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Der Ärmste hatte sein Glas geleert und blickte nun so sehnsüchtig nach des Flüchtlings voller Flasche, daß dieser ihn an seinen Tisch heranwinkte. Ein dankbares Lächeln glitt über die Züge des Sträflings, und langsam schleifte er sich heran und setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke zwischen der Wand und dem Tisch.
Die Kellnerin brachte Flasche und Glas. Der Flüchtling bezahlte sofort und gab ihr ein reichliches Trinkgeld. Das schien einen großen Eindruck auf den anderen zu machen.
Die beiden stießen miteinander an und tranken.
»Du hast viel Geld«, flüsterte der Sträfling mit heiserer, geborstener Stimme, und sah begehrlich auf den Fünfziger, der in der Tasche der Kellnerin verschwand.
Anstatt zu antworten, zog der Flüchtling die Handvoll Silbergeld heraus, die der geheimnisvolle Unbekannte ihm auf der Straßenbahn zugesteckt hatte.
»Soviel Geld habe ich seit vielen Jahren nicht gesehen«, sagte der andere.
»Wie viele Jahre?« fragte der Flüchtling, indem er eine bedeutungsvolle Gebärde machte.
»Zwölf.«
»Also wohl wegen Totschlag?«
Der Fremde antwortete nicht. Er hob sein Glas, trank es aus und fragte:
»Wie heißt du?«
»Jens. Und du?«
»Das wird dich kaum interessieren. Ich bin ein unglücklicher Namenloser.«
»Du siehst aus, als hättest du einst bessere Tage gehabt.«
»Ja, die hatte ich auch. Aber das ist lange, lange her.«
Eine Pause entstand.
Plötzlich beugte sich der Sträfling über den Tisch und sagte mit völlig verwandelter Stimme:
»Du bist ein tüchtiger Bursche.«
Jens starrte ihn an, sprachlos vor Staunen, und ließ sein Glas zu Boden fallen, daß es in tausend Stücke zersprang.
»Zum Donnerwetter!« rief er aus. »Du bist es, Detektiv?«
Asbjörn Krag – er war es wirklich – legte die Finger auf den Mund.
»Still,« sagte er, »wir werden vielleicht belauscht.«
»Habe ich je dergleichen erlebt«, murmelte Jens und sah Krag an, wie man ein geheimnisvolles, übernatürliches Wesen betrachtet. »Ja, gegen dich kommt keiner auf,« sagte er schließlich.
Krag antwortete lächelnd:
»Halt dich nun aber ruhig, damit du uns nicht beide ins Verderben stürzt.«
Das kleine Zimmer füllte sich allmählich mit einem Haufen lärmender Menschen – meist übel aussehende, nach Schnaps stinkende Individuen. Man befand sich hier offenbar in einem Lokal allerschlimmster Sorte.
Plötzlich zuckte Jens zusammen. Zwei neue Gäste waren eingetreten. Der eine lenkte sofort aller Blicke auf sich. Es war ein großer, grobknochiger Mann. Er konnte etwa fünfzig Jahre alt sein, sein Rücken war etwas gebeugt. Er trug einen Kutschermantel, hatte eine Peitsche in der Hand und ein Ungeheuer von einem Kutscherhut war über beide Ohren gezogen. Sein Bart, der die ganze untere Hälfte des Gesichts bedeckte, war schwarz, doch schon ein wenig grau gesprenkelt. Als der Kutscher in das Licht der Lampe trat, bemerkte Krag, daß sein Mantel vertragen war und daß zwei Knöpfe daran fehlten.
Der Mann, mit dem er kam, war klein und untersetzt, schien aber außerordentlich geschmeidig und kräftig zu sein. Er hatte die gewohnte Bauernfängerphysiognomie, war scheinbar gut angezogen, trug eine dicke silberne Uhrkette über dem Magen und einen knallroten Schlips.
Krag und sein Gefährte wurden anfangs in ihrer stillen Ecke von den Neuankömmlingen nicht bemerkt. Diese setzten sich allein an einen Tisch und vertieften sich sofort In eine vertrauliche, eifrige Unterhaltung.
»Kennst du ihn?« fragte der Detektiv.
»Ja«, antwortete dieser und blickte unruhig zu ihnen hinüber.
»Verrate dich nicht. Welchen kennst du?«
»Den jüngeren.«
»Den mit dem roten Schlips?«
»Ja. Es ist der Bolzen.«
»Ich dachte mir's. Aber der andere?«
»Den habe ich noch nie gesehen.«
»So. Betrachte ihn dir genauer.«
Jens warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Dann sah er Krag bedeutungsvoll an.
