Vernichtung. Welch ein Helfer würde der sein, der ihm den Weg dazu erleuchtet! Bruder«, und dabei zerquetschte er fast den Becher in seiner Faust, »ich möchte das von Teufeln bewohnte Reich an allen vier Ecken anzünden und dann, wie jener Sardanapal, mit Weibern, Suff und Spiel zur Asche fahren.«
Hinter ihm folgte diesem wütigen Begehren ein unbewachter Seufzer. Der Zecher fuhr herum und begegnete dem übernächtigten Antlitz seines Knaben. Allein der trauervolle Blick verschlimmerte des Seefahrers üble Laune noch um ein bedeutendes.
»Dummer Bube«, herrschte er ihn an, »was starren deine Augen gleich zwei offenen Gräbern? Bete den Tag an, schlemme und füge deiner Natur keine Gewalt zu. Willst du, daß dich einst die Würmer verachten, die den Schluß machen? Heißa, vergeude, womit du jetzt sparst, und singe Schelmenlieder.«
So trieb es der Zertrümmerte seinen Nächsten zum Ärgernis, und je näher der Tag der Abfahrt rückte, desto gieriger fahndete seine Lüsternheit danach, dem Lande, das er preisgeben mußte, allerlei letzte Genüsse zu entlocken.
Was fehlte ihm noch?
An einem Spätnachmittag bemerkte man von den Schiffen im Hafen, wie der Reisewagen der Häuptlingsfrau van Neß langsam die Höhe der Brokeburg hinaufknarrte. Da fuhr der Admiral wie gestochen mitten aus dringenden Anordnungen empor und winkte heftig einen der Schiffsjungen zu sich. Jähe Röte flackerte in seinen Zügen, denn er schämte sich fast, daß er gerade dasjenige unvernichtet zurücklassen sollte, was seine Flamme schon so nah umzüngelt.
»Geh«, befahl er ohne Rücksicht auf die Umstehenden, zu denen auch Licinius gehörte, »melde dem Häuptlingsweib, ihr Wunsch sei erfüllt. Die Flotte laufe aus. Darum lade sie der Admiral zu einem Abschiedstrunk auf die ›Agile«. Sage, es solle ein ihr würdiges Fest werden.«
Ungeduldig warf er dem Boten ein Silberstück zu, dann schrie er dem Davonspringenden noch über Bord nach:
»Schone deine Lunge nicht, Bursche. Lobe und rühme mich. Es hat Eile.«
Schweigsam hatte die schöne Occa die Botschaft angehört. Jetzt saß sie an dem Ausguck ihrer Kammer, von wo sie die Lichter der Flotte durch die Dämmerung zucken und blinken sah, und ihr eitler Sinn überlegte, welchen Entschluß sie fassen sollte.
Die Einsamkeit tat ihr nicht wohl. Voller Dunkelheit hing der Raum, in dem sie weilte, und nur aus ihrer offenstehenden Schlafkammer schwamm der trübe Schein eines Öllämpchens herüber. Allein die spärlichen Strahlen trugen ihr noch etwas Besonderes herzu. Jetzt, da der Augenblick herannahte, wo der glänzende Freibeuter, der Mann des Zufalls und des Abenteuers in das Ungewisse seiner gefährlichen Laufbahn hinausgerissen wurde, jetzt, wo man den Sagenumwobenen leicht für immer verlieren konnte, mit dem ihre Einbildungskraft nicht allein oft gespielt, sondern dessen schicksalsgestaltende Mannheit sie sich bereits durch ihre Künste gefügig gemacht zu haben glaubte, da kam ein bitteres Erinnern, ein Vergleichen über die Verkaufte, und ihr bisheriges Dasein erschien ihr nicht mehr so spielerisch und harmlos wie früher.
Seltsame Gestalten tauchten aus dem matten Schimmer zu ihren Füßen. Zuerst glaubte die Verlassene, die flüchtigen Lichtflecke formten sich zu einem menschlichen Klumpen, und obwohl ihre Sinne unerschrocken und grobkörnig waren wie die der meisten Frauen ihrer Zeit, so rückte sie doch belästigt zur Seite, als sie der Täuschung unterlag, das »Ferkel« kröche auf sie zu, um sein Borstenhaupt tierisch an ihrem Knie zu reiben. Die dunstige Wärme wurde ihr zuwider.
»Mach fort«, scheuchte sie das allzu nahe Phantom und – erwachte. Offenen Auges sann sie dann weiter in die Nebelluft des versunkenen Tages. Dort drüben zwischen den dämmernden Lichtern harrte ihrer jetzt gewiß der Riese, denn hinter seiner Einladung – das wußte sie – lauerte sicherlich der Wunsch, sie endlich in seine Arme zu schließen, um sie zu unterjochen. Niemals hatte er ein Hehl aus seinem brennenden Verlangen gemacht, ebenso wie sie selbst kaum aufgehört, durch ein lässiges Versagen sein Gelüst zu schüren.
Versonnen lächelte die Goldblonde und stützte ihren Arm auf die Mauerplatte. Ein unendliches Wohlgefühl verursachte es ihr, sich dies alles vorzustellen. Ungebrochen war sie noch, und gerade ihre Freiheit sowie die Geschicklichkeit, mit der sie ihr höchstes Gut verteidigte, sie erfüllten sie mit einem herben Stolz. Aber während ihr jetzt die feuchte Seeluft die Wangen kühlte, da begann in ihren Gedanken jener heimlich nagende Ehrgeiz zu schmerzen, den sie von ihrem tollen Vater geerbt, und allerlei weitmaschige Pläne von möglicher Größe und künftiger Herrschaft knüpften das Netz zwischen ihr und dem Entfernten enger. Wenigstens versuchte die Schwankende, sich jenes unerklärliche Treiben und Drängen in ihrem Blut so auszudeuten. Warum sollte sie nicht die Kräfte jenes Unbändigen sich dienstbar machen, der mit Schätzen, Fürstentümern und Kronen so unbesorgt spielte wie sie mit den Huldigungen vernarrter Männer? Warum sollte sie nicht den Fuß auf jene Hand setzen, die sie hoch ins Licht heben wollte? Unermeßlich hoch vielleicht. Draußen in der Welt war man gerade dabei, einen König zwischen Schloß und Mauern verhungern zu lassen. Wohin konnte ein Kühner, den die Goldfäden des Volksliedes schon umspannen, nicht kecken Fußes gelangen? Namentlich, wenn ein begehrtes Weib ihm List und Tollheit ins Ohr wisperte? Vielleicht war sie überdies schlau genug, selbst jenen Gewalttätigen noch einmal zu mäßigen. Gerade dieses letzte, dieses Ungewisse, gefährliche Spiel reizte, wie sie meinte, ihre Unternehmungslust aufs äußerste.
Ja, sie war entschlossen, und während sie hastig in ihre Schlafkammer eilte, um sich heimlich und einsam anzukleiden, da überfiel sie der ganze, von ihr kaum gekannte Rausch, den ein Weib zu erregen und mitzuteilen vermag. Eine Metallscheibe zeigte ihr ihre Gestalt.
In diesem Augenblick umfing sie den Fernen und lehnte ihr Haupt an seine Wange.
Sorgsam wählte Occa ihr schönstes rotes Fältelkleid aus Leyden, und als sie es mit geschwinder Hand angelegt, da empfand sie selbst voll Befriedigung, wie der starre Goldschmuck des Gewandes, der sich über ihrer Brust zu einer Art Sonne verdichtete, den Strahlenkranz des Reichtums um sie schloß. Noch einmal spähte sie vorsichtig aus dem offenen Fenster, allein auf dem dunkelfeuchten Burghof war keine Seele zu erspähen, sie hörte nur, wie die Windsbraut von der Linde Wolken dürrer Blätter abtrieb, um darauf mit dem Kehricht tief unten auf den Steinen umherzukichern. Nun galt's!
