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Vorwärts

Die Saison war endlich überstanden. Gott sei Dank! Man würde wieder in Ruhe arbeiten, seine gemütlichen Skatabende haben können, ohne fortwährend des Alarmrufes gewärtig sein zu müssen, dass heute Diner bei Sr. Excellenz, morgen Souper bei einem unausstehlichen Kollegen – um den man einen grossen Bogen machte, wenn man ihm im Bureau begegnete –, übermorgen – horribile dictu – Jour im eigenen Hause sei.

Mit einem Seufzer der Befriedigung liess der Geheimrat sich in seinen Arbeitssessel fallen, zündete eine Henry Clay an, die noch vom letzten Diner übrig geblieben war, schlug mit nicht übergrosser Hast den Aktendeckel auf, lehnte sich dann wieder in seinen Arbeitssessel zurück und blies blaue Ringe in die Luft. Das war eine tolle Jagd diesen Winter gewesen! Donnerwetter ja, so bunt war es lange nicht hergegangen, wenigstens im eigenen Hause nicht. Er konnte ein kleines, ironisches Lächeln nicht unterdrücken, wenn er an den grossen Apparat dachte, der doch keineswegs zu dem Ziele geführt, um dessentwillen er einzig in Bewegung gesetzt worden war. Ihm konnte es recht sein. Er hatte gar keine Lust, seine kleine Elisabeth schon aus dem Hause zu geben. Aber seine Frau! Sie fing allgemach an, es als eine Art von Fluch zu betrachten, der auf der Familie ruhte, dass Elisabeth mit ihren zweiundzwanzig Jahren nicht schon Frau, mindestens Braut war.

Die Kleine hatte ihren Kopf für sich. Bis jetzt wenigstens war es noch keinem der vielen, von der Mutter bevorzugten Freier gelungen, sich ihr ernsthaft zu nähern.

Der Geheimrat lächelte befriedigt. Es war ihm immer eine Genugthuung, zu denken, dass das frische, gescheidte Mädel sich von der Mutter nicht tyrannisieren liess wie das ganze Haus und er an der Spitze. Und dann lächelte er nicht mehr, denn die Sache hatte nicht nur eine zweite, sondern sogar auch eine dritte Seite, und die sahen beide nicht vergnüglich aus. Die zweite Seite: die Vermögenslage, die nicht danach war, dass man den Aufwand, ein grosses Haus zu machen, um die Tochter zu verheiraten, lange würde aufrecht erhalten können; die dritte die, dass man, wenn Elisabeths rebellisches Herz und ihr selbständiger Kopf am Ende aller Enden für einen unbemittelten Mann sprächen, ein entschiedenes Veto würde einlegen müssen. Ja wenn man es recht überlegte, hatte diese Sache wie ein richtiges Quadrat noch ihre vierte Seite, und zwar eine, über die der Geheimrat mit einem Auge zu lachen, mit dem anderen zu weinen geneigt war, während die Geheimrätin nicht nur mit beiden ganz energisch weinte, sondern sich auch mit allen ihr verfügbaren Mitteln gegen diese vierte Seite in Opposition gesetzt hatte.

Elisabeth, modern vom Scheitel bis zur Sohle, eine glühende Anhängerin der Frauenbewegung, hatte sich's nämlich in den Kopf gesetzt zu studieren, Medizin zu studieren, und wie der Geheimrat im Stillen fürchtete, war die Sache in jüngster Zeit durchaus nicht mehr theoretisch geblieben. Im tiefsten Grunde seines Herzens konnte er seiner Kleinen wegen dieses tapferen Entschlusses nicht einmal ehrlich gram sein. Was konnte ein mittelloses Mädchen, das zu viel Verstand und Charakter hatte, um zu heiraten, nur um versorgt zu sein, heute Besseres thun, als sich auf eigene Füsse stellen? Freilich, wenn es nicht gerade ein so mühseliges und kostspieliges Studium gewesen wäre, auf das die Kleine ihren Kopf gesetzt, wäre ihm diese vierte Seite um ein Bedeutendes acceptabler erschienen.

Der Geheimrat liess die Akten, auf die er sich eigentlich gefreut hatte, Akten sein, stiess auch keine blauen Ringe aus seiner Henry Clay mehr in die Luft, sondern sass, den Kopf in die Hand gestützt, sinnend da, die Zukunft seines Lieblings überdenkend. So überhörte er es, dass ein paar mal leise an die Thür seines Arbeitszimmers geklopft wurde, und dann die Thür hinter der schweren Portiere sich öffnete.

»Herr Geheimrat!«

Der in Gedanken Verlorene fuhr, ärgerlich über die Störung, herum.