»Das ist doch nicht etwa ...«
»Der Mann mit dem Elfenbeinstock, meinst du? Wir werden ja sehen. Aber der Bolzen hat Mut, daß er sich herauswagt, obwohl er soviel auf dem Kerbholz hat.«
»Ph, der weiß sich schon zu decken. Er hat draußen seine Wachtposten. Und hier im Hause weiß er Bescheid wie in seiner Tasche und kann jeden Augenblick verschwinden. Außerdem ahnt er nicht, daß ich ihn verriet. Und es war vielleicht auch eine Verrücktheit von mir.«
»Hat er dich etwa nicht zuerst verraten?«
»Ja. Aber er glaubt wohl nicht, daß ich mir das zusammenreimte. Bekommt er heraus, wer du bist, so ist es mit uns beiden aus. Er ist der reine Teufel.«
»Du kennst mich noch nicht recht«, erwiderte Krag. »Ich habe mich schon in gefährlicheren Lagen befunden.«
»Hallo, Kamerad!« erscholl es plötzlich von dem Tisch der anderen beiden.
Der Bolzen hatte sie entdeckt und kam nun zu ihnen herüber. Argwöhnisch sah er Krag an, fühlte sich dann aber offenbar beruhigt durch sein erbärmliches Äußere. Dieser hatte nun wieder sein voriges Gesicht aufgesetzt. Mißmutig rückte er auf seinem Stuhl hin und her, der ausgemergelte alte Sträfling – Krag war nicht nur ein vorzüglicher Detektiv, sondern auch ein ausgezeichneter Schauspieler.
Der Bolzen drückte dem Flüchtling die Hand. In seinem Gesicht spiegelte sich Staunen und Ärger. Jens bemerkte es und warf ihm einen trüben Blick zu.
»Wie kommst du hierher?« fragte der Bolzen.
»Das kannst du dir wohl denken«, antwortete der andere. »Ich bin einfach ausgebrochen.«
»Donnerwetter! Wie hast du das gemacht?«
»Bin aus dem ›Kasten‹ (Gefangenenwagen) gesprungen.«
»Aber das ›spanische Rohr‹ (der Wärter)?«
»Hat geschlafen.«
»Und dennoch traust du dich hierher?«
»Irgendwo muß ich doch wohl sein. Außerdem wollte ich dich sprechen.«
»Was willst du von mir?«
»Dir sagen, daß ich dir nicht mehr traue. Ich glaube, du warst es, der mich bei der Polizei angegeben hat.«
Der Bolzen ergriff heftig seinen Arm.
»Das ist gelogen!« rief er aus. »Waren wir nicht immer gute Kameraden?«
»Ja, aber du kriegst alles fertig.«
Jens ballte die Fäuste und stand auf. Krag erkannte, daß es nicht nur Komödie von ihm war.
Der Bolzen schob ihn auf den Stuhl zurück.
»Schrei nicht so«, flüsterte er. »Du weißt sehr gut, daß es gelogen ist, was du sagst.«
»So mußt du mir vorläufig ein Versteck anweisen.«
»Ja, das will ich. Nur schrei nicht so, sei still. Was ist das für einer, der hier mit dir sitzt?«
Er zeigte auf Krag.
»Der ist eben aus Akershus entlassen.«
»Wie lange?«
»Zwölf Jahre haben sie ihm aufgebrummt.«
»So kennst du wohl manchen Kameraden da unten?« fragte der Bolzen.
»Ja,« antwortete Krag, »ich kenne viele, viele...«
Der andere befragte ihn nun nach allen Bekannten in Akershus. Krag verstand sich vorzüglich auf die von ihm benutzte Verbrechersprache, auf all die merkwürdigen Worte und Wendungen, die sie gleich Freimaurern untereinander anzuwenden pflegen. Er antwortete in demselben Jargon und konnte ihm, da er ein vorzügliches Personengedächtnis hatte und keiner der größeren Verbrecher ihm fremd war, vieles Neue mitteilen. Das wiegte den Bolzen vollkommen in Sicherheit. Und als er mit seinem Examen fertig war, sagte er zu Jens:
»Erwarte mich hier. Ich bleibe nur zehn Minuten fort.«
Damit ging er zu dem Kutscher zurück, der mit unruhigem Interesse seine Unterhaltung mit dem jungen Kameraden und dem alten Strafgefangenen beobachtet hatte. Bald darauf erhob sich Krag und ging. Er fühlte die Blicke des Bolzen in seinem Rücken.
Als er auf die dunkle Straße trat, suchte er sich erst einen Augenblick zu orientieren. Dann schlich er rasch in einen Torweg, dessen Dunkelheit ihn völlig verschlang. Niemand hatte sein Manöver gesehen, kein Mensch war in der Nähe.
Nach wenigen Minuten beobachtete Krag, daß die Tür der Kneipe sich öffnete. Der Kutscher und ein anderes Individuum traten heraus. Krag erkannte sofort den Bolzen, obwohl dieser inzwischen einen anderen Rock angezogen und den Kragen hochgeschlagen hatte.