Ebner-Eschenbach
Die schönsten Erzählungen
Ebner-Eschenbach

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Die Kapitalistinnen

Im vierten Stock eines der ältesten Häuser des alten Wien wohnen seit vielen Jahren die Schwestern Elise und Johanna Moser. Das Haus befindet sich in der Singerstraße und hat einen geräumigen Hof, und auf diesen herab sehen die immer spiegelblanken Fenster, durch die Licht und Luft in das Quartier der Fräulein dringen. Es besteht aus einer Küche und aus zwei Zimmern und wird so nett gehalten, als ob es nicht von menschlichen Wesen, sondern von puren Geistern bewohnt würde. Die Küche ist nur mit einer Puppenküche zu vergleichen, mit der Kinder noch nicht gespielt haben. In hellen, bunten Farben und in schneeigem Weiß schimmert das Geschirr auf den Stellbrettern; wie eitel Gold und Silber prunken die Pfännchen und Kasserollen; die Knöpfe der Herdtüren aber übertreffen alles andere an Geblinkel und Funkelglanz.

So groß indessen die Reinlichkeit in der Küche ist, durch diejenige in den Zimmern wird sie noch beschämt.

Fußbodenlack kann jeder kaufen und die Dielen damit bestreichen. Ihn jedoch monatelang auf einem Punkt fast indiskret blendender Hochpolitur zu erhalten, – diese Kunst versteht Fräulein Elise ganz allein. Sie ist es, die jüngere der Schwestern, die sich um die berühmte und ruhmwürdige Sauberkeit des Haushaltes die größeren Verdienste erwirbt. Ihr Ordnungs- und Schönheitssinn macht sich manchmal in einer Weise geltend, die von Fräulein Johanna als Übertreibung bezeichnet wird. Dies geschieht zum Beispiel, wenn Elise noch am Nachmittage mit Flanellen unter den Füßen im Zimmer herumgleitet, angeblich um sich eine gesunde Bewegung zu machen, in der Tat aber, um einige nur ihr wahrnehmbare Trübungen des Bodenfirnisses durch sanft liebkosendes Streicheln wieder in lauter Glanz zu verwandeln. Oder wenn sie die Polster des Kanapees, auf dem Johanna sich niedergelassen hat, um friedlich ihren Abendtee zu trinken, mit einem Stäbchen zu klopfen beginnt. Sie tut es ganz leicht, sie weiß im voraus, daß kein Staub auffliegen wird, aber – sicher ist sicher! – sie fragt doch an und führt Schlag um Schlag gegen die dünnen, alten Kissen.

Johanna duldet und schweigt. Ihre Märtyrermiene jedoch, die sanfte Art, in der sie mit der Hand über ihre eisgrauen, gescheitelten Haare streicht, und besonders die Sehnsucht, mit der sie in das aufgeschlagene, auf dem Tische liegende Buch blickt, verfehlen ihre Wirkung auf Elise nicht. Sie überwindet den Putzteufel, der ihr in allen Fingern prickelt, legt das Stäbchen weg und sagt: »So, jetzt lesen wir!«

Das edle Gesicht Johannas hellt sich auf. Vorlesen ist ihre Wonne, und sie behauptet, daß die Werke ihrer Lieblingsdichter ihr immer neue, schöne Überraschungen bereiten.

Elise hört zu und würde es noch viel aufmerksamer tun, wenn die Photographie des seligen Onkels Moser nicht gerade ihrem Platze gegenüber hinge. Die ist leider mit einem Glas bedeckt, von dem man nie recht weiß: ist's geputzt oder nicht. Und Elise unterbricht die vorlesende Schwester an einer ergreifenden Stelle der Dichtung, um auszurufen: »Mit Wasser hab ich's umsonst versucht; ich will's morgen mit Spiritus probieren!«

Dieselbe Genauigkeit, deren sich Elise im Punkte des Reinhaltens der Wohnung befliß, wurde von Fräulein Johanna in einem andern, im Geldpunkte beobachtet.

