George du Maurier
Trilby
George du Maurier

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Siebenter Teil.

»Schauerlich weht der Wind,
Wo das verlass'ne Kind
Wandert allein.
Ich seh' ein bleich Gesicht
Im blassen Mondenlicht –
Lieb, kannst Du's sein? –«
       

Am nächsten Morgen standen die drei Freunde erst spät auf und frühstückten in ihrem Zimmer. Die gestörte Nachtruhe war schuld daran – sogar der Laird hatte sich bis zum Tagesgrauen schlaflos auf dem Lager gewälzt. Bald staunte er über das Wunder, daß Trilby von den Toten auferstanden war, bald quälten ihn Zweifel, ob es auch wirklich Trilby sei.

Er war sehr musikalisch veranlagt und konnte einzelne Takte und Töne, die sie gesungen hatte, gar nicht aus dem Kopf bringen. Sie klangen so lockend und verführerisch, bald lustig, bald traurig; die Sehnsucht, sie wieder zu hören, ließ ihm keine Ruhe und verscheuchte ihm den Schlaf. Besonders die alte, ureinfache Melodie ›Ben Bolt‹ wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn; sie umgaukelte ihn mit 326 immer neuen, schönen, nie gehörten Klängen, die fort und fort widerhallten in seinem müden Hirn.

Den Rest des Vormittags brachten sie im Louvre zu. Sie hofften sich an der ›Hochzeit zu Cana‹, den ›Mädchen am Brunnen‹, der kleinen Prinzessin von Velasquez und Lisa Giocondas Lächeln ergötzen zu können, allein das war ein vergeblicher Versuch. Es gab ja in ganz Paris nichts, was des Ansehens wert war, außer Trilby in ihrem golddurchwirkten Gewand. Sie stellte alle Prinzessinnen der Welt in den Schatten, und kein Lächeln kam dem ihrigen gleich, während Chopins Impromptu von ihren Lippen perlte. Die Freunde konnten sich nur kurze Zeit in Paris aufhalten und noch einmal wenigstens mußten sie von dem köstlichen Liederquell trinken – coûte que coûte!

Als sie sich im Zirkus der Baschi-Bozuks Eintrittskarten verschaffen wollten, erfuhren sie jedoch, daß das ganze Haus für die nächsten Tage und Wochen ausverkauft sei; man fing bereits an, vor der Thür Queue zu machen, und sie sahen ein, daß sie wohl oder übel darauf verzichten mußten, ihren heißen Durst zu stillen.

Bei dem Gabelfrühstück, das sie im nächsten Restaurant einnahmen, wollte kein Gespräch in Gang kommen. Sie griffen nach den Morgenblättern und lasen Kritiken des Konzerts, welche von Lobsprüchen überflossen. Aber nichts war ihnen gut genug; man hätte funkelnagelneue Wörter dazu haben müssen!

327 Sie hielten es nun für das Beste, einen langen Spaziergang zu machen, doch fiel ihnen in dem ganzen ungeheuren Paris kein einziger Ort ein, den sie aufsuchen konnten, und sie hatten sich doch vorgenommen, so viel Schönes zu sehen und zu genießen, daß eine Woche gar nicht dazu ausreichte.

In einer Zeitung fanden sie die Anzeige, daß das Musikkorps der kaiserlichen ›Guiden‹ am Nachmittag im Bois de Boulogne auf dem Pré Catelan spielen würde. Warum sollten sie nicht dorthin gehen und rechtzeitig wieder zurück sein, um bei den Passefils zu speisen. Viel Vergnügen versprachen sie sich nicht von dieser Gesellschaft, aber es war doch ein Mittel, die Zeit totzuschlagen, da sie es sich nun einmal versagen mußten, Trilby zu hören.

Vor dem Pré Catelan war ein großes Gedränge von Droschken, Wagen und Reitpferden, welche die Stallknechte am Zügel hielten; man hätte glauben können, es sei noch die Höhe der Saison. Die Freunde traten in den Kaffeegarten, schlenderten hierher und dorthin, hörten ein paar Stücken der berühmten Kapelle zu und studierten die Pariser Welt nach dem Leben.

Plötzlich sahen sie neben drei Damen, von denen die älteste Trauer trug, einen schmucken Offizier von den Guiden in Rot, Grün und Gold sitzen, der niemand anders als ihr Freund Zouzou sein konnte. Sie grüßten; er erkannte sie sofort, sprang auf und schüttelte ihnen herzlich die Hand, 328 besonders seinem alten Freunde Taffy, den er zu seiner Mutter – der Dame in Schwarz – führte und auch den beiden andern Damen vorstellte. Die Häßlichkeit der jüngeren war so augenfällig und Mitleid erregend, daß mir der Versuch, sie zu beschreiben, wie eine Gefühllosigkeit vorkommen würde. Es war Miß Lavinia Hunks, die berühmte Millionärin, mit ihrer Mutter.

Der gute Zouzou kehrte darauf zu dem Laird und dem kleinen Billy zurück. In seinem Wesen ließ sich eine gewisse, unbeschreibliche Veränderung nicht verkennen, die sehr herzoglich war. Schon die hübsche Uniform gab ihm ein vornehmes Ansehen; er sprach mit der verbindlichsten, bestrickendsten Höflichkeit; erkundigte sich aufs angelegenste nach dem Befinden von Frau Bagot und ihrer Tochter und bat, ihn den Damen bestens zu empfehlen. Auch äußerte er seine aufrichtige Freude darüber, wie kräftig und gesund der kleine Billy aussähe, obgleich dieser in Wirklichkeit nach der schlaflosen Nacht einem verkümmerten kleinen Gespenst glich.

Die Rede kam nun auf Dodor, und Zouzou versicherte, er werde ihm stets die größte Anhänglichkeit bewahren, es sei jedoch ein beklagenswerter Mißgriff gewesen, daß Dodor die Armee verlassen habe, um in ein Ladengeschäft (petit commerce) einzutreten. Dadurch habe er seine Stellung in der Welt eingebüßt (dégringolé). Wäre er bei den Dragonern geblieben, so hätte er sich mit etwas Geduld und guter Aufführung doch die Epauletten 329 verdienen können – und es wäre ein Leichtes gewesen, ihm zu einer Frau zu verhelfen – un parti convenable – denn Dodor war ja »très joli garçon, bonne tournure – et très gentiment né. C'est très ancien, les Rigolot – dans le Poitou, je crois – Lafarce et tout ça; tout à fait bien!«

Es war nicht leicht, sich vorzustellen, daß dieser gebildete, verständige und etwas herablassende junge Mann derselbe war, der damals in der Rue Vieille des Mauvais Ladres auf allen Vieren dem Hut des kleinen Billy nachgekrochen war und ihn im Munde zurückgebracht hatte, wie ein Jagdhund seine Beute.

Der kleine Billy ahnte nicht, daß Monsieur le Duc de la Rochemartel-Boisségur erst kürzlich, zum Entzücken einer kleinen, auserwählten kaiserlichen Abendgesellschaft in Compiègne jene Geschichte mit allen Einzelheiten erzählt hatte. Nicht nur die Rolle, die er selbst dabei gespielt, schilderte er aufs lebendigste, sondern er gedachte auch des kleinen Billy mit rührenden Worten: »le joli petit peintre anglais, qui s'appelait Kleinerbili, et ne pouvait pas se tenir sur ses jambes – et qui pleurait d'amour fraternel dans les bras de mon copain Dodor!«

»Ah Monsieur Gontran! ce que je donnerais pour avoir vu ça!« hatte die vornehmste Dame Frankreichs gesagt. »Un de mes zouaves à quattre pattes - dans la rue - un chapeau dans la bouche - oh - c'est impayable!«

330 Zouzou gab seine Erlebnisse als Bruder Liederlich ausschließlich im engsten kaiserlichen Zirkel zum Besten, dem er sich heimlich anschloß, wie man munkelte. In der übrigen Welt, besonders in der crème du noble Faubourg (das sich von den Tuilerien fern hielt), benahm er sich als eine würdige, standesgemäße Persönlichkeit, wie sein verstorbener Bruder, und war nach der Ansicht seiner liebenden Mutter très bien pensant, très bien vu, à Frohsdorf et à Rome.

Er stellte den kleinen Billy und den Laird weder seiner Mutter, noch Mrs. und Miß Hunks vor; dieser Ehre wurde nur Taffy, der ›Vollblutmensch‹, teilhaftig; auch fragte er sie nicht, wo sie abgestiegen wären, und lud sie nicht ein, ihn zu besuchen. Beim Abschied sagte er nur, es habe ihm die größte Freude gemacht, sie wiederzusehen, und er hoffe, sie eines Tages in London zu begrüßen.

Während die Freunde nach Paris zurückgingen, kam es heraus, daß der Vollblutmensch von der Duchesse Mère (Maman Duchesse, wie Zouzou sie nannte) eingeladen worden sei, bei ihr mit den Damen Hunks zu speisen. Der Herzog hatte sein Hotel de la Rochemartel in der Rue de Lille vermietet (an Mrs. Hunks) und mit seiner Mutter eine möblierte Wohnung auf dem Vendômeplatz bezogen. Auch ihren Landsitz, le château de Boisségur bewohnten sie nicht mehr. (Monsieur Despoires oder de Poires, wie es auf seinen Visitenkarten hieß, der berühmte Seifenfabrikant, 331 hatte sich darin häuslich niedergelassen. »Un très brave homme à ce qu'on dit!« Sein einziger Sohn heiratete, nebenbei gesagt, bald darauf Mademoiselle Jeanne-Adelaïde d'Amaury-Brissac de Roncesvaulx de Boisségur de la Rochemartel.)

»Il ne fait pas gras chez nous à présent - je vous assure,« hatte Madame Duchesse Mère feierlich zu Taffy gesagt, ihm aber gleich zu verstehen gegeben, daß die Verhältnisse ihres Sohnes sich bedeutend bessern würden, falls seine Heirat mit Miß Hunks zustande käme.

Der kleine Billy geriet ganz außer sich, als er das hörte. »Barmherziger Himmel,« rief er, »doch nicht die kleine, blau aufgeputzte Vogelscheuche? Sie ist ja verwachsen – sie schielt, sieht ganz blödsinnig aus und wie eine Zwergin. Mag sie noch so viele Millionen haben – wer sie heiratet, begeht ein Verbrechen. Ein Mann mit gesunden Gliedern sollte lieber Steine klopfen, als eine solche Frau nehmen, wenn er es nicht aus reiner Liebe und Güte thut – und selbst dann gereicht es ihm nicht zur Ehre, denn er beschimpft seine Vorfahren noch im Grabe und thut seinen Nachkommen ein Unrecht an, das nicht wieder gut zu machen ist; er nimmt ihnen Saft und Kraft und zerknickt sie in der Knospe. Seine Mitmenschen sollten sich von ihm lossagen, ihn in den Bann thun – ins Gefängnis, ins Zuchthaus auf Lebenszeit. Wenn er stirbt, müßte er in eine besondere Hölle kommen!«

332 »Schweig still mit deinen gotteslästerlichen Reden, du kleiner Wüterich,« sagte der Laird. »Wer weiß, wohin du selbst noch einmal kommst bei solchen entsetzlichen Gesinnungen. Mit was für Geld könnte man denn die schönen Herzogtümer aus dem zwölften Jahrhundert instand halten? Es wäre ein Unglück, wenn man auf dich hörte.«

Taffy, zu au grand sérieux, wie gewöhnlich, sah nicht, wie der Laird mit den Augen blinzelte. »Hol' der Henker die ganze Feudalherrlichkeit,« rief er, »der kleine Billy hat recht und Zouzou handelt abscheulich. Aber sie ist gerade so schlecht; sie nimmt ihn auch nicht um seiner Schönheit willen, darauf möchte ich wetten. An eine Heirat dürfte sie überhaupt nicht denken. Sie ist seine Mitschuldige, seine Helfershelferin, particeps delicti. An den Pranger mit ihnen, samt der Maman Duchesse! Wahrscheinlich habe ich auch deshalb ihre Einladung ausgeschlagen. Kommt jetzt und laßt uns mit Dodor zu Mittag essen – seine Braut heiratet ihn wenigstens nicht, um Herzogin zu werden, nicht einmal wegen seines ›de‹, sondern pour ses beaux yeux. Wenn die künftigen kleinen Rigolots nicht ganz so hübsch und lustig werden, wie ihr Erzeuger, so schadet das nicht, wenn sie nur im übrigen eine verbesserte Auflage von ihm sind. Das wäre in vieler Beziehung wünschenswert.«

»Hört, hört!« rief der kleine Billy nach Taffys hochtrabendem Gefühlserguß.

