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›Décadence‹ hat im Russischen eine eigene Bedeutung und bezeichnet das, was anderswo die ›Moderne‹ oder ›Sezession‹ oder das ›Junge Deutschland‹ genannt wurde. In bezug auf die Dichter wurde in Rußland wie in Frankreich um 1885 neben der Bezeichnung ›Dekadente‹ die richtigere – ›Symbolisten‹ – gebraucht. In Rußland, wo die Bewegung etwa 1895 einsetzte, hatte sich die erste Bezeichnung mehr eingebürgert; die also genannten Dichter und bildenden Künstler wiesen zwar darauf hin, daß der von ihnen repräsentierten angeblichen ›Verfallkunst‹ keine ›Glanzzeit‹ vorhergegangen sei und daß die zahlreichen Epigonen des Realismus und der Romantik als die eigentlichen ›Dekadenten‹ zu gelten hätten, akzeptierten aber schließlich diesen Namen. So wollen auch wir von ›Dekadenten‹ sprechen, um so mehr als es uns zweifelhaft erscheint, ob es unter den russischen ›Dekadenten‹ wirkliche ›Symbolisten‹ gegeben hat. Die Entstehung des Dekadententums (wir lassen von nun an die Anführungszeichen weg) beruhte nur zum Teil auf abendländischen Einflüssen, wichtiger waren die inneren Gründe. Die neuere ausländische Kunst und Dichtung waren schon Anfang der neunziger Jahre nach Rußland gelangt und hatten da ein Häuflein begeisterter Anhänger gefunden, während die große Presse und das Publikum in unbändiges Lachen ausbrachen. Von den Adepten wurde natürlich in der ersten Zeit – wie auch anderswo – alles wahllos in einen Topf zusammengeworfen: Baudelaire und Böcklin, Wilde und Hauptmann. Den größten Einfluß hatten folgende fremde Dichter: Maeterlinck, Verlaine (der schon 1894 übersetzt wurde), Gerhart Hauptmann, Nietzsche, d'Annunzio und der Pole Przybyszewski.
Die russische Dichtung war aber von den fremden Einflüssen gar nicht abhängig: in ihr selbst lagen Keime, die früher oder später aufgehen mußten. Man denke nur an Dostojewski) und, vor allem, an den ›Vergifter aller Brunnen‹ – Gogol. Auch hatten es die russischen Dichter auf die Dauer satt bekommen, sieh: von den tendenziösen Kritikern im Stile Pissarews bevormunden zu lassen und von der nichtamtlichen Zensur der radikalen Kreise abzuhängen; sie lechzten nach Freiheit und einer von keiner Politik gehemmten Entwicklung. Manche schlössen sich den Dekadenten an, weil sie bei den andern, rationalistischen Gruppen kein Verständnis für ihre philosophischen und religiösen Ideen fanden. Diese, von den Gegnern ironisch ›Gottsucher‹ genannt, bildeten sogar den Kern der Dekadentenschule. Wladimir Ssolowjow parodierte zwar gern die Verse der jungen Dichter, schloß sich aber als einer der ersten der neuen Bewegung an: sein neues ›Gottsuchertum‹ hätte auch bei keiner anderen Gruppe so viel Verständnis finden können als bei den in erster Linie antirationalistischen Dekadenten oder Symbolisten. In einem Gedicht Ssolowjows ist schon die ganze Ideologie des Symbolismus vorgezeichnet; wir zitieren daraus die ersten zwei Strophen:
Lieber Freund, kannst du nicht sehen,
daß die Dinge und Gebärden
nur ein Widerschein, ein Schatten
des Unsichtbaren auf Erden?
Lieber Freund, kannst du nicht hören,
daß des Lebens Lärmgedränge
nur ein wirres Widerhallen
feierlicher Sphärenklänge?
Deutsch von Wolfgang G. Groeger.
Die erste Zeitschrift, die es wagte, die neue Dichtung ernst zu nehmen und Übersetzungsproben aus den Werken fremder Symbolisten zu bringen, war der von Ljubowj Gurewitsch und Akim Wolynskij (beide Juden) geleitete Nordische Bote. Als dieser einging, fanden die Dekadenten Zuflucht an der von Djagilew 1899 begründeten Kunstzeitschrift Mir Iskusstwa (Kunstwelt); 1903 scharten sie sich um den Neuen Weg und gründeten 1904 ein eigenes Organ, die Monatsschrift Wjessy (Die Waage), die bis 1909 zu Moskau erschien. Moskau wurde überhaupt zum eigentlichen Zentrum der russischen Moderne, während das skeptische und rationalistische Petersburg ziemlich kühl blieb.
Die russischen Modernisten erklärten zunächst die von der Kritik unterdrückten und vom Publikum vergessenen früheren Priester der reinen Kunst – Tjutschew, Feth –, auch manche damals noch lebenden, wie Slutschewskij und Fofanow, zu legitimen Erben der großen Puschkinschen Tradition, die sie nun ihrerseits fortsetzen wollten. Sie erweckten manchen dieser Großen zu neuem Leben und studierten nebenbei die abendländische Moderne und die deutschen Romantiker. Auch in Tschechow sahen sie, wie erwähnt, einen der ihrigen; Tschechow hatte auch seinerseits gewisse Sympathien für die neue Bewegung und beteiligte sich sogar mit einer Novelle am ersten Almanach der Modernisten (1903). Die Verwilderung der Kritik und die Vorherrschaft der Tendenzliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sahen sie als die eigentliche Décadence an. Als erster vertrat und begründete diesen Standpunkt kritisch Dmitrij Mereshkowski in seinem 1892 im Nordischen Boten veröffentlichten und nun historisch gewordenen Aufsatz: Über die Ursachen des Verfalls und die neuen Strömungen in der heutigen russischen Literatur. Ein zweiter Rufer im Streite war der Kritiker A. L. Wolynskij (eigentlich Flechser, 1863-1926), Verfasser hervorragender Untersuchungen über Dostojewski), Mitherausgeber des Nordischen Boten, begeisterter Verfechter des Neo-Idealismus und erbitterter Gegner des platten marxistischen Rationalismus, von dem damals der größte Teil der russischen Literatur beherrscht wurde.
