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XV. Die Rache

Jedesmal, wenn der Lotsenälteste draußen mit den Knöcheln an die Tür schlug, griff sich Johannes an die Brust, als ob das Klopfen ihm physischen Schmerz zufügen würde. Er war die Beute eines Schreckens, der sich nicht mehr dämpfen ließ – und alles nährte diesen Schrecken: die Geräusche der Menschen, die kamen, die Stille, in der er nichts mehr vernahm, die Einsamkeit, die drohte, die Gegenwart von Menschen, alles.

Seine ganze Gestalt brachte auch zum Ausdruck, wie hemmungslos er sich der Angst ausgeliefert hatte: seine lauernde Haltung, die auf die Absicht zu flüchten schließen ließ, aber auch zugleich die Angst vor der Einsamkeit der Flucht verriet, und sein flehentlicher Griff um Kaisas Arm: niemand durfte ihn verlassen.

Seine Augen sprachen von jener wilden Verwirrung, die sich der Tiere und gejagter Menschenseelen bemächtigt – ein krampfhaftes Spähen nach Rettung, wo es keine Rettung mehr gibt.

Er hatte Signe das Gewissen genannt. Und ihre Gegenwart erinnerte an das Gewissen, an die Gewissensbisse, wenn sie in den Gedanken eines Menschen erwachen und die Form von etwas Lebendigem, einen unablässig Ansehendem, annehmen, das nicht zu verscheuchen ist. Sie war ohne Umriß, wie sie da in der Finsternis stand, nur grau und dunkel, ohne Barmherzigkeit in den Augen, ohne einen lebendigen Blick, nur suchend und suchend in unergründlichem Wahnsinn, die verurteilende Reue in menschlichen Zügen verkörpert.

»Ist die Tür versperrt?« fragte Johannes.

»Nein,« erwiderte Kaisa, »Ann-Mari ist ja noch nicht nach Hause gekommen.«

»Zum Teufel, so geh doch hin und sperr zu, wir sind nicht verpflichtet, so spät noch Besuch zu empfangen.«

»Du hast Angst«, sagte Kaisa. »Warum hast du Angst?«

»Ich weiß nicht, ob es Angst ist«, sagte Johannes. »Ich spüre nur in allem, was ich sehe und höre, eine furchtbare Anklage. Sieh nur Signe dort an! Sie hat kein Wort gesagt. Sie ist eine stumme Anklage, von göttlichen Mächten ausgesandt. Und dann die Lichter – die flammenden Lichter auf dem Tische des Gerichtes. Und der Lotsenälteste, der uns herausklopft! Warum klopft er? ... Die Stunde ist gekommen! klopft er ... Wir glaubten, wir würden in ein verschlossenes, friedliches Haus kommen, wo wir uns mit unserem Geheimnis einschließen könnten. Und anstatt dessen steht das Geheimnis überall da und klagt uns an ... Ich wußte, daß es so kommen würde, ich wußte es die ganze Zeit. Aber dir habe ich es zu verdanken, daß ich es vergessen konnte.«

»Entweder hast du zu viel getrunken oder zu wenig«, sagte Kaisa höhnisch.

Und sie ging auf die Tür zu, um zu öffnen.

»Warte!« rief er ihr nach. »Du gibst deine Macht über mich jetzt preis, um mich rettungslos dem Gewissen zu überantworten. Aber du bist die Schuldigste. Ich glaube, es ist richtig, was die Leute sagen, daß du mit dem Teufel im Bunde bist. Ich habe nichts anderes getan, als mich deinem Willen gefügt. Nichts anderes!«

»Johannes! Johannes!« rief der Lotsenälteste von draußen.

»Wer hat in der Dämmerung die Axt hinaufgetragen?« fragte Kaisa mit unheimlicher Sanftmut in der Stimme.

