Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war eine lange Beratung erforderlich, bevor die Beckeras den Fremden zu dauerndem Dienst in ihrer Behausung duldeten. Zu verschiedenen Malen zogen sie, laut streitend, vor den Ziegenstall, wo der Ankömmling sich wie ein Igel in einer Ecke zusammengerollt hatte. Denn ein Landstreicher, der goldene Ketten verschenken konnte, erregte der Hausmutter unstillbaren Argwohn. Und dennoch schwieg sie und blickte mit mütterlicher Teilnahme auf die zierliche Puppe hinab, die, das Haupt mit den wirren blonden Haaren auf den Arm gebettet, einem arglosen Schlummer verfallen war. Zwar ihren Haupteinwand ließ sich die Kluge nicht rauben. Das Schmuckstück, das der Kleine sicherlich nicht auf ehrliche Weise erworben, das stopfte sie ihm gleich bei ihrem ersten gemeinschaftlichen Besuch hastig und abgeneigt unter das Heulager, und ihre Züge verfinsterten sich, als sie dabei bemerken mußte, wie sehnsüchtig ihr Sohn das Verschwinden der Schnur verfolgte.
»Teufelsgold«, sagte sie hart. »Fängt Seelen. Ich kenn' das.«
Kräftig stützte sie sich auf die offene Stalltür, und ihr Argwohn flog zu ihrem Eheherrn hinüber, ob er wohl das rasche Wort verstanden haben könnte. Allein der kranke Riese hatte sich längst entwöhnt, seinem Weibe nachzuspähen. Auch beschäftigten ihn seine eigenen Vermutungen viel zu gründlich, woher sich der Fremde wohl die blutige Narbe über der Stirn geholt haben könnte. Zu jener Zeit redeten solche Schrammen mit der Stimme unserer Zeitungen, anregend, jede ungeübte Vorstellung beflügelnd, und so kam es, daß auch dem großen, schlank gewachsenen Jungen die heimliche Parteinahme für den Fremdling beide Wangen färbte. Das Herumtasten, das Rätseln an einem bereits beneideten Leben, das trieb seine Einbildungskraft über Stock und Stein, durch Heldentum und undeutliches Verbrechen.
Es war eine Stunde des Erwachens.
Tief seufzte er auf, als seine dunklen Augen sich, durch ein Wort seiner Mutter aufgescheucht, von dem Hingestreckten trennen mußten.
»Mann«, forderte Hilda von ihrem Eheherrn, »was denkst du?«
Da besah sich der alte Claus Beckera nochmals eingehend den Hieber, den er fürsorglich an sich genommen, wog das feine, biegsame Eisen und darüber den merkwürdig verästelten Korb am Griff – ein Stück, wie es im Norden, allwo breite, gerade Schwerter geschmiedet wurden, nirgends im Gebrauch war, und dann schüttelte der Kranke von neuem nachdenklich das Haupt.
»Mutting«, flüsterte er mit offenem Munde, da sich seinem dumpfen Verstande die Herkunft und das Wesen des winzigen Kerlchens immer dunkler verschleierte, »Mutting«, meinte er und hob unsicher die Waffe, »er muß wohl von weit herkommen. Und daß ihn der Junge in der Spalte zwischen den Felsen gefunden – meiner Treu, ich wüßt' gar nicht, daß sich dahinter solch eine weite Höhle auftut –, ja, da möcht man wohl denken, daß der Mensch Grund hat, sich zu verstecken. Schnurrig – ist noch so jung«, setzte er wärmer hinzu.
»Nicht älter als ich«, fiel hier der Sohn lebhaft ein, der schon dafür zu kämpfen bereit war, an dem Schläfer einen Genossen gefunden zu haben.
Doch das Weib bog sich weit über die Stalltür, um dem Umstrittenen noch einmal gründlich das schmale Antlitz zu durchmustern. Dabei fielen der Kundigen die vielen scharfen Fältchen um den Mund des Fremden auf, und daneben entdeckte sie, wie genußsüchtig und verächtlich sich sogar im Schlummer die Lippen und Nüstern dieses angeblichen Knäbchens wölbten.
»Nein«, die Hausfrau richtete sich auf und entschied bestimmt, »der hat schon viel durchgemacht. Mag sich in Kot und auf Seide gewälzt haben. Und zählt wohl so beiläufig gegen dreiunddreißig Jahr.«
»Das wäre«, murmelte der alte Claus verdutzt und glättete sich verlegen den Bart. Aber gleich darauf sammelte er seinen Glauben zu der Meinung, die schon lange in dem Stillen nistete: »Kuck, Hilda, es sind wilde Zeiten, die werfen den Menschen hin und her. Ich merk's an mir, es ist eine Unruhe über die Armen gekommen, so daß keiner mehr weiß, wo er seinen Platz hat. Deshalb, Mutting, mein' ich, wer ein Haus hat und Weib und Kind, der soll solch Friedlosen nicht wegjagen, sondern festhalten, so er anwachsen will. Denn der Wind treibt uns alle. Heute mich, morgen dich. Wer kann wissen, wann wir selbst ausgerissen werden?«
Da schwiegen die Streitenden und spähten ängstlich über sich in den hellen Tag.
