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Außer den Dichtern, von denen in den vorhergehenden Kapiteln die Rede ist, hatte die russische Literatur des 19. Jahrhunderts auch eine ganze Reihe von Schriftstellern zweiten Ranges aufzuweisen, von denen wir den vornehmsten dieses Kapitel widmen. Manche von ihnen werden von der russischen Kritik freilich zu den Sternen erster Größe gerechnet, die Wertung geschieht aber nicht vom künstlerischen Standpunkt aus, sondern vom politischen und persönlichen. Neben den Schriftstellern behandeln wir hier auch zwei Dramatiker und zuletzt die Kritiker, die zu ihrer Zeit einen ungeheuren Einfluß auf die Geister hatten, rein künstlerisch gewertet aber nur zweifelhafte und sogar negative Größen darstellen.
Wir beginnen mit Alexej Feofilaktowitsch Pissemskij (1820-1881), der gleich Ljesskow dem konservativen Lager angehörte, aber Ljesskows Begabung auch nicht im entferntesten erreicht. Von allen russischen Dichtern und Schriftstellern der Zeit unterscheidet er sich durch die dominierende Rolle, die das Geschlechtliche in allen seinen Werken einnimmt, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit den französischen Naturalisten verleiht. Das Geschlechtliche wird von ihm nicht nur mit einem für jene Zeit unerhörten Realismus, sondern auch ausgesprochen pessimistisch behandelt: alle Geschehnisse drehen sich bei ihm um den Ehebruch, und sein erster Roman Bojarschtschina (1847) wurde sogar wegen ehefeindlicher Tendenz von der Zensur verboten. Berühmt wurde Pissemskij durch seinen zweiten, sehr spannend geschriebenen Roman Tausend Seelen (1858), in dem die Zeitgenossen ein Seitenstück zu Gogols Toten Seelen sahen. Der Held dieses Romans, Kalinowitsch, ist eine Art Tschitschikow, doch mit Hochschulbildung, ein skrupelloser Beamter, der bei seiner Jagd nach irdischen Gütern vor keinem Verbrechen zurückschreckt, aber im Gegensatz zu Tschitschikow nicht ins Zuchthaus kommt. Pissemskij wollte nicht etwa einen Ausnahmefall, sondern den Typus des neuen, akademisch gebildeten Beamten darstellen, dessen Mängel alle eben auf der akademischen Bildung beruhen: »Alles Böse kommt von Ihrer dummen Universitätsbildung, die den Kopf mit allerlei großartigen, empfindsamen Ideen füllt, welche im Leben niemals und nirgends Anwendung finden.« Das Publikum nahm Pissemskij diese Verurteilung der höheren Bildung seltsamerweise nicht übel, und der Roman fand fast ungeteilte Anerkennung. Sogar der radikale Kritiker Pissarew schrieb darüber: »Der Roman steht positiv über allen Werken unserer neuen Literatur.« Diese Sympathien verscherzte sich Pissemskij aber gründlich durch seinen zweiten Roman Das aufgewühlte Meer, der die russische Gesellschaft vor und nach Aufhebung der Leibeigenschaft, und zwar in den düstersten Farben schildert: die Befreiung der Bauern hätte nur neue Formen der Ausbeutung gezeitigt, die radikale Jugend bestehe aber mit Ausnahme der wenigen, die nach Sibirien verbannt werden, aus lauter Schurken. Der Roman schließt mit den Worten: »Wenn sich hier auch nicht das ganze Rußland spiegelt, so ist hier dafür seine ganze Lüge sorgfältig gesammelt.« Das Aufgewühlte Meer weckte den gleichen Sturm der Entrüstung wie die Pamphlete Ljesskows, und Pissemskijs Name war von nun an verfemt (im Auslande hatte der Roman aber einen großen Erfolg und wurde bald nach Erscheinen ins Deutsche und Französische übersetzt). Sein folgender Roman Im Strudel hat die Frauenemanzipation zum Thema und einen weiblichen Basarow zur Heldin. Außer diesen Romanen schrieb er noch eine Reihe Erzählungen und das realistische Drama aus dem Bauernleben Bitteres Los. Pissemskij beteiligte sich neben Dostojewskij und Turgenjew an der Puschkinfeier zu Moskau und starb ein halbes Jahr später, in der gleichen Woche, in der Dostojewskij die Augen schloß.
