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Auf dem Tisch der Wirtsstube stand eine hohe, gelbe, brennende Kerze. Das Feuer im Kamin war ausgegangen, nur eine schwache Röte in der Dunkelheit ließ ahnen, daß noch Glut unter der Asche war. Die Fensterläden waren geschlossen, auch die große Brückentür. Draußen aus der Küche hörte man ein leises Knirschen im Schornstein, ein Laut, der im Hause umging wie ein kreisendes Insekt. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Das Haus lag wie unbewohnt da, ganz still, ohne Schritte, ohne Stimmen – eine Stummheit, die vom Keller bis zum Boden ging, etwas Leeres, Lauschendes, das aus allen Winkeln drang und durch die hohe einsame Kerze, die kapellenstill brannte, noch vertieft wurde.
Aber plötzlich schlug die Lichtflamme zur Seite und flackerte einige Sekunden wie in Stücke gerissen, bis sie sich wieder erhob. Jemand war ins Zimmer gekommen, und durch die offene Tür war der Wind hereingeweht. Es war Signe.
Signe in demselben abgetragenen Werktagskittel mit den zu kurzen Ärmeln, ohne Überkleid, das Kopftuch auf die Schultern gesunken und das Haar wild verblasen. Signe, noch gejagter als früher am Abend, zitternd vor Erregung, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu machen, ganz von mystischer Erwartung erfüllt – süß geheimnisvoll in sich hineinflüsternd, in dem stummen, tödlich schwermütigen Leben des Wahnsinns.
Sie ging auf die brennende Kerze zu, die sie mit offenen, leeren, blicklosen Augen betrachtete.
Eine ungeheure innere Welt von Gesichten hatte gleichsam die Wirklichkeit ausgeschlossen. Sie legte die Hände auf die Tischplatte, ein Bild ekstatischen, in sich gekehrten Gebets vor der Altarflamme. Für ihre zerrüttete Seele, die außerhalb der Grenzen des Daseins umherirrte, nahmen selbst die alltäglichsten Dinge visionäre Dimensionen an. Der Abstand von der brennenden Kerze zu der hohen, spitzbogigen Tür war für sie der Abstand vom Unglück zu den heiligen Symbolen des Altars mit dem Blute des Erlösers.
Nach einiger Zeit ging sie in die Küche hinaus und kam mit noch einigen Kerzen in den Händen zurück.
Sie zündete die eine an der anderen an und stellte sie in einer Reihe auf den Tisch. Die Wände wurden deutlicher. Die alten Zinnkrüge bekamen Glanz, und sogar die Decke hoch oben mit den dicken, von Rauch und Alter geschwärzten Stützbalken, wurde sichtbar.
Lange betrachtete sie die flammenden Kerzen mit einer stillen träumerischen Freude, wie sie Kindern oder Narren, die ins Feuer starren, eigen ist. Aber schließlich bekam ihr Gesicht einen staunenden, gefesselten Ausdruck. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, und die Lichter, die sich auf der Netzhaut ihrer Augen abgezeichnet hatten, erweiterten sich zu großen glimmenden Sonnen, farbenschimmernden Nebeln, die über die Wände wogten, pulsierend wie Quallen im Meer.
Diese hypnotische, dunkle Welt behexte sie förmlich. Sie stand jetzt mitten im Zimmer, ein kleines Menschenwesen nur in dem großen Raum, umwirbelt von dem Zauber, der von ihrem eigenen Sinn ausströmte. Plötzlich breitete sie die Arme wie zum Willkommen nach einem aus, der lange erwartet war, und rief:
»Ja –«
Sie wiederholte dieses eine Wort »Ja« mehrmals mit steigender Stärke. Sie erwiderte einen Ruf, der immer ungestümer wurde, weshalb auch ihre eigene Antwort immer eindringlicher klang: »Ja.« Sie hörte es. »Ja, ja.«
Jetzt geht in der geschlossenen Tür etwas vor, in der großen Doppeltür nach dem Fluß.
Ein Leben erwacht in den Planken, anfangs ist es nur wie das Schattenspiel der vielen brennenden Kerzen, die Reflexe der Gesichtseindrücke in den Pupillen der Schauenden. Aber bald sammeln sich die Bewegungen zu einem bestimmten Sinn. Etwas Lebendes sucht mühsam die Planken der Tür zu durchdringen. Ein seltsames, schleierartiges, wogendes Leben sickert durch die Zusammenfügungen der Planken und bildet Konturen in dem alten, mattschimmernden Firnis. Die Gestalt beginnt sich zu formen. Sie dringt in die Mitte der Tür vor, wo die beiden Türflügel zusammenschließen, ein Stück über dem Schloß bildet sich ein leuchtender Fleck, ein Gesicht mit einer außerordentlich weißen und schimmernden Stirn ...