Als aber gegen Mittag das zierliche Knäblein fein und sittsam am Tische der Sassen in der Hütte saß, als es die wohlgeformten Beine hübsch rücksichtsvoll unter den Schemel zog, damit der ohnehin schmale Raum nicht unnötig verengt würde, als der blonde Gast nicht, wie die anderen, mit der Faust in die dampfende Schüssel voll Brot- und Käsesuppe langte, um seinen Anteil zu erwischen, sondern aus seinen Lumpen ein zinkiges Holzstäbchen hervorzog, womit er die Bissen säuberlich aufspießte, und wie der Fremdling vor allen Dingen mit seiner wohllautenden, kosenden Stimme bescheidentlich und höchst verständlich – ja ganz in der Sprache des bäuerlichen Mannes – die alten Beckeras über Herkunft, Stand und fernere Absichten belehrte, da zerstreuten sich allmählich die Bedenken der mißtrauischen Häusler, und ihr harmloser Sinn merkte gar nicht, auf welch feine und schmeichelnde Art ihr Widerstreben in seidene Fäden eingesponnen wurde. Wie wußte das kleine Kerlchen aber auch zu erzählen, wie rollten unter seinen Worten dichte Wolkenschleier in die Höhe, hinter denen die Küsten ferner Länder auftauchten, und Schlösser und Städte und Händel und Getriebe der Welt. Wo hatte er sich überall umgetan, in welch verschiedene Geschäfte und Gewerbe seine sanften Kinderhände gesteckt; und hauptsächlich, wie lebendig er Geschehenes und Gesehenes zu formen wußte, um es gegenwärtig auf die Diele der Sassenkammer hinzuzaubern, bald durch eine Bewegung, bald durch nachahmendes Spiel, das zog ihm seine Zuhörer willfährig entgegen. Und mit einem kaum sichtbaren Lächeln trieb er die gewonnenen Seelen vor sich her. Nur der junge Claus Beckera, der mit verkrampften Händen und keuchender Brust lauschend neben dem Stuhl des Fremden hing, als ob ihm der geistige Lauf noch immer nicht schnell genug ginge, ihm zitterten mitten durch seine leidenschaftliche Bewunderung hie und da die Einwürfe einer kühlen Vernunft hindurch, und dann kam ihm zwischen all dem bunten Maskenspiel der Einwand, warum wohl der Ankömmling zwei voneinander so gründlich verschiedene Sprachen redete. Denn das merkte der achtsame Scharfsinn des Jungen sofort, die Weise des Zierlichen klang anders, seitdem er sich an die Alten wendete. Einfach, schlicht, bauernmäßig, all der vornehme und unverständliche Putz fehlte, durch den er vorhin seinen Fährmann im Kahn so sehr gefesselt und geblendet hatte. Und der junge Claus erriet mit Widerstreben, daß der Angespülte offenbar einen gewichtigen Teil seines Wesens zu verdunkeln strebte, als ob gerade dasjenige Gefahr brächte, was dem nach Wissen gequälten Buben so köstlich und erstrebenswert erschien. Deshalb preßte der Junge auch widerwillig den Mund zusammen, und die Angaben des Fremden, die er jetzt auf Forderung der Alten über sein bisheriges Treiben machte, sie glitten belanglos und unwahrscheinlich an dem Aufgestörten vorüber. Nein, nein, schon jetzt beschloß er, er wollte binnen kurzem eine vertraute Stunde wahrnehmen, um den gewandten Taschenspieler härter zu prüfen. So wappnete sich Claus denn mit einer künstlichen Gleichgültigkeit, und doch, kaum hatte der strohblonde Mensch in seiner mitreißenden Lebhaftigkeit die Geschichte seiner Fahrten begonnen, da summte es dem jüngsten der Zuhörer auch schon vor den Ohren, und siehe da, ganz gegen seinen Willen schleppte ihn der starke, fremde Strom von bannen. Und es handelte sich doch nur um eine Begebenheit, absichtlich einfach und alltäglich ersonnen.
»Nichts für ungut«, hörte der Sohn den alten Beckera tasten, denn der Riese schämte sich, seine Wohltat an Bedingungen zu knüpfen. »Wie magst du dich heißen, Mann?«
Der Kleine zupfte an seinen gelben Haaren und lächelte unschuldig. Eine Erinnerung an seine Kindheit schien ihn zu haschen.
»Heino Wichmann«, erwiderte er, sich leichthin verbeugend, was er jedoch mitten in der Bewegung unterdrückte. »Meine Wiege hing in Hamburg zwischen zwei Lederriemen.«
Da streichelte der junge Claus unwillkürlich über den Schemel seines Gastes. Er wußte selbst nicht warum, aber aus dem Namen des Kleinen musizierte es auf, wie von Flötenspiel auf einer Kirmeß.
»Heino«, flüsterte er zärtlich.
Die Mutter jedoch schlug abwehrend mit der flachen Hand über den Tisch. »Und dein Vater?« fragte sie lauernd.
Heino Wichmann schloß das schwarze Auge. Er glich gänzlich einem guten sanften Kinde, als er nun ehrfürchtig vorbrachte:
»Ich brauche euch nichts zu verbergen. Mein Vater war ein zünftiger Sattler, und ich selbst hatte schon in seiner Werkstatt auf dem Mönkedamm mein Gesellenstück gefertigt, einen Kutschbock für den Herrn Alderman Tschokke, als mich der Rat mit anderer Jungmannschaft aushob, damit wir als hansische Besatzung drüben nach dem dänischen Schonen in das feste Schloß Helsingborg gelegt würden.«
»Dänemark«, atmete der alte Claus vor sich hin und hob witternd die Nase gegen die Fensterluke, hinter der sich der blaue Strich des Meeres hob und senkte. Für ihn lag das Nachbargestade unmeßbar fern hinter den schaukelnden Glashügeln. »Schonen? Helsingborg, so weit?« dachte er kopfschüttelnd.
Sein Sohn aber fühlte sich vom Erdboden aufgehoben. Waren doch an ihm erst gestern die Sendlinge einer bunten, kaum begreifbaren Gemeinschaft vorübergezogen, die seidenen Fahnen ihrer Gewandung hatten ihn gestreift, halbverstandene aufregende Andeutungen sein gärendes Hirn getroffen, jetzt drängte es den auf dem Gewoge der Unwissenheit wütend Herumgeworfenen, sich irgendwo anzuklammern.
Wundersam bedrängt spannte er den braunen Lockenkopf in beide Hände, und während er bohrend vor sich hinstarrte, löste es sich wie die Hülle eines inneren Traumes von ihm ab:
»Dort herrscht ein Weib. Wie war's doch? – Margareta.«
Der Ausruf klang wie das Sehnen eines Eingekerkerten, wie der Hilfeschrei eines Unfreien, der in einer Grube hockt und den Himmel um Licht anfleht, und sofort richteten sich auch die Häupter der Seinen unheimlich berührt und abmahnend gegen den in inneres Schauen Verlorenen.
Was sollte das? Woher kam dem Ungelehrten diese Kunde? Und konnte dem Sassensohne der Drang nach so gewaltigen Dingen nicht Unsegen stiften? Denn darauf kam für sie alles an. Man wollte doch ungestört leben!
Auch über das halbgeschlossene schwarze Auge des Gastes war bei dem unerwarteten Einwurf ein kurzes Zucken gelaufen, dann jedoch bewegte er gleichgültig die schmalen Schultern, und als wäre nichts besonders Auffälliges geschehen, fuhr er ruhig in seiner bescheidenen Schilderung fort.