Während Pissemskij von der liberalen Kritik verfemt war, erfreute sich ihrer dauernden Gunst ein jüngerer Zeitgenosse, Dmitrij Wassiljewitsch Grigorowitsch (1822-1900). Schon seine ersten, in einem von Nekrassow herausgegebenen Sammelbuche erschienenen Erzählungen haben das Los der Erniedrigten und Enterbten zum Thema. Sein Verdienst ist, daß er in den längeren Novellen Dorf und Anton, der Unglücksrabe (1846/47), schon fünf Jahre vor Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers die elende Lage der Leibeigenen beleuchtet hat. Bjelinskij äußerte sich über diese beiden Werke begeistert, und Grigorowitsch wurde auf einen Schlag berühmt. Während seines langen Lebens schrieb er noch eine ganze Reihe kürzerer und längerer Novellen, vorwiegend aus dem Bauernleben, oft mit einem Anflug von Humor. Die Naturschilderungen sind gut, das Psychologische ist dagegen meist mangelhaft: manche Kritiker haben mit Recht darauf hingewiesen, daß seine Bauern und Bäuerinnen eigentlich George Sandsche paysans in russischem Aufputz seien. Grigorowitschs Beliebtheit beruhte, wie schon gesagt, auf der humanen Tendenz seiner Werke; künstlerisch gewertet sind sie aber höchstens zweiten Ranges zu nennen.
Pawel Iwanowitsch Melnikow (1819–1883) war ein hervorraragender Kenner der zahlreichen, zum größten Teil von den Behörden grausam verfolgten Sekten. Um diese zu erforschen, unternahm er Reisen in die entlegensten Gebiete des Reiches, einerseits von einer wahren Passion getrieben, andererseits als freiwilliger Spitzel. Die Regierung machte von seinen Kenntnissen auf diesem Gebiet Gebrauch und betraute ihn mit einem wichtigen Posten. Als Beamter wütete er auf die grausamste Weise gegen die von ihm sonst so sehr geliebten Sektierer. Als Schriftsteller wurde er berühmt durch seine beiden großen Romane: In den Wäldern (1872) und In den Bergen (1875), die zwar einen geringen künstlerischen Wert haben, aber stofflich ungemein interessant sind und eine wichtige Quelle zur Kenntnis des russischen Sektenwesens darstellen. Hervorzuheben ist der blendende Stil seiner Romane, auf den Melnikow die gleiche Sorgfalt verwandte wie Gontscharow oder Flaubert.
Zu der gleichen Generation gehört Alexander Nikolajewitsch Ostrowskij (1823-1886), der ausschließlich Theaterstücke schrieb – Trauerspiele, Schauspiele, Lustspiele, und zwar gegen fünfzig Werke. Er wird als Begründer des modernen russischen Theaters und Nachfolger Gribojedows und Gogols angesehen. Rein literarisch reicht er aber an diese beiden gar nicht heran. Dagegen war er wirklich der erste, der den Moskauer Kaufmann und dessen ›finsteres Reich‹ auf die Bühne brachte. Dieses Milieu kannte er besonders gut, da sein Vater, ein Winkeladvokat, fast ausschließlich mit Kaufleuten zu tun hatte und da er auch selbst einige Zeit am Moskauer Handelsgericht wirkte. Sein erstes Stück Wir sind ja Verwandte und einigen uns schon (1847) wurde auf Betreiben der Kaufmannschaft, die sich beleidigt fühlte, verboten. Das 1854 zur Aufführung gelangte Stück Armut ist kein Laster begründete Ostrowskijs Ruf und gehörte bis zur jüngsten Zeit zum eisernen Bestand des russischen Theaterrepertoires. Dieses Drama und noch mehr das darauffolgende Lebe nicht so, wie du willst verraten Einflüsse der Moskauer Slawophilenkreise, denen Ostrowskij damals nahestand: das Altmoskowitische ist das Sittliche und Positive, jede Abweichung von der Tradition ist Sünde. In den späteren Stücken, besonders in Ostrowskijs bestem und berühmtestem Werk Gewitter (1860) ändert sich jedoch dieser Standpunkt: das Unglück kommt vom starren Festhalten an den althergebrachten Formen. Das Gewitter ist die Tragödie einer Frau, die in ein so starres Milieu hineinheiratet und, von der herrschsüchtigen Schwiegermutter tyrannisiert, zugrunde geht. Hier siegt die finstere Tradition über innere Freiheit und Humanität, die von der Heldin vertreten werden. Während die früheren Stücke Ostrowskijs von den Slawophilen gepriesen wurden, fand das Gewitter bei den Radikalen höchste Anerkennung, und Dobroljubow nannte es einen »Lichtstrahl im finsteren Reiche«. In den folgenden Jahren schrieb Ostrowskij eine Reihe historischer Stücke, zum Teil in Jamben, die zwar einen großen Bühnenerfolg hatten, aber künstlerisch recht mittelmäßig sind. Später kehrte er wieder zum realistischen Milieudrama aus dem Kaufmanns-, Gutsbesitzer- und Beamtenmilieu zurück. Ostrowskij war Anhänger des reinsten Realismus und jeder gewollten Tendenz abhold. Selbst seine negativen Gestalten haben immer auch etwas Menschlich-Positives, und man findet bei ihm weder absolute Schurken noch absolute Heilige. Von guten russischen Schauspielern aufgeführt, gehören Ostrowskijs Stücke zum Besten, was die russische Bühne zu bieten vermag, klassisch, wie etwa Molière in der Aufführung der Comédie Française; aber als reine Literatur genommen, sind sie, namentlich im Vergleich mit den Lustspielen Gribojedows und Gogols, nur zweiten Ranges.