Und so wie wenn man ein Bild über einem andern hervorruft, erscheint eine menschliche Gestalt über dem Querbalken. Anfangs kann man die Struktur der Tür noch durch die dünne Lage der menschlichen Gestalt sehen, aber bald tritt diese Gestalt ganz hervor. Und nun steht er deutlich innerhalb der geschlossenen Tür, der fremde Gast. Es ist Andreas.
In dem Maße, in dem er deutlicher wurde, ist Signe ihm nähergekommen – mit zögernden Schritten, ängstlich, daß seine Gestalt entweichen und sich wieder in dem schwachen Lichtschimmer der Tür auflösen könnte.
Nun blieb sie still stehen, indem sie die Handflächen gegeneinander preßte.
»Ich wußte, du würdest kommen«, sagte sie.
Andreas war in seinen großen Mantel gehüllt. Der hing in steifen, meergrünen, triefend nassen Falten gerade herab, seine Arme und Hände waren in diesen Falten verborgen und schienen mit dem Mantel verwoben zu sein. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe. Bis tief in die Stirn hing das Haar, klebrig von Feuchtigkeit. Über dem rechten Auge hatte er eine große, blutende Wunde. Ein erstarrter Blutstrom ging von der Stirn über das Ohr zum Hals hinunter. Sein Gesicht drückte keinen Schrecken aus, es zeigte nur eine unermeßliche Müdigkeit und Trauer.
»Signe,« sagte er, »ich bin schon einen ganzen Tag hier. Warum hast du mich nicht gesehen?«
»Ich habe dich nicht früher sehen können, erst jetzt. Aber ich habe gefühlt, daß du in der Nähe bist. Als ich draußen auf den Schären stand, kamst du mir vom Meer aus entgegen. Ich wußte, daß du es bist. Ich habe deine Gegenwart im Sternenlicht gespürt. Und vorher wurde mir dein Kommen verkündigt, ganz so, wie ich dich jetzt kommen sah. Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt, so inbrünstig, als ob ich sterben sollte und mich nach der Erlösung sehnte.«
Andreas neigte den blutbesudelten Kopf.
»Es ist seltsam,« sagte er, »daß du mich jetzt sehen kannst. Vor einer Stunde ging ich unten auf der Straße an dir vorbei, und da sahst du mich nicht.«
»Warum ist dein Antlitz so blutig?« fragte Signe.
»Das ist die Axt,« antwortete er betrübt, »es mußte geschehen, so war es bestimmt, und darum konnte nichts es hindern. Sie standen im Dunkel da und warteten auf mich, als ich heute abend heim in mein Zimmer kam. Ich war so unermeßlich müde, Signe, und ich wollte mich so unbeschreiblich gerne zur Ruhe legen. Und während ich da stand und das Licht entzündete, schlugen sie mit der Axt nach mir. Hier, über der Schläfe. Ich weiß nicht mehr, ob es weh tat, ich habe keine Schmerzen mehr. Aber von dem Augenblick an, in dem es geschah, bin ich auf der Wanderschaft von hier fort. Ich entferne mich immer mehr und mehr. Du mußt mir folgen, Signe.«
»Ja, ich folge dir«, antwortete sie eifrig. »O wie böse sind sie gegen dich gewesen, Andreas!«
»Nein, nein,« sagte er vorwurfsvoll, »es ist nichts anderes geschehen, als was sich vollziehen mußte. Ich empfinde es jetzt als eine Befreiung. Hier soll niemand angeklagt werden. Sie trugen mich in das Boot hinunter, die Stufen hinab, die ich so gut kannte. Nun werde ich nie mehr die Lichter meiner Kindheit sehen. Dann ruderten sie mich an das andere Flußufer und senkten mich ins Schilf. Da liege ich nun.«
Eine Hand löste sich aus seinen regungslosen Mantelfalten und winkte nach rückwärts, diese Hand leuchtete weiß gegen die dunkle Tür.
»Jetzt kommen sie zurückgerudert«, sagte er.
Signe streckte verzweifelt die Arme nach ihm aus.
»Ich kann dich nicht mehr so deutlich sehen«, flüsterte sie. »Du entschwindest mir. Aber du bist nicht tot. Ich kann dein Herz schlagen hören.«
»Das ist nicht mein Herz,« sagte Andreas, »das sind die Ruder, die draußen im Boot an die Gabeln schlagen. Sie kommen.«
Er begann wieder in die Balken der Tür einzudringen; die schrägen Bretter, die Punkte der Nägel waren nun wie ein Gespinst durch seinen Körper zu sehen. Das letzte, was deutlich war, war seine weiße Hand, die sich durch die rostigen Beschläge des Schlosses nach Signe ausstreckte. Seine Stimme klang schon ganz ferne:
»Du mußt mir folgen, Signe.«
»Ich folge dir«, antwortete Signe beinahe unhörbar.
Sie war zum Kamin zurückgewichen, wo sie niedergeschmettert und ratlos stehenblieb. Sie schien auf etwas zu warten und lauschte stumm in das öde Haus.