333 Dann gingen sie schweigend weiter und dachten bei sich, wie verkehrt doch die Dinge im allgemeinen eingerichtet sind. Welche prächtige kleine Wynnes, Bagots oder Mc Alisters hätten geboren werden können, um den Verfall der entarteten Menschheit aufzuhalten, hätte es im Buch des Schicksals gestanden, daß eine gewisse Trilby u. s. w. u. s. w.

Mrs. und Miß Hunks kamen zu einer vornehmen, blauen Barouche mit Sprungfedern – un ›huit-ressorts‹ – an ihnen vorüber; Maman Duchesse in einem Mietswagen; Zouzou ritt vorbei und sie sahen tout Paris des Weges fahren, ohne daß es ihnen einen großen Eindruck machte. Ja sie kamen sogar überein, daß es im Hyde-Park während der Londoner Saison noch ganz anders herginge.

Als sie auf dem Platz de la Concorde anlangten, dämmerte es kaum, doch brannten schon Lampen und Laternen in den Läden, auf den Straßen und unter den Bäumen. Das ist für eine große Stadt an einem hellen Herbsttage die schönste Zeit und ein prächtiger Anblick, der nur leider allzu flüchtig ist. Um den Genuß noch zu erhöhen, ging diesmal gleich nach Sonnenuntergang der gelbliche Mond im Osten von Paris auf und schwebte hoch über den Schornsteinen der Tuilerien.

Die Freunde blieben stehen und betrachteten den langen Zug der heimwärts fahrenden Droschken und Wagen, wie 334 sie es früher so oft gethan; – Paris kam noch immer vorüber; tout Paris ist sehr lang.

Als sie so mitten in einer Gruppe anderer Zuschauer standen, der kleine Billy ganz vorn am Fahrweg, kam ein prachtvoller offener Wagen, mit glänzendem Geschirr und Livreebedienten, in fast kaiserlichem Staat daher.

Darin saßen, bequem zurückgelehnt und in kostbare Pelze gehüllt, Monsieur und Madame Svengali. Er trug einen breitkrempigen, weichen Filzhut auf dem schwarzen Lockenhaar und rauchte eine große Havanazigarre. Die Svengali neben ihm, hatte einen zierlichen runden Sammethut auf und trug das hellbraune Haar in einem großen Knoten tief im Nacken. Trotz Schminke und Puder und trotz der entstellenden schwarzen Farbe unter ihren Augen, war sie eine herrliche Erscheinung, und ihr Anblick erregte nicht geringes Aufsehen unter der Menge, an der ihr Wagen langsam vorbeifuhr.

Das Herz des kleinen Billy schlug zum Zerspringen. Er begegnete dem Blick Svengalis und sah, daß dieser sich zu seiner Nachbarin beugte, der er einige Worte zuflüsterte. Sie wandte den Kopf, schaute nach dem kleinen Billy hin, und auch Svengali sah ihn an. Statt aber seinen Gruß zu erwidern, starrten sie beide nur verächtlich zu ihm hinüber und fuhren weiter; er hörte sie noch zusammen lachen und kichern, als gelte es den besten Spaß der Welt.

335 Der kleine Billy war wie vernichtet: ihn schwindelte, alles schien sich mit ihm im Kreise herum zu drehen. Der Laird und Taffy hatten den Vorgang genau verfolgen können, während die Svengalis ihrer offenbar nicht ansichtig geworden waren.

»Es kann nicht Trilby sein!« rief der Laird. »Sie wäre außer stande, das zu thun; sie hätte es nicht über das Herz gebracht, davon bin ich überzeugt. Und ihr Gesicht ist ganz anders.«

Auch Taffys Glaube war erschüttert, und ernstliche Zweifel stürmten auf ihn ein. Die Freunde stützten den kleinen Billy auf beiden Seiten und führten ihn nach dem Boulevard hinüber. Er war ganz fassungslos, weigerte sich, mit ihnen zu den Passefils zu gehen und wollte auf der Stelle nach Hause reisen. Wie er sich als kleiner Knabe nach seiner Mutter gesehnt hatte, wenn ihn ein Kummer drückte und sie nicht in seiner Nähe war, so konnte er es auch jetzt nicht ohne sie aushalten; er wollte sich von ihr in die Arme schließen lassen und sie mit Zärtlichkeiten überschütten wie seit Jahren nicht. Seine alte Kindesliebe war mächtig in ihm erwacht, samt der Liebe zu seiner Schwester und zur alten Heimat.

Als sie ins Hotel zurückkehrten, um sich anzukleiden (Dodor hatte sie gebeten, sich ganz besonders fein zu machen, weil das seiner Schwiegermutter Hochachtung einflößte), wurde der kleine Billy förmlich aufsässig und widerspenstig. 336 Nur durch das Versprechen, am nächsten Morgen mit ihm nach Devonshire abzureisen und dort längere Zeit bei ihm zu bleiben, konnte Taffy ihn endlich bewegen, der Einladung Folge zu leisten.

Der große Taffy war ein Gefühlsmensch; er lebte einzig und allein für seine Freunde und hatte deren doch nur wenige – den Laird, Trilby und den kleinen Billy.

Trilby war unerreichbar, der Laird stark und unabhängig genug, um ohne ihn fertig zu werden; folglich wandte Taffy sein ganzes Herz voll schützender, tragender Liebe dem kleinen Billy zu und er hätte jede Last und Verantwortlichkeit über sich genommen, welche solche väterliche Fürsorge ihm auferlegte.

Denn, erstens war dem kleinen Billy immer alles mit Leichtigkeit gelungen, was der gute Taffy selbst nicht ausführen konnte, wie sehr er sich auch mühte, und das erfüllte ihn mit der größten Bewunderung und Verehrung. Zweitens besaß der kleine Billy weder Körperkraft noch Selbstbeherrschung, war aber großmütig, liebenswürdig, zärtlich und ganz ohne Falsch, Eigennutz und Dünkel. Er hatte auch die Gabe, durch seine Unterhaltung zu fesseln und zu erfreuen, und wenn er schwieg, fühlte man sich ebenso befriedigt – man war seiner so sicher. Das alles erhöhte noch Taffys Liebe, und er hätte dem kleinen Billy mit Freuden jedes Opfer gebracht.

Andrerseits wußte auch der kleine Billy, was er an 337 dem großen Taffy hatte, dessen Kleinigkeitskrämerei, Heftigkeit und harmlose Eitelkeit auf seine Stärke, nur Fehler waren, die als Deckmantel seiner vortrefflichen Eigenschaften dienten: ein gesundes Urteil, echte Bescheidenheit, Langmut, Aufrichtigkeit, Teilnahme und die hingebendste Treue, auf die man sich felsenfest verlassen konnte. Dazu kam noch seine ganze, mächtige Persönlichkeit, seine Riesengestalt mit den breiten Schultern und dem Stiernacken, auf dem der kleine runde Kopf wie bei einem Gladiator eingefügt saß, die starken Muskeln, die gewölbte Brust, die schlanken Hüften, der athletische Gliederbau, die Anmut und Kraft in jeder Bewegung, so daß es ein Vergnügen war ihm zuzusehen, und jedes Kleidungsstück sich vorteilhaft ausnahm, wenn er es am Leibe trug – das alles war für den raschen, feinfühligen Künstlerblick des kleinen Billy ein fortdauernder Genuß. Wenn Taffy die Feuerzange so ernst und feierlich über dem Nacken krumm bog und auf dem Arm zerbrach; wenn er fast so hoch sprang wie er selber war, Lehnstühle mit einer Hand an einem Bein in die Luft hob und ähnliche Proben seiner Kraft ablegte – dann mußte man ihn lieb haben.

So gab es denn kein Opfer, das der kleine Billy nicht mit Freuden von dem großen Taffy angenommen hätte, als selbstverständlichen Tribut, wie ihn die Körperstärke dem Genius zollt.

Ein edles Brüderpaar, sich ergänzend, und wie geschaffen für einen festen unauflöslichen Freundschaftsbund.

338 Für die Kurzweil bei dem Familienschmaus im Hause Passefil sorgten der unwiderstehliche Dodor und der Laird von Cockpen, der bei dieser Gelegenheit sein Äußerstes that. Er sprang mit der französischen Grammatik und Aussprache ganz nach Gutdünken um und hatte als Spaßmacher nicht seinesgleichen. Monsieur Passefil war in seiner Art auch unterhaltend; er besaß einen munteren Witz, wie ihn der wohlhäbige Bourgeois von gesetztem Alter, falls er nicht großprahlerisch ist, überall zu lieben scheint (oft prahlt er auch und ist witzig zugleich).

Madame Passefil war nicht scherzhaft aufgelegt. Taffys aristokratische Erscheinung, die feine Bildung und romantische Schwermut des kleinen Billy und die ruhige, natürliche Höflichkeit der drei jungen Leute erfüllte sie mit ehrfurchtsvoller Scheu. Sie nannte Dodor immer Monsieur de Lafarce, während die übrigen Familienglieder und ein paar Bekannte, die auch eingeladen waren, ihn mit Monsieur Théodore anredeten, und er für gewöhnlich Monsieur Rigolot hieß. Jedesmal, daß Madame Passefil seinen aristokratischen Namen aussprach (was sehr häufig geschah), blinzelte Dodor seinen Freunden verstohlen zu; es schien ihn ausnehmend zu belustigen.

Mademoiselle Ernestine war offenbar zu liebeselig um überhaupt etwas zu sagen; sie verwandte kaum einen Blick von Monsieur Théodore, den sie zum erstenmal im Gesellschaftsanzug sah. Er nahm sich auch wirklich allerliebst 339 aus – sogar noch herzoglicher als Zouzou – und es war kein Wunder, wenn die glänzende Aussicht, Madame de Lafarce und die Gemahlin eines solchen Gatten zu werden, Mademoiselle Ernestine etwas den Kopf verdrehte.

Sie war nicht schön, aber gesund, gut gewachsen, wohlerzogen und vermutlich liebenswürdig und freundlich von Gemüt. Dodor hatte entschieden ein besseres Los gezogen als der Herr Herzog, wenn er seine Braut, die eben erst aus dem Kloster kam und ohne Zweifel noch unschuldiger war als ein Kind, frischweg heimführte. Um etwaige kleine Dodors brauchte man sich keine Sorge zu machen.