Heute wird es unglaublich erscheinen, daß die ersten modernen Werke Mereshkowskijs fast ebenso aufgenommen wurden wie später die ersten Äußerungen der Futuristen. Dabei war er eigentlich gar kein Dekadenter, sondern nur ein Weggenosse der Dekadenten. Dmitrij Ssergejewitsch Mereshkowskij, 1865 zu Petersburg als Sohn eines höheren Beamten geboren, fing als Lyriker an. In seinen ersten Gedichten (1888 gesammelt erschienen) erinnert er stark an Nadson; 1892 folgte ein zweiter Band mit dem Titel Symbole, ein Vorläufer des Symbolismus, den es damals noch gar nicht gab. In den folgenden Jahren übersetzte er griechische Tragödien von Aischylos, Sophokles usw., unternahm eine Reise nach Griechenland und Italien und schrieb Ende der neunziger Jahre eine Reihe kritischer Aufsätze über russische und fremde Dichter, die eine ganz neue Wendung in der russischen Kritik bedeuteten und später unter dem Titel Ewige Gefährten gesammelt erschienen. Seinen ersten Roman Julian Apostata, der den ersten Teil der Christus und Antichrist betitelten Trilogie bildet, brachte Mereshkowskij nur mit großer Mühe im Nordischen Boten unter; die beiden letzten Teile Lionardo da Vinci und Peter und Alexej folgten 1896 und 1902. In der Pause zwischen den beiden letzten Romanen schrieb Mereshkowskij sein dreibändiges kritisches Monumentalwerk Tolstoi und Dostojewskij, das damals so unerhört gewagt erschien, daß es nur in der schon erwähnten Kunstzeitschrift, dem einzigen Asyl der ›Verstoßenen und Obdachlosen‹ jener Zeit, Aufnahme finden konnte. Die nächsten Jahre brachten eine Reihe kritischer, politischer und religionsphilosophischer Aufsätze und die zweite Trilogie, die aus folgenden Teilen besteht: dem Drama Paul I. (1908) und den Romanen Alexander I. (1911) und Der 14. Dezember (1921). – Die großen, nur äußerlich historischen, in Wirklichkeit aber philosophischen Romane Mereshkowskijs sind sämtlich nach dem gleichen Prinzip aufgebaut; neben den eigentlichen, historisch anerkannten Helden tritt immer auch eine, zwar ebenfalls historische, aber weniger bekannte Person auf (so der Maler Beltraffio im Lionardo oder der Dekabrist Valerian Golizyn in Alexander I.), die, vorzugsweise in einem Tagebuch, des Verfassers Gedanken ausspricht. Das Historische ist, obwohl es immer auf sehr eingehenden Studien beruht und überaus plastisch und überzeugend wirkt, nur ein Vorwand, das Philosophisch-Religiöse das eigentliche Ziel. So sind die Romane Mereshkowskijs ausgesprochene Tendenzromane; das Unerhörte an ihnen war aber die Tendenz. Es wurde Mereshkowskij oft genug vorgeworfen, daß er seine Stellungnahme zu verschiedenen Problemen – wie Christentum, Hellenismus, Tolstoi usw. – oft geändert habe. Wenn man aber sein ganzes Werk überblickt, erkennt man die folgerichtige Evolution einer einzigen Idee. Ursprünglich lautete sie, wie er sie selbst im Lionardo dem Machiavelli in den Mund legt: »Mir scheint, daß wir Menschen Christus entweder annehmen oder verwerfen müßten. Wir haben aber weder das eine noch das andere getan und sind weder Christen noch Heiden. So haben wir uns zwischen zwei Stühle gesetzt. Wir sind zu schwach, um gut, und zu feige, um schlecht zu sein. Wir sind weder schwarz noch weiß, sondern grau. Im ewigen Schwanken zwischen Christus und Belial sind wir so verlogen, so kleinmütig geworden, daß wir heute selbst nicht wissen, was wir wollen und wohin wir streben.« Mereshkowskij strebte also eine höhere Synthese zwischen der »himmlischen Wahrheit« – dem Christentum – und der »irdischen Wahrheit« – dem Heidentum –, zwischen Christus und Antichrist an. Später erkannte er die Idee der Verbindung von Christus und Antichrist als blasphemisch und fand, daß die beiden Wahrheiten, die irdische und die himmlische, schon in Christus selbst enthalten seien. Der ursprünglichen Verirrung im Religiösen entsprach auch eine im Politischen: im Werke Tolstoi und Dostojewskij vertrat er noch den Standpunkt, daß die russische Autokratie zur Theokratie, dem Reiche Gottes auf Erden, führen könne. Allmählich sah er aber ein, daß die Kraft der Autokratie eine negative und dämonische sei und daß die Mißerfolge der russischen Revolutionäre eben darauf beruhten, daß sie die negativ-religiöse Bedeutung der Autokratie nicht erkannt hätten.
In der Vorrede zur ersten Gesamtausgabe (Petersburg 1912) faßt Mereshkowskij selbst den geistigen Gehalt seines ganzen Werkes im folgenden Schema zusammen: »Die Trilogie Christus und Antichrist stellt den Kampf zwischen diesen beiden Prinzipien in der Vergangenheit dar. Tolstoi und Dostojewski, die Aufsätze über Dostojewskij, Lermontow und Gogol behandeln den gleichen Kampf in der Gegenwart der russischen Literatur, die Essaybände Anmarsch des Pöbels, Im stillen Sumpfe usw. – in der russischen sozialen Wirklichkeit. Die Übersetzungen griechischer Tragödien, die Italienischen Novellen, die Ewigen Gefährten und die Gedichte bezeichnen die Nebenwege, die mich zu dem einzigen und allumfassenden Problem der Beziehungen zwischen den beiden Wahrheiten – der göttlichen und irdischen – in der Erscheinung des Gottmenschen geführt haben. Die zweite Trilogie: Paul I., Alexander I. und 14. Dezember schildert schließlich den Kampf zwischen den gleichen Prinzipien in bezug auf die künftigen Schicksale Rußlands.«
Mereshkowskijs Stellung zur Religion ist so eigenartig, und sein ganzes dichterisches Werk ist von ihr so stark beeinflußt, daß wir ihr noch einige Worte widmen zu müssen glauben. Er hat als erster (jedenfalls in der russischen Literatur) klar die Frage aufgeworfen, ob das Christentum sich erfüllt habe, oder ob in der historischen Kirche, ganz gleich welcher, vielleicht doch etwas nicht enthalten sei. Wenn das Christentum nur die Wahrheit »vom Himmel« bedeute und die Welt verdammt sei, so sei das Christentum mit der historischen Kirche identisch, aber dann brauchte Christus nicht im Fleische aufzuerstehen. In dieser Auferstehung und Verklärung des Fleisches erblickt Mereshkowskij einen Hinweis auf eine künftige und mögliche Synthese des Geistes und des Fleisches, der irdischen und der himmlischen Wahrheit, den Grundstein einer neuen Weltkirche, des Reiches Gottes auf Erden. Keine der bestehenden Kirchen könne diese Synthese verkörpern, sie sei auch nicht durch eine Vereinigung der Kirchen zu erreichen. Ihre Verkörperung sei der von Christus verheißene Dritte Bund. So gründet sich die religiöse Metaphysik Mereshkowskijs ganz auf der Tatsache der Auferstehung Christi. In seiner Sehnsucht nach dem Dritten Bund steht er übrigens in der Weltliteratur nicht allein da: Mickiewicz, Ibsen und die deutschen Romantiker haben bewußt oder unbewußt nach demselben Ziele gestrebt.