Die Schwestern hatten nach dem Verlaufe von mehr als drei Dezennien, in denen Elise einer Mädchenschule vorgestanden, Johanna Lehrerin in wohlhabenden Häusern gewesen war, eine hübsche Summe zurücklegen können. Das Glück, das ihnen für redliche Arbeit redliche Entlohnung bescherte, zeigte sich auch darin, daß es sie in der Person ihres Onkels Christian Moser einen tüchtigen Schatzmeister finden ließ, dem sie ihre Ersparnisse anvertraut und der mit ihnen geschickt manipuliert hatte. Als der alte Herr starb, fand sich bei ihm in einem großen Umschlag, auf dem geschrieben stand: »Depot, Eigentum meiner Nichten, der Fräulein Elise und Johanna Moser«, ein Kapital von nicht weniger als zwanzigtausend Gulden in Wertpapieren. Dabei ein Zettel, an die Schwestern gerichtet, des Inhalts: »Rate euch, nach meinem Tode die Verwaltung eures Vermögens meinem Sohne, eurem Vetter Julius, zu übergeben, denn was Geldangelegenheiten betrifft, seid ihr wie die neugeborenen Kinder.«

Elise stimmte dieser Behauptung mit vielen freundlich-demütigen Bücklingen zu; Johanna war nicht so ganz von ihrer Richtigkeit durchdrungen, ersuchte aber dennoch, im Vereine mit der Schwester, Herrn Julius Moser, das Kapital in seiner Verwahrung zu behalten. Er wollte jedoch nichts davon wissen; er war ein mürrischer, mit Geschäften überhäufter Mann.

»Kauft euch eine kleine Wertheimische Kasse und legt euer Geld hinein«, sagte er. »Alle Jahr zweimal will ich kommen, die Kupons abschneiden und einlösen. Ihr habt euch um nichts als nur darum zu kümmern, daß ihr mit eurem Einkommen auskommt«, er lächelte über seinen Wortwitz, »und die Kassenschlüssel nicht verliert.«

Als er ihnen dann die Papiere ausgeliefert hatte, waren die Schwestern nach Hause gewandert, und der Weg, den sie von der Hohenbrücke bis in die Singerstraße zurücklegen mußten, war ihnen lang und gefahrvoll erschienen. Johanna hatte das Paket unter den Arm genommen, und dicht neben ihr, an der Kapitalienseite, marschierte Elise. Mehrmals ermahnte diese ihre Schwester: »Nimm dich zusammen; mach's nicht so auf fällig, mach kein so verstörtes Gesicht.« Sie selbst aber, die Mutigere, fühlte ihr Innerstes erbeben, als zwei Arbeiter vorbeikamen und einer den andern anstieß und fragte: »Was tragen denn die?«

Die Frage bezog sich auf einige hinter den Fräulein einherschreitende Marktweiber, ließ diese gleichgültig und versetzte jene in einen fieberhaften Zustand. Die arglose Johanna, die sonst auch den Fremdesten das Beste zutraute, immer in Erwartung von etwas Angenehmem, besonders von angenehmen Überraschungen lebte, war heute eitel Sorge und Verdacht. Bei der Heimkehr empfand sie sogar Mißtrauen gegen den biederen Hausmeister, als er sie an der Treppe begrüßte, und bildete sich ein, er habe das Paket in ihren Armen mit sonderbar verlangenden Blicken angesehen.

Den Nachmittag und Abend brachten die Damen mit Beratungen über den Ankauf der Wertheimischen Kasse zu, die auf Wunsch des Vetters angeschafft werden sollte. Provisorisch legte man das Geld in den Wäschekasten zwischen die Leintücher, nachdem Elise diese Gelegenheit benützt hatte, um den Schrank von oben bis unten auszuräumen und durchzufegen. Spät kamen die Schwestern zur Ruhe, und kaum eingeschlafen, erwachte Johanna mit Herzklopfen, weil ihr träumte, die Wohnungstür, die Elise doch vor ihren Augen versperrt und verriegelt hatte, sei von selbst aufgesprungen, und herein sei der Hausmeister getreten, im Kostüm Rinaldo Rinaldinis und mit einer Kanone in jeder Hand.

In aller Gottesfrüh begann am nächsten Tage die Beratung von neuem. »Eine Kasse anschaffen, – leicht gesagt; aber wie bringt man sie herein, ohne daß die Leute es merken?« meinte Elise. »Und wenn die Leute merken, daß man eine Kasse hat, vermuten sie gleich, daß etwas drin ist. Und das ist sehr gefährlich.«

Dagegen wendete Johanna ein, daß es doch strafbarer Leichtsinn wäre, die Kapitalien dem Wäscheschrank bleibend anzuvertrauen.

Man war noch zu keinem Resultat gelangt, als die in Rede stehende Kasse von selbst erschien. Herr Julius Moser schickte sie seinen Basen zum Präsent, durch zwei kurz angebundene, sehr resolute Männer. Rasch hatten die beiden Zyklopen den besten Platz für die Kasse ausgemittelt: in der Ecke des zweiten Zimmers, zu Füßen von Johannas Bett. Ohne viel zu fragen, stellten sie das schlanke, eiserne Ding dort auf, unterrichteten die Damen im Gebrauch der Schlüssel, überreichten sie samt den Dubletten, nahmen ihr Trinkgeld in Empfang und entfernten sich.