Hurtig warf sich Occa ihren grünen, gleichfalls über und über mit Goldblechen besäten Mantel um, zog ihn nach der Sitte der Friesinnen über das Haupt und huschte leichten Fußes die Steintreppen hinab. Wie ungewohnt ihr dabei das Herz hämmerte, wie angestrengt ihre Brust atmete, und doch erinnerte sie sich nicht, jemals eine ähnliche Lust gekostet zu haben. Weiter, weiter, damit ihr jenes fremdartig beglückende Sehnen nicht etwa noch zuletzt durch irgendein Hindernis gehemmt würde. Jetzt schlich die dunkle Gestalt bereits über den Hof, nun drückte sie gegen das Pförtlein der Mauer. Gottlob, es war offen. Von der Anhöhe überschaute die Broketochter noch einmal das nächtige Gefilde. Der Meerwind, der über das Flachland pfiff, blähte ihren Mantel, die bunten Lichter der Flotte stiegen auf und ab wie ungeheure, gebändigte Leuchtkäfer. Dies war die Sprache, in der der Störtebecker zu den Seinen redete. Aber plötzlich zog ein eigenartig überlegenes Lächeln um den Mund der Flüchtigen, genau so, wie durch die Signale dort unten die Nacht erhellt wurde; wie, wenn der unbeherrschte Mensch, den sie zu versuchen gedachte, sie nicht mehr aus seiner Gewalt entließe, wenn er sie mit sich schleppte? – O Schmach, ihr Stolz litt es nicht, sich solch einen Niederbruch vorzustellen, und der goldene Stirnreif, den ihr das Abenteuer noch eben entgegengereicht, er erblindete sacht in dem feuchten Nebel der Finsternis.
Eben wollte sie ihre Gewandung schürzen, um desto ungestörter wieder den Fahrweg hinaufeilen zu können, da stutzte sie, und im ersten Schrecken stürzte ihr der Mantel vom Haupt. Hilf Himmel, dicht unter ihr knarrte etwas Ungefüges aus der Schwärze hervor, das durchdringende Quietschen trockener Räder meldete sich, und ehe Occa noch den Entschluß fassen konnte, wieder durch das Tor zurückzuschlüpfen, wurde ihr Antlitz von dem Flackerschein einer Fackel übermalt. Ein Knecht trat hinter dem Wagen hervor. Der hielt ebenfalls inne, als er seine geschmückte Herrin gewahrte. Unter dem Leinendach aber grunzte wie in Spuk und Traum jene viehische Stimme, vor der ihre Jugend eben noch voll Widerwillen geschaudert hatte. Stumm, unbeweglich mußte das schöne, fackelbeleuchtete Bild mit ansehen, wie zwei Wäppner die gemästete Rundung des »Ferkels« von dem Gestell herabhoben, watschelnd kroch das Ungeheuer auf sie zu, dann weidete es sich lange an der Pracht und dem Schmuck der Wegbereiten, während die schmalen Schweinsäuglein fast hämisch dazu glitzerten. Endlich schnaufte der Klumpen, so sanft er vermochte:
»Wohin, mein Trautchen?«
»Zum Störtebecker«, brach Occa zornig aus, da sie es verschmähte, vor ihrem Gatten Geheimnisse zu bergen.
»Recht«, nickte der Sternendeuter beifällig, als wenn nicht das geringste an dem Betragen seines Weibes auszusetzen wäre, »dacht' ich mir doch, daß ich dich warnen müßte.«
Dabei griff seine schwammige Rechte nach dem Arm der Schönen, schob sich selbst dicht unter ihren Mantel und drängte die noch immer Widerstrebende auf diese Weise mit sich in den Hof. Erst unter dem Hauseingang löste sich der Fettwulst von seiner Begleiterin, um schnaufend gegen den bedeckten Himmel zu weisen.
»Was schaust du dort oben an dem Bogen des Wechsels?« stöhnte er bedeutungsvoll, und es sah beinahe grausig aus, wie die fette Ungestalt mit der Sicherheit des Besitzers die Hand gegen das finstere Gewölbe reckte, als wollte er dort droben einen Schrein voll Kostbarkeiten aufschließen.
Doch Occa brachte seiner Wissenschaft nicht die von dem »Ferkel« gewünschte Verehrung entgegen.
»Ich sehe nur, daß es regnen wird«, erwiderte sie spottend und wollte sich abkehren.
Der Klumpen aber hielt sie zurück.
»Leichtfertig Kind«, grunzte er, »und ich hab' deinetwillen die schmerzhafte Fahrt angetreten. Siehst du nicht, wie das Siebengestirn drohend nah gen Luna rückt? Und wie von der anderen Seite das Gewimmel der Plejaden gegen die Sichel drängt? Das bedeutet Abnahme und Tod eines Mächtigen. Übermacht rottet sich zusammen. Mit vierzig Koggen segeln die Hamburger schon in Sicht der Inseln, so daß es kein Entrinnen mehr gibt. Wer in Marienhaven morgen Wäsche spült, wird sie rotgefärbt herausziehen.«
Da lehnte sich Occa sprachlos gegen den Torpfosten, aber wunderlich, ihre heiße Regung verflüchtigte sich überraschend schnell vor dem Heranziehen des Ungemachs oder des Zusammenbruchs, so daß es fast nur noch der Schreck über ihre eigene Verbindung mit dem Gezeichneten war, der ihr ein Zittern einflößte.
»Wer trug dir dies alles zu, Luitet?« fragte sie um vieles vertraulicher.
Der Dicke streichelte sacht ihren Mantel, bevor er zögernd, aber mit einem schlauen Blinzeln in den Schweinsäuglein, erwiderte:
»Lasse mir meine Erkenntnis gern nachprüfen, Occa. Bin nicht stolz darauf. Diesmal taten es eine Anzahl von Fischern, die Hisko in Sold hält. Ja, der Pfaffe hat den Hansen sogar schon einen Unterhändler entgegengeschickt.«
Als das geschmückte Weib diesen nackten Bericht über Abfall und nahende Schande überlegte, da überkam es beinahe eine Art Dankbarkeit für den rechtzeitigen Warner. Übermütig, wie sonst, klopfte sie ihm die feiste Wange.
»Bist doch ein klein kluges, nachdenkliches Vieh«, lobte sie ihren Eheherrn und versetzte ihm einen leichten Schlag, der das »Ferkel« jedoch befriedigt aufbrummen ließ. »Komm, ist kalt hier. Die Mutter soll dir warmen Wein in den Trog schütten.«
Schritt für Schritt zog sie das schwankende Ungeheuer die unbequemen Treppen hinauf. Aber noch während des schwierigen Hinaufklimmens hing sich der Klumpen fest unter ihren Arm und schnaufte recht aus Herzensgrund, fast wie ein ehrlicher Beichtiger, der seinem Seelenkind zuredet:
»Meinst du nicht, Liebe, daß dieser Gottversucher mit Recht Pein und Block verdient? Gibt es wohl ein boshafter Beginnen, als die frommen Satzungen von reich und arm umzuwühlen, so daß schließlich der Edelingsrock auf deinem schönen Leib nicht mehr gilt als der Bettlerkittel?«
»Komm, komm«, rief Occa schaudernd, »laß uns am warmen Feuer niedersitzen. Und dann wollen wir der Ausgeburt eines Tollwütigen für immer vergessen.«
Die grünen und roten Lichter zogen flußabwärts. Eine langsam gleitende Bewegung war in die hölzernen Massen geraten, und während die Ungetüme im Schein ihrer Laternen, schattenhaft nachgebildet und wie flach über das Land hingeworfen, ihre huschende Wanderung antraten, da schrillte, trillerte und pfiff es von allen Seiten durcheinander, als wenn die großen Vögel nunmehr auch ihre Stimmen wiedergewonnen hätten, damit sie sich gegenseitig warnen könnten. Allein es handelte sich um keinerlei Vorsicht, denn dies war der Gesang des Angriffs, des Stoßes und des Ausbrechens aus dem Käfig. Zur selben Stunde, da Occas Eheherr ihr die dunklen Sprüche des Himmels offenbarte, da standen drei Snykenführer,Befehlshaber leichter Schaluppen. die schon seit Tagen draußen auf offener See Vorpostendienste leisteten, vor ihrem Admiral, und das, was sie meldeten, das war der Ruf des Lebens und des Todes zugleich, das war die ernste, unerbittliche Ordnung und das lustige, leidenschaftlich wühlende Chaos.