Als Mereshkowskij diesen Stützpunkt gefunden hatte, machte er mit anderen ›Dekadenten‹ den Versuch, Annäherung an die Vertreter der Kirche zu finden, und gründete zu diesem Zweck zu Petersburg eine Religionsphilosophische Gesellschaft, die bis zur Revolution bestand. Eine Annäherung an die herrschende Kirche wurde natürlich nicht erreicht, aber die Gesellschaft hatte wenigstens den ersten Versuch unternommen. Der Propagierung der gleichen Ideen sollte die schon erwähnte, 1902 gegründete Zeitschrift Der Neue Weg dienen, deren offizielle Herausgeberin Mereshkowskijs Gattin war und an der Mereshkowskij und seine wenig zahlreichen Anhänger mitarbeiteten. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Mereshkowskij mit seiner Predigt meistens auf taube Ohren stieß, daß er von allen Seiten verspottet wurde, aber seine isolierte Position inmitten der herrschenden, vorwiegend marxistischen und materialistischen Strömungen mit wunderbarem Mut verteidigte.
Oft wurde unter Hinweis auf die schematische Konstruktion der Romane Mereshkowskijs die Frage aufgeworfen, ob er überhaupt ein Künstler sei. Diese Frage muß unbedingt bejaht werden. Wir denken dabei an die vielen trefflich komponierten, farbenreichen Bilder, wie z. B. das des Konzils im Julian, an die plastischen Charakteristiken der handelnden Personen, die mit einer beinahe Tolstoischen Meisterschaft gezeichnet sind, auch an die zahlreichen schönen Naturschilderungen und nicht zuletzt an die ebenso formvollendeten wie durchgeistigten späteren Gedichte Mereshkowskijs. Vor allem ist er aber gleich Wladimir Ssolowjow ein vom heiligen Geiste Beschatteter und, trotz allen Spottes, Prophet und schon aus diesem Grunde – im Puschkinschen Sinne – Dichter.
Mereshkowskijs Gattin Zinaïda Nikolajewna Hippius (1870 geboren, seit 1889 mit ihm verheiratet, gestorben 1945 in Paris) Alexander Eliasberg starb 1924, vor dem Erscheinen der 2. Auflage seiner Russischen Literaturgeschichte in Einzelporträts. Um die Geschlossenheit und Einheitlichkeit des Werkes zu wahren, wurden die letzten Kapitel, deren Themenkreise z. T. über die Lebenszeit des Autors hinausführen, unverändert abgedruckt. Nur wurden die Todesdaten der wichtigsten Dichter aufgenommen und überhaupt biographische Angaben, wo es geboten schien, revidiert. Ein Nachwort des Verlages enthält die durch den zeitlichen Abstand von der Erstausgabe notwendig gewordenen Ergänzungen. (Anm. des Verlages) war stets seine treue Gefährtin auf allen seinen Wegen und Irrwegen; damit soll aber nicht gesagt werden, daß sie nur Gefährtin gewesen sei. Ihr Geist, der vielleicht noch schärfer und origineller als der Mereshkowskijs ist, paart sich mit dem seinen in seltener Harmonie. Die meisten Werke Mereshkowskijs verraten den Einfluß seiner Frau, und auch umgekehrt. Eine geistig so harmonische Ehe zweier bedeutender Menschen ist uns in der Weltliteratur nur noch bei den Brownings bekannt. Zinaïda Hippius fing als Lyrikerin an und veröffentlichte ihre ersten Verse Ende der achtziger Jahre im Nordischen Boten; bald darauf erschien auch ihre erste Novelle. In den Jahren 1903/04 redigierte sie die schon erwähnte Monatsschrift Neuer Weg, die Zufluchtsstätte der Dekadenten und ›Gottsucher‹. In dieser Zeitschrift, wie auch später in der Waage, schrieb sie unter dem Pseudonym ›Anton Krainij‹ (Krainij = der Extreme) inhaltlich wie formal hervorragende kritische Aufsätze (vorwiegend über minderwertige Erscheinungen der neueren russischen Literatur). Ihr Werk besteht aus drei Gedicht-, fünf Novellenbänden und zwei Romanen. Am bedeutendsten ist sie zweifellos als lyrische Dichterin; in ihrem ganzen Werk findet man kein einziges schwaches Gedicht, alle sind gleich gedankentief und formvollendet. In bezug auf die Form – Rhythmus und Reim – ist sie zu den interessantesten russischen Lyrikern zu rechnen. Für den ideellen Gehalt ihrer Lyrik sind die Zeilen:
»Ich strebe nach dem, was nicht ist auf Erden ...«
und folgendes, Elektrizität betiteltes Gedicht charakteristisch:
Zwei Drähte sind verschlungen,
die Enden sind entblößt;
drin ›Ja‹ und ›Nein‹ bezwungen
noch ruhen unerlöst.
So eng ist ihre Nähe,
blind schmiegt sich Draht an Draht;
doch fruchtbar wird die Ehe,
die Auferstehung naht.
Berühren sich die Enden, –
erwachen ›Ja‹ und ›Nein‹,
verschmelzen und verenden,
und ihre Strahlen blenden:
ihr Tod ist Sonnenschein.
Noch charakteristischer sind folgende Worte aus der Vorrede zu ihrer zweiten Gedichtsammlung. »Ein Gedichtband ist eigentlich der unnützeste Gegenstand in der Welt, da doch das natürlichste Bedürfnis eines Menschen das Gebet ist. – Die Poesie kann höchstens als eine Form von Gebet angesehen werden.« Ihre gar nicht weibliche Lyrik schwingt sich zuweilen zu ehernen Puschkinschen Jamben auf, wie z. B. im folgenden, Petersburg betitelten, prophetischen Gedicht (1909):
Grau dein Granit, dein Antlitz trocken,
und dein Gerippe starr und grad,
und jede Gasse bebt erschrocken
ob deines sumpf'gen Grunds Verrat.