Elise hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Spuren wegzutilgen, die die staubigen Stiefel des unerwarteten Besuches auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Johanna holte die Kapitalien aus dem Schrank. Sie befreite die Obligationen von ihrer groben Umhüllung, und als sie bemerkte, daß dieselben nachlässig gefaltet waren, ergriff sie das Falzbein. Mit einem Mute, den Elise nur anstaunen konnte, handhabte Johanna die großen, prächtigen Bogen, glättete sie und legte sie wieder vierfach, jetzt aber Kante auf Kante, zusammen. Dann holte sie aus ihrem Vorrat an Schreibpapier das stärkste herbei und verlegte sich auf die Fabrikation von Kuverts, wie sie, so zierlich ausgeschnitten, so fest geklebt, nirgends und um keinen Preis zu kaufen gewesen wären. Jedes derselben hatte eine Aufschrift erhalten: Obligation Nummer Eins, hieß es auf der ersten; Obligation Nummer Zwanzig auf der letzten. Sie bildeten einen erfreulichen Anblick, solange sie auf dem Tische zum Trocknen ausgelegt blieben, und eine stattliche Reihe im Tresor, in dem Johanna sie endlich aufstellte.

Danach hatte sie das Tabernakel verschlossen und die Schlüssel an sich genommen, mit dem Vorsatze, sich in keiner Stunde des Lebens von ihnen zu trennen. Als sie sich zur Ruhe begab, legte sie das kleine Bund unter ihr Kissen, und konnte in dieser Nacht, wie schon in der vorigen, lange nicht einschlafen. Die Worte des Vetters: »Verliert die Schlüssel nicht!« summten ihr im Ohre; das Gefühl der übernommenen Verantwortlichkeit lag ihr schwer auf dem Herzen.

Am Morgen erwachte sie später als gewöhnlich. Die Bedienerin, die täglich kam, um Elise bei der Hausarbeit zu unterstützen, war seit geraumer Weile da und machte sich am Ofen in Johannas Zimmer zu schaffen, als diese die Augen aufschlug.

Sie fuhr empor, – ihr erster Blick fiel auf die Kasse, ihr erster Gedanke war: Wo sind die Schlüssel? . . . »Elise«, rief sie plötzlich, »Elise!«

Die Schwester kam herbeigeeilt, und Johanna, die Stimme zum Geflüster senkend, fragte:

»Die Schlüssel? . . . Hast du sie genommen?«

»Gott bewahre!« erwiderte Elise. »Du hast sie, – unter deinem Kopfpolster hast du sie.«

»Nein!« hauchte Johanna, »ich habe schon gesucht . . .«

Elise überlief's, aber sie faßte sich. »Wir wollen noch einmal suchen, besser suchen.«

Es geschah, die Schlüssel wurden gefunden, man lachte, man neckte einander wegen des ausgestandenen Schreckens.

Auf einmal rief's aus der Gegend des Ofens: »Fräul'n, haben Sie mir das zum Unterzünden herg'richt?« . . . Eine kohlengeschwärzte Hand hob sich in die Höhe und schwenkte Papiere in der Luft.

»Was denn, Resi? Was ist's denn?« fragte Elise, von einer unbestimmten Bangigkeit durchzittert.

Resi erhob sich aus ihrer kauernden Stellung, kam auf die Damen zugetrampelt und präsentierte eine Anzahl durcheinandergeworfener Papierbogen, bei deren Anblick den Schwestern der Atem stillstand.

»Johanna!« rief Elise.

»Elise!« rief Johanna.

»Wo haben Sie das hergenommen?« preßte Elise, zur Bedienerin gewendet, hervor.

Die Frau wunderte sich über die Frage und besonders über die Art, in der sie gestellt wurde. Wo sollte sie »das« hergenommen haben? Vom Sessel halt, auf dem »das« gelegen, vom Sessel beim Ofen, neben dem Kanapee.

»Gut«, murmelte Elise, »gehen Sie jetzt nur in die Küche.« Resi gehorchte.

Regungslos bis zur Unheimlichkeit starrte Johanna vor sich hin: »Sessel! . . . Dort habe ich sie hingelegt«, sprach sie abgebrochen und tonlos, »hingelegt, – um sie dann hineinzulegen in die . . . Du weißt.«

»Hast du's denn nicht getan?« fragte Elise.

»Es scheint, – nein«, erwiderte Johanna und drückte das Haupt in die Kissen.