Zwischen ihnen auf den Wellen schwankte die Waage.
Der Feind war da. Auf unbegreifliche Weise erschienen. Wie der Dieb in der Nacht. Vierzig kriegsstarke Koggen. Das ganze hansische Aufgebot, vor allem Hamburger, und an ihrer Spitze ein ungefüges, plumpes, breitstirniges Schiff, das im Topp die Admiralsflagge gesetzt hatte. Die »Bunte Kuh«.Es war aus Utrecht gechartert.
Es war der Name des Fahrzeuges, der dem Störtebecker zuerst während des Kriegsrates in der Kajüte ein hämisches, nach Hellebarden und Schwertern klirrendes Gelächter entlockte:
»Ho, Brüder«, hieb er sich auf die Brust, »welch gutes Omen! Wir wollen das Hamburger Tier erst melken und dann schlachten. Gönne ich doch meinen Kindlein schon lange solche Milch. Und nun« – er wanderte weiten Schrittes durch den hell erleuchteten Raum und zog dabei ein paar der Lukenbretter zurück, um finstere Blicke auf das vorüberziehende Land zu heften –, »nun, Heino, sprich, mein Freund, wie siehst du das Ding sonst an?«
Der Kleine lehnte am Tisch und stützte sich auf seinen Hieber. In dem faltenlosen, glatten Kindergesicht stand dunkler Ernst.
»Daß die Krämer mit einer solchen Übermacht erscheinen«, sagte er bestimmt, »beweist mir, daß der Michael geliefert ist.«
»Möchten dich doch die Furien erwürgen«, unterbrach der Störtebecker hier dunkelrot, denn seit seiner Kindheit hatte sich der Unbändige stets in beleidigter Auflehnung dagegen gesträubt, ohnmächtig gegen ein schwarzes Wetter zu starren. »Der Gödeke lebt. Meinen Kopf dafür. Ich sehe ihn, ich höre ihn sprechen. Meinst du, der Satan würde mir sonst Dietrich und Brecheisen ins Wappen setzen, wenn's nicht der guten Kumpanei wegen geschähe?«
Wütend schlug er gegen die Schiffswand. Unter den Führern erhob sich ein widerstreitendes Gemurmel. Unbeirrt jedoch und kühl streichelte sich der Magister das Kinn.
»Wie dem auch sei«, beharrte er, »ist jetzt nicht an der Zeit, Claus, sich in den römischen Triumphmantel zu hüllen. Hab' all mein Tag auf die Ehre gepfiffen. Ha, ha, ohne Ehre kann man leben, aber ohne Kopf nimmer. Ich stimme dafür, wir wollen entwischen, solange es noch Zeit ist.«
Die anderen schwiegen.
Auch der Admiral stand wortlos am Ende der Kajüte, dort, wo sie sich sanft verjüngte. Ohne Absicht hatte er einen dicken Folianten von der Truhe emporgerissen und nagte emsig an der Unterlippe. Jetzt aber warf er den Wälzer polternd zur Erde und richtete sich jäh zur Höhe.
»Habt ihr euch«, rief er mit seiner durchdringenden Stimme, die jedem einzelnen einen Messerstoß in die Brust versetzte, »während ich euch Wohnsitz und Unschuld geben wollte, nach Blut und Beute gesehnt?«
»Ja«, sprachen die Männer gemeinsam.
»Und ist's nicht euer einziger Freibrief, daß ihr mit Beelzebub Karten zu spielen wagt, ganz gleich, ob der Gehörnte die Bilder in der Klaue hält und ihr die Nieten?«
»Ja«, schrien die Freibeuter überzeugt. Fuhren aber gleich darauf wild durcheinander. »Haben selbst einen Trumpf im Spiel, heißt Claus Störtebecker.«
Da glitt ein stolz zerrissener Schein über das dunkle Antlitz des Riesen, den man früher nicht an ihm gekannt.
»Habt mir nur die Helmzier abgebrochen, ihr wetterwendisch, unbelehrbar Volk«, grollte er mehr zu sich selbst, »aber gleichviel« – er trennte die Seekarte von der Wand und schleuderte sie auf den Tisch –, »will das Kunststück ausführen, um des Kunststücks selbst willen. Wohlan, Heino, gib dich, wir schlagen morgen. Und jetzt habt mir acht auf ein gar sauber Stücklein von einem Plan.«
Es war tief in der Nacht, als der Admiral in seine Kajüte zurückkehrte. Bis dahin hatte er bei Laternenschein jeden Winkel seines Schiffes gemustert, er hatte die Rüstkammer besucht, die Winde der drehbaren Geschütze geprüft, Leinen und Segel zur Probe gezogen und überall die verwegenen Gesellen, die ihm an ihren Rollen ihre Künste weisen mußten, durch ein wildes, zündendes Scherzwort in jene bis zum Reißen straffe Spannung versetzt, die auf der »Agile« bisher immer die letzte, unwiderstehlichste Waffe gebildet. Jetzt hatten die Schiffe, schon außerhalb der Inseln, Anker geworfen, Ruhe war vor dem roten Erntetag befohlen, und der Störtebecker selbst betrat müde und in sich gekehrt seine Wohnstätte. Er hatte noch nicht sein Haupt entblößt, als der Heimgekehrte mitten auf einem der dicken Teppiche des Fußbodens seinen Knaben hingelagert fand, den wohl beim Warten auf seinen Herrn der Schlaf übermannt haben mochte. Gedankenvoll blieb der Störtebecker vor dem friedlichen Bilde stehen, denn die scharfen Lichter aus den venezianischen Gläsern enthüllten ihm deutlicher als je zuvor, wie hager und abgezehrt die Wangen seines folgsamsten Gesellen eingesunken waren, ja, wie tief die ganze schwärmerische Bildung seiner Züge in Leid eingebettet ruhte. Wahrlich, der Sturz, den diese ihm hingegebene Seele aus einem versprochenen Himmel getan haben mußte, er hatte der Ärmsten gewiß für immer jene Inbrunst geraubt, in der sie wie eine steile Flamme aufstieg und ohne die ihr Dasein zu Asche sank. Die Menschheit hieß der große Tempel, in dem der Gläubigen ein Hüterinnenamt zugesichert war. Wohin würde sie sich nun flüchten, nachdem offenbar geworden, daß die Fratze des Wahnwitzes vor der Tür des angeblichen Heiligtumes grinste? Leise berührte der Hinabschauende die Weiche des Schläfers mit dem Fuß, um sich von der ungestörten Fortdauer des Schlummers zu überzeugen, dann aber verdüsterte sich seine Miene, und er sprach dumpf vor sich hin:
»Zerbrochener Scherben! Deinetwegen könnte ich Reue lernen. Kein morgenrotes Eiland mehr in der Ferne, mein Büblein, nur die Fahrt in den Pfuhl, darüber das Fieber tanzt. Dir wäre besser, du blasser Traum, du gingest gänzlich in Schlaf über.«
Vorsichtig beugte er sich, nahm den schlaff herabhängenden Körper in seine Arme und las eine Weile angestrengt in den gelösten Zügen, die ohne das Licht der Augen nur den Ausdruck versenkter Ruhe wiesen. Aber gerade diese unbeteiligte Ferne schien den Späher zu trösten. Leise ließ er seine Last wieder auf die Kissen sinken, blickte noch einmal mit vollem Verlangen auf die Pracht des kostbaren Raumes, dann löschte er selbst das Licht, und bald verkündeten kräftige Atemzüge von seiner Lagerstatt, daß auch dieses unruhige Hirn der Betäubung unterlegen sei. Drückendes Schweigen webte in dem weiten Gemach, und nur das regelmäßige Gewoge der See zählte in der Finsternis seinen eigenen Herzschlag.