»Du hast mich dazu gebracht.«

»Ich habe das Wort nie ausgesprochen.«

»Aber du hast beständig daran gedacht. Ich habe es gefühlt, jedesmal, wenn ich deinem Blick begegnete und du mich ansahst. Die Axt ... die Axt ...«

»Macht auf!« rief der Lotse.

»Können wir Signe nicht wegbringen, bevor er hereinkommt?«

»Niemand hört auf die Närrin«, gab Kaisa zurück.

Sie ging zur Tür hin und rief durch die Planken:

»Warum kommt Ihr denn nicht herein, Lotsenältester? Was steht Ihr denn da draußen und poltert gegen eine unverschlossene Tür?«

Während der Lotsenälteste und der Segelmacher eintraten, suchte sich Johannes der Begegnung zu entziehen. Er schlich sich in der Dunkelheit die Wand entlang zum Küchenflur, von dort ging eine Treppe in die oberen Räume. Doch plötzlich blieb er auf der Schwelle stehen, von der Dunkelheit dieser Treppe zurückgestoßen. Kein Laut war zu hören, aber aus dem Stiegenhaus wehte ein kalter Hauch des Schreckens. Johannes wehrte sich mit vorgestreckten Händen gegen dieses furchtbare Grauen, dieses unheimliche Nichts, und wich zurück, indem er flüsterte:

»Alles ist anders geworden.«

Diese Worte hörte der Lotsenälteste, der jetzt in das Zimmer gekommen war. Er trat näher.

»Da hast du recht, Johannes,« sagte er, »von diesem Abend an ist alles anders geworden.«

In seinem ganzen Wesen war etwas Verhohlenes und gleichzeitig Wissendes, das selbst die alte Kaisa stutzen ließ. Sie zog sich zu dem Mann zurück, um in seiner Nähe zu sein, wenn ihm irgend etwas in den Sinn kommen sollte. Johannes schien ganz in Verwirrung aufgelöst. Mit gesenktem Kopf stand er da und blinzelte den Lotsenältesten an. Alles an ihm war aschfahl, sein Blick, sein Gesicht, seine Kleider, er betrachtete den Lotsenältesten, als erwartete er einen blutigen Angriff.

»Auch du,« murmelte er, »auch du bist anders geworden.«

Die Haltung des Lotsenältesten hatte in ihrer Mächtigkeit etwas Drohendes. Jetzt wo er vor dem entscheidenden Wort stand, fühlte er sich durch seine Trunkenheit und die Ungewöhnlichkeit seiner Aufgabe etwas befangen.

Vielleicht hatte er auch das Gefühl, daß der geheimnisvolle Besuch, von dem er erzählen sollte, immer weniger und weniger Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu haben schien. Was war Wahrheit an diesem traumhaften Erlebnis mit einem Menschen, der viele Jahre hindurch für tot gegolten hatte – ein Erlebnis, verwoben mit Visionen von Leichengeruch vom Meere und den Stimmen Ertrunkener, die aus den Wänden kamen. Je mehr die Mystik des Ganzen ihn gefangen nahm, desto feierlicher wurde ihm zumute. Er hatte eine Botschaft zu bringen, wie sie unter lebenden Menschen unerhört war, und es fiel ihm darum schwer, zu sprechen.

Aber der ganze Auftritt hier im Wirtshaus war eine menschliche Begegnung, bei der jeder der Beteiligten so erfüllt von den düsteren Schickungen des Lebens war, daß es ebensogut ein Stelldichein von Schicksalen sein konnte, eine Stunde der Anklage ... da stand der mit seinem Unglück, da stand jener ... und der alte Wirtshausraum veränderte sein Aussehen, vereinigte seine dunklen Wände mit der Finsternis und der Verzweiflung der Menschen und wurde zu einem mächtigen Gerichtssaal.

»Wo ist er?« fragte der Lotsenälteste.