»Ja, ja, Margareta«, nickte er, sich schwierig besinnend. »Ich meine, so heißt die Wittib. Hat ein kleines zartes Büblein, für das sie die Herrschaft in acht nimmt. Mag sie. Was schiert uns Geringe die Plackerei der Großen? Wenn wir nur unsere Löhnung pünktlich erhalten und sonst in Ruhe unser Brot essen können.«
»Ja«, stimmte Hilda zum erstenmal gierig zu, »das ist das rechte.«
Den alten Claus dagegen zog es aus dem Allgemeinen zu etwas Näherem. »Nun«, hüstelte er gespannt, »habt ihr Hansischen pünktlich eure Löhnung erhalten? Habt ihr in Ruhe euer Brot gegessen?«
Jetzt hob auch der junge Claus das Haupt, und aus seinen schwarzen Augen züngelten ungestüme Flammen nach Abenteuer und Erlebnis.
»Wie war's?« stammelte er.
»Unruhig, lärmvoll«, sagte der Kleine und faltete die Hände auf dem Tisch wie ein artiges Kind, das eine Geschichte wiedergeben soll. »Ihr könnt euch denken, die Frau hat viele Widersacher innen und außen. Ist eben doch ein Spinnrocken, dem sich der Schnauzbart ungern beugt. In der Nähe streckt, wie man sagt, der dürre Schwedenkönig Albrecht die Finger nach dem saftigen Erbe und treibt seinen ausgehungerten Spott über den Unterrock und die Kunkel. Da könnt ihr in jeder Schenke hören, wie er erst jüngstens der ›Dirne der Pfaffen‹ – also schimpft er die Regentin – feierlich Schere und Fingerhut überreichen ließ nebst einem Wetzstein, damit sie ihre Nadeln daran schärfe. Und innen da schreien die Krämer darüber, weil sie uns Hansische in Helsingborg, Falsterbo und Ikanör einliegen ließ, denn wir Deutschen, heulen sie, nähmen ihnen den Markt. So kommt es dann oftmals zu Aufläufen, und bei einer solchen Zusammenrottung, seht ihr, da zeichnete mir ein vorlauter Schwertfeger seine Zunftmarke auf die Stirn.«
Hier lachte der Strohblonde wie über einen wohlgelungenen Streich, wickelte sich die gelben Haare spielend um den Finger und ließ die wohlgeformten Beine vergnügt schaukeln.
»Und du?« stotterte Nikolaus erwartungsvoll, denn seine verehrungsheiße Hingabe an den Fremden verlangte dringend von Gegenwehr und scharfer Vergeltung zu hören. »Was tatest du?«
»Ich?« Erst maß der Kleine die alten Beckeras, in deren stumpfen Gesichtern sich schweigend der Abscheu vor Bürgerkampf und Söldnerübergriff malte, dann hob er ebenfalls abgeneigt die Achseln, um sofort in seiner leisen, unschuldigen Art zu hauchen: »Mir liegt nichts an derlei Ehrenschuld. Daran dürft ihr nicht glauben. Gott bewahre, ich bin ein Bürgersohn und will nur hoffen, daß dem Ehrsamen der kleine Hautritz gut bekommen sei.« Und damit er nicht tiefer in diesen Punkt verstrickt würde, begann er emsig auf der rohen Tischplatte hin und her zu zeichnen, als ob er das folgende schriftlich niederzulegen hätte. »Wie es aber so geht, ihr guten Leute, es erhob sich trotzdem ein wildes Geschrei bei den Dänischen, und schließlich waren unsere Hauptleute um des lieben Friedens willen gezwungen, etliche ihrer Leute von sich zu tun. Darunter wunderbarerweise auch mich, Heino Wichmann.«
»Heino«, wiederholte hier der junge Claus, abermals von Liebe getroffen, und legte seinem Gaste zärtlich die Rechte auf die Schulter. Gepackt wandte jetzt auch der Kleine dem glühenden Jungen sein schmales Antlitz zu, seine beiden Augen öffneten sich weit und zogen förmlich die flatternde Seele des Unbehüteten an sich. Das geschah aufblitzend, schnell, wie ein einfallender Lichtstrahl. Die alten Beckeras merkten nichts von dem geschlossenen Bund, weil sich ihren Werktagsblicken nur enthüllte, wie das Kerlchen emsig auf den Tisch hämmerte, gleich jemand, der das Wichtigste rasch vorzubringen wünscht.
»Es lag gerade eine Freibeuterkogge unterhalb Helsingborg«, bemühte er sich, unauffällig vorüberzugleiten, und man konnte meinen, jemand, der eine dünne Eisdecke unter sich brechen spürt, wage hastig prüfende Sprünge dem Lande zu. »Ein mächtiges Schiff«, wollte er fortfahren, »das dort Handel trieb. Dorthin brachte man uns.« Allein mitten in den flüchtenden Sätzen fand er sich festgehalten, gepackt von sechs ängstlich zitternden Augen, die sich wie eine Kette über seinen Weg spannten. Zugleich flüsterten und schrien heisere Stimmen, in Beklemmung und Schrecken, durcheinander.
»Wohin brachte man dich, Unglücklicher? – Wohin?«
»Gott, auf ein Fahrzeug der Schuimer, der Schwarzflaggen, oder wie man sie sonst nennt«, huschte der Kleine mit dem Ton der Gleichgültigkeit weiter, obwohl seine Finger ihr Spiel auf der Tischplatte viel unruhiger fortsetzten. »Sie werden ja überall gern geduldet, die Freunde des armen Mannes, weil sie für jedermann eine Zuflucht in der Not sind, und hauptsächlich, da sie für billiges Geld sonst unerschwingliche Dinge ins Land bringen. Gewürz und Tuche, Bier und Rauchwerk. Nicht wahr, so meint man doch? Zudem, meine Freunde, wurde der Seeadler von einem Gewaltigen der Schuimer kommandiert, der großes Ansehen weit umher genoß. Kurz, dieser Kapitän sollte uns Verwundete um Schiffsdienst und ohne Fährgeld heimführen. So hatte Frau Margareta verabredet, denn sie tut ihren Beutel für abgediente Leute nicht eben weit auf. Aber seht, ihr Lieben, auf der Heimreise unter den schönen roten Segeln, bei dem leichten Verdienst und mitten zwischen den freien Menschen, denen alles gehört und die überall ihre Heimat haben, da fing sich der Hauptmann ohne große Mühe meine Genossen ein, einen nach dem anderen, da wurden sie ›Gottes Freund und aller Welt Feind«, wie ihr gotteslästerlicher Eid lautet, und nur ich –«
»Und nur du?« lallte der junge Claus aus seinem wachen, düster lodernden Traum heraus und packte den Erzähler ungestüm an der Brust, als ob er ihn hindern wollte, von dem gespenstisch mitten durch die Stube rauschenden Schiffe zu entwischen.