Im kalten Brodeln deiner Straßen
ist's öder als im ew'gen Eis,
wie bittrer Wermut ist dein Wasser,
dein Odem – Pest und Todesschweiß.
Die Nächte bleich wie ferne Blitze,
die Gärten atmen Aasgeruch.
Des Arsenales Kuppelspitze
durchbohrt des Himmels Leichentuch.
Wenn Herbststurmwinde sie durchwühlen,
die Newa jäh bettaufwärts zieht:
der Strom vermag nicht wegzuspülen
die Blutrostflecken vom Granit.
Sie haben tief sich eingefressen,
sie auszuwetzen reicht kein Stahl,
sie auszulöschen – kein Vergessen, –
es brennt, es brennt das blut'ge Mal!
Auf seinem eh'rnen Ungeheuer
erfriert der eherne Gigant.
Nein, dich verzehrt kein himmlisch Feuer,
kein heil'ger, reinigender Brand.
Nein, du versinkst im schwarzen Schlamme,
verfluchte Stadt, du Gottes Pein;
der Wurm des Abgrunds, nicht die Flamme,
zernagt dein steinernes Gebein.
Nicht minder bedeutend ist sie als Kritikerin, etwas schwächer in den Novellen und den beiden Romanen: Des Teufels Puppe und Zarewitsch Roman (die sämtlich ein religiöses Grundmotiv haben und in denen wir einige Einflüsse Ljesskows zu erkennen glauben). Aber im ganzen ist Zinaïda Hippius die bedeutendste Dichterin, die Rußland gehabt hat.
Nikolai Maximowitsch Minskij (eigentlich Wilenkin, 1855–1937) war schon anfangs der achtziger Jahre mit Gedichten hervorgetreten, in denen er »Mitleid mit den Unterdrückten« predigte und die noch schwächer waren als die von Nadson. Später schloß er sich den ›Gottsuchern‹ an und schrieb religionsphilosophische Abhandlungen und auch Verse, die er im Neuen Weg und in der Waage veröffentlichte. Sein Name stand neben dem Mereshkowskijs auf der Fahne der ersten Dekadenten. Aber während der Revolution von 1905 wandte sich der Mystiker plötzlich der Sozialdemokratie zu und gründete sogar mit Gorkij eine sozialistische Tageszeitung, die jedoch nach wenigen Nummern einging. Die ersten ›bürgerlichen‹ Gedichte Minskijs sind überhaupt nicht ernst zu nehmen; die späteren, religiösen und mystischen zeichnen sich durch eine tiefe und echte Inbrunst aus, sind aber sprachlich mangelhaft und selbst von unfreiwilliger Komik nicht ganz frei. Am besten ist noch das längere, an Maeterlincks frühere Dramen gemahnende Gedicht Stadt der Toten; sein größtes Verdienst aber ist eine neue Übersetzung der Ilias. Seit seiner Schwenkung zur Sozialdemokratie geriet Minskij allmählich in Vergessenheit und wurde im letzten Jahrzehnt kaum noch gelesen oder überhaupt genannt.
Während Minskij seine Rolle längst ausgespielt hat, entwickelte sich Fjodor Kusmitsch Ssologub (mit richtigem Namen Teternikow, 1863–1927), der gleichfalls zu den ersten Dekadenten zählt, zu einem der bedeutendsten und berühmtesten russischen Dichter. Wenn man das Wort ›dekadent‹ als ›krankhaft‹ auffaßt, so ist er wohl der einzige, auf den es wirklich paßt. Er haßt das Leben und haßt die Sonne mit einem grimmen Haß und preist den Tod und die Nacht als sein eigentliches Element. Diese Stimmung ist nicht neu. Wir finden sie auch bei Novalis:
»Muß immer der Morgen wiederkommen?
Endet nie des Irdischen Gewalt? ...«
Was aber Ssologub von allen unterscheidet, ist seine Verliebtheit in den Tod (der im Russischen übrigens weiblich ist): er ist ein Minnesänger des Todes. Oft nennt er ihn nicht einmal beim Namen, sondern sagt einfach »sie«, und der Leser weiß schon, wer gemeint ist. Das Leben aber oder die Sonne ist ein böser Drache, der den Dichter mit seinem Odem vergiftet, mit seinen glühenden Pfeilen versengt. Diese Stimmung geht durch alle Gedichte Ssologubs und auch durch alle seine Erzählungen, deren Helden – meist kranke, todgeweihte Kinder – das vermeintliche Leben, »das rotbackige und feiste Mordsweib« fliehen und durch den Tod in das eigentliche »Leben« eingehen. Ssologub schloß sich als einer der ersten der neuen Bewegung an. Sein erster Gedichtband erschien 1896. Im gleichen Jahr folgten auch sein erstes (und bestes) Novellenbuch Schatten und der Roman Schwere Träume. Im Laufe der Jahre schrieb er noch mehrere Gedicht- und Novellenbände und fünf Romane, von denen Der kleine Dämon (1905) der bekannteste und bedeutendste ist. Das Grauen vor der Trivialität des russischen Alltags, das die Schweren Träume atmen, wird im Kleinen Dämon zu einem wütenden Haß. Dieser Roman, der neben den Karamasows Dostojewskijs nicht ganz unebenbürtig dasteht, ist zugleich eines der unerquicklichsten, wir möchten sagen: unappetitlichsten Werke der Weltliteratur. Schön und rein sind nur die Kinder (noch schöner die Ungeborenen) und die jungen Mädchen; abstoßend die Erwachsenen: faule Zähne, stinkender Atem, schweißige Hände, Flohbisse am ganzen Körper, lüsterne, speicheltriefende Münder, unzüchtige Gebärden, impotentes Kichern. Der Held des Kleinen Dämon, der Gymnasiallehrer Peredonow, ist die Verkörperung des von Ssologub gehaßten Lebens, und zwar des russischen Lebens: denn Ssologub ist ein spezifisch russischer Dichter. Das Wort »Peredonowschtschina« (Peredonowerei) hat bereits die früheren »Oblomowschtschina« und »Karamasowschtschina« verdrängt: es ist mit dem letzteren am ehesten verwandt und ist der Inbegriff alles körperlich und bildlich Übelriechenden und Schmutzigen, an dem das russische Leben so reich ist. Ssologub schildert nur das russische Leben in der Provinz und demonstriert nicht nur dessen grauen Staub, wie Tschechow, sondern auch den ekelerregenden Geruch – ein Bouquet aus stickiger Schlafzimmerluft und dem Geruch zerdrückter Wanzen. Und durch diese Luft tönt ein Kichern, das dem dämonischen Lachen Gogols verwandt ist. Woher kommt dieser krankhafte Ekel vor dem Leben, vor der russischen Wirklichkeit? In einer Tschechowschen Novelle sieht der auf der Reise an Typhus erkrankte Held in einem Bahnhofsrestaurant Leute am Tische sitzen und mit großer Eile essen. »Eine hübsche Dame unterhielt sich laut mit einem Offizier in roter Mütze und zeigte beim Lächeln herrliche weiße Zähne; das Lächeln, die Zähne und die Dame selbst erregten in Klimow den gleichen Ekel wie der Schinken und die Kotelette. Er konnte nicht begreifen, wie der Offizier in roter Mütze den Mut hatte, an ihrer Seite zu sitzen und ihr blühendes, lächelndes Gesicht anzuschauen.« Auch Fjodor Ssologub ist an Typhus erkrankt, und dieser Typhus heißt Rußland.