Nach Tische begaben sich die Herren mit ihren Damen in einen hübschen kleinen Salon, der nach dem Boulevard hinausging. Man durfte dort Zigaretten rauchen und es wurde Musik gemacht. Mademoiselle Ernestine spielte mit großem Eifer ›Les Cloches du Monastère‹ von Lefébure-Vély, wenn ich nicht irre. Es ist das kleinbürgerlichste Klavierstück, das ich kenne. Dann sang Dodor mit seiner schönen Tenorstimme, die einen seltsam ergreifenden und gefühlvollen Klang hatte, allerlei hübsche, unschuldige, französische Liedchen (sein Vorrat schien unerschöpflich zu sein), bei denen ihn seine künftige Gattin aufs gewissenhafteste begleitete:

»Petit enfant, j'aimais d'un amour tendre
Ma mère et Dieu - saintes affections!
Puis mon amour aux fleurs se fit entendre,
Puis aux oiseaux et puis aux papillons!
«

340 Die ganze Familie war entzückt, fast bis zu Thränen gerührt, während der Sänger bei den schönsten Stellen den Zeigefinger an die Nase legte und dem Laird zublinzelte, der sich köstlich darüber amüsierte.

Natürlich sprach man auch von dem Wunder des Tages, der Svengali, das war ganz unvermeidlich. Unsere Freunde hielten es für unnötig, zu verkünden, daß sie ›la grande Trilby‹ war; es würde schon früh genug an den Tag kommen.

Und richtig, ehe noch eine Woche verging, hatten alle Zeitungen die wunderbarsten Dinge zu berichten: Madame Svengali – ›la grande Trilby‹, war die einzige Tochter seiner Ehrwürden des hochgeborenen Lords O'Ferrall. Um ein freies, lustiges Leben unter den Pariser Künstlern des Quartier latin führen zu können, une vie de bohème – war sie aus den Urwäldern und dem einsamen Marschland von le Dublin entflohen.

Sie war blanche comme la neige, avec un volcan dans le coeur, eine Venus Anadyomene vom Scheitel bis zur Sohle.

Abgüsse ihrer Alabasterfüße konnte man in der Rue de la Souricière St. Denis bei Brucciani kaufen; (er erwarb sich ein Vermögen damit).

Der große Ingres hatte ihren linken Fuß in einem Atelier auf dem Platz St. Anatole des Arts an die Wand gemalt und ein schottischer Milord und Sonderling (le Comte de Pencock) hatte das Haus samt Atelier und Wand 341 gekauft und es niederreißen lassen, die Wand mit der Skizze aber unter Glas und Rahmen nach seinem Schloß in Edinburg geschickt.

Dies war leider nicht der Wahrheit gemäß. Es hatte sich herausgestellt, daß der Wunsch des Laird sich unmöglich erfüllen ließ, weil die Mauer aus zu sprödem Stein bestand. So mußte denn der Comte de Pencock – dies war Madame Vinards Lesart von Sandys Spitznamen – von dem Handel abstehen.

Am nächsten Morgen rüsteten sich unsere drei Freunde zur Abreise. Selbst der Laird hatte genug von Paris und sehnte sich danach, wieder vor seiner Staffelei zu sitzen; er arbeitete an einem Hari-kari in Yokohama. (In damaliger Zeit war noch niemand in Japan gewesen und er auch nicht).

Sie hatten ihr Frühstück in der Glashalle des Hotels eingenommen, wo, wie gewöhnlich, jeder Tisch besetzt war. Billy ging zum Postbureau des Hotels hinauf um noch einen Brief an seine Mutter abzugeben. Plötzlich schrak er zusammen – seitwärts an einem kleinen Tisch, dort im Bureau, saß Svengali, seine Briefe lesend. Außer ihm befanden sich nur noch einige Schreiber in dem Raum.

Der kleine Billy stand unmittelbar vor Svengali; er bebte vor Erregung und wollte schon die Hand ausstrecken, zog sie aber wieder zurück, als er den haßerfüllten Ausdruck in Svengalis Mienen gewahrte.

342 Der Deutschpole hatte schnell seine Briefe zusammengerafft und eilte nach der Thür. Als er bei dem kleinen Billy vorbeikam, schimpfte er ihn »verfluchter Schweinehund« und spie ihm ins Gesicht.

Der kleine Billy stand einen Augenblick wie versteinert, dann lief er Svengali nach, holte ihn bei der Marmortreppe ein, schlug ihm den Hut vom Kopfe und trat nach ihm mit den Füßen. Svengali ließ seine Briefe fallen, wandte sich um und versetzte seinem Gegner einen Schlag ins Gesicht, daß er blutete. Nun hieb der kleine Billy um sich wie ein Wütender, doch konnte er nicht zu Svengali hinaufreichen, der über sechs Fuß maß.

Sofort sammelte sich eine Menschenmenge um die Streitenden; auch der schöne alte Mann mit der Halskette war darunter. Vite, vite! un commissaire de police! schrie er und der Ruf ging weiter von Mund zu Munde.

Taffy sah den Aufruhr. »Bravo, Kleiner!« rief er, sprang auf und drängte sich zu dem kleinen Billy hin, der in Schweiß gebadet, blutend und keuchend dastand.

»Er hat mich angespieen, Taffy,« stammelte er, »der verfluchte Kerl! Kein Wort hatte ich noch mit ihm gesprochen – das kann ich beschwören!«

Svengali kam Taffys Anwesenheit völlig unerwartet; er erkannte ihn auf der Stelle und wurde kreideweiß.

Taffy hatte hundelederne Handschuhe an; er faßte mit raschem Griff Svengalis Nase zwischen Zeigefinger und 343 Mittelfinger seiner rechten Hand und schüttelte ihm den Kopf tüchtig nach allen Seiten hin und her, während Svengali sich an sein Handgelenk klammerte. Dann ließ er ihn los und verabreichte ihm noch einen lautschallenden Backenstreich. Das war kein Spaß, denn wem Taffy auch nur beim Spiel eins versetzte, dem wurde grün und gelb vor den Augen.

Svengali keuchte noch ärger als vorhin der kleine Billy und brachte zuerst kein Wort hervor.

»Lâche - grand lâche!« schrie er endlich, »che fous enferrai mes témoins!«

»Ich stehe zu Diensten,« versetzte Taffy im schönsten Französisch, öffnete seine Brieftasche und überreichte ihm seine Karte mit den Worten: »Bis morgen um zwölf Uhr bin ich noch hier – und dies ist meine Londoner Adresse, falls ich bis dahin noch nichts von Ihnen gehört habe. Ich bedaure sehr – aber Sie hätten nicht spucken sollen – das schickt sich wirklich nicht. Wenn Sie mir Nachricht geben, will ich Sie treffen wo Sie wollen. Bestimmen Sie nur den Ort; ich stelle mich Ihnen und müßte ich vom andern Ende der Welt angereist kommen.«

»Très bien! très bien!« rief ein alter, militärisch aussehender Herr, der in der Nähe stand, und gab Taffy seine Karte für den Fall, daß er seine Dienste brauchen sollte.

Als der commissaire de police eintraf, war schon alles vorbei. Svengali war in einer Droschke davon gefahren und Taffy stellte sich dem Beamten zur Verfügung.

344 Sie gingen zusammen in das Postbureau und verhandelten dort mit dem alten militärischen Herrn, dem Majordomus im Sammetanzug und den beiden Schreibern, die bei dem schimpflichen Angriff zugegen gewesen waren. Einstweilen verlangte die Polizei nichts weiter von Taffy und seinen Freunden, als die Angabe von Familiennamen, Vornamen, Vaterland, Titel, Berufsart. Alter, Stand, Wohnung u. s. w.

»C'est une affaire qui s'arrangera autrement et autre part!« sagte der alte Herr – monsieur le général, comte de la Tour-aux-Loups.

So wurde die Angelegenheit sehr einfach beigelegt; den ganzen Tag über sah man aber eine unheilige Freude aus Taffys zornigen blauen Augen leuchten.

Nicht etwa als ob er wünschte, Trilbys Gatten ernstlich Leid und Schaden anzuthun; aber es freute ihn, daß er Svengali eine handgreifliche gute Lehre gegeben hatte.

Daß Svengali ihn verwunden könne, zog er keinen Augenblick in Betracht. Er war überzeugt, der Pole werde die Herausforderung auf sich beruhen lassen, und darin täuschte er sich nicht.

Noch stundenlang nachher war es ihm, als fühle er die lange, fleischige Nase zwischen seinen behandschuhten Knöcheln und er erinnerte sich mit Wohlgefallen, wie herzhaft er daran gerüttelt hatte. Bei reiflicher Überlegung that der Vorgang ihm leid und er konnte sich der Reue 345 nicht erwehren, denn er war im Grunde der friedliebendste Mensch von der Welt. Nur als er sehen mußte, wie der kleine Billy, von Blut überströmt, sich gegen einen überlegenen Gegner wehrte, war der alte Adam in ihm erwacht.

Von Svengali kam keine Botschaft; Taffy brauchte daher auch weder Dodor noch Zouzou zu bitten, ihm als Sekundanten zu dienen. Die Freunde reisten ohne weiteres Blutvergießen und mit gesunden Gliedern nach London ab; Paris war ihnen ganz verleidet.

Der kleine Billy blieb bis Weihnachten bei seiner Mutter in Devonshire; Taffy war im Gasthaus des Städtchens abgestiegen.

Gleich am Abend ihrer Ankunft, als der kleine Billy müde und abgespannt zu Bett gegangen war, teilte Taffy Frau Bagot mit, daß die Svengali, aller Wahrscheinlichkeit nach, mit Trilby ein und dieselbe Person sei.

»Großer Gott,« rief die arme Mutter, »das ist ja die neue Sängerin, die nächstens nach England kommt. Ein Artikel über sie steht heute in der Times. Es heißt, sie sei ein wahres Wunder und habe nirgends ihresgleichen. Das kann doch unmöglich die Miß O'Ferrall sein, die ich in Paris gesehen habe!«

»Es ist kaum zu glauben – aber ich bin so gut wie überzeugt, daß sie es ist – und William hat es keinen Augenblick bezweifelt. Nur Mc Allister behauptet das Gegenteil.«

346 »O wie schrecklich. Also darum sieht mein armer Sohn so krank und elend aus. Das alte Leid ist wieder aufgerührt worden. Konnte sie denn überhaupt singen, als Sie in Paris mit ihr verkehrten?«

»Keine Note – sie brachte die seltsamsten Töne heraus, wenn sie es versuchte.«

»Ist sie noch ebenso schön?«

»O ja; das ist außer allem Zweifel; schöner als je!«

»Und ihr Gesang – ist der wirklich so wunderbar? Ich weiß noch recht gut, wie schön ihre Stimme klang, wenn sie sprach.«

»Wunderbar? – Das will ich meinen! Ich habe nie etwas Ähnliches gehört oder für möglich gehalten. Die Grisi, Alboni, Patti, darf man gar nicht in einem Atem mit ihr nennen!«

»Barmherziger Himmel! Sie muß ja ganz unwiderstehlich sein. Mich wundert nur, daß Sie sich nicht auch in sie verliebt haben. Wie schrecklich sind doch diese Sirenen, die einem den Frieden des Hauses zerstören!«

»Sie dürfen nicht vergessen, Frau Bagot, daß es Ihrerseits nur eines Wortes bedurft hat. Sie ist gleich zurückgetreten – obgleich sie William sehr lieb hatte. Damals war sie keine Sirene.«

»Jawohl, ich weiß – sie hat sich sehr brav benommen – und gethan, was ihre Pflicht war. Verzeihen sie mir, bitte, Herr Wynne – es ist sehr unrecht, aber ich kann 347 nicht vergeben – die schreckliche Krankheit meines Sohnes – die schwere Zeit in Paris . . .«

Frau Bagot brach in Thränen aus und Taffy ließ sich versöhnen. »O Herr Wynne – ich hoffe von ganzer Seele, daß ein Irrtum vorliegt – vielleicht ist es nur eine Ähnlichkeit! Wenn sie nach Weihnachten in London auftritt, wird mein Sohn wieder ein Opfer seiner Verblendung werden. Was fange ich nur an!«

»Sie ist ja jetzt die Frau eines andern; Williams Glut wird sich wohl oder übel zu Asche verzehren müssen, sobald er sich diese Thatsache einmal recht klar macht. Übrigens hat sie ihn neulich in den Champs Elysées nicht einmal gegrüßt und ihn absichtlich übersehen. Tags darauf ist er sogar mit ihrem Mann handgemein geworden und sie haben einander gestoßen und geschlagen; dadurch wird wohl jeder nähere Verkehr ein für allemal abgeschnitten sein.«

»Großer Gott, Herr Wynne – das hat mein Sohn gethan!«

»Jawohl, und er war ganz in seinem Recht. Der Mann hatte ihn gröblich beleidigt. William hat sich tapfer seiner Haut gewehrt und zuletzt den Sieg davongetragen. Es ist kein Unglück daraus entstanden. Ich habe alles mit angesehen.«

»Wie entsetzlich! Sind Sie denn nicht dazwischen getreten?«

348 »Freilich; auch die andern Leute legten sich ins Mittel. Ich versichere Sie, es ging alles mit rechten Dingen zu. Sämtliche Knochen blieben heil und die Sache war auf der Stelle abgemacht, ohne Herausforderung auf Säbel, Pistolen oder dergleichen Dummheiten.«

»Gott sei Dank!« rief Frau Bagot mit erleichtertem Herzen.