Der andere schüttelte ihn überraschend kräftig ab.
»Laß mich«, wehrte er sich. »Mein Leben riecht nach Leder und Pfriem. Mich zieht es nach einem warmen Ofen und friedfertigen Tagen. Wo ich die finde, da wohnt mein Heiland. Deshalb, mein Büblein, siehst du, sprang ich eines Nachts, gerade als die Schuimer hier dicht vor der Küste unter Wind lagen, denn sie lauerten auf das Schiff der dänischen Gesandten – aus diesem Grund sprang ich in Gottes und aller Heiligen Namen über Bord, bekam den Fels zu packen, kletterte in die Höhle, und von dort hast du mich hervorgezogen. Dank sei dir und allen ehrlichen Menschen. Und jetzt« – geschmeidig glitt er von dem viel zu hohen Stuhl herunter, und aus den wiegenden Schritten, mit denen er sich aalglatt durch den engen Raum wand, wurde allmählich ein munterer Tanz. Es zuckte und sprang in allen Sehnen des Kleinen, die langen gelben Haare flatterten ihm wirr um die Schläfen, und den verständnislos hinschauenden Häuslern kam es vor, als ob auch die ungleichen Augensterne des Fremden in dem blassen Angesicht mithüpften. »Jetzt«, schmeichelte er und streckte die Arme, so daß sich ganz unerwartet ein paar derbe, harte Muskeln unter seinen Lumpen zeigten, »jetzt will ich euch weisen, wie man als Ruderknecht das Meer schlägt. Seht so – so, mit solch langen Strichen, wie man eine schöne Wange streichelt. Und dann die Fische. Ich kenne den Pfiff eines Bacchanten. Auf das Liedlein strecken sie halb toll die grünen Schnauzen aus dem Wasser. Oh, laßt mich nur machen.«
Plötzlich hielt Heino Wichmann auf seinem Weg inne, als besänne er sich, daß er vor den armen Sassen vielleicht allzu wunderliche Dinge geäußert. Doch die Beckeras blieben angeschmiedet an ihren Plätzen, in wesenlosem Hinbrüten darüber, wie solch grelle, blitzende Heiterkeit sich in ihrer dunklen Bohlenkammer entladen könnte. Und nur die Seele des alten Claus riß und zerrte an dem Widerhaken, an dem sie sich in dumpfer Gefügigkeit wand, denn von all den schmackhaften Ködern war ihm eine Lockspeise zwischen den Zähnen aufgequollen, bis er sie nicht mehr herunterwürgen konnte. Halb murmelnd, in unbestimmter, ferner Ahnung stieg es aus seiner trockenen Kehle, dazu hielt er die Beine weit von sich gestreckt, gleichsam zum Schutz gegen die erwartete Antwort.
»Nichts für ungut. Wichmann, wie sagst du doch – ich meine bloß –, wie hieß der Kapitän, der dich brachte?«
Kaum war das gleichgültige Wort verklungen, da war es mit dem Hüpfen und Springen des Kleinen vorbei. Eingefangen wurzelte er in einer Sonnenlache auf dem Fußboden fest, die unruhigen Augen begannen wieder von einem zum anderen zu huschen, und die Stimme verfiel von neuem in das harmlose Kinderwispern, als er nach einigem Zögern erwiderte:
»Ich sagte schon, es war ein Ansehnlicher unter den Freibeutern. Gödeke Michael.«
»Gödeke? – Gödeke Michael?« wiederholten die drei, langsam in die nächtige Kluft ihres Gedächtnisses hinabsteigend.
Eine Weile herrschte Stille, jeder horchte in den dunklen Schacht hinunter, gespannt, angestrengt, ob nicht dem Laut ein Echo heraufschalle, bis endlich vor dem kranken Fischer etwas Gestaltloses, mit Schrecken Bekleidetes emportappte.
»Laß mich – laß mich – Hab' doch schon mal gehört – Singsang – wie war's noch?«
Noch gelber stach das Antlitz des Leidenden unter dem wirren Bart hervor, da er mit Mühe die einzelnen Fetzen zusammensuchte. Scheu, verstohlen summte er vor sich hin:
»Der Gödeke, Gödeke Michael.
Der führt auf dem Schwarzschiff allein den Befehl.«
Da stürzte es aus dem Kleinen wie gezogen hervor, unbekümmert darum, was weiter daraus entstehen könnte:
»Seine Brust ist wohl eine Elle breit.
Den Bedürftigen schenkt er Speise und Kleid –«
Mutter und Sohn aber steckten die Köpfe zusammen, sie schränkten ihre Hände fest ineinander, und der Atem hörte ihnen auf zu wehen, als die anderen nun lauter anstimmten:
»Und tragt ihr Armen am Leben schwer –
Das Recht, das wohnt allein auf dem Meer.
Dort richtet die Reichen an Leib und Seel
Der Gödeke – Gödeke Michael.«
Viele Tage strahlten aus dem Meer und sanken erloschen wieder dahin zurück. Die Jahreszeiten stiegen auf Schneeschauern und Sonnenwolken an die Küste, gleich fremden Eroberern, die sich dann tief im Lande verlieren, und aus Heino Wichmann, dem mädchenhaften Knäblein, dem blondhaarumflatterten Geheimnis, war etwas Alltägliches geworden. Ein Ruderknecht, der seinen Seedienst willig verrichtete und von den Katenleuten nicht geschont wurde. Selbst dem Vogt, der sich bald nach der Ankunft des Fremdlings hartnäckig nach dem Woher und Wohin erkundigt hatte, leuchtete es ein, daß dieses zierliche Geschöpf für die Ruderbank geboren sein müsse, und er lobte heimlich die geschmeidige Gewandtheit, die der Kleine in der Führung eines Bootes an den Tag legte. Ja, sogar der auffallende Drang des Fremden, immer wieder zur Tag- und Nachtzeit in die Wogen hinauszuschneiden, er wurde schließlich von seinen neuen Genossen als der selbstverständliche Trieb eines dem Handwerk mit ganzer Seele Hingegebenen erachtet. Worüber man sich jedoch stets von neuem wunderte, das war die unermüdliche Zähigkeit, jene aus allen Gliedern des Kleinen rastlos quellende Frische, die an keinem Ding vorbeiglitt, die von jedem etwas wußte und sich überall zu betätigen strebte.