Graf Alexej Konstantinowitsch Tolstoi (1817–1875), über dessen Lyrik wir an anderer Stelle sprechen werden, schrieb auch Dramen und einen Roman. Seine Dramen, eine zusammenhängende Trilogie: Tod Iwans des Grausamen, Zar Fjodor Iwanowitsch und Zar Boris sind 1866–1870 entstanden. Das erste hatte in den siebziger Jahren großen Bühnenerfolg, wurde dann verboten und feierte um 1900 am Moskauer Künstlertheater seine Auferstehung; es wurde 1868 auch in Weimar mit großem Erfolg aufgeführt. Zar Fjodor Iwanowitsch durfte erst 1898, und zwar ausschließlich vom erwähnten Moskauer Theater und einer Petersburger Bühne, deren Leiter der politisch ›unverdächtige‹ Herausgeber der reaktionären Nowoje Wremja, Ssuworin, war, gespielt werden. Tolstois Dramen beruhen auf gründlichen historischen Studien, zeugen von gutem Geschmack und haben große formale Qualitäten. Im Gegensatz zu den Studien Ostrowskijs sind sie zur Lektüre vielleicht geeigneter als zur Aufführung. Am besten ist der zweite Teil der Trilogie mit dem meisterhaft gestalteten Zaren Fjodor, dem letzten Sproß des Hauses Iwans des Grausamen, einem wahren Narren in Christo; am schwächsten ist Zar Boris. Alexej Tolstois Roman Fürst Sserebrjannyj (1861) behandelt das gleiche Zeitalter Iwans des Grausamen und ist wohl der beste russische historische Roman, spannend und dabei geschmackvoll wie ein Werk von Walter Scott.
Ihr klassisches Memoirenwerk hat die russische Literatur Ssergej Timofejewitsch Aksakow, dem Vater der beiden berühmten Slawophilen, zu verdanken. Er wurde 1791 im Osten des europäischen Rußland, in Ufa, geboren, war also älter als Puschkin und Lermontow. In seiner Jugend übersetzte er Molièresche Lustspiele, aber sein Hauptwerk, die Familienchronik, erschien erst 1856 und ihr Nachtrag – die Kinderjahre des Bagrow-Enkel – 1858, so daß man ihn wohl neben den viel jüngeren Alexej Tolstoi und Grigorowitsch behandeln darf. Die Chronik ist eine unerschöpfliche Quelle für die Kenntnis des Lebens des russischen Landadels im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, überreich an vollendet gezeichneten Menschentypen, amüsanten Anekdoten, dramatischen Momenten und herrlichen Naturbeschreibungen. So ist sie weit mehr als eine schlichte Familienchronik und darf wohl als ein Kunstwerk angesehen werden. Außer der Chronik schrieb Aksakow noch: Notizen über den Fischfang, Aufzeichnungen eines Jägers im Orenburger Gouvernement und Vom Sammeln der Schmetterlinge – auch diese drei Werke sind weit mehr als Fachschriften eines passionierten Anglers oder Jägers; Aksakow behandelt seine Tiere, Fische usw. als vernunftbegabte Wesen und zeichnet sie ebenso plastisch und mit der gleichen Liebe, mit der er in seiner Familienchronik die Menschen schildert. Besonders zu erwähnen ist seine blendende Sprache. Aksakow starb 1859 zu Moskau.