»Wen meint Ihr?«

»Den fremden Gast.«

Niemand gab Antwort. Dann sagte der Lotsenälteste:

»Ruft ihn.«

Noch immer lag die Stille vereisend über allen, eine Kälte, die durch die geschlossene Tür vom Fluß her einzudringen schien. Auch der Lotsenälteste wurde auf das Sonderbare dieser Stille aufmerksam. Er sah von einem zum andern. Vielleicht fühlte er die Antwort in einem Kälteschauer: hier kam das Geheimnis wortlos in die Stube, mit dem kühlen Luftzug vom Wasser des Flusses.

Der Lotsenälteste brach die Stille:

»Ich weiß, wer er ist, der fremde Gast«, sagte er. »Auch Ihr kennt ihn, Mutter Kaisa. Wir alle kennen ihn.«

Im selben Augenblick bewegte sich Signe.

Bisher hatte anscheinend niemand sie bemerkt. Man war es so gewohnt, sie gleich einem Schatten kommen und gehen zu sehen. Niemand rechnete mit ihr. Auch jetzt war sie ganz für sich selbst, fern von aller Welt, ohne Verbindung mit den anderen, aber ihr Erscheinen wirkte in diesem Augenblick wie eine Erleichterung in der unerträglichen Stummheit.

Plötzlich stand sie ganz vorne an dem Tisch, von den Kerzenflammen beschienen, aber auch aus ihrem Inneren kam ein Licht, ihr Gesicht strahlte. Jetzt hörte sie wieder den Ruf von drüben.

»Was hört sie nur?« fragte der Lotsenälteste.

Signes Verzückung war so inbrünstig, es strahlte wie eine Gewißheit von ihr aus, daß sie eine Stimme hörte, die für die anderen unhörbar war.

Mutter Kaisa machte eine unwillige Bewegung:

»Laßt sie gehen. Wir kennen sie ja.«

Signe ging auf die offene Tür zu. Jetzt erreichte sie wieder der aus unermeßlicher Ferne tönende Ruf:

»Hol über ... hol über ...«

»Ja«, antwortete sie. »Ich komme.«

Sie ging zur Tür hinaus. Man hörte ihre Schritte die Treppe hinunter, und ihr lichtes Kleid verschwand in der Dunkelheit.

»Sie hat offenbar etwas gehört«, sagte der Lotsenälteste.

»So ist es ja immer am Gedenktag,« erwiderte Kaisa, »da hört sie Stimmen rings um sich. Aber dafür hört sie gar nicht, was die Lebenden zu ihr sagen.«

Der Segelmacher, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, schlurfte nun in seinen Pantoffeln heran.

»Ich gehe ihr doch lieber nach«, flüsterte er. »Mir scheint, sie geht den Brückenrand entlang.«

Mutter Kaisa stellte sich jetzt dicht neben Johannes. Irgend etwas in dem Gehaben des Fährmanns ließ ahnen, daß er einen verzweifelten Vorsatz im Sinne hatte. Auch der Lotsenälteste war von dem Aussehen seines alten Freundes betroffen. Es war, als raste Johannes im Fieberwahn, er murmelte unzusammenhängende Worte vor sich hin, erbitterte, aber unverständliche Verwünschungen. Endlich hörten sie ihn sagen:

»So wie Signe ist, werden auch wir anderen werden ... wir werden nach Stimmen horchen, die es nicht gibt, und Menschen sehen, die nicht da sind ...«

Kaisa sah ihn geringschätzig an.

»Jetzt seht Ihr selbst, Lotsenältester, wogegen ich anzukämpfen habe. Bin ich nicht eine glückliche Frau? Ist es nicht notwendig, mich noch im Gotteshaus mit Schmutz zu bewerfen? Soll ich nicht ins Elend hinaus gestoßen werden?«

»Warum kommt er her?« flüsterte Johannes.

»Ja, warum kommt Ihr noch so spät und fragt nach dem fremden Gast? Ihn könnt Ihr nicht mehr sprechen.«

»Warum nicht?«

»Er ist fort.«

»Fort ...« Die aufrechte Haltung des Lotsenältesten fiel langsam zusammen. Endlich lächelte er wie verlegen.