Heino Wichmann vermochte der Hausfrau höchst merkwürdige Aufschlüsse über Kochkunst und schmackhafte Gerichte zu erteilen, von denen die unverbildete Seele Hildas nicht nur bisher kein Sterbenswort geahnt hatte, sondern die ihre harmlose Rauheit zuerst auch als etwas beinahe Schädliches einschätzte. Aber mit der Zeit wurden auf dem Herde unter dem Rauchfang doch allerlei Versuche unternommen, und während der kleine Strohblonde mit verschmitztem Lächeln die verschiedenartigsten Kräuter und Wurzeln in den großen Kessel schleuderte, da zog von fern der süße Duft einer etwas milderen Lebensführung unter das Strohdach. Man schleckerte und schmatzte und erfuhr zu nicht geringem Befremden, wie köstliche Erfindungen zu Padua, in Wien oder gar zu Paris die Köche großer Herren aus Pilzen, aus Schaltieren und gedörrtem Fischfleisch ersonnen hätten. Wunderlich! Heino Wichmann war weit herum gewesen. Seine doppelfarbigen Augen hatten selbst auf das Geringste Obacht gegeben. Hilda begann ihm abzulernen. Nur zum Spiel, allmählich aber wurde eine Sucht daraus.
Auch mit dem alten Claus Beckera ging eine Veränderung vor, seit der wirblige Gesell in seiner Nähe weilte. Bisher war der Riese verfallen, still, selbstverständlich und unablässig wie der Wartturm einer zerstörten Feste, aus dessen Gemäuer Tag für Tag gewichtige Feldsteine herabbröckeln. Was nützte es, laute Klage über die erbärmliche Schwäche zu führen? Viel besser war es, die Fäuste zu ballen, die Zähne zusammenzubeißen und selbst dem Bruder Franziskus, der ab und zu den schmerzenden Rücken des Kranken mit dem weißen Saft des Bilsenkrautes einzureiben suchte, eine täuschende Behaglichkeit vorzuspiegeln. Der Mörtel aber sprang weiter auseinander, und der Turm neigte sich tiefer zum Fall. Nun aber wurde es anders. Gott mochte wissen, wieso Heino Wichmann einen Blick in die Heilkunde seiner Zeit geworfen hatte. Fragte man ihn danach, so schlenkerte er mit den feinen Händen und murmelte etwas von den Meistern »der Physik und der Erztney«, was niemand um ihn herum begriff. Was man jedoch nicht leugnen konnte, das war die Wirksamkeit jener Mittel, die er mit seiner sprunghaft lachenden Überredung bei dem Kranken anwandte. Sprachlos standen die Häusler hinter dem ewig Zappligen, sobald er den überwundenen Riesen halb entkleidet in den sonnenwiderstrahlenden Dünensand bettete, wo er den mächtigen Körper dann mit seinen zarten Kinderhänden kreiselnd und wärmend bestrich. Und siehe da, auf ein paar Stunden wichen die schweren Erstickungsanfälle von dem Alten, und der Leidende vermochte sich aufzurichten, um gierig die kühle Seeluft einzusaugen. Als aber der Herbst seine dunklen Hagelschwärme gegen die Hütte warf und der Hustenkrampf die Lungen des Riesen zu zerpressen anfing, da versuchte der Strohblonde sein Meisterstück. Eines Mittags brachte er nämlich aus dem Wald zwei schwarze, schneckengleiche Würmer mit. Die hielt er zwischen zusammengeballten Fäusten, und sie mußten so dem sich kräftig sträubenden Hausherrn ihre Saugrüssel auf die nackte Brust setzen. Langsam füllten sich die schreckhaften Leiber mit dem fieberheißen Blut, und vor den Augen der erstaunten Angehörigen dehnten sich die verkrampften Glieder des Vaters, und ein befreiter Seufzer der Entspannung tönte durch die Hütte. Fast eine Woche lang war der gefürchtete Anfall beschworen.
So wechselten Weiß und Grün unter den Rändern des hohen Küstenwaldes, die Tage strichen dahin gleich einer Rebhühnerhusche, einer hinter dem andern, und Heino Wichmann fing sich jeden einzelnen ein, um ihm vor den Augen der Häusler sein besonderes Kennzeichen aufzudrücken. Immer geschah etwas. Die Zeit bildete für die einsamen Strandsassen keine gestaltlose Masse mehr, sondern die Unruhe des neuen Ruderknechtes trennte sogar die einzelnen Stunden scharf voneinander ab.
In jenen Monaten war es, daß in den jungen Nikolaus ein unbegreifliches Wachstum geriet. Der schlanke Leib des Burschen schoß sprunghaft in die Höhe, bald überragte sein braunes Lockenhaupt um eine Spanne das sich duckende des Vaters, seine Haltung erhielt etwas Gestrafftes, ja Königliches, sein Gang etwas Anmutiges und zugleich Herausforderndes, und seine Augen konnten plötzlich neben dem wilden Umherflackern einen schwärmerischen Glanz bergen, der über die Dinge dieser Welt hinauszuschweifen schien und etwas von dem unbewegten Flug eines träumenden Adlers an sich hatte. Und der arme, von unruhigen Geistern geplagte Sassensohn badete sich wirklich in den Breiten eines neuen Lichtes.
Heino Wichmann!