Nach etwa vierzehn Tagen hatte sich der kleine Billy wieder einigermaßen erholt und arbeitete fleißig in seinem Beruf. Er verfertigte zahllose Studien von Felsen, Klippen und Meer; Taffy malte mit ihm und war seelenvergnügt. Von dem Streit zwischen dem Pastor und dem kleinen Billy war nicht mehr die Rede; der geistliche Herr fand großes Wohlgefallen an Taffy, dessen Vetter, Sir Oskar Wynne, ein Schulkamerad von ihm gewesen war, und lud ihn, so oft er konnte, zu sich ein. Seine Tochter Alice befand sich damals in Algier.

Auch der Adel der Nachbarschaft, samt dem lieben, guten Marquis, von dessen Söhnen einer in Taffys früherem Regiment gestanden hatte, erwies sich sehr höflich und gastfrei gegen die beiden Künstler. Taffy konnte nach Herzenslust reiten und jagen und war bei jedermann in Gunst. So verging die Zeit aufs angenehmste und sie feierten auch noch ein sehr vergnügtes Weihnachtsfest im Familienkreise, wenn auch ohne ausgelassene Lustbarkeit.

Als die Festtage vorüber waren, bestand der kleine 349 Billy darauf, nach London zurückzukehren, um ein Bild für die Ausstellung zu malen. Taffy begleitete ihn, und es wurde sehr still im Hause der Frau Bagot, deren Mutterherz sich mit allerhand bangen Sorgen und Ahnungen quälte.

Auch in der ganzen Umgegend vermißte man die beiden liebenswürdigen Maler, welche bei hoch und niedrig gleich gut angeschrieben waren; sie hatten ja mit den ärmsten Fischern am Strande, mit Frauen und Kindern, ebenso freundlich verkehrt, wie mit den Schloßbewohnern, und hatten so herrliche Skizzen von der schönen Küstenlandschaft gemacht.


Die Svengali ist in London angekommen. Ihr Name schwebt auf allen Lippen; ihr Bild steht in den Ladenfenstern. Sie wird nächste Woche in J—s Monsterkonzerten singen. Ihr erstes Auftreten sollte eigentlich schon früher erfolgen, aber es ist ein Hindernis eingetreten – ein Zerwürfnis zwischen Svengali und dem ersten Violinisten, der eine sehr wichtige Persönlichkeit zu sein scheint.

Vor dem Bilderladen in Regent Street drängen sich die Gaffer in noch größerer Menge wie gewöhnlich, um die Photographien der Svengali in allen Größen und Kostümen zu bewundern. Sie muß auch wirklich wunderschön sein: ihr Gesicht hat einen holdseligen, freundlichen und dabei schwermütigen Ausdruck, und sie ist eine so vornehme Erscheinung, daß eine Kaiserkrone sie noch besser zieren würde, als ihr kleines Sternendiadem. Eins der Bilder 350 stellt sie in einem klassischen Gewande dar; ihr linker Fuß, den sie auf einen niedern Schemel stützt, ist nur mit einer griechischen Sandale bekleidet und so zart, weich und ebenmäßig – alle fünf Zehen so wunderschön geformt, daß dies Bildnis die größte Bewunderung erregt und schneller verkauft wird als alle übrigen.

Eben haben sich drei Herren, ein kleiner und zwei größere, bis dicht an das Schaufenster durchgedrängt. »Siehst du den Fuß, Sandy?« fragte der eine, »kannst du noch zweifeln?«

»Nein, das sind Trilbys Zehen, ohne alle Frage,« erwiderte Sandy; darauf treten sie in den Laden ein und machen große Einkäufe.

 

Der Streit zwischen Svengali und seinem ersten Violinisten war, wie man mir erzählt hat, bei einer Probe im Drury Lane Theater ausgebrochen.

Seit dem 15. Oktober, dem Tage jenes ärgerlichen Vorfalls in dem Pariser Hotel, schien eine Veränderung mit Svengali vor sich gegangen zu sein. Er war sehr reizbar und wurde leicht heftig, besonders gegen seine Frau. Offenbar hatte er einen grimmigen Haß auf den kleinen Billy geworfen, den er zum erstenmal wieder sah seit der denkwürdigen Weihnachtsfeier auf dem Platz St. Anatole des Arts vor fünf Jahren. Damals waren sie nach dem Abendessen aneinander geraten und Svengali hatte den 351 kürzeren gezogen; aber das war nicht der Grund seines Hasses.

Als er bei der Fahrt in den Champs Elysées den kleinen Billy am Prellstein stehen sah, hatte er ihn gleich wieder erkannt und war in Wut geraten. Doch konnte er nichts thun, als ihn geflissentlich übersehen und von seiner Frau verlangen, daß sie ein Gleiches that.

Tags darauf, bei ihrer Begegnung im Postbureau des Hotels, kam ihm der Maler so klein und jämmerlich vor, daß er der Versuchung nicht widerstand, seinen Zorn an ihm auszulassen. Er hatte geglaubt, es mit ihm allein zu thun zu haben, aber wie bitterlich bereute er seine Übereilung, als plötzlich und völlig unerwartet der Mann aus Yorkshire auf dem Schauplatz erschien, der dickköpfige Stier, der britische Philister, der Junker, der verfluchte Aristokrat, der ihm von jeher eine höllische Furcht eingejagt hatte.

Gegen die Leiden anderer war Svengali unempfindlich, aber für sein eigenes Wohlergehen sehr besorgt. Er scheute sich bei seinen überreizten Nerven vor jedem körperlichen Schmerz, jeder rauhen Berührung und besaß wenig persönlichen Mut. So ließ er sich denn von dem zornblitzenden Auge des verhaßten Briten gleich ins Bockshorn jagen, leistete keinen Widerstand und konnte sich von der erlittenen Mißhandlung gar nicht wieder erholen. Tag und Nacht dachte er an den Schimpf, der ihm angethan worden; Taffy erschien ihm im Traum wie ein riesiger 352 Alp, der ihn schlug und zwickte, bis ihm der Atem verging, und er schäumend vor ohnmächtiger Wut, Scham und Entsetzen aus dem Schlaf emporfuhr. Um die Ruhe seiner Nächte war es geschehen.

Das alles zehrte an seiner Gesundheit, die ohnehin nur auf schwachen Füßen stand; er war nämlich älter als man glaubte – fast fünfzig Jahre – und sein Leben war ein langer harter Kampf gewesen, der ihn sehr mitgenommen hatte.

Auch die wilde, eifersüchtige Leidenschaft, welche er für die Frau empfand, die zugleich seine Schülerin und Sklavin war, wurde ihm zu einer Quelle endloser Pein; denn tief in ihrem Herzen, das er doch allein besitzen wollte, trug sie das unverlöschliche, unzerstörbare Bild des kleinen englischen Malers und machte gar kein Hehl daraus.

Geckos Liebe zu seinem Meister war ganz verschwunden. All sein Denken und Fühlen galt jetzt nur noch der Sklavin und Schülerin, der er mit der Treue eines Hundes diente, in reiner, selbstloser Hingebung und Verehrung, die jedoch nicht ohne Leidenschaft war. Das einzige Wesen, auf das sich Svengali verlassen konnte, war seine Verwandte, eine alte Jüdin, die er zu sich genommen hatte; aber selbst diese fing an, die Schülerin mehr zu lieben als den Meister.

Bei jener Probe im Drury Lane Theater überstieg seine Reizbarkeit alle Grenzen; er unterbrach Madame 353 Svengalis Gesang mehrmals in ungerechtem Zorn und schrie sie an, daß sie so falsch singe ›wie ein verfluchter Kater‹. Zuletzt schlug er sie sogar ein paarmal mit dem Taktstock auf die Finger, worauf sie in Thränen ausbrach, auf die Kniee fiel und mit gefalteten Händen bat:

»Oh, oh, Svengali! ne me battez pas, mon ami - je fais tout ce que je peux!«

Da war Gecko plötzlich wütend aufgesprungen und auf Svengali eingestürmt; es floß Blut und in Geckos Hand ward ein kleines blutiges Messer sichtbar. Madame Svengali hielt den Kopf des Verwundeten auf ihrem Schoß; sie sah verwirrt und betäubt aus, als wisse sie nicht, ob sie wache oder träume.

Gecko wurde schnell entwaffnet, aber nicht der Polizei übergeben, denn da Svengali bald wieder zu sich kam und nach Hause gebracht werden konnte, wünschte man alles öffentliche Aufsehen zu vermeiden. Das bereits angekündigte Konzert mußte jedoch um eine Woche verschoben werden, trotz Monsieur J—s Verzweiflung darüber; Svengali erlaubte seiner Frau nicht, ohne ihn zu singen; er wollte sie immer um sich haben und ließ sie keinen Moment aus den Augen.

Der Arzt, welcher den Kranken besuchte, fand die Wunde ganz unbedeutend. Aus dem Zustand der Frau konnte er aber gar nicht klug werden. Sie wich nicht von dem Bett ihres Mannes, folgte ihm aufs Wort und fügte sich unbedingt seinem Willen. Im übrigen machte 354 sie aber einen förmlich stumpfsinnigen Eindruck; hatte vielleicht der plötzliche Schreck ihren Verstand gelähmt?

Als der für das Konzert bestimmte Tag herankam, war Svengali wieder so ziemlich hergestellt. Der Arzt verbot ihm jedoch auf das entschiedenste, selbst zu dirigieren und erlaubte ihm nur in das Theater zu gehen. Das ärgerte und verdroß ihn unbeschreiblich; er geriet in maßlosen Zorn und tobte wie ein Wahnsinniger; auch Monsieur J— war ganz außer sich über dies Mißgeschick. Er hatte zwar während der Woche die Proben mit der Kapelle abgehalten, aber doch gehofft, Svengali werde bei der Aufführung die Leitung selbst übernehmen. Die Musiker waren vortrefflich geschult und hatten dieselben Stücke schon öfters gespielt. Sämtliche Begleitungen zu den zahlreichen Liedern seiner Frau hatte Svengali auf das sorgfältigste für sein Orchester gesetzt und niedergeschrieben.