»Aber das ist ja unmöglich«, sagte er.

»Wir haben ihn selbst vor einer Stunde über den Fluß gerudert,« antwortete Kaisa, »er hat sich ein Fuhrwerk bestellt, das ihn drüben erwarten sollte, und damit ist er weitergefahren.«

Der Lotsenälteste wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte.

Kaisa fuhr fort:

»Solche Leute kommen und ziehen weiter, niemand weiß woher und niemand weiß wohin. Nach ihnen fragt nie jemand.«

Johannes lachte hart auf.

»Nie!« fügte er hinzu, »es ist, als wären sie tot.«

Der Lotsenälteste konnte sich nur schwer von seinem Staunen erholen. In seiner Ratlosigkeit ließ er eine gleichgültige Bemerkung fallen.

»Mir scheint, ich sah heute abend etwas, das sich im Schilf bewegte«, sagte er.

»Ja, ja, das war der Fremde, der wegfuhr«, erwiderte Kaisa.

Plötzlich brach der Lotsenälteste los:

»Ohne zu erzählen, wer er ist?«

»Er sagte einen Namen, einen fremden Namen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»Ich versprach, ums Morgengrauen zu ihm zu kommen,« fuhr der Lotsenälteste fort, »er hatte mir etwas zu erzählen. Es fällt mir so schwer, zu glauben, daß er abgereist sein soll. Er war heute abend bei mir. Ich saß allein in meiner Stube und dachte daran, was für ein Tag heute ist. Ich dachte an alle unsere Freunde, die vor zwanzig Jahren verschwunden sind. Und da kam er zu mir herein.«

Die letzten Worte ließen Johannes den Kopf heben. Er horchte der Stimme des Lotsenältesten mit steigender Aufmerksamkeit. In seinem aufgewühlten Gemütszustand sah er visionär. Allmählich, ganz allmählich stieg eine neue, eine furchtbare Wahrheit vor ihm auf.

Der Lotsenälteste fuhr fort:

»Und kaum hatte er nur einige Worte mit mir gesprochen, als ich ihn auch schon erkannte, hört ihr, ich erkannte ihn wieder am Haar und an den Augen, obgleich zwanzig Jahre vergangen waren, seit er fortfuhr. Er wollte mir alles von dem Schiff erzählen, aber er bat mich, bis zum Morgengrauen zu warten, denn er war so erschöpft ... so bange, viele Menschen zu treffen ... vielleicht so bange, Rechenschaft abzulegen. Es war Andreas. Der Fremde war Andreas, hört ihr es, Johannes und Kaisa, wie kann es möglich sein, daß er abgereist ist?«

Johannes packte mit der linken Hand Kaisa an der Schulter. Er stieß ein Knurren aus, einen tierischen Laut des Schmerzes und der Wut. Kaisas Gesicht wurde starr und erdfahl.

Da hörte man Lärm unten von der Brücke, Stimmen und Schritte und Ruder, die von einem Boot ausgelegt wurden. Dann ertönte ein Ruf von dort unten:

»Signe ist ins Wasser gegangen!«

Bald darauf zeigte sich der Segelmacher in der klaffenden Türöffnung.

»Der Fluß hat sie behalten«, rief er mit seiner heiseren Stimme. »Sigvard rudert jetzt hinaus, um nach ihr zu suchen. Aber der Fluß hat sie behalten.«

Da war es, daß Johannes' Knurren in einen wilden, wahnwitzigen Schrei umschlug. Wie der Blitz zuckte ein Messer durch die Luft. Er stürzte sich auf Kaisa. Und ehe jemand es hindern konnte, lag er an der Türschwelle über ihr.

Dann erhob er sich wieder und reichte dem Lotsenältesten seine blutigen Hände.

»Führt mich von hier weg«, bat er.


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