Heino Wichmann war für den wilden, durstigen Jungen ein Zauberer, der die schmale Kinderhand nur emporzuwerfen brauchte, damit Sterne und Mond stillstanden und auf den Winden von allen Weltteilen her das Wissen Salomos herbeigeflogen kam. Wenn sich die beiden Unzertrennlichen in dem plumpen Kahn unter dem roten Segel wiegten oder wenn sie im Abendrot hoch oben auf den Hängen der Dünen lagen, dann schwand wie von selbst die lächerliche Maskierung des angeblichen Ruderknechtes, die bäuerliche Sprache tauchte unter, und aus den braunen Lumpen trat ein anderer hervor. Derselbe, der einst die goldene Kette und den welschen Hieber getragen, derselbe, der mit seiner hauchenden Mädchenstimme spöttische Gelehrsamkeit von sich schleuderte und für den es weder Unergründetes noch scheue Ehrfurcht vor etwas Geschaffenem gab. In solchen Stunden der Mitteilung konnte man deutlich merken, wie auch für das kleine Kerlchen jenes unbändige Ausgeschöpftwerden ein nicht zu entbehrendes Lebensbedürfnis bildete, ja, daß er sich trotz seines wegwerfenden Lächelns voll Eitelkeit und Stolz in sich selber spiegelte, sobald sein Zögling sich über ihn beugte gleich über einen tiefen Brunnen, in den man ungestüm Eimer auf Eimer hinabläßt. Da kam dann quellend und perlend Trank um Trank hervor, klar und schlammig, unverdaulich und heilsam, als ob in diesen Brunnen alle Quellen der Erde mündeten. Von dem nächsten fing es an. Claus erfuhr, in welchem Volk er lebte, wie sich die Stände und Ämter teilten, wo Unrecht und Bedrückung anhob und worin sich sein Stamm von den anderen großen Menschengemeinschaften unterschied. Von da gelangten sie ganz von selbst auf Ausdruck und Redeweise der Länder, die Musik der welschen Sprachen, die Heino Wichmann vollkommen beherrschte, klang vor dem entzückten Knaben auf, und er lernte auch latina lingua verehren, die Urmutter dieser Laute, und in verhaltener Begeisterung schaute er in das Sein und Treiben jener untergegangenen Geschlechter hinab, die mit diesen Lauten der alten Welt ihre Gesetze vorgeschrieben. Helden und Weise zogen vorüber, Religionsstifter und Abtrünnige, und ohne daß der Wissensdurstige es ahnte, wurden von dem ätzend scharfen Erzähler Menschen und Dinge alle zu dem einen Ziele gelenkt, wie sie nämlich der Befreiung und Entbürdung der nach Licht und Brot ringenden Armen und Elenden gedient hätten. Denn dieses kleine strohblonde Zwerglein sah, ohne jemals erregt zu werden, und obwohl es selbst sich keinen erlangbaren Genuß entgehen ließ, überall seufzende Scharen der Sklaverei um sich her, viele Millionen gefesselter und gestriemter Unfreier, von denen er verkündete, daß sie nie sterben würden. Und wahrhaft schneidend und fürchterlich klang sein feines Gelächter, sooft er im Gegensatz zu allem Herkommen die gepriesenen Bringer des Heils und der Ordnung, den Kaiser, der doch den Landfrieden befohlen, die Priester, die doch den Verängstigten die Vergebung der Sünden reichten, vor allen Dingen jedoch die Richter, die doch an Gottes Statt die ewige Gerechtigkeit unter den Völkern aufrichten sollten, für die schlimmsten Vergewaltiger und Bedrücker der in Dummheit blökenden Erde erklärte. Entrückt, von aller Gegenwart fortgeschwungen, krallte sich dann Claus in den mütterlichen Sandboden, sein Atem schoß, als ob er Mauern niederbrechen müßte, in seinen starren Augen züngelte der niedergehaltene Glast von Blut, Einäscherung und Gewalttat, und doch bebten alle seine Glieder im Frost der Angst, und das kalte Fieber des Zweifels und der Unentschlossenheit stieß den Unreifen doch immer zurück in die Schranken des Brauches und des Herkommens. In solchen Augenblicken der Qual und des glühenden Wunsches packte er seinen Verführer oft an der Brust und schüttelte den Kleinen, als ob er ihm das Herz aus dem Leibe schleudern wollte, dazu schreiend:
»Was bleibt uns? Heino, um aller Heiligen willen, sag an, was muß uns allen werden? Was?« Denn der suchende Verstand des Jungen wollte den Weg finden zwischen Gestern und Morgen, eine Brücke, die über das Gewitter fortleitete.
Heino Wichmann aber ließ sich, unberührt von diesem Ausbruch, in das weiche Dünenlager zurückgleiten, lächelte mit seinen bartlosen Lippen gegen das in den Himmel flüchtende Abendrot und lispelte kaltblütig und grausam:
»Wer kennt die Medizin für alle? Aber für mich und dich, Büblein, ist am besten ein seidener Pfühl, und saufen und prassen bis in den achten Tag.«
Da heftete Nikolaus einen verlöschenden Blick auf den sich genießerisch dehnenden Kleinen, warf das Haupt gegen die dunkle See und saugte in Verzweiflung an den ewig tränkenden Strömen.
Ekel, unerkanntes Mitleid mit einer zu erlösenden Welt und das rasende Verlangen, sich zu verschwenden, stritten in der sich weitenden Seele.
Es kam eine Stunde, da der Hochmut des Knaben es nicht mehr länger duldete, von dem Genossen noch fernerhin in Unkenntnis und Täuschung gehalten zu werden. Ganz früh an einem tauperlenden Herbstmorgen war es. Die Sonne rollte eben aus ihren verhängten Schleiern durch das dunkelblaue zackige Gewölbe. Weit über dem Schlaf der See übten die schwarzen Streifen der Stare schon für den kommenden Abzug. Und hoch oben an dem hallenden Rand des Küstenwaldes klang die Axt. Dort hieb der junge Claus ein paar schlanke Eichenstämme nieder, denn sie sollten ihm zu neuen Ruderstangen dienen. Aber mitten in der Arbeit schleuderte Claus die Axt auf den Waldboden, schnellte empor, und während er sich die Fäuste in die Weichen setzte, forderte er dröhnend, ohne Übergang noch Einleitung:
»Genug Verstellung. Du bist kein Ruderknecht, Heino. Du bist keiner. Woher käme dir sonst all die Gelahrtheit? Nun schnell und ohne Windbeutelei, wie steht's um dich?«
Leicht hätte ein anderer ob des ungewohnten Tons außer Fassung geraten können. Der kleine Strohblonde jedoch, der gerade faulenzend vor einer gewaltigen Buche stand, um dort voll Spannung der Zimmerarbeit eines Spechtes zu folgen, er hüpfte selbst wie ein wippender Fink herum, tänzelte ohne jede Verlegenheit auf seinen Zögling zu, um ihm dort von unten herauf einen leisen Backenstreich zu versetzen.