Ein anderes großangelegtes Memoirenwerk ist das Erlebtes und Gedachtes betitelte Tagebuch Herzens. Alexander Iwanowitsch HERZEN, Pseudonym: Iskander (1812-1870), zu Moskau als Sohn des reichen Gutsbesitzers Jakowlew geboren (diesen Namen durfte er jedoch nicht tragen, da die in Deutschland mit einer Deutschen geschlossene Ehe seines Vaters in Rußland nicht legalisiert war), ist eine der bedeutendsten Manifestationen russischen Geistes und als Sozialpolitiker, Denker und Mensch von größter Bedeutung. Wir haben ihn hier aber lediglich vom Standpunkte reiner Literatur zu werten und müssen uns auf das obenerwähnte Memoirenwerk und den Roman Wer ist schuld? beschränken. Herzen war kein Dichter und hat sich auch selbst niemals für einen solchen gehalten: »Ich verstehe nicht, Erzählungen zu schreiben«, hatte er einmal gesagt. Der Roman Wer ist schuld?, 1845 erschienen, wurde in der jüngsten Zeit kaum noch gelesen. Die Gutsbesitzerstochter Ljubinjka ist mit dem Lehrer Kruziferskij verheiratet, der zwar ein tugendhafter Mensch ist, zu ihr aber gar nicht paßt. Das Schicksal schickt ihr einen gewissen Beltow in den Weg, einen ›überflüssigen‹ Menschen vom Schlage Onjegins oder der Turgenjewschen Helden. Sie verliebt sich in ihn, und die Tragödie ist fertig. Alle drei Beteiligten sind im Grunde gute und liebe Menschen, und doch kommt es zu dem großen Unglück; die Frage aber, wer Schuld hat, bleibt unbeantwortet. Der Roman enthält viel Autobiographisches, vor allem ist Beltow Herzen selber. Weit bedeutender als der Roman ist das erwähnte fünf bändige, 1852-1855 im freiwilligen Exil (Herzen hatte Rußland 1847 für immer verlassen) entstandene Werk Bylóje i dúmy (Erlebtes und Gedachtes), in dem Herzen die ungewöhnlich reichen Erfahrungen seines bewegten Lebens, Begegnungen mit den merkwürdigsten Menschen in Rußland und Westeuropa, seine politischen Bekenntnisse und Reflexionen, seine Urteile über Menschen und Zustände und nicht zuletzt die überaus tragische Geschichte seiner Ehe zusammenfaßt. Die letztere macht den fünften Band, der von den Erben zurückgehalten worden war und erst 1921 vollständig erschien, zu einem erschütternden Menschheitsdokument.
Lauter Schriftsteller zweiten und keinen einzigen Dichter ersten Ranges hat die nach der Befreiung der Leibeigenen in den sechziger Jahren aufgekommene ›Narodniki‹-Richtung aufzuweisen. Das unübersetzbare Wort ›Narodnik‹ kommt vom Wort ›Narod‹ = Volk, das hier nicht als Nation, sondern als einfaches Bauernvolk aufzufassen ist. So nannte man eine Gruppe von vorwiegend aus den tiefsten Gesellschaftsschichten stammenden Schriftstellern, die den Bauern (manchmal auch den städtischen Proletarier) zum ausschließlichen Helden ihrer künstlerisch anspruchslosen Tendenzwerke erhoben; es ist nicht der idealisierte, sittlich verklärte Bauer Tolstois, sondern ein unbeschönigter, verkommener, elender Vertreter dieses Standes, die Tendenz aber lautet: »An diesem Elend seid ihr schuld!« Der bedeutendste unter den Narodniki war Fjodor Michailowitsch Reschjotnikow (1841-1871). In Jekaterinburg am Ural als Sohn eines armen Küsters und Briefträgers geboren, von einem Onkel und dann in einer Priesterschule erzogen, in einem fort geprügelt und mißhandelt, hatte er eine Jugend hinter sich, die ihm wirklich das Recht gab, als Ankläger aufzutreten. Berühmt wurde er durch die 1864 erschienene Erzählung Die Podlipower – eine mehr ethnographische als belletristische Schilderung des elenden Lebens der Bauern in einem gottverlassenen Dorfe an der Kama. Selbst dem russischen Publikum jener Zeit erschien es unglaublich, daß es in Rußland noch Gegenden gebe, wo die Menschen wie afrikanische Wilde leben. Die absolut kunstlose, sogar gewollt rohe Art der Schilderung ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es sich um wirklich gesehene Dinge und nicht um Phantasieprodukte handelte. Rein stofflich interessieren die Podlipower auch heute noch, während die anderen Werke Reschjotnikows ziemlich vergessen sind. Er starb dreißigjährig zu Petersburg am Alkohol.