Nach dem Kleinen Dämon schrieb er den weniger bedeutenden, aus drei Teilen bestehenden Roman Totenzauber (1908–1909), in dem sich krasseste russische Wirklichkeit mit romantischen Visionen verbindet. Der erste Teil heißt Die geschaffene (eigentlich: entstehende) Legende, und dieser Titel läßt sich auf das ganze Werk anwenden: so sagenhaft ist darin die Wirklichkeit und so wirklich die Sage. Als Romanschriftsteller ist Ssologub wohl der bedeutendste von allen ›dekadenten‹ Russen und höchstens Andrej Belyj ihm gleichzustellen. Hätte er aber die Romane und Novellen nicht geschrieben, so wäre er als Lyriker wohl ebenso berühmt. Es ist eine Eigentümlichkeit der heutigen russischen Dichter, daß sie alle, mit wenigen Ausnahmen, in Prosa und Lyrik gleich stark sind. Ssologub ist einer der größten Meister des Verses, die Rußland je gehabt hat, unerschöpflich im Erfinden neuer Rhythmen und Formen. Die formalen Schönheiten wirken bei ihm aber gar nicht aufdringlich und gesucht, und seine Verse erscheinen dem Nichtkenner sogar auffallend schlicht. Inhaltlich entsprechen sie ganz dem eben entworfenen Bilde Ssologubs: Fluch der Sonne,
Böser Drache, der du unsre Blicke blendest,
der du Flammenfäden hoch vom Himmel sendest ...,
Anbetung der Nacht und Verliebtheit in den – weiblichen – Tod. Ssologubs Verhältnis zum Tode hat zweifellos etwas Perverses, wie wir es am folgenden unheimlichen, Der Tote betitelten Gedicht erkennen:
Durch schlaflosen Kummer
der bräutlichen heißen Bedrängung
erweckt aus dem ewigen Schlummer
zu junger Vermengung,
fuhr wild er empor in den Wänden –
da wichen die Bretter den Händen.
Er hob mit den Brettern die Erde.
Dem offenen Grabe entstiegen,
ließ er sein Leichentuch liegen,
schlich leis in die dämmernde Helle –
da wurde ihm leid seine Zelle,
die stille gedankenbare.
Der Hauptstadt grelle Fanfare
schlug an die Ohren wie Pranken.
Er wälzt mit dunklem Gehabe
den schweren Gedanken:
zur Braut oder wieder zu Grabe?
Deutsch von Wolfgang E. Groeger.
Wo es das Dunkle, das Kühle, das Ungeborene oder Unfertige zu besingen gilt – da ist Ssologub der zärtlichste aller Dichter, und seine Verse und Bilder sind keusch und duftend wie das Laub der jungen, weißen Birke.
Einige äußere Ähnlichkeit mit Ssologub hat Alexej Michailowitsch Remisow (1877–1957): auch er schildert mit Vorliebe das gleiche übelriechende Milieu, doch ohne Grauen und Haß. Im Gegenteil, er tut so, als fühlte er sich darin so wohl wie der Fisch im Wasser; jedenfalls kichert er auf eine höchst ergötzliche Weise. Haß ist ihm überhaupt fremd, und auch gegen Leben und Sonne hat er nichts einzuwenden. Remisow glaubt an den Teufel und sieht ihn überall; seine Teufel scheinen gar nicht schrecklich, es sind die harmlosen Teufel der russischen Dämonologie, die neben Ungeziefer in jedes Haus gehören, und Remisow steht mit ihnen auf vertrautem Fuß. Er macht überhaupt den Eindruck eines alten heidnischen Slawen, an dem das Christentum und die Europäisierung wirkungslos vorübergegangen sind. Seine erste Novellensammlung Des Teufels Schlucht erschien 1908, im gleichen Jahre folgten auch die Romane Der Teich und Die Uhr. Die Novellen sind entschieden schöner, weil geschlossener; in den Romanen wird der Aufbau gar zu oft durch das Kichern des Autors gesprengt. Dieses Kichern steigert sich zuweilen zu dem von Gogol empfohlenen »Lachen über den Teufel«; manchmal klingt es auch wie das wollüstige Lachen des alten Karamasow. Einige Novellen – wie Das Opfer oder Prinzessin Mymra – gehören zu den schönsten Werken neuerer russischer Novellistik. Eine besondere Erwähnung verdienen seine Märchen und Träume, namentlich die letzteren, die ungemein überzeugend wirken. Remisows Sprache, voller kurioser Provinzialismen, ist das reinste, wirklich gesprochene Russisch und von höchstem Reiz. Er schöpft gerne aus den Märchen, Geistergeschichten und Schnurren des Volkes, auch aus den Apokryphen der russischen Kirche, während abendländische Einflüsse sich bei ihm nicht feststellen lassen. Er steht dem Geiste des einfachen russischen Volkes näher als irgendein anderer russischer Dichter, ist aber dabei durchaus kein einseitiger Nationalist, sondern wohl der glühendste Verehrer des »Westens, des Landes der heiligen Wunder« unter seinen russischen Zeitgenossen. Erstaunlich ist seine Lust am Fabulieren, die an Ljesskow erinnert, und neben diesem und Dostojewskij ist er einer der russischesten aller russischen Dichter.
Das größte Aufsehen als Lyriker erregte noch vor einigen Jahren Konstantin Dmitrijewitsch Balmont (1867–1943), der eigentliche Begründer der neueren russischen Dichterschule. Mit einigem Recht sagt er von sich in einem seiner frühen Gedichte:
Bin der rieselnden russischen Sprache Begründer.
Alle Dichter vor mir sind nur blasse Verkünder.
Ich entdeckte die schmiegsame, biegsame Schöne,
leise trillernde, schillernde, schmelzende Töne.
