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Der hohe Rat

Der Schwimmversuch und die Aufregung hatten sie alle drei hungrig gemacht. Aber jetzt war keine Rede mehr von Festmahlzeiten. Jetzt hieß es sparen.

Horst schnallte sofort seinen Gürtel um ein Loch enger, er fühlte sich verpflichtet, am wenigsten zu essen.

Klaus, der stillschweigend anerkannte Küchenmeister, betrachtete bekümmert die Vorräte. Die Fleischkuchen mußten zuerst gegessen werden.

Sie verzehrten zu Mittag Hackfleisch mit Butterbrot und Tee. Schweigend aßen sie und mit schuldbewußten Mienen, als sei jeder Bissen zuviel und bedeute ein Vergehen.

Nachdem sie gemeinsam das Geschirr wieder gereinigt und aufgeräumt hatten, saßen sie beisammen und starrten verzagt auf das Wasser.

Nach einer kurzen Weile aber begann Horst: »Es hat gar keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen und sich mut- und tatenlos seinem Schicksal zu ergeben. Wir müssen nun alle notwendigen Maßnahmen und Vorkehrungen für einen längeren unfreiwilligen Aufenthalt auf dieser Insel treffen. Es ist doch nichts daran zu ändern: Wir sind auf einer Insel gefangen und können nicht weg, solange man uns nicht findet. Wir müssen deshalb dafür sorgen, daß der Proviant so lange wie möglich reicht. Laßt uns sofort nachsehen, wieviel wir noch von allem haben!«

Sie sprangen auf. Alles, was sie besaßen, wurde zusammengelegt, alle Rucksäcke und Taschen vollständig geleert und genau durchsucht.

Klaus stellte eine genaue Liste über die Gegenstände und den Vorrat auf, die folgendermaßen aussah:

Zehn Fleischkuchen. – Sechs Eier. – Tee in einem Beutel.

Butter in zwei kleinen Dosen.

Ein Stück Ziegenkäse. – Ein Stück Dauerwurst.

Ein Stück Schinken – nicht sehr groß.

Ein ganzer und ein halber Laib Brot.

Eine kleine Rolle Keks, teils zerkrümelt.

Etwas Salz, etwas Zucker.

Eine Tafel Schokolade, ziemlich naß und aufgeweicht.

Vier Schachteln Streichhölzer, eine davon naß und unbrauchbar.

Eine Teekanne. – Eine Bratpfanne. – Drei Tassen. – Drei Gabeln. – Ein großes Messer. – Drei Taschenmesser.

Ein langer Nagel.

Ein Notizbuch (von Klaus). – Zwei Bleistifte.

Ein merkwürdiger Stein, der nach Horsts Meinung goldhaltig ist.

Drei Taschenuhren. – Eine Karte. – Ein Kompaß.

Drei Rucksäcke. – Drei Windjacken. – Drei Wolldecken.

Für jeden zum Wechseln ein Paar Strümpfe, ein Paar Unterhosen. (»Das heißt«, sagte Klaus, »wir haben schon gewechselt, was hier liegt, ist also schmutzig, aber das brauche ich doch nicht zu schreiben.«)

Zwei Zahnbürsten. (Gerd hatte die seine vergessen.)

Zwei Kämme. (Klaus hatte den seinen verloren.)

Eine Tube Hautsalbe. (Auf die Gerd getreten war, so daß das meiste von ihrem Inhalt an seinen Stiefeln klebte.)

Drei Taschentücher. (Erklärtes Gemeineigentum.)

Ein großer Knäuel Bindfaden. (Von dem vorsorglichen Gerd mitgenommen.)

Eine Dose Schuhfett.

Drei Angelruten mit dazugehörigen Schnüren und Fliegen.

Der Küchenmeister glaubte, daß die Vorräte etwa vier Tage reichen könnten, das Brot vielleicht etwas länger. Tee hatten sie noch für längere Zeit. Am schlechtesten bestellt war es mit Butter; fingen sie Fische, dann mußten sie die eben kochen. Alles in allem bestand augenblicklich keine Gefahr für eine Hungersnot.

Das erste, was sie tun mußten, war, einen kühlen und sicheren Ort ausfindig zu machen, so daß nichts durch die Hitze verdarb. Und dann galt es, auf irgendeine Art Zeichen oder Kunde von ihrer Anwesenheit auf dieser Insel nach dem Land geben zu können. Klaus übernahm es, einen geeigneten Aufbewahrungsort für den Eßvorrat zu finden, er hatte bereits den Plan, unter der Hütte einen kleinen Keller zu graben. Währenddessen wollten Horst und Gerd auf dem Gipfel des Hügels eine Stange aufrichten und eine Flagge daran befestigen. Man beschloß, das größte der drei Taschentücher für diesen Zweck zu opfern.