Nikolai Nikolajewitsch Slatwratskij (1845-1912) stammte aus dem Landgeistlichenstande. Seine großen Epopöen aus dem Bauernleben Ländlicher Alltagund Die Grundpfeiler, Geschichte eines Dorfes waren in den achtziger Jahren außerordentlich beliebt, sind aber heute kaum noch lesbar.
Der beliebteste und menschlich interessanteste von allen Narodniki, Gljeb Iwanowitsch Uspenskij (1840-1902) war, eine Ausnahme, Beamtensohn und studierte sogar an der Petersburger Universität. Seinen Ruf verdankt er der Skizzenreihe Sitten der Verlorenen Gasse (1866), in der er das Elend der Vorstadtproletarier schildert. Diesem Werke folgte eine Reihe von anderen, die immer von den gleichen Elenden und Enterbten – Bauern und Kleinbürgern – handeln und auf einen außerordentlich pessimistischen Ton gestimmt sind. Stellenweise hat man den Eindruck, daß in Uspenskij vielleicht sogar eine dichterische Begabung schlummerte; jedenfalls war sie von der Tendenz vollkommen erdrückt. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in geistiger Umnachtung.
Einen Übergang von den eigentlichen Narodniki zu ihrer jüngeren Abart (zu der wir z. B. Gorkij zählen) stellt Wladimir Galaktionowitsch Korolenko dar. Er wurde 1853 in Shitomir geboren und verbrachte seine Jugend im Südwesten des Reiches, der von Polen, Juden und Ukrainern bewohnt ist und wo man nur selten einen echten Russen trifft. 1879 wurde er verhaftet und nach Sibirien verschickt, wo er bis 1885 blieb. Der Aufenthalt unter den Wilden Sibiriens hatte seinen Horizont erheblich erweitert. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er die Erzählung Makars Traum, in der er einen elenden betrunkenen Jakuten vor den jakutischen himmlischen Gerichtshof versetzt; diese Erzählung machte ihn auf einen Schlag berühmt und wurde sogar in fremde Sprachen übersetzt. Von seinen späteren Werken (er schrieb nur Erzählungen und keinen einzigen Roman) sind die bedeutendsten: Der blinde Musikant, Der Wald rauscht und In schlechter Gesellschaft. Gleich Gogol unter der wärmeren ukrainischen Sonne aufgewachsen, deren Einfluß auch der spätere Aufenthalt in Sibirien nicht abzuschwächen vermochte, hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Dichter: die reichere Sprache, die grelleren Farben und vor allem die Wahl der Motive unterscheiden diese beiden Söhne des Südens von den im bleichen Norden Rußlands geborenen Schriftstellern. Korolenko, eine überaus anziehende, lichte Persönlichkeit, ist wohl in allen seinen Erzählungen Prediger von Humanität, Gleichheit aller Menschen usw., hat aber genügend künstlerischen Takt, um mit seiner Predigt nicht aufdringlich zu wirken. Der liebenswürdige, wenn auch nicht sehr große Dichter starb 1921 in Sowjetrußland.
Eine gleich sympathische, wenn auch bescheidene Begabung war Wsewolod Michailowitsch Garschin (1855–1888). Er zeigte schon als Kind Anlage zur Geisteskrankheit, und alle seine Novellen verraten einen krankhaften Zug. Garschins erste Arbeit Die vier Tage beruht auf Eindrücken vom russisch-türkischen Kriege (1877/78), an dem er als Freiwilliger teilnahm; es ist die grauenhafte Geschichte eines schwerverwundeten Russen, der vier Tage unter sengender Sonne neben der Leiche eines Türken liegen muß. Von den späteren Erzählungen ist am bedeutendsten die Rote Blume (1883), eine Fiebervision im Geiste Poes: ein Geisteskranker sieht in der roten Klatschrose die Verkörperung des Bösen, er reißt sie aus und stirbt daran selbst. In seinen letzten Lebensjahren wurde Garschin jeden Herbst von Geisteskrankheit heimgesucht. Im Frühjahr 1888 stürzte er sich in einem Anfalle von Wahnsinn vom Treppenabsatz des dritten Stockes in die Tiefe und starb an den Verletzungen.