Bin des Donners Gedröhn,
bin der stürmische Föhn,
bin ein rieselnder Quell,
bin ein Blitz schnell und grell!
Und in der Tat: Balmonts erste Verse wirkten sogar neben denen der bedeutenden Zeitgenossen überraschend und blendend wie Blitze an einem grauen, trüben Tag. Seine ersten Gedichtbände: Unter nordischem Himmel (1894), Stille (1898), Brennende Bauten (1900), tönten wie Fanfaren, und der Band Lasset uns sein wie die Sonne (1903) verschaffte ihm den Titel des Königs der jungen russischen Dichtung. Aus dem letzteren Band sei folgende Probe gebracht:
Die Welle wallt. Die Welle wogt in Wellen,
die Welle wogt in Wellen derselben Melodie.
Umprallt das Riff, und ihre Schreie gellen,
und ihre Schreie gellen: »Nicht die! Nicht die!«
In wehem Weh umweint die Woge Wogen,
umweint die Woge Wogen: »Dir haucht' ich Träume zu!«
Und flüstert jäh: »Und du hast mich betrogen!«
»Und du hast mich betrogen! Nicht die – auch du!«
Deutsch von Wolfgang E. Groeger.
Die ungeheure Wirkung der Gedichte Balmonts auf die Zeitgenossen beruhte auf seinem ungestümen Temperament, das an Lermontow, und auf der berückenden Musik seiner Verse, die an Feth gemahnte. Er fand in der schon an sich ungemein musikalischen russischen Sprache klangliche und rhythmische Möglichkeiten, die man früher gar nicht geahnt hatte. Was den Inhalt der Gedichte betrifft, so besingt er vorzugsweise die Elemente, den Ozean, exotische Landschaften (nach seiner Reise nach Mexiko) und die Liebe (aber nicht die Geliebte). Neben grellen tropischen Landschaften gelingen ihm manchmal auch intime Bilder der bescheidenen russischen Natur. Doch der Inhalt war gleichgültig: die Musik faszinierte dermaßen, daß man an den Sinn kaum noch dachte. Nebenbei übersetzte Balmont viel aus dem Englischen (Shelley), Spanischen, Deutschen (Lenau) und sogar aus verschiedenen exotischen Sprachen. Der stürmische Erfolg seiner Verse währte nicht lange. Er produzierte zu viel, feilte wenig und fing an, sich zu wiederholen. Das Gehör des Publikums wurde auf die Dauer gegen die ewigen Fanfaren abgestumpft. Der zehnte Gedichtband Feuervogel (1907), der schwächliche und vor allem überflüssige Paraphrasen auf russische Volksepen enthält, bedeutet einen merklichen Abstieg. Die Jugend wandte sich sehr entschieden von Balmont ab, und ein anderer machte ihm den Thron des Dichterkönigs streitig. In den folgenden Jahren veröffentlichte er noch an die zehn weitere Gedichtbände, aber sein Ruhm nahm stetig ab, und heute gilt er nicht nur nicht mehr als Oberhaupt der neuen russischen Dichterschule, sondern gehört, obwohl er noch dauernd dichtet, schon der Literaturgeschichte an. Es muß aber festgestellt werden, daß sich selbst in seinen letzten und schwächsten Bänden noch immer wieder einzelne Gedichte von unübertroffener Vollkommenheit und Schönheit finden, deren Musik berückend ist und denen der ganze Zauber einer außergewöhnlichen dichterischen Persönlichkeit anhaftet. Neben zahlreichen Bänden eigener und übersetzter Lyrik schrieb Balmont auch viele kritische Aufsätze – über Whitman, Goya, Nekrassow u. a. m., von denen viele sehr bedeutend sind. Seine Rolle hat er längst ausgespielt, aber diese Rolle war groß genug: er ist der Vater der ganzen modernen russischen Dichtung, und als solchen wird man ihn immer betrachten müssen.
Valerij Jakowlewitsch Brjussow, 1873 zu Moskau geboren, 1924 gestorben, gehört gleich Balmont zum Grundstamm der russischen Dekadenten. Seine ersten Verse, die noch einen starken Einfluß französischer Symbolisten verraten, veröffentlichte er schon 1894. Berühmt wurde er durch seinen fünften Gedichtband Stephanos (1905). Was ihn von Balmont unterscheidet, ist das größere Gefühl für Takt und Maß, strengere Selbstkritik und Zucht und vor allem sorgfältige Arbeit: Balmont improvisiert, Brjussow ringt mit der Form. Er ist ein ποιητης im wörtlichen Sinne, der typischste ›Parnassien‹ unter Rußlands neueren Dichtern. Im Stephanos wie auch in den folgenden Bänden ist kein einziges schwaches Gedicht, ja keine einzige schwache Zeile zu finden. Der strenge Rhythmus erinnert an Puschkin und noch mehr an Vergil. Die russische Sprache klingt bei ihm stählern wie klassisches Latein. Viele seiner Gedichte behandeln auch klassische Motive, wie: Orpheus und Eurydike, Julius Caesar usw. Niemals klingt sein Vers verschwommen; zarte Töne sind seiner Leier fremd. Wenn er die Liebe besingt, so ist es die Liebe des Eroberers und Bezwingers. Oft schlägt er grausame, wir möchten sagen sadistische Töne an. Die Form beherrscht er mit der Vollendung eines Puschkin, der ja auch immer sein Vorbild ist. Unerbittlich streng gegen sich selbst, gestattet er sich keine Wiederholung, und jedes neue Gedicht von ihm fasziniert durch neuen Reiz. Er ist natürlich viel weniger produktiv als Balmont, und man kann sich an ihm nie überlesen wie an diesem. Hier das charakteristische, Dem Dichter betitelte Gedicht:
Sei stolz wie die steigende Quelle,
sei scharf wie das schlagende Schwert,
wie Dante, vom Feuer der Hölle
sei ewig dein Leben verzehrt.
Tauch unter in Alter und Jugend,
in Tiefen und Höhen verweh.
Es sei deine vornehmste Tugend
dein eigenes Autodafé.
Nur Mittel zum Lied ist dein Leben,
es nimmt deine Wirklichkeit fort.
So werde dein Ringen und Streben
ein Weg nur zum magischen Wort.
Und schlürfend an himmlischen Schalen
der Liebe, zertrümmre dein Herz,
in Stunden der Kreuzigungsqualen
lobpreise den rasenden Schmerz.
Verschmachtend auf purpurnem Throne,
– im Schauen des heiligen Lands –
erblüht dir die ewige Krone,
der dornenumloderte Kranz.