Elise setzte sich; ein kalter Schauer nach dem andern lief ihr über den Rücken. »Schwester«, sagte sie, »so hätten wir denn vergessen, die Kapitalien in die Kuverts zu tun, bevor wir die Kuverts in die Kasse taten.«

Johanna sah die Schwester dankbar an für dieses großmütige »Wir«. »Es scheint so, – obwohl ich es mir nicht denken kann. Viel eher schiene es mir möglich, liebe Schwester . . .« Die tiefe Zerknirschung, unter deren Last sie eben noch geseufzt hatte, machte einer freundlichen Ahnung Platz, »daß unsre Obligationen im Tresor liegen und daß diese hier andre sind, mit denen uns jemand« – ihre Augen begannen zu leuchten, und sie schloß innigst gerührt – »eine angenehme Überraschung gemacht hat.«

Elise fuhr zürnend empor: »Mit deinen Überraschungen – das ist eine fixe Idee! Überraschung – ja! Die Resi war nahe dran, uns eine Überraschung zu machen, – aber eine, von der wir uns unser Lebtag nicht mehr erholt hätten.«

»Du hast recht«, versetzte Johanna, »und wir sind diesem Weibe zu ewigem Danke verpflichtet. Wenn die Klugheit uns auch rät, ihr zu verschweigen, wie groß der Dienst ist, den sie uns geleistet hat – weil sie sonst allen Respekt vor uns verlieren könnte –, wollen wir sie doch belohnen. Wir wollen ihren Gehalt erhöhen.« –

So aufregend waren für die Schwestern die ersten Tage nach dem Antritt der Selbstverwaltung ihres Vermögens gewesen. Und noch gar manche böse Stunde folgte. Den Kassenschlüsseln schien eine eigene satanische Kunst innezuwohnen, sich unsichtbar machen zu können; sie verschwanden einem unter der Hand, – aus der Hand. Und die Raubattentate, die Einbruchdiebstähle, von denen man täglich hörte, die waren auch nicht danach angetan, viel beizutragen zur Seelenruhe alleinstehender Kapitalistinnen.

Indessen, man gewöhnt sich an die Nähe von Kaisern und Königen; die Fräulein gewöhnten sich an die Anwesenheit des großen Herrschers Mammon in ihrem einfachen Haushalte.

Für Elise blieb der Gedanke an den Staub, der sich im Winkel zwischen der Kasse und der Wand angesammelt haben mußte und dem auf keine Weise beizukommen war, freilich ein sehr peinlicher. Für Johanna waren die zwei schlimmsten Tage im Jahre die, an denen Vetter Julius kam, um die Kupons abzuschneiden.

Er setzte sich schon so verdrießlich und mit einer so höhnischen Miene an den Tisch, trieb zur Eile, ärgerte sich über die Kuverts und riß die Obligationen mit einer Rücksichtslosigkeit heraus, deren nur Männer fähig sind. Die Aufschriften verspottete er: »Obligation Nummer Fünf? Was heißt das? Ich bitte euch, gebt euch mit dem Nummerschreiben nicht ab. Es wäre fatal, wenn wir uns auf die Nummern verlassen müßten, bei einer allenfallsigen Amortisation.«

»Was meinst du damit, lieber Vetter?« fragte Johanna; »wann wird die stattfinden?«

Er wendete seinen großen Kopf nach ihr und glotzte sie bös an mit seinen runden, vorquellenden Augen: »Wenn euch die Papiere gestohlen würden«, erwiderte er barsch.

»Gestohlen!« rief Elise. Johanna bedeutete ihr, zu schweigen. »Ich bitte dich, erkläre mir das, lieber Vetter; was bedeutet Amortisation?«

Er lachte tückisch und sprach: »Ein andres Mal, heute habe ich keine Zeit.« Und das sagte er jedesmal, stopfte die Kupons in seine alte, schmutzige Brieftasche und empfahl sich dann, – vorausgesetzt, daß er Muße dazu fand. Oft ging er auch, ohne sich zu empfehlen, und Johanna hatte nachher lange Zeit mit dem Ordnen der Papiere, Elise mit dem Klopfen des Kanapees und dem Reinigen des Teppichs unter dem Tische zu tun.

»Es ist doch etwas Schreckliches um so einen Mann . . . Nein, wenn man denkt, daß man das ganze Jahr neben so einem existieren müßte!« meinten die Schwestern, drückten einander die Hände und freuten sich, daß sie nicht geheiratet hatten.

»Was das nur heißt mit der Amortisation?« sprach einmal Elise.

»Amor heißt Liebe«, versetzte Johanna nachdenklich.