Und doch – es gab hier noch ein ander Hammerwerk, das in einer menschlichen Brust aufgestört fieberhaft seine enge Kammer zu sprengen drohte.
Linda schlief nicht.
In den Armen ihres Gebieters war sie aus ihrer schweren Verstrickung erwacht, sie hatte seine dunkle Prophezeiung vernommen, und nun lag sie angehaltenen Atems und suchte kältegeschüttelt zu ergründen, ob sie wirklich das mit sich selbst bekannte und einige Wesen sei, in dessen Brust vom Schicksal Urteil und Vollstreckung zugleich gelegt wären.
Draußen schlugen die Wellen unabänderlich an die Planken: »Du mußt – du mußt«, und während der Hingestreckten vor dieser Bedrängnis die Zähne gegeneinander bebten, da warf ihr schäumendes Hirn allerlei Fetzen jener Verhaltungsmaßregeln durcheinander, die ihr von dem scheusäligsten aller Verbrecher, dem dicken Wichbold, überkommen.
»Sieh, du mußt erst das tun – mein schlaues Büblein, und dann mußt du jenes – –, aber vorsichtig, damit er dir nicht deine Sprünge ablauert.«
Er – er, das war der Mann, der ohnehin schon den Glanz, den Strahl, das Gold seines Ichs eingebüßt und nur noch dahinraste, um hinter wilden Lastern seine Niederlage zu verstecken. Kein Messias mehr, sondern ein frecher, sich selbst verspottender Judas! Keine Labe in den Händen für die Schmachtenden und Niedergebrochenen, nein, nein, vielmehr ein Gurgelschneider, der in Selbstverzweiflung seinen Opfern wohlzutun glaubte, weil er sie abschlachtete.
Der Morgenstern in einen Kothaufen verloren.
Nimmer!
Linda erhob sich. In ihrer Blässe stand wieder jene unerbittliche Treue zu ihrem Entschluß, die in dem langen Zusammenwirken mit dem Gewaltmenschen ihr Erbteil geworden. Jetzt lauschte sie nicht mehr, keine spitzfindigen Fragen legte sie sich weiter vor, getrieben von einer finsteren Notwendigkeit, furchtlos und überzeugt schlich sie unhörbar die Treppe der Kajüte hinauf.
Wie hatte es doch der dicke Wichbold gemeint?
Immer seine listig heisere Einflüsterung im Ohr, strich der Schatten über Deck, dann wand er sich wieder zwei enge steile Treppen hinab, bis dahin, wo tief im Bauch des Fahrzeuges der rote Schein der Schiffsschmiede glimmte. Vorsichtig öffnete Licinius die rußige Höhle, allein die halbnackte Zyklopenschar, die noch vor wenigen Stunden hier an ihren Ambossen Pfeil- und Lanzenspitzen geglüht und gehärtet hatte, sie lag jetzt irgendwo in der Schwärze verborgen, und mit der rasselnden Wucht arbeitender Blasebälge entströmte ihr Atem. Halblaut, prüfend rief sie der Schatten an:
»He, Detlev – Olav – Henneke!«
Als sich jedoch nirgendwo ein Zeichen des Verständnisses kundgab, da wandte sich der Knabe gegen den verlassenen Herd und schob einen der Schmelztiegel in die noch lebende Glut. Dann bückte er sich und blies seinen eigenen ängstlichen Odem in die müde Asche.
Und wieder und wieder versuchte der nächtliche Gast während seines Tuns die hingestreckten Schmiede: »He, Detlev – Olav – Henneke.«
Umsonst. Keiner von ihnen bemerkte das zitternde Menschenkind, wie es rötlich angestrahlt und doch mit geschlossenen Augen die Nägel zu dem gemeinsamen Sarge goß.
Kurz darauf wurde über die Hintergalerie der »Agile« eine Strickleiter geworfen, derselbe geschmeidige Schatten glitt hinüber, und an dem ungeheuren Steuer tauchte er hinab von Rippe zu Rippe. Immer tiefer.
Dazu pfiff der Wind sein einförmig Lied, und die Wache im Mastkorb sang sich zum Zeitvertreib eine Weise von Heimkehr und Magdtreu.
Es war bestimmt, daß man durch eine vorgetäuschte Flucht gen West die Übermacht der Hansen erst auseinander zerren solle, um dann, nach einiger Zeit gewendet, die ungefügeren Koggen der Krämer einzeln überfallen und niedersegeln zu können.
Auf dem Fischmarkt zu Hamburg erzählte man sich später vielerlei über den glückhaften Hergang.
Ein regenfeuchter Oktobermorgen war angebrochen. Die Schwarzflaggen unter Führung von Wichmanns »Goldener Biene« waren längst nach West ausgeschwärmt, nur die »Agile« lag noch verhaftet an ihren Ketten, ein riesiger Adler, der den Abzug seiner Küchlein decken wollte. Oder reizte es den Störtebecker nur, Schußsicherheit für eine Ladung seiner Steinkugeln zu gewinnen? In Lederwams und Kappe stand er breitbeinig auf dem Bugaufbau, nicht mehr jenes goldene Leuchten im Antlitz, dafür aber von einem verbissenen, fürchterlichen Grimm durchwettert, der sich allen mitteilte, die auf diesen Mittelpunkt ihres Schicksals hinstarrten.
Jetzt kam der erste Befehl.
»Schießt«, forderte er nach einem scharfen Ausspähen von den ihn umdrängenden Bombardieren. Er sprach ganz ruhig. Die Lunten senkten sich, ein Rollen, und dort drüben in der langen hölzernen Zeile begann es Takelwerk und Leinen zu regnen.
»Gut, meine Kindlein«, lobte der Admiral, und das unheimlich niedergehaltene Feuer in seinen Augen stäubte etwas höher. »Es war nur, um ihnen den Morgenbrei zu wärmen.« Er riß sich die Kappe vom Haupt und schwenkte sie höhnisch nach der Gegenseite. »Grüß Gott, ihr Herren. Die Diebe mit dem Brecheisen grüßen die Spitzbuben vom Gänsekiel! Gibt's was zu schachern? Haben nur unsere Freiheit, und die ist ein teuer Ding!«
Damit setzte er die Sprachdommete an die Lippen:
»Anker auf.«
Die Ketten rasselten, die Brust des Schiffes hob und senkte sich wie ein Schwimmer, der sich die erste Glut kühlen will.
»Schüttet Segel aus. Ruhe – kalt Blut, meine Kinder. Bevor die Krämer drüben ihr Leinen mit der Elle gemessen, sind wir davon. Nun die Pinne hart an Steuerbord; lebe wohl, Hamburg!«
Allein die »Agile« vollführte die gewünschte Schwenkung nicht. Wie von unsichtbaren Geisterfäusten gepeitscht, sauste der Renner dem Halbkreis seiner Häscher entgegen.