»Was giebt es denn?«

»Herr Geheimrat! Die Frau Geheimrat lassen bitten, ob sie den Herrn auf ein paar Minuten sprechen könne. Es wäre was Wichtiges.«

Im ersten Augenblick kam ihm der Gedanke, sich bei seiner Frau entschuldigen zu lassen. Dann sagte er sich, dass ein Ausweichen absolut keinen Sinn habe. Nach einer Viertelstunde würde das Mädchen wiederkommen, nach einer halben zum dritten Mal und so fort. Besser, er machte die Geschichte gleich ab. Jedenfalls wieder irgend eine häusliche Lappalie, die zu einer gewichtigen Debatte aufgebauscht werden sollte. Er würde in keinem Fall Obstruktion machen, sondern gleich Ja und Amen sagen; um so schneller war er die Sache los.

Er fand seine Frau in hochgradiger Erregung. Sie erzählte ihm mit fliegender Hast, dass sie eine Unterredung mit Elisabeth gehabt habe. Jetzt sei das Mädel wie gewöhnlich davongelaufen, ohne zu sagen, wohin. Ein wahres Glück, dass das nun bald ein Ende nehmen würde – denn diesmal – diesmal täusche sie sich nicht – und nach den Andeutungen, die Elisabeth selbst ihr eben gemacht – sie hätte doch recht gesehen, so viel er es auch bestritten habe – der Professor Heitlinger – vom ersten Augenblick ab habe sich da was abgespielt – und wenn sie auch die Verhältnisse nicht genau kennte – ein so berühmter Kliniker – er solle ja die Seele von ganz Heidelberg sein – und während der paar Wochen, dass er sich hier aufhalte – man munkelte davon, dass es wegen einer hochgestellten Persönlichkeit sei – solle man in Heidelberg ja völlig den Kopf verloren haben.

Der Geheimrat hatte seine Frau ruhig ausreden lassen. Das ironische Lächeln, das seinen feingeschnittenen, klugen Mund umspielte während sie sprach, konnte er freilich nicht zurückhalten. Endlich meinte er gelassen:

»Du wirst doch nicht im Ernst daran denken, dass unsere Kleine und dieser gewiss sehr berühmte Herr Professor, der ihr Vater sein könnte, denn ich taxiere ihn ungefähr auf meine Jahre –«

Sie unterbrach ihn rasch, pikiert die Unterlippe vorschiebend. »Es genügt ja für Dich, wenn ich etwas bejahe, es prinzipiell zu verneinen. Ich bin es gewöhnt, und es chokiert mich weiter nicht. Ich wollte Dir auch nur mitteilen, dass, um die Sache zu einem raschen, glücklichen Ende zu führen, wir noch eine Gesellschaft geben werden –«

Der Geheimrat verfärbte sich. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen.

»Und zwar am nächsten Sonnabend. Weiter ins Frühjahr hinein schickt es sich nicht mehr so recht. Nicht zu klein, nicht zu gross, ein Abendrout, ich denke so zwischen vierzig und fünfzig Personen, das giebt den jungen Leuten die beste Gelegenheit sich endgiltig zu finden und gründlich auszusprechen.«

Sie nahm ein mit Buchstaben und Zahlen beschriebenes Papier von dem Tischchen, an dem sie auf einem kleinen Rundsopha sass.

»Hier, wenn Du die Liste durchsehen willst –«

Er machte eine schwach abwehrende Bewegung mit der Hand. »Lass nur, lass! Du wirst das sehr gut zusammengestellt haben.«

Dann gab er sich noch einen letzten Ruck.

»Sag' mal, Clotilde, ist es denn, das heisst, ist die Gesellschaft durchaus nötig? Ich meine, wenn diese Beiden wirklich –«

Eine majestätische Handbewegung unterbrach die kaum begonnene schüchterne Einwendung.

»Es wird natürlich arrangiert wie immer. Deine Zimmer werden ausgeräumt. In Dein Arbeitszimmer kommt das Büffet, Dein Schlafzimmer wird Damengarderobe – das Essen wird bei Huster bestellt, die Weine übernimmst Du. Der Professor hat jedenfalls eine feine Zunge für Rheinweine, vergiss das nicht!«

Der Geheimrat war aufgestanden und wandte sich in geknickter Haltung zur Thür.

»Noch eins, lieber Wilhelm! – Könntest Du wohl –« hier machte sich zum ersten Mal eine kleine Stockung in dem Redefluss der Geheimrätin geltend – »etwa zweihundert Mark als Vorschuss für nächsten Monat – Elisabeth braucht auch noch ein neues Kleid – eine junge Braut –«

Er war schon in der Thür.

»Schön, schön! Morgen Mittag sollst Du das Geld haben.«

*

Alles ging programmmässig seinen Weg. Der Geheimrat wurde ausquartiert, das Essen wurde bei Huster bestellt, Elisabeths neues Kleid angefertigt, und am Sonnabend schwatzten und drängten sich in den völlig auf den Kopf gestellten Räumen des geheimrätlichen Paares ungefähr fünfzig Personen durcheinander.