»Was kann aber die Liebe mit gestohlenen Obligationen zu tun haben?« forschte Elise weiter. »Bedeutet es vielleicht: Diebstahl aus Liebe zum Gelde?«

Johanna entgegnete, nach dem Rate Kants, das Bequeme und zumeist Vernünftige: »Ich weiß nicht«, und fügte aus eigenen Mitteln hinzu: »Es scheint ein Börsenausdruck zu sein, und ich bin nie in andern als in spezifisch weiblichen Denkdisziplinen unterrichtet worden.«

Am 27. Oktober 1884 wurden die Schwestern durch einen Zettel, den Vetter Julius ihnen sandte, in einer Weise überrascht, die Johanna mit dem besten Willen nicht angenehm finden konnte. Julius schrieb, er verreise auf vier bis sechs Wochen und könne die Einlösung der Kupons dieses Mal nicht besorgen; seine Basen möchten das selbst tun oder auf seine Rückkehr warten.

Nun, von dem letzteren konnte nicht die Rede sein. Auf den Kreuzer ging's bei den Fräulein immer aus. Sie hatten keine Schulden, aber auch keine Ersparnisse; sie brauchten ihr Geld und brauchten es zur rechten Zeit. So rief denn Elise: »Was sein muß, muß sein!« Und Johanna ging mit großem Bedacht und mit einer Sorgfalt, an der sich Julius ein Beispiel hätte nehmen können, an die feierliche Handlung des Kuponabschneidens.

Eine halbe Stunde später stand Elise schon gerüstet zur abenteuerlichen Fahrt nach der Wechselstube. Johanna wollte sie begleiten, sie verbat es; sie ersparte der älteren die Aufregung, die ein solcher Gang mit sich bringt, und zog ab, allein und hochgemut. Ihr Stumpfnäschen war leicht gerötet, ihre braunen Äuglein blitzten. Während sie die Treppe hinabging, gaben die stählernen Ketten der Handtasche, in der die Kupons lagen, einen Ton von sich, – beinahe wie Sporengeklirr.

Johanna erwartete die Rückkehr der Schwester in großer Sehnsucht. Anfangs im Zimmer, später in der Küche, wo Resi mit nachempfindender Gründlichkeit scheuerte, zuletzt auf dem Gange.

Eine Stunde verfloß. Endlich erschien Elise, aber – welch ein Anblick! – im Zustande vollständiger Fassungslosigkeit. Mit bebenden Knien wankte sie in die Küche, ließ sich auf den Sessel neben dem Anrichtetisch sinken und vermochte nur zu sagen: »In sechs Jahren . . .«

Johanna labte sie, suchte sie zu beruhigen, brach aber selbst in Tränen aus, als die Tapfere ihr weinend in die Arme fiel.

Elise hatte furchtbar gelitten in der Wechselstube, in der ein entsetzliches Gewühl geherrscht hatte. Sie war gedrängt, gestoßen und schließlich verhöhnt worden. Als es ihr nach unsagbarem Bemühen gelungen war, einem Kassierer ihre Kupons einzuhändigen, hatte der – flegelhaft, wie sie heute sind, die jungen Leute – die Papierchen angesehen und sie Elisen schmunzelnd und unter dem Gelächter der Umstehenden mit den Worten zurückgegeben: »Kommen Sie in sechs Jahren wieder.«

»In sechs Jahren?« sprach Johanna erbleichend.

Resi jedoch, die dem Bericht des Fräuleins aufmerksam und mit einem sehr klugen Ausdruck in ihrem derben Gesicht zugehört hatte, stemmte den Arm in die Seite und sagte: »Ja, – Schnecken!«

»Wie?« riefen die beiden Schwestern, »was meinen Sie?«

»Die Fräul'n wer'n halt die böhmischen Papiere haben, die Bodenkredit.«

»Böhmische? Das sind die unsern!« sprach Elise, und Johanna hauchte tonlos: »Ja!«

Beide erstarrten, während ihnen Resi versicherte, weder in sechs Jahren noch je würden sie für ihre Kupons auch nur einen Groschen bekommen. Die ganze Stadt sei voll von der Geschichte mit dem böhmischen Bodenkredit, im Extrablatt könne man sie lesen. Damit zog Resi die letzte Nummer ihres weltlichen Evangeliums aus der Tasche und präsentierte sie den Damen. Und diese, die geschworenen Feindinnen der Journalistik, überwanden ihren Abscheu gegen jede, irgendeinen Namen habende Zeitung und lasen, Wange an Wange gepreßt und vor Erschütterung bebend bis ins Mark, die trostlosen Berichte über die Entwertung der Papiere der Böhmischen Bodenkreditanstalt.

»Wenn nur Vetter Julius da wäre!« sprach Johanna plötzlich mit einem trockenen Schluchzen.