Nach dem Ausspruch des Arztes blieb nichts übrig als sich in das Unabänderliche zu fügen. Man beschloß, daß Svengali in einer Loge dem Podium gegenüber Platz nehmen solle, wo seine Frau ihn bequem im Auge behalten konnte; auch verabredete er mit Monsieur J— verschiedene Zeichen zu gegenseitiger Verständigung, falls irgend eine Schwierigkeit einträte. Die letzte Probe wurde auf diese Weise am Vorabend des Konzerts (an einem Sonntag) im leeren Theater gehalten; alles ging vortrefflich von statten und die Svengali sang so schön wie immer.

355 Am Montagabend nahm die Sache ihren gewöhnlichen Gang. Das Haus war bald zum Erdrücken voll, nur die Mittelloge des ersten Ranges blieb leer. Die Lehnstühle im Parterre, zu einer Guinee, waren sämtlich besetzt; hier hatten auch Taffy, der Laird und der kleine Billy ihre Plätze, gerade der Bühne gegenüber.

Die Musiker fanden sich allmählich ein und begannen ihre Instrumente zu stimmen. Neugierige Blicke aus dem Publikum wandten sich von Zeit zu Zeit nach der unbesetzten Loge hin. Vermutlich erwartete man dort irgend ein Mitglied der königlichen Familie.

Unter lautem Beifall trat jetzt Monsieur J— an das Dirigentenpult und verneigte sich; dann flog auch sein Blick nach der leeren Loge hinüber.

Er gab das Zeichen zum Anfang, erhob den Taktstock und die Kapelle spielte einige ungarische Tänze mit glänzendem Erfolg. Hierauf entstand eine längere Pause; auf der Galerie fing man an ungeduldig zu werden. Monsieur J— war verschwunden.

Taffy erhob sich von seinem Sitz, wandte dem Orchester den Rücken und sah sich im Theater um.

In dem Augenblick kam ein großer Herr mit langem Haar und schwarzem Bart in die vorhin leere Loge und trat dicht an die Brüstung heran. Seine Blicke schweiften über die Zuschauermenge – es war Svengali.

Als er Taffy stehen sah, ward er totenbleich; ihre Augen trafen sich.

356 »Großer Gott!« rief Taffy, »seht doch nur, seht!«

Der kleine Billy und der Laird standen auf. Sie sahen Svengalis Blicke mit einem so furchtbaren Ausdruck von Schrecken, Wut und Entsetzen auf sich gerichtet, daß es ihnen durch Mark und Bein ging. Er nahm nun in der Loge Platz, starrte aber noch immer unverwandt zu Taffy hinüber, verdrehte die Augen, daß das Weiße oben zum Vorschein kam und biß die Zähne auf einander vor Gift und Galle.

Donnernder Beifall erfüllte jetzt das Haus. Während die drei Freunde sich setzten, sahen sie, wie Monsieur J— Trilby zwischen den Musikern hindurch nach vorn führte. Auf ihrem Gesicht lag ein ausdrucksloses Lächeln, und sie hielt die ängstlichen Blicke fest auf Svengali gerichtet, während sie sich nach rechts und links verneigte, gerade wie in dem Pariser Konzert.

Die Kapelle spielte die Eingangstakte zu ›Ben Bolt‹, Trilbys erster Nummer auf dem Programm.

Sie verharrte unbeweglich in derselben Stellung, sang aber nicht, so daß die Musiker ihr kleines Vorspiel dreimal wiederholen mußten. Man hörte Monsieur J— ihr mit heiserer Stimme zuflüstern:

»Mais chantez donc, madame - pour l'amour de Dieu, commencez donc - commencez!«

Sie sah sich mit seltsam verwundertem Ausdruck nach ihm um.

357 »Chanter? pourquoi donc voulez-vous que je chante, moi? chanter quoi, alors?«

»Mais 'Ben Bolt' parbleu - chantez!«

»Ah - 'Ben Bolt'! oui - je connais ça!«

Die Musik begann von neuem.

Sie versuchte einzufallen, es mißlang ihr jedoch.

»Comment diable voulez-vous que je chante,« rief sie ärgerlich, »avec tout ce train qu'ils font, ces diables de musiciens!«

»Mais mon Dieu, madame - qu'est-ce que vous avez donc?« flüsterte Monsieur J—.

»J'ai que j'aime mieux chanter sans cette satanée musique, parbleu! J'aime mieux chanter toute seule!«

»Sans musique alors - mais chantez - chantez!«

Die Musik schwieg. Die Zuhörer waren in unbeschreiblicher Spannung.

Trilby sah sich nach allen Seiten um und strich mit der Hand über ihr Kleid. Dann hob sie mit gefühlvollem Lächeln die Augen zum Kronleuchter empor und begann:

»O denkst du wohl noch an schön Alix, Ben Bolt?
Schön Alix mit goldbraunem Haar . . . . .«

Weiter kam sie nicht; das ganze Haus geriet in Aufruhr. Lärm und Geschrei tönte von der Galerie, lauter Zuruf, Gelächter, Zischen und Pfeifen.

Sie hörte auf zu singen, sah sich wie eine gereizte Löwin um und rief:

358 »Qu'est-ce que vous avez donc, tous! tas de vieilles pommes cuites que vous êtes! Est-ce qu'on a peur de vous?« Plötzlich schien sie sich zu besinnen: »Seid ihr denn nicht alle Engländer?« fuhr sie fort; »was macht ihr denn solchen Lärm – wozu hat man mich hergebracht – was habe ich euch denn eigentlich zuleide gethan?«

Sie sprach mit so echt weiblichem Ausdruck, mit so gerechtem Unwillen über die unverdiente Kränkung, ihre Stimme klang so wunderbar voll und tief, daß das Toben einen Augenblick verstummte.

Dann kam eine Stimme vom Olymp herab:

»Sie sind scheint's eine Engländerin! Warum machen Sie denn Ihre Sache nicht ordentlich, wie sich's gehört. Das Zeug dazu haben Sie ja, man merkt's Ihrer Stimme an, aber Sie brauchen doch nicht so falsch zu singen.«

»Was kann ich denn dafür, wenn euch der Gesang nicht gefällt,« rief Trilby. »Ich wollte ja gar nicht singen, und that es nur, weil man mich darum gebeten hat. Der französische Herr dort mit der weißen Weste hat mich aufgefordert. Jetzt singe ich keinen Ton mehr.«

»Das wollen wir erst einmal sehen! Gebt uns unser Geld wieder. Wir lassen uns nicht zum Narren halten!«

Der Lärm brach von neuem los; es entstand ein entsetzliches Getöse.

»Svengali, Svengali!« schrie Monsieur J— in 359 Verzweiflung; »qu'est-ce qu'elle a donc, votre femme?... Elle est devenue folle!«

Sie hatte ›Ben Bolt‹ auf ihre alte Weise gesungen, wie früher im Quartier latin; für jedes musikalische Ohr war es eine Marter gewesen, ihr zuzuhören.

»Svengali, Svengali!« kreischte der arme Monsieur J— und machte mit beiden Händen heftige Zeichen nach der Loge hin, in der Svengali völlig teilnahmlos saß und den Konzertmeister anstarrte. Ein grauenhaftes, höhnisches Lächeln, ein Ausdruck von Haß und befriedigter Rachsucht lag in seinen Zügen, als wollte er sagen:

»Diesmal lache ich euch alle aus und habe euch tüchtig hinters Licht geführt.«

Das ganze Haus, Taffy, der Laird und der kleine Billy, alles hatte jetzt nur Augen für Svengali – seine Frau war vergessen.

Sie stand da und sah verwundert hierhin und dorthin – nach dem Kronleuchter – nach Monsieur J— und Svengali in seiner Loge – nach den Zuschauern auf der Galerie und in den Rängen – als ob der lärmende Auftritt sie mehr belustige als ängstige.

»Svengali! Svengali! Svengali!« schallte es jetzt von allen Seiten spöttisch aus der Zuhörermenge. Monsieur J— nahm Madame Svengali bei der Hand, um sie fort zu führen, was sie geduldig geschehen ließ. Regungslos, mit demselben gespenstischen Lächeln schaute Svengalis entsetzliches Gesicht ihr nach.

360 Jetzt sah man Monsieur J— in Begleitung eines Polizeibeamten und dreier anderer Herren die Loge betreten. Sofort wurde der Vorhang zugezogen und eine Minute später erschien der Konzertmeister totenblaß auf der Bühne, verbeugte sich gegen die Zuhörer und bat um Stille. Ein Herr im Frack, der neben ihm stand, teilte nun der Versammlung mit, es habe sich etwas Entsetzliches zugetragen – Monsieur Svengali sei dort in der Loge plötzlich am Herzschlag gestorben; seine Frau, die das von ihrem Platz auf der Bühne mit ansehen mußte, habe offenbar vor Schrecken den Verstand verloren, anders lasse sich ihr seltsames Benehmen nicht erklären. Die Zuschauer möchten ruhig nach Hause gehen und ihr Geld an der Kasse wieder in Empfang nehmen.

In höchster Erregung bahnte sich Taffy mit seinen beiden Freunden den Zugang zu einer Thür, welche auf die Bühne führt. Der Laird zweifelte nun nicht länger, daß es wirklich Trilby war – diese Trilby kannte er.

Taffy donnerte mit aller Macht an die Thür, bis sie endlich geöffnet wurde; er gab seine Karte ab und verlangte, daß man ihn und seine Begleiter sofort zu Madame Svengali führe, da sie alte Freunde von ihr seien.

Der Schließer, mit dem er verhandelte, wollte ihm die Thüre vor der Nase zuwerfen, aber Taffy drängte sich hinein, die beiden andern folgten; er schloß die Thür vor dem nachstürmenden Volk und befahl dem Mann, ihn zu 361 Monsieur J— zu führen. Dabei sah er so vornehm, mächtig und gebieterisch aus, daß jeder Widerspruch verstummte.

Als sie an einem offenstehenden Zimmer vorübereilten, sahen sie auf einem Tisch eine halb entkleidete Gestalt liegen; mehrere Herren – wahrscheinlich Ärzte, beugten sich darüber.

So sahen sie Svengali zum letztenmal.

Monsieur J— trat eben aus einer andern Thür und als Taffy sich und seine Gefährten ihm vorstellte, wurden sie eingelassen.

Die Svengali saß in einem Lehnstuhl am Feuer; um sie her standen mehrere Mitglieder der Kapelle, die mit den Armen in der Luft herumfochten und deutsch, polnisch und ungarisch durcheinander sprachen. Gecko kniete vor Trilby am Boden und rieb ihr abwechselnd die Hände und Füße; sie schien wie gelähmt.

Sobald sie Taffy gewahrte, sprang sie jedoch auf und eilte auf ihn zu: »O Taffy, lieber Taffy!« rief sie, »was hat das alles nur zu bedeuten? Wo in aller Welt bin ich denn? Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!«

Sie sah den Laird und küßte ihn; dann erkannte sie den kleinen Billy, schaute ihn eine Weile verwundert an und schüttelte ihm die Hand.

»Wie blaß Sie aussehen, kleiner Billy, und wie verändert – das macht der Bart! Aber was geht denn vor? warum seid ihr alle schwarz angezogen, als wolltet ihr auf den Ball? Wo ist Svengali? Ich möchte nach Hause!«

362 »Wohin denn – ich meine – wo wohnen Sie?« fragte Taffy.

»C'est à l'hôtel de Normandie, dans le Haymarket. On vous y conduira, madame,« sagte Monsieur J—.