Unten von der Brücke hörte man ein Boot, das anlegte. Die Ruder wurden geräuschvoll unter die Ruderbänke geworfen, und schwere Schritte trampelten über die Balken der Brücke.
Bald darauf wurde die große Tür auf ihren knirschenden Angeln zurückgeschoben. Draußen baumelte eine Laterne hin und her.
Zuerst kam Kaisa herein, sie trug die Laterne. Dann folgte Johannes. Die Tür blieb offenstehen, das Nachtdunkel erfüllte die Öffnung. Jetzt waren keine Sterne mehr zu sehen. Auch der Fluß war nicht sichtbar, nur das schwache Rauschen der langsam dahinströmenden Wasserfluten erfüllte die Stube mit einem kalten feuchten Hauch.
Die Fährleute blieben betroffen stehen und betrachteten die Kerzen auf dem Tisch. Signe sahen sie nicht gleich. Aber nun bewegte sie sich drüben am Kamin, und die alte Kaisa hob die Laterne über ihren Kopf.
»Ach, das ist Signe«, sagte sie.
Und als wünschte sie sich freundlich zu zeigen, wiederholte sie sanft:
»Bist du es, Signe?«
Signe rückte vom Kamin ab, um an den alten Leuten vorbei auf den Fluß hinaus sehen zu können. Ihr Blick streifte an allem Gegenwärtigen vorbei, um irgend etwas in der Dunkelheit dort draußen zu ergründen.
»Zum Kuckuck, was starrt sie denn an?« murmelte der Mann mißtrauisch.
Die Alte zischte ihm zu:
»Laß Signe gehen. Komm näher, Signe«, bat sie einschmeichelnd.
Signe glitt ein paar Schritte näher heran, aber blieb dann wieder stehen. Die kleine, lichte Gestalt mitten in der großen Stube sah unsäglich arm und dürftig aus.
»Bist du schon lange hier?« fragte Kaisa.
Signe schüttelte den Kopf.
Nein, sie war noch nicht lange hier.
»Und hast du es hier so schön mit den Lichtern ausgeschmückt?«
Signe nickte.
»Das ist ja wie am Weihnachtsabend«, sagte Kaisa. »Ist sonst jemand hier gewesen?«
Kopfschütteln, nein.
»Ist Ann-Mari noch nicht zurückgekommen?«
»Nein.«
Kaisa wandte sich dem Mann zu und sagte leise und beruhigend:
»Ich habe es ja gewußt.«
Johannes entzog sich ihr unwillig, mit sichtlichem Abscheu vor ihrer unnatürlich sanften Stimme.
Er setzte sich an den Tisch und beugte sich über die Tischplatte vor. Die ganze Zeit sah er Signe an. Es war, als fiele ihm erst jetzt irgend etwas Furchteinflößendes an ihr auf, von dem er den Blick nicht abwenden konnte.
»Ach ja, jetzt ist der Fremde fort«, sagte Kaisa.
»Ja, jetzt ist er fort«, flüsterte Signe. Kaisa hob die Laterne gegen sie und fragte verwundert:
»Weißt du es?«
Signe antwortete nicht, sondern starrte nur auf die geöffnete Tür und lauschte. Plötzlich fragte sie:
»Hört ihr nicht?«
»Was ist das?« fragte der Mann und sprang jäh auf. Er umklammerte mit den Händen die Tischplatte, um sich zu stützen.
»Jemand ruft drüben«, sagte Signe.
Sie stand mit halbgeschlossenen Augen da, sie war in ihrer eigenen Welt. Man konnte es ihr ansehen, daß sie die Worte der anderen nur als Fragen erfaßte, die zu ihr kamen, ohne daß sie ahnte woher.
»Man ruft«, sagte sie.
»Ich höre nichts«, rief der Mann heftig. »Was ruft man denn?«
Johannes verschluckte einen Fluch.
»Ich höre nichts,« wiederholte er, »und ich habe diesen Ruf doch ein Menschenalter gehört.«
Er war sehr bleich geworden. Kaisa hob die Laterne.
»Du kennst sie ja,« sagte sie, »du weißt ja, was sie immer zusammenfaselt. Aber du brauchst etwas Starkes, ich hole Branntwein.«
Sie wollte in die Küche hinausgehen, aber Johannes hielt sie am Umhangtuch zurück.
»Bleib hier!« rief er. »Laß mich nicht allein mit der dort.«
Er deutete mit einer zitternden Hand auf Signe.
»Der dort«, wiederholte er. »Sieh nur, wie grau und still sie dasteht, sie ist das Gewissen.«
Im selben Augenblick hörte man draußen Stimmen und Schritte und donnernde Schläge an das Haustor.
»Der Lotsenälteste«, murmelte Kaisa verwundert. »Was will er so spät noch hier?«