»Der?« rief Elise, von Mißtrauen ergriffen. »O Gott, wenn seine plötzliche Abreise nur nicht im Zusammenhange steht mit dieser miserablen Cridakatastrophe.«

»Dergleichen«, entgegnete Johanna, »dergleichen wollen wir nicht annehmen – nie. Wir wollen vielmehr . . .« Sie stockte, sie konnte nicht gleich sagen, was sie wollte; sie fühlte nur, daß man sich regen, daß man etwas tun müsse. Elise war von derselben Empfindung durchdrungen, und so beschlossen die Schwestern, zu dem Grafen Linden, dem Präsidenten einer großen Bank, in dessen Hause Johanna vormals Unterricht erteilt hatte, zu gehen und ihn um seinen Rat anzuflehen.

Gesagt, getan, sie führten den Vorsatz aus und waren eben daran, sich mit gebührender Umständlichkeit beim Grafen melden zu lassen, als er ihnen, zum Ausgehen gerüstet, im Vorzimmer entgegentrat.

Der vielbeschäftigte Herr schien auch heute große Eile zu haben, gab aber nicht zu, daß die Fräulein, wie sie es in edler Diskretion durchaus wollten, sich unverrichteter Dinge wieder entfernten. Sie mußten sagen, was sie herbeigeführt, und hatten kaum die Worte: »Böhmische Bodenkredit«, verlauten lassen, als er ausrief: »Was? Sie haben auch Böhmische Bodenkreditaktien?«

»Nur solche, Herr Graf!«

»Ei, ei, das ist bös!« Er machte ein finsteres Gesicht, nagte ein wenig am Schnurrbart, überlegte und sprach: »Da muß etwas geschehen. Ich bitte Sie, zu warten. Meine Frau und meine Töchter sind leider nicht zu Hause.«

Damit öffnete er, ehe der Diener ihm zuvorkommen konnte, die Tür des Salons und ließ die Schwestern ein; er selbst aber entfernte sich wieder durch das Vorzimmer.

Johanna und Elise hatten sich noch nicht über die Art geeinigt, in welcher sie dem Grafen, der die Weitschweifigkeit haßte, ihre Angelegenheit vortragen sollten, und schon war er wieder da, mit einem Briefe in der Hand, den er Johanna überreichte. Ihren Dank und ihre Fragen schnitt er kurz ab, indem er sagte: »Diesen Brief werden Sie die Güte haben, an seine Adresse zu befördern«, der älteren Schwester den Arm reichte und die jüngere mit einem einladenden Wink zu folgen ersuchte. Am Fuße der Treppe angelangt, pfiff er dem Fiaker, der im Hof stand, hob die Schwestern in dessen elegantes »Zeugerl«, rief: »In die Bank!« und sausend rollte das Gefährt über das Pflaster.

Johanna versuchte nun zu sprechen: »Da fahren wir! Das ist eine Überraschung!« Elise sagte nichts. Der Wagen hielt vor dem Tore der Bank, der Portier stürzte ihm entgegen. Alle Türen öffneten sich vor den Überbringerinnen eines Schreibens des Herrn Präsidenten an den Herrn Direktor.

Dieser, Herr Eduard Plößl, ein kleiner, breiter, feierlicher Mann mit langem, braunem Bart und einer Glatze, die sogleich Elisens Vertrauen und Sympathie erregte, weil sie so schön glänzte, empfing die Schwestern in seinem Bureau und bot ihnen Sitze an, auf die sie sich niederließen, während er den Brief seines Chefs aufmerksam durchstudierte. Nach einer Weile sprach er: »Der Graf empfiehlt mir dringend, mich Ihrer Sache anzunehmen, meine Damen. Mein Rat soll Ihnen bestens zugehen, – bedaure nur den geringen reellen Nutzen. Sie haben böhmische Bodenkreditaktien?«

»Jawohl«, erwiderte Johanna, »Böhmische Bodenobligationen, Herr Direktor.«

Er sah die Schwestern eine Weile prüfend an. Der Anteil, den er ihnen anfangs nur pflichtgemäß geschenkt hatte, steigerte sich und bekam allmählich etwas Inniges, etwas Väterliches.

In der Verhandlung, die sich nun entspann, legte Herr Plößl eine unerschöpfliche Geduld an den Tag; er gab auf zehnmal wiederholte Erkundigungen zehnmal dieselben Auskünfte und machte es den Damen endlich klar, daß es nur zwei Möglichkeiten für sie gab: ihre Papiere zu behalten und den Verlust des ganzen Vermögens auf die Hoffnung hin zu wagen, daß die Liquidation hintangehalten werden könne, oder sich rasch zum Verkauf zu entschließen und ein kleines, aber sicheres Kapital zu retten. »Ich rate dringend zum letzteren«, sagte der Geschäftsmann, »und zwar rate ich zum allerdings verlustvollen Umtausch Ihrer Papiere gegen Grundentlastungsobligationen.«

»Was Sie uns raten, das werden wir tun«, versicherte Johanna.