»Oui - c'est ça!« erwiderte Trilby – »Hôtel de Normandie - mais Svengali - où est-ce-qu'il est?«

»Hélàs madame! - il est très malade!«

»Malade? Qu'est-ce-qu'il a? – O kleiner Billy, lieber kleiner Billy, wie gut Ihnen der Schnurrbart steht! Aber schrecklich blaß sehen Sie aus! Sie sind doch nicht etwa krank? Hoffentlich nicht! Ich freue mich ganz unbeschreiblich, daß Sie hier sind, obwohl ich Ihrer Mutter versprochen habe, Sie niemals, niemals wiederzusehen. – Sagen Sie mir doch, lieber kleiner Billy, wo sind wir denn eigentlich?«

Monsieur J— schien ganz den Kopf verloren zu haben. Er lief wie wahnsinnig bald zum Zimmer hinaus, bald wieder herein. Die Musiker versuchten Taffy alles in unverständlichem Französisch zu erklären. Gecko war nirgends mehr zu sehen. Draußen lärmte noch immer die abziehende Menge, man rief einander zu, man schrie, das Getrampel der Füße wollte kein Ende nehmen; fortwährend kamen Polizeibeamte, Feuerwehrmänner oder andere Leute hereingelaufen – es war ein rasender Wirrwarr.

Der kleine Billy hatte sich zusammengenommen wie ein kleiner Held; er machte jetzt den Vorschlag, man möge 363 versuchen Trilby nach seiner Wohnung in Fitzroy Square zu bringen, damit sie endlich zur Ruhe käme. Das schien Taffy ein sehr glücklicher Gedanke; auch für Monsieur J— war es eine Erleichterung, daß er Madame Svengali der Obhut der drei Herren übergeben konnte, welche offenbar mit ihr befreundet waren und einen sehr zuverlässigen Eindruck machten.

Ohne Zögern ward der Plan ausgeführt und der kleine Billy fuhr mit Taffy voraus, um seine Wirtin auf das Ereignis vorzubereiten. Diese war zuerst nicht gerade angenehm berührt von der Überraschung; die Herren erklärten ihr jedoch, sie müsse sich diesmal der Notwendigkeit fügen. Madame Svengali, die größte Sängerin Europas, mit welcher Herr Bagot von früher her befreundet sei, habe aus Kummer über den Tod ihres Gatten plötzlich den Verstand verloren. Die Unglückliche müsse wenigstens diese Nacht hier ein Unterkommen finden. Herr Bagot werde in ein Hotel gehen und ihr sein Zimmer abtreten, auch eine Wärterin für sie schicken. Die Dame sei sanft wie ein Lamm, werde vielleicht schon nach einer ruhigen Nacht wieder zu klarer Besinnung kommen.

Ein Arzt aus der Nachbarschaft wurde schnell herbeigeholt, und bald nach ihm traf auch der Laird mit Trilby ein. Die vornehme Erscheinung in dem prächtigen Zobelpelz machte auf Frau Godwin, die Wirtin, einen tiefen Eindruck; sie eilte zu ihrem Empfang herbei und war die Dienstfertigkeit und Gefälligkeit selber.

364 Taffy, der Laird und der kleine Billy entfernten sich nun nach verschiedenen Richtungen, um eine Wärterin für die Nacht zu besorgen, Gecko aufzusuchen und Trilbys Dienerin mit den nötigsten Habseligkeiten aus dem Hotel de Normandie herbeizuschaffen.

Das ging jedoch nicht so leicht, wie man hätte denken sollen. Die Dienerin, eine alte polnische Jüdin (Svengalis Verwandte) war bei der Nachricht von dem Tode ihres Herrn ganz verzweifelt ins Theater gelaufen, und Gecko befand sich in den Händen der Polizei. Um alles so gut wie möglich zu machen, mußten die Freunde den größten Teil der Nacht auf den Füßen bleiben.

So endete das erste Auftreten der Svengali in London.

Der Verfasser dieser Geschichte war an jenem denkwürdigen Abend nicht im Konzert zugegen, und hat die vorstehende, höchst mangelhafte und unvollkommene Schilderung der Ereignisse nur nach dem Hörensagen, nach persönlichen Mitteilungen und den Berichten der damaligen Tagesblätter niederschreiben können. Es ist daher leicht möglich, daß sich verschiedene Irrtümer in obige Darstellung eingeschlichen haben, und jeder etwa noch lebende Augenzeuge jenes kläglichen Mißerfolgs würde mich zu Dank verpflichten, wenn er zur Berichtigung derselben beitragen wollte. Das Interesse für die Svengali wird schwerlich so bald erlöschen, nicht einmal bei denjenigen, welche nie das Glück hatten, sie zu sehen oder zu hören (und ihre Zahl ist groß). 365 So hoffe ich denn, bei allen späteren Auflagen ihrer Lebensgeschichte, welche ohne Zweifel in kurzer Frist aufeinander folgen müssen, durch gefällige Mitteilungen in den Stand gesetzt zu werden, die gewünschten Änderungen vorzunehmen. Übrigens glaube ich kaum, daß irgend jemand bessere Gelegenheit gehabt hat, als ich, die verschiedenen Thatsachen kennen zu lernen und den Stoff zu dieser Skizze zu sammeln, natürlich mit Ausnahme von Taffy und dem Laird, deren gütiger Mitwirkung ich, noch mehr als meiner eigenen Erinnerung, alles verdanke, was dieser Erzählung ihren geschichtlichen Wert verleiht.

 

Am nächsten Morgen begaben sich die drei Freunde wieder nach Fitzroy Square. Der kleine Billy hatte bei Taffy in der Jermyn-Straße geschlafen.

Trilby kam ihnen in einem einfachen schwarzen Kleide entgegen und war ganz gerührt vor Freude über das Wiedersehen. Man hatte ihr die Koffer aus dem Hotel geschickt; die Krankenpflegerin war bei ihr, der Doktor eben fortgegangen. Nach seiner Diagnose litt sie an den Folgen einer heftigen Nervenerschütterung – was freilich auf der Hand lag.

Ihre Begriffe waren offenbar noch sehr verwirrt; sie schien außer stande, sich ihre Lage klar zu machen.

»O wie herrlich, euch alle drei wiederzusehen! Da freut man sich so recht seines Lebens! An allerlei habe 366 ich gedacht, aber an diese Möglichkeit niemals. Drei hübsche, saubere Engländer, die alle englisch sprechen und meine lieben alten Freunde sind! Ah! j'aime tant ça - c'est le ciel! Mich wundert nur, daß ich mein Englisch nicht ganz vergessen habe.«

Wie sanft, wie voll und wohlthuend ihre Stimme klang bei diesen unschuldigen Worten; man glaubte, ein schönes Lied zu hören. Dabei warf sie allen dreien nach einander die liebevollsten Blicke zu, ganz auf ihre alte Weise. Aber sie sah krank, schwach und abgezehrt aus; ihre Augen füllten sich mit Thränen; sie hatte die Hand des Laird ergriffen und wollte sie gar nicht wieder loslassen.

»Was ist denn nur Svengali zugestoßen? Er muß wohl tot sein.«

Die Freunde sahen einander in peinlicher Verlegenheit an.

»Wirklich, er ist tot! Ich lese es in euern Mienen. Das thut mir leid; es ist sehr traurig! Er war immer so gut, der arme Svengali!«

»Ja, er ist tot,« sagte Taffy.

»Und Gecko – der liebe kleine Gecko – ist der auch tot? Gestern abend habe ich ihn noch gesehen – er rieb mir die Hände und Füße: wo war das nur?«

»Nein, Gecko ist nicht tot. Er hat nur auf einige Zeit ins Gefängnis wandern müssen, weil er Svengali verwundet hat. Sie haben es ja selbst mit angesehen.«

367 »Ich? Bewahre; gesehen habe ich es nicht. Mir träumte nur von etwas Ähnlichem. Gecko hatte ein Messer in der Hand; man hielt ihn fest und Svengali lag blutend am Boden. Das war kurz vor Svengalis Krankheit. Er hatte sich am Halse verletzt – mit einem rostigen Nagel – das hat er mir wenigstens gesagt. Wie mag er es nur angestellt haben? . . . Aber es war sehr unrecht von Gecko, ihm etwas zuleide zu thun; sie waren doch immer gute Freunde. Wie kam er denn dazu?«

»Es war in der Probe – Svengali schlug Sie mit dem Taktstock auf die Finger, bis Sie anfingen zu weinen – das konnte Gecko nicht mit ansehen.«

»Er hätte mich geschlagen – in der Probe – und ich hätte geweint? – Aber lieber Taffy, was reden Sie für wunderliches Zeug! Svengali war immer die Güte selbst gegen mich; geschlagen hat er mich nie. Und was sollte ich denn in der Probe thun?«

»Die Lieder einstudieren, die Sie am Abend im Theater singen wollten.«

»Im Theater? Ich habe nie im Theater gesungen, außer gestern abend, wenn das große Haus ein Theater war. Es schien den Leuten nicht zu gefallen und ich will mein Lebtag in keinem Theater mehr singen. Wie sie alle brüllten! Und in der Loge gegenüber saß Svengali und lachte mich aus. Warum hat man mich dorthin gebracht? Und weshalb verlangte der komische kleine Herr in der 368 weißen Weste durchaus, daß ich singen sollte? In einem so großen Raum und vor so vielen Leuten – dazu kann ich's doch nicht gut genug. Es muß ein böser Traum gewesen sein; anders kann ich mirs nicht denken. War es denn kein Traum?«

»Aber – wissen Sie denn nicht mehr, wie Sie in Paris gesungen haben, im Saal der Baschi-Bozucks, und in Wien, in Petersburg und an wer weiß wie vielen Orten?«

»Das ist ja dummes Zeug – Sie müssen irgend jemand anders im Sinn haben. Ich bin wohl in Wien und Petersburg gewesen, aber gesungen habe ich dort nie. Gott soll mich bewahren!«

Es entstand eine Pause; die drei Freunde sahen sich verblüfft an und wußten weder aus noch ein.

Endlich sagte der kleine Billy: »Warum haben Sie mich denn damals in Paris absichtlich nicht wieder gegrüßt, Trilby, als ich vor Ihnen den Hut abnahm? Sie fuhren gerade mit Svengali in dem vornehmen Wagen über den Platz de la Concorde.«

»Ich bin mit Svengali in keinem vornehmen Wagen gefahren. Wir benutzten meist den Omnibus. Sie sprechen im Traum, lieber kleiner Billy – oder verwechseln mich mit einer andern Person. Wie käme ich dazu, Sie nicht zu grüßen – das ist ja völlig undenkbar.«

»Wo haben Sie denn gewohnt, als Sie mit Svengali in Paris waren?«

369 »Ich besinne mich nicht mehr. Sind wir überhaupt dort gewesen? O ja, natürlich! Im Hotel Bertrand, Place Notre Dame des Victoires.«

»Sind Sie lange mit Svengali umhergereist?«

»Sehr lange. Viele Monate oder Jahre – ich habe es vergessen. Ich war sehr krank; er hat mich kuriert.«

»Krank, Trilby? Was fehlte Ihnen denn?«

»O, ich war ganz außer mir vor Kummer und hatte die wahnsinnigsten Schmerzen in den Augen. Als ich meinen lieben kleinen Jeannot in Vibraye verlor, wollte ich mich umbringen. Ich glaubte, ich hätte ihn nicht sorgfältig genug gepflegt. Das brachte mich von Sinnen. Sie schrieben mir dorthin, Taffy, wissen sie es noch? Durch Angèle Boisse – einen so reizenden Brief – ich kann ihn auswendig.