»Plagt dich der Böse, Wulf Wulflam?« brüllte der Störtebecker von seinem erhöhten Stand halb toll über Deck und schob sich vor ratlosem Erstaunen die Kappe aus der Stirn. »Hundsfott, dreh augenblicks gegen den Wind ab, sonst lade ich deinen Kopf in die nächste Lederschlange. Hölle und Graus, was geschieht hier?«
Inzwischen war der Freibeuter Lüdeke Roloff neben den stiernackigen Wulf und seine Gesellen gesprungen, beide Männer schoben sich gegen den Baum, daß ihnen das Blut aus den Wangen spritzte. Doch unverändert tobte die »Agile« ihre böse Fahrt weiter. Vom Land aus einen steifen Südwest in den Segeln, so schnitt das Schiff durch die spitzen Wellen, als müsse es in wenigen Sprüngen sein Ziel erreichen.
»Herr«, keuchte es jetzt zweistimmig vom Heck, »geliefert sind wir – es ist Blei in die Angeln gegossen«.Die Sage vermochte sich den Hergang nicht anders zu erklären. Übrigens war die geschilderte Kriegslist zu jener Zeit eine durchaus übliche. Auch der gefeierte Seeheld Paul Beneke von Danzig benutzte sie etwa um das Jahr 1473.
Einen Atemzug lang blieb alles still, das Entsetzen wohnte an Bord. Dann aber wirbelte eine riesige Gestalt vor aller Augen die zwei Stockwerk aus der Luft herab, schoß durch die heulende, kreischende Mannschaft hindurch und warf sich gleich darauf mit ihrer ungeheuren, durch Verzweiflung und Grimm verzehnfachten Körperwucht gegen die Pinne. Das Holz ächzte und krachte, das Steuer bewegte sich nicht.
Jetzt lösten sich die Bande des Gehorsams. Die Schwarzbrüder verließen ihre Posten, die meisten warfen ihre Waffen fort, sie irrten durcheinander gleich den Ameisen, und der Wahnwitz fächelte sie mit seinen Mohnflügeln. Das Unsinnige gewann die Oberhand.
»Reißt die Segel herab.«
Als ob das verlangsamte Fahrzeug weniger verloren gewesen wäre!
»Flieht – flieht – in die Boote!«
Als ob angesichts des Gegners und bei der rasenden Fahrt die aufgepeitschte Menge in den winzigen Kähnen Platz gefunden!
Immer hurtiger hetzte der Springer über die Wogenhügel. Aber gerade in dem Augenblick, da er das ihn bändigende Halfter völlig zerknirschen wollte, da fühlte sich das Roß noch einmal von jener stählernen Faust gepackt, die es bisher noch immer bezwungen und beruhigt. Hoch auf dem Heckaufbau zeichnete sich in seinem verwitterten Lederkoller der Schwarzflaggenfürst gegen den wolkigen Dunst ab. Um kein Haar anders stand er da als sonst, da er die letzten Befehle zum siegreichen Angriff zu geben gewohnt war. Nur der bösartige Grimm war aus seinen Zügen entwichen, ja, er lächelte jetzt sogar, ein helles, gereinigtes Lächeln, wie es nur die von sich selbst befreiten Sterblichen kennen.
Die Gefahr, die drängende Sorge um andere hatte unvermerkt das Beste in diesem Menschen geweckt.
»Hört ihr mich, meine Kinder?«
»Ja, Claus«, schrien sie hoffnungsvoll. Sie sammelten sich um diesen Klang wie um einen schützenden Turm.
»Das Spiel fängt erst an, ihr Schuimer. Schüttet Segel aus, bindet Leinen auf, der letzte Fetzen muß fliegen.«
»Segel?« Sie glaubten, er rede im Fieber.
»Ich sage, knüpft eure Hemden an die Rahen, ihr Burschen, und fegt durch die Luft. Unter dem Bug gibt's gleich ein Schädelknirschen. Schießt – schießt!«
Was weiter geschah, das sauste von der Spule, ruckartig, unpersönlich, gedankenlos, denn all die von Tod und Untergang angegrinsten Menschen, sie hatten ihre eigene Überlegung, ihre Glieder, ihr Handeln und Aufhören diesem einen überliefert, und der riß nun an ihren Fäden und lenkte seine Figuren, willkürlich, gnadenlos, nur zu dem einen Zweck des Lebens.
Alle eigneten sie ihm, bis auf die schwächste und hilfsbedürftigste. Die lehnte an der Bordschwelle, hatte ihre Hände krampfig über der Brust ineinandergeschoben, aber ihr ungesprochenes Gebet war zum erstenmal nicht mit dem Herrn ihres irdischen Loses, sondern sie rief und flehte zu dem Schicksal, auf daß es größer und auch barmherziger walten sollte als jener lebend Tote, der jetzt dort oben den letzten gespenstischen Kampf focht. Sie bereute nichts, sie widerrief nichts, sie fühlte, daß Mitleid und Gnade einzig bei ihr wären, die mit ihrer schwachen Hand das Tor des Gemeinen und Verworfenen vor dem sterbenden Messias abschloß.
Vor ihren umflorten Augen wandelte sich das flutüberströmte Schiff in eine langhingestreckte, menschenwimmelnde Kirche. Schwärzlicher Himmel wölkte sich über dem Dom als tiefe unergründliche Decke, und die Musik des Meeres pfiff und stürmte in fernen Orgelweisen einen silbernen Engelsgruß.
Sie sah nur den einen, dessen bleiches, lockenumflattertes Antlitz schon jetzt hoch droben dem Irdischen entrückt war.
Ein Krach! Ein herzumwühlender Stoß. Die Hamburger hatten dem unter stärkstem Druck daherfliegenden Admiralsschiff einen alten unbrauchbaren Kasten mit der Breitseite entgegengeworfen – die »Agile« schnitt ihn mit ihrem Rammsporn auseinander wie dünnes Glas.
»Triumph«, schrien die berauschten, vom Wunder bereits in eine andere Welt geschleuderten Gleichebeuter, und jeder packte seinen Spieß oder die Armbrust nerviger. Ein wildes, tumultuarisches Gebrüll stieg zum Himmel.
Da schwang schon wieder der schrille, gellende Pfeifentriller des Admirals, die Schwarzflaggentrommel wurde gerührt – der alte fortreißende Wirbel zuckte durch die Herzen.
»Entert«, schrie der Störtebecker von seiner Höhe.
Er befahl es mehr mit seinen blutig leuchtenden Augen, mit dem hoch erhobenen Hieber, mit der weit ausgestreckten Linken.
»Aller Welt Feind«, antworteten die Vitalianer mit ihrem fanatischen Schlachtruf.
Die Brücken rasselten, ein splitterndes Reiben und Knirschen meldete, daß sich jetzt zwei der ungeheuren Rümpfe eng nebeneinander geschoben hatten. Die »Agile« biß in die Wange der »Bunten Kuh«.
Und mitten in diesem Knäuel von Lanzenspitzen, zischenden Bolzen, Pulverdampf, herunterbrechenden Spieren und dem Gekreisch Getroffener lehnte Linda noch immer wie unbeteiligt neben dem hohen Bord. An ihr vorüber heulten Steinkugeln und rissen das Deck auf, so daß der entsetzte Blick in das Eingeweide des Holzleibes irren konnte, dicht neben ihr bauschten sich die unheimlichen, riesenhaften Malereien, mit denen die Hamburger ihre Segel geschmückt hatten. Ein titanischer Schwan blähte sein Gefieder und starrte die Einsame mit roten Augen gefräßig an. Dahinter flatterte ein steiler Turm und schleuderte ihr seine Ziegel gegen das Haupt. Doch all das Grauen zog wesenlos über sie fort, weil sie in den Greuelgestalten nur ihre Helfer erkannte, die sie herbeigerufen hatte, um den verirrten Heiland in sein Grab zu betten.