»Überlegen Sie's heute noch, und für morgen bitte ich wieder um Ihren Besuch – mit den Papieren –, wenn Sie sich zum Verkauf entschließen.«

»Und unsere Renten in dem Falle?« fragte Elise. »Wie würden sie sich zu den bisher genossenen verhalten?«

»Kaum wie ein Drittel zu einem Ganzen«, erwiderte Herr Plößl.

Im Laufe des Nachmittags kamen die Schwestern heim.

»Es war ein trauriger, aber ein stolzer Tag«, sprach Johanna. »Mein Glaube an die Güte der Menschen ist neuerdings befestigt worden . . . Dieser Graf! . . . Hast du bemerkt, wie sein Benehmen gegen uns sogleich viel freundlicher und ordentlich respektvoll wurde, als er vernahm, daß wir in Unglück geraten sind? Und dieser Herr Direktor, ist das ein gewiegter, scharfsinniger Geschäftsmann, und dabei wie teilnehmend und fürsorglich . . . Er hat ein goldenes Herz.«

»Und seine Glatze glänzt wie Silber«, versetzte Elise.

»Wir haben unser Geld verloren, aber einen alten Gönner erprobt und einen neuen Freund gewonnen«, fuhr Johanna fort; »solche Erfahrungen kann man nicht teuer genug bezahlen.«

»Besonders, wenn man's hat«, meinte die praktische Elise. »Wir haben es aber eigentlich nicht. Wir sind jetzt arm.«

»Tut nichts«, entgegnete Johanna, völlig verzückt vor Hoheit der Gesinnung. »Der fromme Maler, Fra Angelico de Fiesole, nennt arm sein den Schatz, der vor vielen unnützen Bedürfnissen sicherstellt.«

»Er wird vermutlich in seinem Kloster mit Kost und Kleidung versorgt worden sein und dort auch freies Quartier gehabt haben . . .« Elise sah sich traurig um in der blanken Stube. »Wir – werden unsere liebe Wohnung verlassen müssen.«

»Wer weiß!« sprach Johanna. »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Hausfrau uns einen Teil des Mietzinses erließe, sobald sie von unserm Mißgeschick erfährt.«

»Wie bringen wir aber das übrige herein?«

»Wir fangen wieder an, Lektionen zu geben.«

»Wenn wir jemand finden, der sie nimmt.«

»Der Herr Direktor empfiehlt uns seiner Familie.«

»Wenn er eine hat.«

»Der Herr Graf verwendet sich zu unsern Gunsten bei seinen zahlreichen Konnexionen; es wird uns an Beschäftigung nicht fehlen.«

»Aber vielleicht an der Kraft, sie auszuüben. Wir sind nicht mehr jung; wo ist die Zeit, in der wir noch Fünfzigerinnen waren?« warf Elise ein.

Alle ihre Bedenken jedoch vermochten nicht, Johannas Hoffnungsfreudigkeit und Zuversicht zu erschüttern. Den ganzen Abend baute sie an ihren Luftschlössern fort.

Am folgenden Morgen allerdings, als sie die Kuverts mit den Obligationen aus der Kasse nahm und, der Ordnung wegen, auch noch die erst in sechs Jahren fälligen Kupons dazu legte, da wurde sie sehr betrübt und weich, und die Schwestern getrauten sich nicht, einander anzusehen auf dem dornenvollen Wege zur Bank.

Dort angelangt, erhielten sie sogleich Audienz bei ihrem huldreichen Beschützer. Johanna überreichte ihm die Wertpapiere und bat ihn, mit denselben nach seinem Gutdünken zu verfahren, während Elise mit nervösem Kopfnicken ihre Zustimmung erteilte.

»Das heißt so viel, als Sie sind entschlossen zum Verkaufe?«

»Entschlossen« – »Entschlossen«, sprachen die Schwestern nacheinander.

Herr Plößl gab seinen Beifall zu erkennen, setzte sich, öffnete das erste Kuvert, zog Obligation Nummer Eins hervor, – stutzte, sagte lebhaft: »Nu!« und griff nach Obligation Nummer Zwei. Das Verfahren erneute sich bei dieser und bei der dritten, nur daß die Miene des Herrn Direktors immer erstaunter, immer heiterer wurde, bis sein Gesicht im Reflex des goldenen Herzens strahlte, gleich einer Sonne in Taschenformat.