Deutsch von Wolfgang E. Groeger.
Brjussows Übertragungen französischer Dichter, namentlich Verlaines, sind hervorragend. Brjussow hat sich auch als Kritiker hervorgetan, sich große Verdienste um die Puschkinforschung erworben und glänzende Essays über Tjutschew, Feth u. a. geschrieben. Er war der eigentliche Redakteur der Waage während ihres ganzen Bestehens und leitete, nachdem sie eingegangen war, die literarische Abteilung der letzten russischen Zeitschrift großen Stils – »Russkaja Myslj«. Brjussows Prosa – zwei Novellenbände und zwei Romane – blendet zwar durch ihren Stil, ist aber neben seiner Lyrik ziemlich bedeutungslos: die Liebesgeschichten sind zu blutrünstig, die Romane – eher kulturhistorische Abhandlungen als Dichtungen. Bei seinem ersten Auftreten mehr als alle anderen Dekadenten verlacht, war er gegen 1910 schon als Meister und beinahe Klassiker allgemein anerkannt. Seine gesammelten Werke in fünfundzwanzig Bänden begannen 1912 zu erscheinen.
Wenn man Brjussow einen Römer der Spätzeit nennen darf, kann Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow (1866–1949) als hellenisierter Skythe gelten. Einer der gebildetsten russischen Dichter: Mommsenschüler, Historiker, Philologe und Philosoph, schloß er sich als einer der ersten den Dekadenten an und trat anfangs nur als Kritiker und Essayist hervor. Sein erster Gedichtband Leitende Sterne erschien 1903. Diesem folgten bisher nur noch drei weitere. In seinen frühen Gedichten trieb er ziemlichen Mißbrauch mit altslawischen Archaismen und griechischen Fremdworten; der Satzbau war dem Griechischen nachgebildet und der Sinn daher schwer erfaßbar. Später befreite er sich von diesen Eigenheiten, aber der Ton der Gedichte blieb trotz aller Klarheit ungewöhnlich pathetisch und hieratisch. Von den russischen Dichtern sind seine Lehrer: Puschkin und Wladimir Ssolowjow; von den abendländischen: Dante, Petrarca und Goethe. Er ist wohl der größte Goethekenner und -verehrer unter Rußlands Dichtern. An Tiefe, Farbigkeit, Ideenreichtum, künstlerischem Ernst und Weihe nimmt er selbst unter den russischen Lyrikern eine hervorragende Stellung ein und ist den großen Meistern der Weltliteratur an die Seite zu stellen. Anfangs behandelte er mit Vorliebe Motive aus griechischer und slawischer Mythologie und schlug später religionsphilosophische Töne an. Seine neuesten Gedichte sind subjektive reinste Lyrik. Meisterhaft sind seine Novalis-Übertragungen. Es gibt von ihm auch einige deutsche Originalgedichte. Seine Lieblingsform ist das Sonett, und er beherrscht sie wie kein anderer russischer Dichter der Neuzeit. Hier ein Beispiel aus dem Sonettenkranz Liebe und Tod:
Wir stehn am Fuß des Christussarkophages:
er schimmert hell wie makelloser Schnee
in Sturmesflügeln auf Gebirgeshöh
im reinen Äther jüngst erwachten Tages,
wo Niobe, die Erdmutter, verbarg
in Eis ihr steinern Lager. Und betroffen
erkennen wir: der Schrein ist leer und offen!
Bloß rote Rosen blühen in dem Sarg,
den Meißelbilder wundersam umschlingen,
den ganz in Trauben hüllte Bacchus ein,
und gab ihn Vögeln mit azurnen Schwingen.
Wir sehn: der Erde Leib ist jener Schrein ...
Die Braut erschien uns – in des Grabes Schummer,
wo die antike Schönheit liegt in Schlummer.
Deutsch von Wolfgang E. Groeger.
An deutschen Vorbildern gemessen entspricht er zugleich Klopstock, Platen und George; mit dem letzteren hat er auch das gemein, daß er Sprachschöpfer ist, – seit Puschkin der bedeutendste in Rußland. In Prosa schrieb er nur Essays, z. B. über die hellenische Religion, aber weder Romane noch Novellen. Erwähnenswert sind Iwanows antikisierende Tragödien.
Ein Geistesverwandter Iwanows ist Innokentij Annenskij (1858 bis 1909), der im Hauptberuf Gymnasialrektor und Lehrer für alte Sprachen war und abseits vom großen Literaturgetriebe wirkte, keiner Gruppe, nicht einmal der der Dekadenten angehörte und als Kritiker, Lyriker und Euripidesübersetzer in gleichem Maße hervorragt. Er hinterließ zwei Gedichtbände, wurde dem größeren Publikum erst nach seinem Tode bekannt und wird einmal sicherlich neben den größten Lyrikern Rußlands genannt werden: das große Interesse, das ihm die jüngste russische Kritik widmet, läßt dies vermuten.