Ein Goldgefunkel blendete ihr die Augen, und sie wußte, daß dort auf der Enterbrücke die Klinge des Gewaltigen ihre sausenden Kreise zog, sie hörte eine menschliche Fanfare in dem dicken Haufen jedes Ohr wecken:
»Meine Schuimer, meine Kinder, drauf, drauf, schlagt, spießt, stecht – melkt die Goldkuh!«
Und sie lächelte nur matt über jenen habsüchtigen Aberwitz.
Aber dann kam der Augenblick, wo auch ihr Geist aufgerissen wurde. Ihr Gebet war erhört.
Dumpfe Stöße erschütterten kurz nacheinander die »Agile«. Von zwei Seiten war das überflügelte Schwarzschiff in die Mitte genommen. Fremde Scharen quollen über Deck. Und von der Enterbrücke, wo eben noch der Goldkreis gesummt und gesungen hatte, stürzte ein höllisch kreischender Haufe zurück. An seiner Spitze ein Wahnwitziger, der noch immer retten wollte.
»Licinius«, schrie er aus tiefster Brust. »Licinius.« In seiner Notstunde erinnerte sich der Riese an sein eigenstes Besitztum. Da leuchtete der Knabe beseligt auf.
Ja, der Himmel öffnete sich, ein goldener Lichtweg strahlte gegen das Sterbliche, und eine Heiligenschar trug einen Sarg hinunter.
Das gotterfüllte Ende war da.
Als sich der wirre Knäuel gelöst hatte, sah man einen blutüberströmten Mann mit dem linken Arm an den Hauptmast gebunden, die Rechte aber führte immer noch das Schwert, fegte und bahnte um sich her, und dazu schrie eine in Jammer erstickte Stimme:
»Wer – wer hat mir das getan?«
Sein rollendes, in Irrsinn und Auflehnung brechendes Auge erfaßte den Getreuesten, heftete sich an ihn und wollte ihn nimmer lassen.
Da sank der schöne bleiche Knabe mitleidig vor dem Gerichteten in die Knie.
»Claus Störtebecker«, sprach er verklärt, »diese Hände haben dein Steuer angehalten, mit weißen Segeln wirst du in die Ewigkeit fahren.«
Heftig wurde er emporgerissen, und mit hocherhobenen Armen warf sich der Blonde in den Busch zögernder, halbgesenkter Lanzen.
Der am Mast ließ sein Schwert fallen. Ohne Verständnis kehrte er seine Augen gen Himmel, ohne Begreifen spiegelte er die verstummte, blutige Menschenschar. Tief stöhnte er, und sein Haupt sank ihm auf die Brust.
Am Abend des 19. Oktober 1402 nach Feliciani sprang ein Gaukler durch die winddurchpusteten, regenfeuchten Gassen von Hamburg, und der buntscheckige Narr schlug Purzelbäume zum Ergötzen des Haufens, ließ seinen Dudelsack ausströmen und quäkte dazu:
»Hei – hei!
Morgen verschwemmt die gefährlichste Klippe der Nordsee,
Daran gestrandet manch stolzes Schiff,
hei-hei!«Nach einem alten niederdeutschen Bänkelsängerlied aus Wächtters historischem Nachlaß.
Blieb dann stehen und deutete mit seiner Klapper auf die ungefüge Haube des Katharinenturmes, von wo die ganze Nacht Lobweisen geblasen wurden.
»Horcht«, krähte er, und er schüttelte vor Kälte und fröhlichem Grusel seine abgezehrten Glieder, »pfeifen dem Störtebecker das Schlummerlied.«
Allein der Gefangene, zu dessen letztem Gang die Stadt sich so festlich rüstete, er bedurfte weder Gesellschaft noch Aufheiterung. Denn ruhte er zwar auf Stroh in einem lichtlosen Kellerloch unter der Kanzlei, so hockte doch sein Lehrer Wichmann bei ihm auf einem Schemel, und beide zechten bald aus der riesigen Weinkanne, die ihnen der Rat gespendet, bald grölten sie Zoten und Schelmenlieder, daß sich die Wache vor dem Gitterfenster ehrlich entsetzte.
Ein alter, graudurchfurchter Stadtknecht schob deshalb seinen Kopf gegen die engen Eisenstangen, damit er die beiden Gerichteten zu ehrsamerem Wandel anhielte.
»Bedenket, ihr Bösewichter«, riet er wohlmeinend, »wem ihr bald Auskunft erteilen müßt. Sollen eure Schandmäuler dort oben etwan noch vor Unflat überfließen?«
Da nahte sich dem Gitter die riesige Gestalt des Störtebecker, und im Licht einer Laterne erschien das hochmütige, wenn auch jetzt todblasse und verwüstete Antlitz. Unwillkürlich fröstelte es den Stadtsoldaten vor diesem noch immer schrecklichen Bild gestürzter Größe.
»Du irrst, grauer Rostfleck«, antwortete der Seefahrer heiser. »Weißt du nicht, daß wir an der Tafel des Schwarzen obenan sitzen werden? Dort unten ist ewige Freude, Trunk, Fraß, Diebesglück und erzielte Übervorteilung. Alles, was hier nur halb gelingt. Wer die Welt verständig umzukehren weiß, der gewinnt's! Geh, küß deinen Quacksalbern den Hintern, vielleicht findest du's.«
»Gott erbarm' es sich«, stöhnte der Alte.
Darauf juchheiten die beiden und pokulierten weiter.
Allein je schläfriger es auf dem Gange wurde, je eiliger die Nacht vorrückte, desto mehr verstummte auch der grelle Singsang der Schuimer, und allmählich erkannte der schildernde Hellebardier nur noch aus dem Rascheln des Strohs, daß dort drinnen ein Schlafgemiedener seinen Weg suche.
Schon spät war's, als der Störtebecker, nur kümmerlich von dem hereinzitternden Strahl getroffen, vor dem blonden Zwerglein haltmachte. Das pfiff leise vor sich hin und schierte sich um nichts.
»Heino«, schickte der Admiral stockend in die Dunkelheit hinab und holte etwas Versenktes aus sich hervor. »Mein Freund, mein Bruder, sprich, wie denkst du dir unsere nächste Reise? Nicht, als ob es mir leid wäre, aber es plagt mich, ob man Ufer spürt oder nur Fahrt – Fahrt? Ob man nur Schiff ist oder auch Steuerer?« Aus der Finsternis kicherte es belustigt heraus, dann schlugen ein paar sanfte Finger leicht gegen die Hand des Freundes.
»Bleibst doch der tolle Bacchantenschütz, der du warst, du stolzer Herkules! Meinst, du müßtest überall dabeisein. Schade, daß ich dir morgen mittag nicht weisen kann, wie wir einen Strich passieren, wo Bewegung und Stillstand dasselbe sind, wo du verhundertfacht auf weißen Lichtschimmeln in die Windrose schießest, während doch dein eigentlich Selbst nach deinem Seneca ganz friedlich dort schlummert, wo alle ruhen, die noch ihrer Geburt harren.«
Der Störtebecker regte sich nicht.
»Nichts?« forschte er nach einer Weile rauh.