»Ja, was wollen Sie denn?« rief er. »Sie haben ja vortreffliche Papiere! . . . Sie haben ja die, die ich für Sie kaufen wollte! . . . Aber bitte, – nehmen Sie Platz«, fügte er ganz erschrocken hinzu, als er die Damen erbeben und wanken sah unter dem Eindrucke der unerwarteten Nachricht.

»Vortreffliche Papie . . .« die letzte Silbe erstarb auf Elisens zitternden Lippen.

»Wie ich Ihnen sage.«

»Ist's möglich! O Gott!« stammelte Elise, und Johanna, die bisher sprachlos geblieben, legte die flache Hand auf die Brust, hob die Augen zum Himmel und seufzte selig: »Nein, diese Überraschung . . . nein, – die wäre zu groß!«

»Sie werden sich dennoch mit ihr befreunden müssen«, sprach der Herr Direktor, war bereit, einen Eid auf seine Behauptung zu leisten, und sagte endlich, indem er nach der Uhr sah und sich leicht verbeugte: »Sie haben böhmische Papiere, aber nicht die entwerteten, sondern gute, nämlich böhmische Grundentlastungsobligationen. Und somit empfehle ich mich Ihnen bestens, meine Damen.«

Die sonst so überaus feinfühligen Fräulein verstanden diesen Wink trotz seiner Deutlichkeit nicht. Ihr Jubel hatte sich durch Zweifelsnacht an den Tag gerungen und verlangte sein Recht. Die Schwestern fielen dem Herrn Direktor beinahe zu Füßen; sie nannten ihn im Taumel einer Dankbarkeit, die er vergeblich als gegenstandslos bezeichnete, ihren Wohltäter, ihre Vorsehung. Unter Tränen der Begeisterung stellten sie fest, daß er einer der ersten lebenden Geschäftsmänner und der scharfsinnigste Kenner in seinem Fache sei.

Herr Plößl vermochte kaum, sich Gehör zu verschaffen, um den Damen den Antrag zu stellen, die verfallenen halbjährigen Kupons ihrer Obligationen einlösen zu lassen. »Diese sind nämlich noch nicht abgetrennt«, sagte er.

»Oh, oh – wieso?« fragten die Fräulein.

»Hingegen fehlen die Kupons vom Mai 1890», bemerkte der Herr Direktor, und offenbar bestrebt, die gute Meinung, welche die Damen von seinem Scharfsinn hegten, zu rechtfertigen, äußerte er die Vermutung, jene Kupons dürften wohl irrtümlicherweise anstatt der richtigen abgeschnitten worden sein.

Die Betroffenheit, in die Johanna durch die Aufstellung dieser, nur zu bald als richtig erkannten Hypothese versetzt wurde, war groß, wich aber bald neuen Ausbrüchen des reinsten Entzückens. Ein Weilchen wisperten die Schwestern miteinander, dann traten sie an den Direktor heran und trugen ihm die Bitte vor, die von ihm entdeckten Kupons zugunsten seiner Armen einzulösen. Er protestierte auf das ernstlichste, aber da wurden sie höchst aufgeregt, fochten mit den Händen in der Luft herum, hielten sich die Ohren zu und wollten davonhuschen.

»Ihre Obligationen!« rief Plößl, »meine Damen, was geschieht mit Ihren Obligationen?«

»Bleiben in Ihrer Verwahrung!« – »Sind gut aufgehoben«, erwiderten die Fräulein, und – fort waren sie. Sie fühlten das Bedürfnis, zum Grafen zu stürzen, um auch ihm ihren Dank und ihr Glück, besonders aber den Ruhm seines Direktors zu verkündigen. Unterwegs in der freien Luft verflog ihr Wonnerausch ein wenig, und als sie an der Tür des Grafen anlangten, tippte Johanna zagend an den Schellendrücker und beide Fräulein atmeten erleichtert auf, als es hieß: Niemand zu Hause.

Eine gewisse Verlegenheit, eine Art Beschämung lastete einige Tage lang auf den Schwestern, doch machte sie einem wahren Hochgefühle Platz, da ein großer Brief aus der Bank eintraf, der nichts Geringeres enthielt, als – nebst den, leider doch ausbezahlten halbjährigen Interessen ihres Kapitals – einen Depotschein. Einen Depotschein, den Damen direkt zugestellt und im reinsten Geschäftsstil abgefaßt. Die Schwestern lasen, und eine versicherte der andern, sie verstehe jedes Wort. Triumphierend hob Elise das werte Schriftstück empor und schwenkte es wie eine Fahne. Johanna sah verklärten Angesichts zu ihm hinan:

»Die Bank anerkennt unser Guthaben, da steht's!« sprach sie, »was wird Vetter Julius dazu sagen? – Wir erfahren Anerkennung von einer Bank!«

 


 


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