Horst und Gerd machten sich gleich ans Werk. Sie hatten schon festgestellt, daß die Anhöhe, auf der sie gewesen waren, die höchste Erhebung der Insel war. Es wurde ein schweres Stück Arbeit, die großen Steine herbeizuschleppen, die der Stange einen Halt geben sollten, und die Sonne stand schon tief am Himmel, als sie fertig waren. Ein schlanker Birkenstamm, von den Steinen fest ummauert, bildete die Stange, und an seinem Gipfel war das Taschentuch festgeknüpft, das lustig im Winde flatterte.

Eine Bachstelze flog gerade über den Berg und setzte sich einen Augenblick auf die Stange, »kvitt, kvitt«, machte sie, wippte mit dem Schwanze und flog weiter. Sie betrachteten dies als ein gutes Zeichen. Langsam gingen sie zurück und fanden Klaus eifrig bei seiner Arbeit. Schweißbedeckt, aber stolz zeigte er ihnen sein Werk. Unter der Hütte, gleich neben der Tür, hatte er eine Grube gegraben und diese sorgfältig mit flachen Steinen ausgelegt. Einige Steinstufen führten hinab, und da unten hatte er den Proviant ordnungsgemäß verwahrt und die Grube mit einer großen Steinplatte, die er gefunden hatte, zugedeckt. Da drin war alles vor Hitze und Regen geschützt. Konnte es besser sein? Nein, sicherlich nicht.

Die Sonne war jetzt hinter den Höhen des Landes verschwunden. Ein feiner grauer Abendnebel legte sich über Moor und Wasser. Es war völlig windstill und die Luft kühl, klar und scharf.

»Morgen müssen wir die Insel genau kennenlernen«, sagte Horst.

»Und zu fischen versuchen«, ergänzte Gerd.

»Klaus und ich gehen rund um die Insel – jeder in entgegengesetzter Richtung, bis wir einander begegnen. Vielleicht finden wir ein Boot – oder das alte Boot ist irgendwo an Land getrieben. Du kannst inzwischen fischen, Gerd.«

»Und dann müssen wir alles bezeichnen und benennen.«

»Und uns eine Karte anlegen. Was tust du denn da, Klaus?« fragte Horst.

Klaus saß mit dem Notizbuch auf den Knien da und schrieb eifrig. »Ich führe ein Tagebuch«, sagte er.

Horst guckte ihm über die Schulter. »Tagebuch von der einsamen Insel«, stand da.

»Ja, wie sollen wir denn die Insel überhaupt nennen?« fragte er. Sie grübelten eine Weile, konnten aber auf keinen passenden Namen kommen.

Der Westhimmel stand in Flammen, so kräftig war das Abendrot, große rote Wolken ballten sich zusammen, und das Wasser wurde tiefviolett mit gelblichen Streifen. Ein schwacher Wind strich über das Wasser und die Insel.

Gerd reckte sich und gähnte. »Heute wollen wir zeitig schlafen gehen.«

Der Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen.

Es war jetzt kühl geworden und begann zu dunkeln. Ein Vogel flog unermüdlich am Ufer entlang und piepte melancholisch. Ein anderer, größerer Vogel schwebte rasch und lautlos wie ein blaßgrauer Schatten über die Insel, ganz niedrig – sie starrten ihm lange und stumm nach. Weit drüben aus der Schlucht scholl ein unheimlicher, zitternder Schrei.

.

Sie sahen einander an. Dann schlichen sie still in die Hütte und schlossen die Türe. Hier war es warm und traulich. Klaus hatte es ganz gemütlich gemacht, gefegt und das Fensterglas geputzt, so daß es hell blinkte, mit grünlichem Glanz. Jetzt warf er noch tüchtig Holz in den Ofen und bald flackerte es lustig da drinnen, und ein roter Schein flammte über die dunklen Wände.

Müde von den Aufregungen und Anstrengungen des Tages streckten sie sich nebeneinander auf die Pritsche und wickelten sich in ihre Decken.

Gerd gähnte behaglich, und bald schliefen er und auch Horst fest. Nur Klaus lag lange wach. Er starrte auf die kleine Scheibe und lauschte den seltsam raschelnden Lauten rings um die Hütte. Bald strich es wie ein Rauschen von Flügeln über das Dach, bald war es, als klopfe jemand vorsichtig an die Tür, und noch einmal hörte er den fernen, langen, unheimlichen Jammerruf – dann schlief auch er ein.

*


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