»Nun freilich«, gab die seine Knabenstimme bissig zurück: »Willst du ewig Umgetriebener etwa die große Wohltat verketzern? Den Hamburger Pfefferkrämern könnt' es womöglich leid um uns werden. Nur eines!« Und der Kleine scharrte mit seinem Hüker und schien näher zu rücken. »Man muß freilich schon hierorts mit dem Nichts seinen Pakt geschlossen haben. Nicht glauben, daß von uns etwas zurückbleibt. Unerfülltes, Lebenswertes oder gar was von Segen. Törichter Nimmersatt, hier oben redet das Nichts, dort drüben schweigt's. Sonst kein Unterschied.«
Eine Weile verstummte alles, der Störtebecker schob nur an seinem Wams hin und her, als ob es ihm zu eng würde. Dann aber drückte er dem Kleinen die Hand auf die Schulter und lachte grell auf:
»So können wir denn ohne Sorgen abfahren, Geliebter. Nehmen nichts mit und lassen keine Erben zurück. Wahrlich, ist kein geringer Trost.«
Damit ließ er von dem Kleinen ab, der ruhig weiter zechte, und streckte sich der Länge nach auf seinem Strohlager aus.
Um ihn herum drückte die Dunkelheit wie ein Sargdeckel, und der Riese warf ein paarmal die Faust vor, als könnte er den Verschluß lüften. Merkwürdig, wie rasch sein Herz ging und wie angestrengt er auf das winzigste Geräusch achtete, das jetzt noch zu ihm drang. Gierig hörte er eine Ratte an der Mauer entlang wischen, und bald zählte er die Schritte der Wache draußen auf dem Gang. Unvermerkt labte sich dieser Gestalter an dem Getön der Erde. Auch konnte er sich nimmermehr von dem müden Lichtschimmer trennen, der fahl und schmutzig um das Eisengitter sickerte. Er wartete, er wartete ungeduldig, als ob die Welt ihm noch eine Antwort schuldig sei.
Und siehe da, die Antwort kam ihm.
Geraume Frist mochte er so gelegen haben, er wußte genau, daß seine Seele nicht vom Schlaf umwölkt sei, da er den heißen Blick seiner Augen spürte, die angespannt die schwarzen Striche des Gitters einsaugten. Eben noch war der Schatten des Stadtsoldaten über sie hinweggeglitten – da, der Riese runzelte die Stirn und hielt den Atem an. Da drängte sich ein hustendes, grünbleiches Haupt gegen die Stangen, und ein rotgrauer Wirrbart quoll hindurch.
»Was willst du?« murmelte der Wache, ohne sich seiner Lähmung entreißen zu können. »Geh, du Hauch, mich schreckst du nicht.«
Jedoch das Haupt des alten Claus Beckera wich nicht, es fing vielmehr an, gehüstelte Worte zu speien, ganz so, wie er es im Leben gepflegt.
»Armes Kind«, brummte er in seinem hohlen Baß, »war dein Unglück, daß du zu uns gehörtest, ohne unser zu sein. Seidene Kleider, Ringe, Ketten in der Fischerhütte, Rache am Glanz, Gier nach dem Glanz – wehe!«
Das Gesicht nickte und verging. Aber vor dem Gitter war es lebendig geworden, lautlose Scharen wehten vorüber, bis sich abermals zwei Hände in die Stangen einhakten. Funkensprühend flimmerten die Haare der Becke hindurch.
»Liegst du endlich auf dem Mist, mein Schöner? Bin auch dort verfault. Hat kein Hund mit mir Mitleid gespürt, sondern haben in mir gewühlt und geschunden, damit meine Armut das einzige hergeben sollte, was ich besaß. Ist so im Leben. Gelt? Lust und Vergnügen kümmern sich nicht um das Erbarmen! – Wehe!«
Draußen erlosch das Geflimmer, als wäre es von dem Laternenschein eingeschluckt, und der Zug der Schatten stob weiter.
»He, du Menschensohn«, kreischte plötzlich eine hitzige Stimme, und in der Höhlung dämmerten die blutlosen Züge des Iren Patrick O'Shallo. Ein Strick schlotterte ihm um den Hals, und die Zunge fiel ihm oft aus den Zähnen. »Ist dir nicht der Henker prophezeit? Wer hat sich wie du an der menschlichen Schwäche versündigt? Meinst du, das Elend ließe sich in eine Form pressen von einem Ehrgeizigen? Du Vergewaltiger schlimmster, du Säufer von unserem Schweiß, der Narren oberster fährst du von hinnen. Zu spät. – Wehe!«
Der Störtebecker gedachte sich in seinem Sarge zu rühren, um sich gewaltsam zu erheben, allein er vermochte keinen Finger zu krümmen. Starren Blickes mußte er erkennen, wie sich gewichtig ein ander Haupt vor die Öffnung rückte. Düsterblond rahmte ein Ringelbart die braunen Wangen ein, und die großen Augen schauten ernst und trauervoll.
»Verlorener Bruder«, hob die markige Stimme des Gödeke Michael an, »was hast du für den Treubruch erkauft? Wem hieltest du dafür dein Wort? Hast die gültigen Gesetze der Menschenbrust verrücken wollen. Aus Böse Gut machen, aus Neid Hingabe. Und errietst nicht, wie auch die Laster Sinn und Zweck kennen. Verirrter im Nebel, wer bist du, da doch nur ein Stärkerer dies alles sondern kann.«
»Wer?« suchte der Liegende zu erfassen.
»Die Zeit! – Wehe!«
Das Phantom löste sich in Kälte auf.
»Muß ich auch dies noch erdulden?« rief der Eingekerkerte schmerzlich hinter ihm her. »Hat mir all mein Glanz nicht eine einzige Seele erkauft?«
Fahler Morgenschein kroch schon durch das Gitter, aber aus der Blässe formte sich noch einmal ein fast durchsichtig Bild. Dem liefen Tränen über die Wangen.
»Mich«, klang es sanft, »deinen Knaben. Dafür, Claus Störtebecker, hast du mich befleckt und besudelt. Wehe – jetzt weiß ich, daß nur ein Reiner das Unerfüllbare denken darf. – Wehe!«
Da hatte der Ausgeraubte, um sein Letztes Betrogene endlich den Bann von sich gerissen, schäumend sprang er auf, stürzte wie ein Toller auf seinen Genossen zu und entwand ihm die Weinkanne, deren Rest er auf einen Zug in sich hinabschwemmte. Was kümmerte es ihn, ob in diesem Augenblick die Stadtknechte hereindrangen, um den Verurteilten ihre seidenen Prunkgewänder zu bringen, da ihnen der Rat für ihren letzten Gang jene geile Pracht überlassen? Ohne den Schergen auch nur einen Blick zu gönnen, fiel der Losgebundene über den verwunderten Magister her, und nachdem er den Kleinen hoch emporgerafft, herzte er ihm in voller Raserei Mund und Stirn.
»O du Weiser«, schrie er gellend und preßte den Kopf des Zwerges unlöslich an sich, »wie unsagbar Köstliches hast du verheißen!? Komm, tummle dich, damit wir es um alles nicht versäumen. Diese Wölfe, mit denen wir bisher getrottet, könnten uns am Ende beneiden.« Er packte einen der Knechte an der Gurgel. Höre, du Wicht, wenn du ein ehrlicher Mann bist, so gehe hinaus und verkünde, das Dunkel meine es besser mit den Sehenden als das Licht, die Verwesung küsse uns heißer als das Leben, und dein Kot duftet lieblicher als alle Rosenbeete von Schiras.«
Sie entsetzten sich vor ihm. Doch meinten sie, die Todesfurcht habe dem Sünder wohltätig Sinn und Verstand gelockert. Selbst der Magister begriff nicht bis zum Grund, wie erst jetzt an den fürstlichen Abenteurer, während man ihn in die alte, prunkhafte Tracht hüllte, jener unerbittlichste Peiniger heranschlich, nachdem er ihn ein ganzes Leben gemieden – der Ekel vor sich selbst.