Pjotr Dmitrijewitsch Boborykin (1836-1921) ist kein großer Dichter, aber ein gewissenhafter Chronist, vorwiegend des Lebens der höheren Gesellschaftskreise Petersburgs. In den sechziger Jahren war er Redakteur der ›Lesebibliothek‹ und überwarf sich als solcher mit Dostojewskij. Er veröffentlichte alljährlich mindestens einen Roman, der nach Erscheinen mit Interesse gelesen, aber schon im nächsten Jahre vergessen wurde. Da er damit schon in den siebziger Jahren begonnen hatte und jahrzehntelang schrieb, hat die Zahl seiner Romane die Hundert längst überschritten. Vielleicht wird der zukünftige Kulturhistoriker aus ihnen manches schöpfen können, als Literatur sind sie unrettbar tot. Boborykin starb 1921 in bitterster Not zu Lugano.
Unter den Erzählern zweiten Ranges wollen wir noch einen nennen, der von sämtlichen Literaturgeschichten bisher übergangen wurde, obwohl er zu den besten der Gattung gehört. Iwan Fjodorowitsch Gorbunow (1831-1895) war im Hauptberuf Schauspieler und Vortragskomiker. Er trug lauter selbstverfaßte Szenen aus dem Kaufmanns- und Bauernleben vor, und diese gehören zum köstlichsten Besitz der sonst wenig reichen humoristischen russischen Literatur; jedenfalls sind sie den besten Humoresken Tschechows vollkommen ebenbürtig. Besonders gut gelangen ihm Gerichtsverhandlungen, bei denen sich ein Kaufmann mit breiter Natur wegen eines zur nächtlichen Zeit verübten groben Unfugs zu verantworten hat, und Festreden eines konservativen Generals. Gorbunow war nebenbei ein seltener Kenner der russischen Sprache und beherrschte das Russisch des 16., 17., 18. Jahrhunderts mit solcher Virtuosität, daß mancher Gelehrte auf die von ihm verfaßten alten Urkunden hereinfiel. Ein stilistisches Meisterwerk ist sein in der Sprache des 17. Jahrhunderts abgefaßter Bericht über das Roulettespiel zu Ems. Außerdem schrieb Gorbunow eine Reihe sehr wertvoller Beiträge zur Geschichte des russischen Theaters. Bei Lebzeiten erfreute er sich großer Berühmtheit als Vortragskünstler, sein geschriebenes Werk ist aber nach seinem Tode ganz unverdienterweise in Vergessenheit geraten.
Ehe wir zu den großen Lyrikern des 19. Jahrhunderts übergehen, müssen wir die Kritiker der Zeit erwähnen, deren ganzes Leben ein erbitterter Kampf gegen die reine Kunst war und die infolge ihres übergroßen Einflusses eine für das Gedeihen der Lyrik denkbar ungünstige Atmosphäre geschaffen hatten. Bjelinskij, den wir auf Seite 45 schon erwähnt haben, hatte noch Liebe und Verständnis für die hohe Kunst eines Puschkin. Seine Nachfolger wandten sich immer mehr der Anschauung zu, daß die Literatur als reine Kunst zu verdammen sei, daß sie vielmehr dem Leben dienen müsse. Reine Kunst sei ein für die Reichen bestimmter Luxus und im Lande der Dulder und der Armut daher doppelt verwerflich. Durchaus begreiflich ist dieser Standpunkt zu einer Zeit, als die Mehrzahl der Bevölkerung des Landes in Leibeigenschaft und unter schlimmster Beamtenwillkür stöhnte, zumal bei Menschen, die selbst so Unmenschliches zu bestehen hatten wie z. B. Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskij (1828-1889). Schon in seiner Magisterdissertation, die er 1855 an der Petersburger Universität schrieb, versuchte er die bisherigen Theorien der Ästhetik zu stürzen und zu beweisen, daß die Kunst dem Leben dienen müsse und nur die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu beleuchten habe. In diesem Sinne schrieb er auch über Lessing, Gogol, Turgenjew usw. Im Jahre 1862 kam er wegen seiner radikalen Gesinnung ins Gefängnis und schrieb dort den sozialistischen Tendenzroman Was tun?, der großen Erfolg hatte, dem aber gar keine künstlerische Bedeutung zukommt. Aus dem Gefängnis kam er nach Sibirien, arbeitete sieben Jahre in den Bergwerken und wurde erst 1883 begnadigt. In seinen letzten Jahren schrieb er noch umfangreiche Arbeiten über die Geschichte des menschlichen Wissens und übersetzte u. a. Webers Weltgeschichte. Tschernyschewskijs ästhetische oder vielmehr antiästhetische Theorien wurden von Nikolai Alexandrowitsch Dobroljubow (1836-1861) weiter entwickelt. Dobroljubow war gleich Tschernyschewskij ein Popensohn, was um jene Zeit mit ›geistiger Proletarier‹ identisch war. In seinen zahlreichen Aufsätzen über Gontscharow, Turgenjew, Ostrowskij usw. lehnte er die reine Kunst noch radikaler ab als Tschernyschewskij, dem er persönlich nahestand. »Ihrem Wesen nach hat die Literatur keine aktive Bedeutung; sie weist entweder nur darauf hin, was zu tun ist, oder stellt dar, was getan wird und getan worden ist. Im ersten Falle entnimmt sie das Material und die Grundlagen der reinen Wissenschaft, im andern – den Tatsachen des Lebens. So stellt die Literatur, allgemein betrachtet, nur einen dienenden Faktor dar, dessen Bedeutung in der Propaganda liegt und dessen Wert dadurch bestimmt wird, was und wie propagandiert wird.« Während Tschernyschewskij und Dobroljubow (der übrigens selbst Verse schrieb) noch einen gewissen Respekt vor wahrer Poesie hatten, lehnte der dritte im Bunde, Dmitrij Iwanowitsch Pissarew (1841-1868), jede Kunst und Poesie glatt ab. Dies ist um so bemerkenswerter, als er im Gegensatz zu den beiden andern kein ›geistiger Proletarier‹ war, sondern aus einer reichen adligen Familie stammte, eine hohe Bildung besaß und mehrere fremde Sprachen beherrschte. Er war ein glänzender Stilist und Dialektiker, worauf zum Teil auch sein kolossaler – wir möchten sagen: verheerender – Einfluß auf die Geister beruhte. Er wütete, gewiß von den edelsten Absichten beseelt, wie ein Savonarola, verdammte Puschkin, riet den lebenden Dichtern, sich der Popularisierung von Naturwissenschaften zu widmen, und warf den Lyrikern vor, daß sie die einen oder andern Wörter nur mit Rücksicht darauf wählten, daß die Enden der Verszeilen sich reimten. Als fünfzig Jahre später Leo Tolstoi ähnliche Lehren predigte, war die russische Gesellschaft reif genug, um sie nicht ernst zu nehmen. Aber die radikale Jugend der sechziger Jahre nahm jedes Wort Pissarews gläubig hin, und die Folge davon war, daß der Geschmack entsetzlich verwilderte, daß die reine Kunst fast bis ans Ende des Jahrhunderts verfemt blieb und die großen Lyriker, von denen die folgenden Kapitel handeln, nur unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit wirken konnten.
Das slawophile Lager hatte seinen Kritiker in Apollon Alexandrowitsch Grigorjew (1822–1864), dem Freund und Kampfgenossen Dostojewskijs. Sein Slawophilentum hinderte ihn nicht, sich für Schelling zu begeistern, und diese unnatürliche Verbindung hatte zahllose Widersprüche neben der schwerverständlichen, abstrakten Ausdrucksweise in seinem Werke zur Folge. Gleich den radikalen Kritikern, wenn auch vom andern Standpunkt aus, verdammte er die reine Kunst und lehrte, daß die Kunst nur aus dem Leben zu schöpfen habe. In diesem Sinne vergötterte er Ostrowskij. Am wichtigsten war sein Einfluß auf Dostojewskij, der Grigorjews Einteilung aller Menschen in ›Räuber‹ und ›Sanfte‹ (Grigorjew hielt den ersten Typus für unrussisch, den zweiten für spezifisch russisch) in allen seinen Romanen durchgeführt hat.