»Kluges Näschen«, wisperte er voller Befriedigung, »gut, gut, Büblein, ist auch Zeit, daß du endlich aus den Eierschalen schlüpfst. Aber nun zieh die Kappe, mein Freund, denn du stehst vor etwas Fürtrefflichem. Weißt du, was ein Bacchant ist?«
Vor dem Glanz jenes Titels wich der Fischerjunge zurück, und doch fiel ihm ein, wie oft jene Lehrbuben und Handlanger der Wissenschaft hungernd und bettelnd durch die Dörfer und kleinen Städte der Insel strichen, ja, daß sie um Geld und Brot vor den Türen der Unfreien sangen. Das Wissen war damals noch dem Elend verschwistert, und mancher Knecht tauschte nicht mit dem dürren Gerippe, das auf einer Lehrkanzel stand. Dennoch sagte er voll Ehrfurcht: »Bist du solch einer?«
»Noch mehr. Liebster, noch viel mehr. Ich wollte erst die Raupe an dir vorüberkriechen lassen, damit dich der Sonnenflug des Schmetterlings nicht blende. Aber jetzt entzücke dich, mein Freund, ziehe deine Schuhe aus, wenn du es hörst, denn ich ward als etwas zugleich Kostbares und daneben Zerbrechliches in den Schrein der Menschheit gestellt. Fasse dich. Holder, und gerate nicht außer dir, denn sieh, ich bin Magister, der Magister Heino Wichmann, versehen von den drei Universitäten Padua, Wien und Paris mit einem versiegelten Lehrbrief, und hosianna, ich verkaufe ihn dir für ein Paar wollene Strümpfe, denn durch die meinen lugen die Zehen.«
Da riß Claus entgeistert die Kappe herunter und verneigte sich so tief vor dem Männlein in Lumpen, wie er es bis jetzt nur vor dem Abt des Klosters über sich gewonnen. Wirre Vorstellungen und ein tanzender Himmel waren über ihm. Ein Gelahrter, ein Hochgelahrter hauste unter dem Stroh und den Schindeln der Sassen. Alle Barmherzigkeit, er führte das Ruder und fing Fische und ließ sich von den unwissenden Alten ausschimpfen. Und dabei war das kleine strohblonde Kerlchen einer von den Auserwählten, die zwar hungerten und froren und von Handwerkern und Bütteln herumgestoßen werden durften, die aber doch in die sieben Tagewerke so tief hineingeguckt hatten, daß ihr belebendes Wort ferne Gräber öffnete und nahe Kaiser erblassen ließ.
Betäubt, hingerissen vor Dankbarkeit und Ehrfurcht wollte der Junge auf das winzige Menschenkind zustürzen, aber wie nun sein schlanker Leib den anderen so gewaltig überragte, da meldete sich plötzlich etwas von der Überlegenheit des körperlich Stärkeren, und statt der glühenden Zärtlichkeit, die er noch eben auszuteilen gedachte, fing Claus vielmehr mißtrauisch an, nach den Lebensumständen des Kleinen zu forschen. Warum ein Magister keinen Sitz unter seinen Genossen habe, was ihn fortgetrieben und aus welchem Grund er sich nun schon so lange bei armen, einsamen Leuten verdingt? Das mußte er ergründen, daran klammerte er sich fest.
Beineschlenkernd hockte Heino Wichmann zusammengekrümmt auf dem gefällten Eichenstamm, grinste seinem aufgeregten Zögling spöttisch und erkennend ins Gesicht und wickelte sich gelassen die gelben Haare um den Finger. Endlich hauchte er gefällig und doch kalt wie immer:
»Streng dich nicht an, Büblein. Der Mensch ist ein Trank, von dem man höchstens fünf bis sechs Tropfen genießen soll. Mehr ist schädlich. Aber weil du mir die Narbe über meiner Stirn so aufmerksam belauerst, so magst du erfahren, wo mir diese rote Fahne zuerst aufgezogen wurde.« Er rückte zur Seite. »Komm, setze dich neben mich und dann lerne an mir das Exempel, daß es weichlich und dumm ist, wenn der Mensch nach etwas Sehnsucht zeigt, was der Fresser Chronos längst verschluckt hat.«
Durch einen festen Griff fühlte sich Claus herabgezerrt, dann schlang er die Arme stürmisch um den lächelnden Kleinen und horchte, als ob es um sein Leben ginge.
Wo er sich überall herumgetrieben, das entdeckte der Erzähler nicht, warum er die gelehrten Schulen verlassen, darüber glitt er hinweg. Nur bei einem Punkt blieb er ausmalend stehen. Mitten aus einem tollen, klirrenden Taumel mußte ihn plötzlich eine Begier, ein Heimweh, ein Unbegreifliches nach den Bücherhockern ergriffen haben, nach rauchenden Öllämpchen, die in kalten Kammern über alten Schreibheften dämmerten, nach den raufenden, zechenden und lernenden Bacchanten, nach dem Disput streitender Dozenten und nach den dunklen Bogenhallen, wo aus löchrigen und verschlissenen Professorenpelzen die Weisheit für hungrige Hörer floß.
»Eine Äfferei«, urteilte Heino Wichmann grimmig.
Aus seinen vorsichtigen Andeutungen ging außerdem hervor, daß der ehemalige Magister sich erst einem widerstrebenden und hohnlachenden Kreise heimlich entziehen mußte, bevor er seinen drängenden Plan zur Tat reifen lassen konnte. Aus welcher Stadt er entwichen, aus wie gearteten Verhältnissen, das warf der Strohblonde mit einer abweisenden Handbewegung beiseite. Genug, eines Tages tauchte er unvermutet in Stralsund auf.
»Und dort?« drängte Claus, immer enger an den Freund sich schließend.
»Dort war eine Schule von Bacchantenschützen versammelt. In einer Bodenkammer über einer Sattlerei hockten sie beieinander, und um den Preis eines geordneten Vortrages stahlen und bettelten die Buben für ihren Magister zusammen, was sie unbemerkt die krummen Treppen hinaufschleppen konnten. So ging es eine Weile auch ohne den Verkauf der goldenen Kette, die der Kleine aus nicht näher zu erörternden Gründen dem Tageslicht keineswegs aussetzen mochte. Und schon faßte der Haufe den Entschluß, sich gemeinsam nach Halle durchzuschlagen, wo der berühmte Doktor Pelicanus die Grammatik lesen sollte, als –«
»Ja, Bübchen«, lächelte Heino Wichmann gönnerhaft, wobei er die gespreizten Finger in das nicht mehr wärmende Sonnenlicht hielt, »aber dann, liebe Unschuld, dann kam der Winter. Hast du schon einmal gefroren, Cläuslein?«
»Ich denke wohl«, versetzte der Knabe mit weit aufgerissenen, verständnislosen Augen.
Der Kleine nickte wegwerfend.