Aus dem niedrigen Rathauspförtlein taumelte der früher so Glanzvolle hinaus, ein landflüchtiger Fürst, der seinen letzten Heller verpraßt hatte, jetzt aber voll Bettlerstolz nur noch den nichtsnutzigen Schein zu wahren bestrebt war, obwohl er im Herzen die Schmähungen seiner Verfolger billigte. Da standen sie alle, Männer und Frauen, ja, die Kindlein hoben sie auf die Schultern, damit sie von dem gewaltigen Seefahrer, dem grausamen Bedränger ihrer Stadt, einen winzigen Schein seines Gewandes erhaschen sollten, sich und ihren Nachfahren zur unvergeßlichen Weide. Ein Aufzug war's, der mehr einem Fest glich. Voran zogen Trommler und Pfeifer, dann folgte Meister Rosenfeld, der Henker, der grüßte grinsend nach allen Seiten, als feiere er heute seinen frohen Ehrentag. Durch Hellebardiere eingerahmt, wurden hinter ihm Hauptmann Wichmann und seine Schuimer einhergeführt. Ungefesselt schritten die Männer in stattlichen Wämsern und sangen noch immer voll derber Lebenslust und trotziger Auflehnung das Störtebeckerlied. Und seltsam, Knaben und Mägdlein fielen in die Weise ein, denn das unbestimmte Gefühl der Jugend lehrte sie, in jenen Söhnen des Abenteuers den Wechsel des Schicksals zu ehren. Als aber zwischen zwei Ratsherren – weit geschieden von den anderen – der Mann in dem blauen Wappenrock erschien, da brach der Jubel ab, und ein banges Verstummen der Bewunderung begleitete den hochragenden Wanderer. Noch jetzt ließ seine blasse, verwüstete Schönheit den Jungfrauen das Herz pochen. Nur ein paar Händler, Bierbrauer und Lederkrämer, denen er Verlust zugefügt, sie versuchten es, den noch immer hochmütig Blickenden zu höhnen.
»Sag an, du Prophet Elias«, klang es aus ihren Reihen, »fährst du jetzt im güldenen Wagen in dein Tausendjährig Reich?«
Der Störtebecker verbeugte sich und zeigte den Spöttern eine unflätige Gebärde.
»Ihr würdet mitfahren können, ihr Ewig-Blinden, wenn sich euer Gelichter in dem Gefährte nicht schon seit Jahrtausenden den Steiß verbrannt hätte.«
So schritt er in Frechheit und kaum verhüllter Auflösung durch die zurückweichende Menge, und überall, wohin sein brennend ausgehöhlter Blick traf, dort segnete man sich und schlug heimlich ein Kreuz.
Wahrlich, ein Gezeichneter zog seines Weges.
Mit weiten Schritten war er bis an eine Straßenkreuzung gelangt, als er unvermutet stockte, so daß der ganze Zug gezwungen war, haltzumachen.
Betroffen hob der Geschmückte die Rechte. Was stand dort dicht neben dem unscheinbaren Männlein in grauer Mönchsgewandung für eine Bauernfrau aus der Rügener Gegend? Die hatte ihr Tuch tief über das Gesicht gezogen, als ob sie sich vor den zahlreichen Fremden schäme, aber dem Sohn verriet sie sich dennoch durch ihre bekümmerten, unbestechlichen Augen.
»Was willst du?« forschte der Störtebecker unentschieden und zugleich ein wenig zurückweichend.
Noch immer demütig vor der Pracht des Verlorenen, machte Mutter Hilda eine hilflose Bewegung, als möchte sie ihre Hand teilnehmend auf die Brust des Riesen betten, zog sie jedoch verschüchtert zurück. Fast wie zur Entschuldigung brachte sie dann hervor:
»Du liebe Not, weil du doch aus meinem Blut bist.«
Der Riese hob das Haupt. Der Ton klang anders als all das, was er bisher vernommen. Lag auch etwas darin, was ihn an die Sehnsucht dieser Nacht erinnerte. Lange suchte er in jenen ernsten, bekümmerten Lichtern, und siehe, er fand darin all das geduckte Leid, um dessentwillen er einst ausgezogen, um es zu lindern.
Und dies Leid währte ewig?
Zögernd nur trennte er sich von dem wortkargen Weibe, und als er nun ihren Begleiter streifte, da geschah etwas Wunderliches. Mitleidig richtete sich Abt Franziskus auf, und jene welke Hand, die schon den Eintritt des Fischerbuben liebreich begrüßt hatte, obwohl er nach dem Glauben der Zeit doch nur ein Sohn der ErdeHutten nennt noch jene Kinder so, die weder Vater noch Mutter kennen. war, sie zog jetzt schweigsam die Linien des Kreuzes.
Der Priester segnete den Scheidenden.
Aber der Störtebecker lachte schrill auf.
»Spar deinen Kram, alter Mann«, rief er schneidend, »Hab' gestern erst einen von deiner Kumpanei weggejagt. Wo ich hinfahre, fährst auch du hin.«
Damit wollte er grußlos fürbaß schreiten, als sich von neuem das Außerordentliche wiederholte. Noch entschiedener reckte der Priester die weiße Hand und segnete abermals. Dem Schuimer gab es einen Schlag.
»Weißt du nicht«, sprach er finster, indem er sein glühendes Auge jetzt voll auf den Alten richtete, »wem du dein Heil spendest? Ich sage dir, der Leichenhügel, den ich meinem Wahn türmte, er ragt weit höher als der Trauerberg, dem sie mich jetzt zuführen. Weiche darum von mir, damit sich dein Gott nicht entsetze!«
Und dennoch ließ der Mönch nicht von ihm, ja, während er ein drittes Mal bedeutungsvoll das Kreuz zog, öffnete er endlich den seinen Mund und sprach ganz sanft und barmherzig:
»Du Wollender, du Mensch im Tatensturm, ich, ein Christ, segne dich. Sieh, in meiner engen Zelle, dein Leben betrachtend, ging mir endlich sein Sinn auf. Was sich erdumwälzend, gewitterschwül im Reiche der Geister zusammenballt, was sich ohne Hemmung über Erde und Menschen ausschüttet, das, mein Sohn, wirkt der Zeit fast immer zum Unheil, denn Schollen und Sterbliche vertragen nur Tropfen.«
»Du sprichst die Wahrheit, Greis«, schrie der Störtebecker gepackt und griff mit beiden Fäusten nach dem Kleid des Männleins. »Sieh, ich bin solch eine Wetterwolke. Jäh zerriß ich und brachte nichts als Zerstörung und Niederbruch.«
Da umschlang der Priester den ihm Nahen und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen.
»Verwirf dich nicht, du Stürmischer«, flüsterte er ihm zu. »Wenn die Flut abschwemmt, dann dringen über Jahr und Jahr etliche jener Tropfen in tiefere Schichten und erwecken dort ungeahnt Wachstum und Blüte. So wirkt ins Ferne, was in der Gegenwart verrauschte und zerfloß. Zieh hin in Frieden.«
Der Gesegnete richtete sich auf. Heller Sonnenschein überglitzerte die feuchte Wegkreuzung, helles goldenes Licht breitete sich in den Zügen des Seefahrers, so fortreißend und strahlend, wie es ihm sein ganzes Leben lang beschert war. Aufatmend blickte er sich um, und er fand, daß er all die Menschen, die großen und geringen, die ihn beinahe ehrfürchtig umdrängten, von jeher und bis zuletzt gehegt und geliebt hatte.
Da schlug die Verführung, die der Zauberer zu wecken vermochte, noch einmal über alle Schranken des Herkommens. Die Trommler wirbelten, die Pfeifer schmetterten, blonde und braune Mägdlein streuten ihrem Feinde Blumen auf den Weg, und das Volk rauschte um ihn wie Halme, die sich vor dem Schnitter neigen. Er aber achtete ihrer nicht mehr. Er schritt dahin, heiter, entrückt, ein tatenfroher Vollender, und hinter dem Hügel der Schmerzen empfingen ihn Zukunft und Sage!