Der jüngste unter den ersten Dekadenten und zugleich einer der vielseitigsten ist Andrej Belyj (mit seinem richtigen Namen Boris Nikolajewitsch Bugajew, 1880–1934). Von Haus aus Mathematiker, Musiker und Philosoph, wandte er sich mit jugendlicher Begeisterung der neuen Kunst zu und veröffentlichte schon 1904 in der Waage eine Reihe philosophischer und kritischer Aufsätze. Im gleichen Jahre erschien seine erste Gedichtsammlung Gold in Blau. Sein Werk besteht bisher aus drei Bänden Lyrik, vier Symphonien (so nennt er eigentümliche Dichtungen in rhythmischer Prosa), vier Romanen und fünf Bänden kritischer und kunsttheoretischer Aufsätze. Seine Gedichte atmen zum größten Teil eine merkwürdige ekstatische Stimmung; an vielen fällt die Vorliebe für triviale, der Sprache der Straße und der Bauern entnommene Worte auf, was ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Dichtungen Nekrassows verleiht. Derselbe ekstatische Zug geht durch seine kritischen Aufsätze, in denen Belyj oft Untersuchungsmethoden anwendet, die der höheren Mathematik entnommen sind. Von großer Bedeutung sind seine Romane: Die silberne Taube (1910), Petersburg (1912) und Kotik Letajew (1915). Der erste Roman handelt von einem Intellektuellen, der ›ins Volk‹ geht, in die Fangarme der Apostel einer orgiastischen Sekte gerät und von diesen umgebracht wird. Die Schilderung ist meisterhaft und zeigt vortreffliche Schulung an Dostojewski), Gogol und Ljesskow. Noch bedeutender ist der zweite Roman Petersburg, eine große symphonische Dichtung mit bewußter Verwertung Puschkinscher und Dostojewskijscher Motive. Auf dem Hintergrunde der geliebten und gehaßten Stadt ziehen zahllose Petersburger Gestalten vorüber: Vertreter der höchsten Bürokratie und Gesellschaft und neben ihnen auch solche des ›unterirdischen‹ revolutionären Petersburg; und zwischen den beiden Gruppen zeigen sich höchst unerwartete und seltsame Beziehungen. Im Mittelpunkt steht der alte Senator Apollon Apollonowitsch, wohl Pobjedonoszew nachgebildet, die Verkörperung der starren Kräfte, die Rußland von Petersburg aus regierten. Da fährt er im schwarzen Würfel seiner Equipage ins Ministerium: »... und er hat den Wunsch, daß die Equipage weiterrase; daß ihm die Prospekte einer nach dem andern entgegenflögen; daß die ganze Kugeloberfläche des Planeten von Reihen schwarzgrauer Häuserwürfel wie von Schlangenwindungen umspannt werde; daß die ganze, von Prospekten umspannte Erde in ihrem kosmischen Laufe die Unendlichkeit nach dem Gesetz der geraden Linie durchschneide; daß das Netz der parallelen Prospekte, von einem andern Netz paralleler Prospekte durchschnitten, als ein System von Quadraten und Würfeln sich über alle Abgründe des Weltalls erstrecke: ein Würfel pro Kopf ... Neben der Geraden wirkte auf ihn am beruhigendsten das Quadrat. Oft versank er ohne Gedanken in die Betrachtung von Pyramiden, Dreiecken, vierseitigen Prismen, Würfeln und Trapezen. Unruhe beschlich ihn nur beim Anblick eines Kegelstumpfes ...« Das ist Petersburg, das ist das Zentrum des Spinnennetzes, das das ganze Land umgarnt. Und es ist allzu begreiflich, daß an einer Straßenecke ein Unbekannter mit einer Bombe im Schnupftuch lauert, um die Spinne umzubringen ...
Mit seinem dritten, im ersten Kriegsjahre in der Schweiz geschriebenen Roman Kotik Letajew eröffnet Belyj eine Serie autobiographischer Werke, die er die Epopöe nennt. Kotik Letajew ist niemand anders als der Autor selbst, und das erste Buch der Epopöe behandelt seine früheste Kindheit. Die darin vorkommenden Personen, vor allem der Vater des Dichters, der berühmte Moskauer Mathematiker, sind mit einem unerhört schonungslosen, wir möchten sagen grauenerregenden Realismus geschildert; dabei ist aber das Buch als Ganzes nichts weniger als realistisch; es ist ausgesprochen ekstatisch und macht den Eindruck einer genialischen Fieberphantasie. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den daktylischen Rhythmus, der von der ersten bis zur letzten Zeile durchgeführt ist und auf die Dauer ermüdend wirkt. Der zweite Teil der Epopöe – Aufzeichnungen eines Sonderlings ist nicht mehr ein Roman zu nennen. Es ist ein langes zweibändiges Gedicht in Daktylen, das das Leben Belyjs in der Steinerschen Gemeinde zu Dornach, seine Reise während des Krieges aus der Schweiz über England und Schweden nach Rußland und die Geschichte einer gebrochenen Ehe zum Gegenstand hat. Der verzückte Ton dieses schwer lesbaren Werkes gemahnt wirklich an den der alten Propheten, und wenn wir unter genialem Schaffen ein unbewußtes, ekstatisches verstehen, so ist Andrej Belyj unter den neueren russischen Dichtern der einzige, auf den die Bezeichnung ›Genie‹ paßt.
Michaïl Kusmin und Alexander Block gehören zwar auch zu den frühesten Mitarbeitern der Waage, unterscheiden sich aber so wesentlich von den Dekadenten, daß wir sie in einem eigenen Kapitel behandeln wollen. Sonst wären hier noch zu nennen: der Lyriker Ssergej Gorodezkij, dessen erster Gedichtband (1907) große Hoffnungen weckte, die jedoch unerfüllt blieben, Boris Ssadowskoi, ein Brjussowschüler, Lyriker und Meister einer im Stile des 18. Jahrhunderts aufgeputzten Prosa, Maximilian Woloschin, Kunstkritiker und Lyriker, der in seinem unter dem bolschewistischen Joch geschriebenen längeren Gedicht Kitesh (versunkene Stadt) eine ungeahnte Höhe erreicht hat, und der 1921 von den Bolschewisten wegen seiner politischen Gesinnung hingerichtete N. Gumiljov, Lyriker, ein Schüler Balmonts und der Franzosen, ausgezeichnet durch seine Vorliebe für exotische (afrikanische) Motive.
Zum Schluß dieses Kapitels erwähnen wir noch den Religionsphilosophen und Kritiker Wassilij Wassiljewitsch Rosanow (1856 bis 1918), der zwar weder Gedichte noch Erzählungen schrieb, aber wegen seines blendenden Stils mit dem gleichen Recht wie Nietzsche ein Dichter genannt zu werden verdient. Mit Nietzsche hat er auch den Haß gegen das Christentum gemein. Am stärksten fesselte ihn das Problem der Beziehungen zwischen Religion und Geschlecht. Moralisch durchaus minderwertig, erschreckend zynisch und erstaunlich ungebildet, drang er auf rein intuitivem Wege so tief in manches Problem ein, wie es vielen mit allen Mitteln der Wissenschaft ausgerüsteten Gelehrten nie gelang. Seine Abhandlung über Dostojewskis Legende vom Großinquisitor ist auch rein künstlerisch gewertet ein Meisterwerk. Da er für seine ketzerischen Ideen sonst nirgends Unterkunft fand, schloß er sich den ersten Dekadenten an und veröffentlichte seine besten Aufsätze in der Kunstwelt, dem Neuen Weg und der Waage. Später trat er in die Redaktion der Nowoje Wremja ein, wo er jede freiheitliche Regung in der russischen Gesellschaft und insbesondere die Juden mit Geifer bespritzte. Von allen als Mensch verachtet und gehaßt und zugleich ob seiner hohen Meisterschaft bewundert, war Rosanow eine der merkwürdigsten Erscheinungen des alten Rußland. Die neuere russische Kritik hat ihm aber ihr besonderes Interesse zugewandt: sie sucht in Rosanows Chaos das Reine vom Schmutzigen, das Leuchtende vom Dunklen zu scheiden und wertet ihn mit dem Maßstab, der bisher nur auf Tolstoi und Dostojewskij angewandt wurde.