»Sie haben auch geschrieben, lieber Sandy,« fuhr sie fort und gab dem Laird einen Kuß. »Wo mögen die Briefe nur hingekommen sein? Ich habe gar nichts mehr was mir gehört auf dieser Welt – nicht einmal die lieben Briefe besitze ich noch. Auch nicht die vom kleinen Billy – ein ganzes Paket!

»Svengali schrieb mir auch – er ließ sich meine Adresse von Angèle Boisse geben . . . .

»Als Jeannot starb, fühlte ich, daß ich von Vibraye fort mußte – fort von allen Menschen im Flecken – sonst hätte ich mir das Leben genommen. Sobald der Kleine begraben war, schnitt ich mir das Haar ab, kleidete 370 mich wie ein Arbeiter, ich hatte mir eine Bluse, Mütze und Beinkleider verschafft, und wanderte zu Fuß nach Paris, ohne jemand ein Wort zu sagen. Es sollte kein Mensch etwas davon wissen; ich fürchtete mich vor Svengali, der geschrieben hatte, er würde kommen mich abzuholen. Vor ihm wollte ich mich in Paris verbergen. Als ich endlich dort ankam war es zwei Uhr morgens; mir war elend zu Mute; all mein Geld – dreißig Franken – hatte ich verloren, durch ein Loch in der Hosentasche. Ein Fuhrmann auf dem Markt fing Händel mit mir an, nur weil ich sein Pferd streichelte und ihm eine Rübe zu fressen gab, mit der ich den eigenen Hunger stillen wollte. Er hielt mich für einen Mann und schlug mich ins Gesicht; wahrscheinlich hatte er zu viel getrunken. Dann stand ich auf der Brücke, ganz nahe bei der Morgue, und wollte ins Wasser springen. Aber als ich die Morgue sah, konnte ich's nicht. Svengali hatte immer davon gesprochen, daß er kommen würde mich dort anzusehen, wenn sie mich aus dem Fluß zögen. Mir schauderte bei dem Gedanken und es wurde mir ganz dumm und wirr im Kopf.

»Nun trieb es mich zu Angèle in die Rue des Cloîtres Ste Pétronille; ich wartete vor ihrem Hause, getraute mich aber nicht die Glocke zu ziehen. Von dort ging ich nach dem Platz St. Anatole des Arts und sah nach dem alten Atelierfenster hinauf. Ich dachte an das große Sopha neben dem Ofen und wie behaglich es dort oben war. 371 Gern hätte ich Madame Vinard wachgeklingelt, aber mir fiel ein, daß der kleine Billy ja im Atelier krank lag, und seine Mutter und Schwester bei ihm waren. Angèle hatte es mir geschrieben. Der arme kleine Billy – ob er wohl viele Schmerzen litt?

»Nun ging ich auf dem Platz hin und her und die Rue des Mauvais Ladres auf und ab, dann die Rue de Seine hinunter bis zum Fluß; aber hineinzuspringen wagte ich nicht. Da stand auch ein Polizeidiener, der mir folgte, – mich zu beobachten. Ich kannte ihn gut, es war Célestin Beaumollet, der sich damals am Weihnachtsabend so arg betrunken hat. Der große, wissen Sie, mit den Blatternarben. Er hatte aber keine Ahnung, wer ich sei.

»Bis der Tag anbrach, wanderte ich umher; dann hielt ich es nicht mehr aus und ging zu Svengali nach der Rue Tireliard, aber er war ausgezogen, in die Rue des Saints Pères. Da fand ich ihn; er war sehr freundlich, vertrieb mir rasch den Schmerz, brachte mir Kaffee, Brot und Butter – so gut hatte es mir noch nie geschmeckt. Dann ließ er mir ein warmes Bad bereiten – Bidet Frères in der Rue Savonarole besorgen das sehr schön. Ich fühlte mich wie im Himmel. Darauf schlief ich zweimal vierundzwanzig Stunden hintereinander. Als ich aufwachte, sagte er mir, wie lieb er mich hätte. Er würde mich immer kurieren, für mich sorgen, mich heiraten und mir sein ganzes Leben widmen, wenn ich ihm folgen wollte.

372 »Wir blieben eine Woche dort; ich ging nicht aus, bekam auch niemand zu sehen, denn ich war entsetzlich müde und krank – erkältet, glaube ich.

»Svengali spielte in zwei Konzerten und erwarb viel Geld; dann reisten wir zusammen nach Österreich, und niemand erfuhr eine Silbe davon.«

»Hat er Sie wirklich geheiratet?«

»Nein – er konnte nicht. Der arme Mensch hatte schon eine Frau und drei Kinder, um die er sich aber nicht kümmerte. Sie betrieb ein kleines Geschäft irgendwo am Rhein. Es war sehr schlecht von ihm gewesen, sie so im Stich zu lassen, aber darüber waren schon Jahre vergangen, ich hatte keine Schuld. Im Gegenteil, ich sorgte dafür, daß er ihnen Geld schickte, sobald er selbst welches bekam, denn die Frau that mir leid. Er erzählte oft von ihr und machte ihr nach, wie sie in einer Hand eine Salzgurke in der andern ein Glas Schnaps hielt und abwechselnd ein Stück abbiß und einen Schluck trank, um keine Zeit zu verlieren. Das war so komisch, daß ich vor Lachen fast umkam. Auf solche Scherze verstand sich Svengali. – Nun kam auch Gecko zu uns und Martha.«

»Wer ist Martha?«

»Seine Tante. Sie kochte unser Essen und besorgte die Wirtschaft. Bald wird sie hier sein, sie hat jemand vom Hotel hergeschickt und es mir sagen lassen. Die arme Martha – wie lieb sie ihn hatte! Und der arme Gecko! Was werden sie ohne Svengali anfangen!«

373 »Wie erwarb er denn seinen Unterhalt?«

»Ich glaube, er spielte in Konzerten – oder gab vielleicht Stunden.«

»Haben Sie ihn je spielen gehört?«

»Ja, im Anfang. Manchmal nahm mich Martha mit. Die Leute klatschten viel und er spielte wunderschön – das sagten alle.«

»Hat er Ihnen nie vorgeschlagen, Sie singen zu lehren?«

»Oh, maïe, aïe! Bewahre doch! Er lachte mich aus, so oft ich versuchte ein Lied zu singen. Martha auch und Gecko! Zum Spaß ließen sie sich ›Ben Bolt‹ von mir vorsingen und bekamen fast Lachkrämpfe dabei. Ich nahm es ihnen nicht übel, mir fehlte eben die musikalische Bildung!«

»Verkehrte er sonst mit wem – irgend einer anderen Frau?«

»Nicht daß ich wüßte! Er sagte immer, er hätte mich so lieb, daß er gar keine andere Frau ansehen möchte. Der arme Svengali (die Thränen traten ihr in die Augen). Er war immer so gut zu mir, aber ich konnte ihn nicht lieben wie er wollte; es war mir rein unmöglich, schon bei dem Gedanken schauderte mir's. Früher haßte ich ihn förmlich – in Paris – im Atelier – wißt ihr's noch?

»Er wich kaum von meiner Seite, und wenn er nicht da war, sorgte Martha für mich – denn ich war immer krank und schwach – oft konnte ich vor Mattigkeit kaum durch das Zimmer gehen. Der weite Weg von Vibraye 374 nach Paris hat mir so geschadet. Ich habe mich davon nie wieder erholt.

»Ich that für ihn was in meinen Kräften stand – flickte seine Sachen, kochte ihm gute, französische Gerichte – wie eine Tochter, denn etwas anderes konnte ich ihm nicht sein. Zu Zeiten hatte er, glaube ich, sehr wenig Geld; wir zogen von einem Ort zum andern – aber ich bekam immer von allem das beste Stück, darauf bestand er; selbst wenn für ihn kaum etwas übrig blieb. Er war immer so unglücklich, wenn es mir nicht schmeckte, daß ich mich oft zum Essen zwang.

»Machte ich mir allerlei Sorgen, oder hatte ich Schmerzen, dann sagte er nur: ›Dors, ma mignonne‹, und mir fielen die Augen zu. Ich schlief oft stundenlang, glaube ich, und war todmüde, wenn ich aufwachte. Dann kniete er neben mir und war so besorgt und teilnehmend – Martha und Gecko auch. Zuweilen kam der Doktor; dann lag ich zu Bett und war krank.

»Gecko kam täglich zum Frühstück und Mittagessen – er ist wirklich engelsgut, der arme kleine Gecko. Warum hat er nur Svengali geschlagen? Das war doch sehr unrecht! Er hat ja alles bei ihm gelernt, was er kann!«

»Und Sie bekamen sonst niemand zu sehen – keine Frau, außer Martha?«

»Ich weiß von keiner Seele.«

»Wer hat Ihnen denn das schöne Kleid geschenkt, das Sie gestern anhatten?«

375 »Es gehört nicht mir, sondern Martha. Oben auf dem Bett liegt es samt dem Pelzmantel. Sie hat eine Menge wunderschöner Kleider von Seide, Sammet und Atlas; auch kostbaren Schmuck und Edelsteine; sie treibt Handel damit und verdient viel Geld.

»Ich habe sie oft anprobiert, sie paßten mir wie angegossen, vielleicht weil ich so groß und mager bin. Svengali kniete vor mir und weinte, wenn er mich so schön geputzt sah; er küßte mir die Hände und sagte ich wäre seine Göttin und Kaiserin; solche Reden kann ich nicht leiden. Auch Martha fing an zu weinen und dann sagte er:

»›Et maintenant dors, ma mignonne!

»Immer wenn ich aufwachte war ich so müde, daß ich von selbst wieder einschlief.

»Seine Geduld war aber unerschöpflich, und ich bin doch die ganze Zeit ein so hilfloses Wesen, eine so schwere, unnütze Last für ihn gewesen!

»Einmal in Prag muß ich sogar im Traum gewandelt sein – ich wachte plötzlich auf und befand mich mitten in einer großen Menschenmenge auf dem Marktplatz. Svengali lag, aus einer Stirnwunde blutend, ohnmächtig am Boden, seine Guitarre neben ihm. Er sagte mir später, ein Pferd habe ihm einen Hufschlag versetzt. Gecko war auch da mit seiner Geige, sie mußten wohl irgendwo Musik gemacht haben. Ich war froh, als ich Gecko sah, denn die Leute benahmen sich so sonderbar, als hätten sie in ihrem 376 Leben noch keine Engländerin gesehen. Sie schrieen und johlten und schenkten mir alles was sie hatten. Manche knieten vor mir und küßten mir die Hände und den Saum meines Kleides.

»Eine Woche lang mußte Svengali das Bett hüten; ich pflegte ihn und er bedankte sich für alles. Der arme Svengali! Gott weiß, ich bin ihm dankbar gewesen – in vieler Hinsicht. Wie ist er denn gestorben? Hat er noch Schmerzen gelitten?«

Sie sagten ihr, der Tod sei ganz plötzlich eingetreten, infolge eines Herzschlags.

»Ach, ich wußte, daß er herzleidend war. Er hatte keine starke Gesundheit und Martha ängstigte sich immer um ihn; er rauchte auch viel zu viel.«

Hier unterbrach Marthas Eintritt die Unterhaltung. Sie war eine ältliche Jüdin von seltsam fremdländischem Typus und schien ganz überwältigt und fassungslos vor Kummer.

Trilby streichelte und küßte sie, nahm ihr Hut und Mantel ab, setzte sie in einen bequemen Lehnstuhl und holte ihr eine Fußbank.

Die Alte verstand nur polnisch und wenige deutsche Wörter; Trilby mochte wohl in der langen Zeit des Beisammenseins manches von der fremden Sprache erlernt haben, denn die beiden verständigten sich ganz gut. Martha schien ein gutmütiges Geschöpf zu sein und Trilby sehr 377 lieb zu haben; vor den drei Engländern fürchtete sie sich aber offenbar entsetzlich.