»Ja«, meinte er geringschätzig, »wie der Nordwind so einem von deiner Art ein wenig die spitzen Nägel über den Leib ritzt. Aber was es heißt, wenn die Zunge hinter den Zähnen vereist, oder sobald man halbtot in seinem Bodenwinkel kauert, wo das Denken allmählich in dem klappernden Gebein erstarrt, davon ward deiner Mutter Sohn nichts kund. Nicht wahr? Ich sage dir, da führt man allerlei verrückte Tänze auf, ja, man vergißt sich sogar so weit, zu beten, zu wimmern um einen einzigen Holzspan für den leeren Ofen. Kuck, so ging es mir. Mein Verschlag lag der roten Marienkirche gerade gegenüber, und durch die Lappen meines Fensters konnte ich den heiligen Johannes auf seinem Postament stehen sehen. Der fror weder in seinem weißen und blauen Überwurf, noch brauchte er von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Da schrie ich ihn an, er solle ein Wunder tun; aber als er vornehm gegen mich Lumpen blieb und sich nicht rührte, sieh, da packte mich die Wut, denn ich schämte mich für den herzlosen Holzheiligen, und ich beschloß, den Apostel zu seiner Pflicht zu zwingen. In einer Nacht, wo es weiße Strümpfe durch die Straßen schneite, schlich ich hinüber – und dann, eine Stunde später, oh, da hatte sich Sankt Johann schon meines Ofens erbarmt, und himmlische Glut umfing meine Glieder. Köstlich – köstlich, der Heilige hatte ein warmes Herz für mich Bresthaften.«
»Du – du hast mit ihm eingeheizt?« stotterte Claus. Ein Schaudern wollte ihn überrieseln, und in verschämter Bewegung bekreuzigte er sich die Stirn. Und dabei packte den Mitgerissenen doch eine uneingestandene Lust an dem Niederbrechen alles Herkömmlichen, und jener heimliche Aufruhr, der stets von dem Strohblonden ausging, er zwang ihn immer widerstandsloser in die Gefolgschaft dieses aufreizenden Lehrers.
Darum rechtete er auch nicht länger mit dem Wicht, sondern zeigte nur stumm und hartnäckig gegen die Narbe des anderen.
»Ach so«, erinnerte sich Heino Wichmann bereitwillig, »du hast recht. Dies da oben zog den Schlußstrich unter meinen Rückfall in die Gelahrtheit. – Mein Hauswirt, der Sattler, roch den Brand, er war nicht einverstanden mit Sankt Johannis Einkehr bei mir, und so rückten nicht allein seine Gesellen und Nachbarn mit Knütteln und Hellebarden gegen mich aus, sondern auch die Stadtwache glaubte einen seltenen Vogel an mir erwischt zu haben. O Zeus« – der Kleine wiegte auf seinem Elchenstamm träumerisch das feine Haupt –, »es wurde ein wundervoller Handel zwischen den Sankt-Johannis-Rittern und meinen Buben. Allein, was nützte uns die schönste lateinische Strategie? Pfui Teufel, zuletzt mußte ich zum Fenster hinausspringen, ekelhaft, zum Hinterfenster hinaus, in einen Kehrichthaufen. Behängt mit meiner güldenen Kette und bewehrt mit dem schlanken Ravenneser Hieber stak ich stundenlang im Unrat. Lerne daraus, wie aller Glanz und jede Würde der Erde in der Stunde der Not gern zu Gestank und Kot hinabsteigt. Wobei nicht jedem ein reinigend Bad darauf wird wie mir, der ich zu Nacht auf einem Balken rittlings den schmalen Sund durchschwamm. Was dann weiter geschah« – wollte der Kleine gleichmütig schließen und strich sich prüfend über seine durchlöcherten Schuhe, aber plötzlich bettete er in heftiger Spannung die Hand über die Augen, weil tief unter ihnen, am nahen Strand, etwas Weißes, Glitzerndes, Lebensvolles gegen Sonne und Meer aufleuchtete. – »Was weiter geschah«, fuhr der Kleine hastig und bebend fort, »das weißt du, und sieh, zum Dank zeige ich dir jetzt die einzig vernünftige Gabe deines Gottes, die edelste und doch nie sättigende Speise, die nicht lediglich für den Gaumen der Reichen aufgespart blieb – kurz, ich zeige deinen blöden Augen die schaumige, die hüftenprangende Aphrodite.«
Er warf die zitternde Hand weit vor, und um seinen glatten Mund spielte der unbeherrschteste Zug von Wollust und schonungsloser Sinnengier. Katzenhaft, leise kichernd, glitt er bis an den freien Rand des Hanges. Allein ein rascher Griff des Knaben warf ihn unsanft zurück. Totenblaß, taumelnd, im Innersten seiner bereits zerrütteten Seele aufgewühlt, schwankte der große Bursche vor dem Erstaunten auf und ab. Was er von sich abwehren wollte, das wußte der Halberwachsene nicht, aber seine schon von Stürmen bedrängte Scham tobte noch einmal in Wut und Grauen gegen das Geheimnis, zu dessen Entschleierung ihm bisher der Mut gemangelt.
»Du sollst nicht«, zeterte er besessen und grub seine Blicke angestrengt in das Laub des Waldbodens, »das ist Anna Knuth, die –«
»Narr«, versetzte Heino Wichmann scharf und schüttelte die Faust ab. »Der Name fällt mit dem Gewand. Geh zum Spinnrocken deiner Mutter!«
Da vergaß Claus, daß er hier trotz allem mit dem Wohltäter rang, der ihn aus Nacht in den Tag geführt, besinnungslos, Funken vor den Blicken, hob er die Faust, um dann – wie eine Bildsäule der Ratlosigkeit zu erstarren. Ein freches, höhnisches, gewalttätiges Lachen schmetterte ihm entgegen, lähmte ihm den Arm und grub ihn wie einen Pfahl in den Boden ein. Schon jetzt erkannte der Gebändigte, welche schreckhaften, unheimlich aufspringenden Kräfte in dem Leib dieses bartlosen Kindes verborgen fluteten. Stöhnend, von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt, wodurch das Vergnügen des Kleinen aber nur noch gesteigert wurde, und dabei selbst unter den Peitschenhieben eines unsichtbaren Peinigers, so mußte der Fischersohn mit ansehen, wie der Strohblonde, auf dem Bauche liegend, alle Wonnen des Lichtes in sich einschlürfte, und Abscheu und tiefer Schmerz um die entschwirrende Reinheit entluden sich bei Claus in einem wilden Tränensturz. Unbewußt weinte er um die in Sünden lachende Menschheit.
»Frommes Schäflein«, spottete Heino Wichmann über die Schulter zurück. »Wir wollen dir ein Glöckchen um den Hals hängen.«