Elisabeth hatte zu dem Arrangement ihrer Mutter kein viel freundlicheres Gesicht gemacht als der Vater. Erst gegen Ende des Routs, als sie mit dem Professor gemütlich in einer Ecke von Papas ausgeräumtem Arbeitszimmer sass, war wieder Sonnenschein in ihr hübsches, kluges Gesicht gekommen, oder vielmehr etwas wie ein heiliges Feuer der Begeisterung.

Als der berühmte Mann dann bald darauf als einer der ersten gegangen war, hatte er der kleinen Elisabeth verständnisinnig die Hand gedrückt, was von der Geheimrätin mit stolzer Genugthuung vermerkt und kolportiert worden war.

Nachdem der Strom der Gäste sich verlaufen hatte, rief die beglückte Mutter ihre Tochter vor das durch ähnliche Anlässe bereits historisch gewordene Rundsopha. Zärtlicher, als es sonst ihre Art war, strich sie dem Kinde über die runden, weissen Schultern.

»Hast Du mir nichts zu sagen, Elisabeth?«

»Doch ja, Mama,« das hübsche Gesichtchen rötete sich, »aber ich möchte gern, dass auch der Papa –«

»Sprich nur, mein Kleines, ich höre schon!« brummte eine Stimme aus verborgenem Winkel.

»Nun denn, Mama – Papa – der Herr Professor –« hier stockte das Mädchen.

»Sprich nur, Elisabeth – ich höre es gern!«

Elisabeth sah die Mutter verwundert an.

»Wie denn, Mama, mit einem Mal?«

»Es war ja doch lange mein Wunsch, dass Du, mein gutes Kind, glücklich werden solltest. Ich gebe Dir meinen Segen.«

Die Kleine umschlang die Mutter stürmisch.

»Also Du hast nichts mehr dagegen – Du auch nicht, Papa –? Ihr erlaubt es? – Oh, dann bin ich wahrhaftig glücklich! In acht Tagen reis' ich mit dem Professor ab, er nimmt mich, wie ich bin.«

Die Geheimrätin glaubte ihren Ohren nicht mehr zu trauen. In acht Tagen, ohne Ausstattung, ohne grosse, feierliche Hochzeit? – War das Mädchen komplett verrückt geworden? Dass ihre Tochter den älteren Mann mit solcher Glut liebte, war ihrer Beobachtung denn doch entgangen.

»Er meinte, es liesse sich noch alles nachholen, nur jetzt dürfe keine Minute mehr versäumt werden.«

Die Geheimrätin fasste sich an den Kopf. Der Geheimrat, der aus seinem Winkel gekommen war, stand schmunzelnd daneben. Er hatte die Situation längst begriffen.

Elisabeth sah verwundert von einem zum anderen.

»Ja, Mama, Du sprichst ja kein Wort –«

»Was soll ich sagen? Ich bin chokiert, diese Eile!«

»Die thut allerdings not,« gab Elisabeth resolut zurück. »Der Professor installiert mich irgendwo, ganz einfach und billig bei kleinen Leuten –«

»Er installiert sie bei kleinen Leuten!« Die Geheimrätin hauchte es mehr, als sie es sprach, und sank vernichtet in die Polster des Rundsophas zurück.

»Und die Kollegiengelder –« fragte der Geheimrat mit trockenem Humor, »wer zahlt die?«

»Der Alte!« rief die Kleine keck und hing sich an seinen Hals.

Er hielt die Hand fest, die ihm liebkosend ums Kinn gefahren war.

»Racker!« sagte er und zog sie zur Mama.

»Liebe Clotilde! Ich habe die Ehre, Dir den künftigen stud. med. und das noch künftigere Fräulein Doktor Elisabeth Walter vorzustellen, Schülerin des berühmten Klinikers Professors Dr. Heitlinger an der Universität zu Heidelberg.«

Die Geheimrätin sprang auf.

»Was? Das ist –?« Sie wollte noch mehr sagen, aber der Geheimrat fiel ihr diesmal wirklich ins Wort:

»Des Pudels Kern, ja. Du hast nun einmal Deinen Segen gegeben. Zurück kannst Du nicht mehr.«

»Nein, Mama, und das wirst Du auch nicht wollen, denn »Vorwärts!« heisst heute die Devise.« Und dabei leuchteten Elisabeths Augen in einem so hellen, ehrlichen Feuer auf, dass keiner der beiden den Mut fand, ein ferneres Wort zu sagen. Still hielten sie sich bei den Händen, während die letzten Lichter, die dem konventionellen Gesellschaftsrout geleuchtet hatten, niederbrannten.


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