Jetzt wurde für die Frauen ein Imbiß gebracht und die drei Freunde verließen sie mit dem Versprechen, gegen Abend wiederzukommen.

Es war ihnen ganz verwirrt zu Mute. Der Laird behauptete sogar, die eigentliche Madame Svengali müsse irgendwo verborgen sein und Trilby sei nur untergeschoben worden, natürlich ganz ohne es zu wollen und zu wissen.

Daß alles, was sie erzählte, wahr sein müsse, stand ihr im Gesicht geschrieben, ganz wie vor Jahren. Der Blick ihrer Augen, jedes Wort, das sie mit ihrer volltönenden, weichen Stimme sprach, verkündete lautere Wahrheit. Wenn sie mit dieser Stimme, die so lange und sorgfältig ausgebildet worden war, auch den Gesetzen der Melodie und Harmonie nicht mehr gehorchte, und vielleicht nie wieder eine Note singen würde, so klang doch ihre Sprache wie die schönste Musik.

Bis auf den einen Punkt, der ihren Gesang betraf, war Trilby nach Ansicht der Freunde bei völlig gesundem Verstande. Ja, Taffy sowohl als der Laird und der kleine Billy dachten, jeder für sich, daß diese allerneueste Trilby in ihrem Wesen ganz besonders rührend, herzbewegend und bestrickend sei.

Auffallend gealtert kam sie ihnen aber doch vor, nun 378 sie sie ohne Puder und Schminke sahen; sie zählte erst dreiundzwanzig Jahre und sah wenigstens aus wie dreißig.

Ihre Hände waren von fast durchsichtiger Wachsfarbe; viele kleine Fältchen umgaben Mund und Augen, graue Fäden durchzogen ihr Haar. Alle Straffheit, Spannkraft und Frische schien von ihr gewichen, zugleich mit der Erinnerung an die zahllosen Triumphe, die sie überall gefeiert hatte, wohin sie auf ihrer Wanderschaft kam, (wenn sie wirklich die Svengali war).

Der furchtbare Schreck, der ihre Gesangskunst mit einem Schlage zerstörte, hatte sie zugleich körperlich völlig zu Grunde gerichtet, das war klar.

Aber hatte sie auch ihren Frohsinn und die Fülle der Gesundheit verloren, ja sogar ihren Verstand, so besaß sie doch noch in vollstem Maße den alten Liebreiz, die Anmut und Anziehungskraft, der niemand zu widerstehen vermochte. Jeder Blick, jedes Wort, jede Bewegung wirkte bezaubernd und gewann ihr die Herzen. Konnte sie auch die Leidenschaft nicht wie früher entzünden, so war sie doch jetzt mehr als je eine unbewußte Sirene, ohne Gesang, aber auch ohne Falsch.

Das alles empfanden die Freunde tief, jeder auf seine Weise – ganz besonders Taffy und der kleine Billy.

Alle Begehungs- und Unterlassungssünden ihres vergangenen Lebens waren völlig ausgelöscht, und was auch ihr Schicksal sein würde – ob Genesung, Irrsinn, 379 Krankheit oder Tod – die Sorge für Trilby, bis zu ihrer Wiederherstellung oder ihrem Ende, war von nun an die Hauptlebensaufgabe, der sie sich widmen wollten.

Voll Wehmut dachte der kleine Billy daran, mit wie reiner, selbstloser Leidenschaft sie ihn geliebt hatte, wie bei ihrem Anblick, beim Klang ihrer Stimme die Fähigkeit zu lieben, die jahrelang erstorben war, wie ein warmer Strom sein Herz wieder überflutet hatte und ihm das Leben lieb gemacht, das ihm zuvor eine Last war, trotzdem es ihn mit seinen schönsten Gaben überschüttete.

»Du meine arme, geliebte Circe, du göttliche Zauberin,« seufzte er im stillen, »mit deinem himmlischen Blick und Ton hast du mich elenden fühllosen Stein wieder in einen Menschen umgewandelt. Das will ich dir niemals vergessen. Jetzt, da dich selbst ein noch schwereres Geschick betroffen hat als das meine war, sollst du bis zum Tode mein erster und letzter Gedanke sein.«

Auch Taffy hatte ganz ähnliche Gefühle; es war jedoch nicht seine Art, so beredte Selbstgespräche darüber zu halten wie der kleine Billy.

 

Beim Frühstück lasen sie verschiedene Zeitungsberichte über die Vorgänge des gestrigen Abends. Mehrere Blätter (darunter die Times), brachten schon Leitartikel über die unglückliche Sängerin, die so plötzlich zur Witwe geworden und von der Höhe ihres Ruhmes herabgestürzt war. Sie 380 enthielten ein Gemisch von Wahrem und Falschem: eine Zeitung erwähnte unter anderem, daß Madame Svengali im Hause des Malers William Bagot eine Zuflucht und die nötige Pflege gefunden habe.

Die Totenschau über Svengali fand am Nachmittag statt und auch Geckos Verhör vor dem Polizeigericht, wegen seines gewaltthätigen Angriffs. Sein Urteil sollte erst gesprochen werden, nachdem die Todesursache gerichtlich festgestellt war.

Taffy durfte Gecko im Gefängnis besuchen, erhielt aber wenig Aufschluß durch ihn. Der kleine Geiger erkundigte sich nur aufs eingehendste nach Trilbys Befinden und legte die größte Teilnahme für sie an den Tag; sonst war nichts aus ihm herauszubringen, und sein persönliches Geschick schien ihm vollkommen gleichgültig.

Als sie gegen Abend nach dem Haus in Fitzroy Square zurückkehrten, erfuhren sie, daß Leute aus allen Kreisen, besonders aber aus der musikalischen. litterarischen und vornehmen Welt, sowie eine Menge Ausländer sich nach Madame Svengalis Befinden erkundigt hatten. Niemand war vorgelassen worden, aber Frau Godwin, die Wirtin, war sehr stolz darauf, eine so wichtige Persönlichkeit unter ihrem Dach zu haben.

Trilby hatte an Angèle Boisse in der Rue des Cloîtres Ste Pétronille, ihre alte Adresse, geschrieben, mit der Hoffnung, daß der Brief sie dort noch finden werde. Sie sehnte 381 sich danach, wieder als blanchisseuse de fin bei ihrer Freundin zu sein, und hatte förmliches Heimweh nach Paris, dem Quartier latin und ihrem alten Beruf.

Die Freunde hielten es noch nicht für zeitgemäß, mit ihr über diesen Plan zu reden; daß sie für jetzt außer stande war, irgend welche Arbeit zu verrichten, bedurfte keines Beweises.

Der Arzt, der sie mehrmals besuchte, schüttelte bedenklich den Kopf über ihren sonderbaren Schwächezustand und wünschte, daß ein Spezialist zur Beratung zugezogen würde. So schrieb denn der kleine Billy, welcher viele berühmte Doktoren kannte, selbst an Sir Oliver Calthorpe, um seinen ärztlichen Beistand zu erbitten.

Während der Besuche ihrer drei alten Freunde fühlte sich Trilby ganz glücklich: sie plauderte mit ihnen oder hörte zu und war dabei so froh und heiter und voller Teilnahme, wie früher. Bei diesen Gesprächen konnte man ihren traurigen Zustand ganz vergessen, denn es war nicht im geringsten zu merken, daß ihr Geist irgendwie gelitten habe, außer wenn die Rede zufällig auf ihr Singen kam. Das schien sie stets zu ärgern und zu verdrießen, als wolle man sich über sie lustig machen. Alles, was sich auf ihre wunderbare musikalische Laufbahn bezog, war ihr vollständig aus dem Gedächtnis entschwunden.

Sie hatte den dringenden Wunsch, eine andere Wohnung zu beziehen, um dem kleinen Billy keine 382 Unbequemlichkeit zu verursachen, und die Freunde versprachen, für sie und Martha gleich am nächsten Morgen ein paar Zimmer zu mieten.

Als sie ihr mit großer Vorsicht mitteilten, was sie von Svengali und Gecko wußten, war sie zwar sehr betrübt, aber doch nicht so heftig erschüttert, wie man gefürchtet hatte. Geckos Schicksal machte ihr die meiste Sorge, und sie forschte ängstlich, wie es ihm wohl ergehen werde.

Tags darauf bezog sie mit Martha eine behagliche Wohnung in der Charlotte-Straße. Sir Oliver besuchte sie dort mit Doktor Thorne, ihrem ersten Arzt und Sir Jacob Wilcox.

Sir Oliver interessierte sich sehr für ihren Fall, schon aus Freundschaft für den kleinen Billy. Doch zog ihn auch Trilby selbst in hohem Grade an, und er besuchte sie dreimal im Laufe der Woche, ohne doch zu einer bestimmten Ansicht über ihre Krankheit zu gelangen. Er nahm die Sache sehr ernst, um so mehr, als trotz aller stärkenden Mittel, die er anwandte, ihre Kräfte in rascher Abnahme begriffen waren. Sie verlor täglich an Gewicht, wurde sichtlich magerer und schien in Abzehrung zu verfallen. Ihre Geistesstörung allein war für den Arzt keine genügende Erklärung und einen anderen Grund des Übels vermochte er nicht zu entdecken.

Zwei oder dreimal machte er eine Ausfahrt mit ihr und Martha.

383 Bei einer solchen Gelegenheit sah sie an einem Fenster mehrere Frauen mit weißen Häubchen am Bügelbrett stehen. Es war eine französische blanchisserie de fin und der Anblick regte sie so sehr auf, daß man anhalten mußte, weil sie gern aussteigen wollte.

»Je voudrais bien parler à la patronne, si ça ne dérange pas,« sagte sie, als sie in den Laden trat.

Die Wäscherin war wirklich aus Paris und verwunderte sich sehr, als die kostbar gekleidete, vornehme Dame, welche offenbar den besseren Ständen angehörte, sich mit der bescheidenen Bitte um Arbeit an sie wandte. Dieselbe zeigte sich dabei nicht nur mit allen Einzelheiten des Geschäfts vertraut, sondern führte auch ganz die Sprache einer echten Pariser Wäscherin. Als die Frau sah, wie Martha insgeheim mit dem Finger bedeutungsvoll ihre Stirn berührte und Sir Oliver mit dem Kopf dazu nickte, ging sie bereitwillig auf den Wunsch der großen Dame ein und versprach ihr jederzeit so viel Beschäftigung, als sie irgend haben wollte.

Aber damit hatte es gute Wege. Die arme Trilby fühlte sich kaum stark genug, allein bis zum Wagen zurückzugehen, und dies war ihre letzte Ausfahrt.

Doch erfüllte das kleine Erlebnis sie mit neuer Hoffnung und Zuversicht. Sie hatte noch keine Antwort von Angèle erhalten (die nach Marseille gezogen war), und der Gedanke, wie traurig es im Quartier latin sein würde 384 ohne Jeannot, ohne Angèle und ohne die trois Angliches auf dem Platz St. Anatole des Arts, beunruhigte sie oft.

Die Ärzte hatten streng verboten, irgend einen der Fremden zu ihr zu lassen, die sich nach dem Befinden der berühmten Sängerin erkundigten. Die bloße Erwähnung von Gesang und Musik reizte sie über die Maßen.

»Sage es ihnen doch, Martha, daß es ein Unsinn ist,« rief sie. »Entweder halten sie mich für eine ganz andere Person, oder sie wollen ihren Scherz mit mir treiben.«

Bei solchen Worten verriet Martha die größte Unruhe, ja sie schienen ihr ein förmliches Entsetzen einzujagen.

 

 


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