George du Maurier
Trilby
George du Maurier

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Vierter Teil.

                    »Félicité passée
                    Qui ne peut revenir,
                    Tourment de ma pensée,
Que n'ai-je en te perdant, perdu le souvenir!
«
       

Die Mittagsstunde hatte bereits geschlagen, aber der mit der Post erwartete Eßkober war noch immer nicht auf dem Platz St. Anatole des Arts abgeliefert worden.

Madame Vinards Kücheneinrichtungen waren sämtlich getroffen. Trilby und Angèle Boisse standen schon mit aufgestreiften Ärmeln da, um gleich anfangen zu können.

Nach zwölf Uhr setzten sich die trois Angliches und die beiden schönen blanchisseuses mit sehr sorgenvollem Gemüt zum Frühstück, und so groß war ihre Unruhe, daß sie zusammen eine ganze Gänseleberpastete verzehrten und zwei Flaschen Burgunder austranken.

Ihre Gäste waren um sechs Uhr eingeladen.

Nachdem sie den Tisch aufs feinste mit einem aus dem Hotel de Seine entlehnten Tafeltuch gedeckt hatten, berieten sie, wer wessen Tischnachbar sein sollte, stritten sich darüber und warfen die Tischordnung wieder um, wobei Trilby sehr 166 entschieden auftrat, wie es in solchen Dingen ihre Gewohnheit war. Sie hatte gar kein Recht dazu, setzte aber doch schließlich ihren Willen durch.

Das war wieder einmal ihr eingefleischtes Trilbytum, wie der Laird bemerkte.

Es schlug zwei Uhr – drei – vier – kein Eßkober ließ sich sehen! Schon fing es an, dunkel zu werden. Es war rein zum verzweifeln! Sie knieten auf dem Sofa, stützten die Ellenbogen auf das Fenstersims und sahen längs des Quais eine Straßenlaterne nach der andern aufleuchten. Mochten sie aber ihre Augen noch so sehr anstrengen, um in der Dämmerung den Postkarren des Chemin de Fer du Nord zu erspähen, es schimmerten doch nur die Umrisse der düstern Morgue vom jenseitigen Flußufer zu ihnen herüber.

Endlich fuhr der Laird mit Trilby in einer Droschke nach dem Bahnhof. Aber siehe da, noch ehe sie von der langen Fahrt zurückkehrten, war der schmerzlich erwartete Kober punkt sechs Uhr eingetroffen.

Mit ihm zugleich aber kamen Durien, Vincent, Antoine, Lorrimer, Carnegie, Petrolicoconose, Dodor und l'Zouzou – die beiden letzteren, wie gewöhnlich, in Uniform.

Das Atelier, in dem Taffy und der kleine Billy hoffnungslos und verzagend am Ofen gesessen hatten, und das noch soeben stumm, düster und trübselig dagelegen, verwandelte sich mit einem Schlage in den Schauplatz der lärmendsten, eifrigsten und fröhlichsten Thätigkeit. Die drei 167 großen Lampen wurden angezündet, und alle Papierlaternen brannten. Braten und Pudding, die pièces de résistance, verschwanden mit Trilby, Angèle und Madame Vinard nach anderen Regionen – der Portierwohnung und Duriens Atelier, die für den Zweck zur Verfügung standen – und sämtliche Anwesende beteiligten sich an den Vorbereitungen zum Festschmaus; niemand durfte müßig bleiben, es gab Arbeit für alle. Würstchen wurden gebraten, als Beilage zum Truthahn, Füllsel und Saucen bereitet; Salat angerührt und Punsch gebraut. Überall gab es Gehänge von Stechpalmenzweigen anzubringen und tausenderlei anderes zu thun. Wie geschickt und anstellig sie alle waren, und dabei so gutgelaunt, daß keiner dem andern im Wege stand – nicht einmal Carnegie, der (wie der Laird mit Entzücken bemerkte) seinen Frack angezogen hatte. Deshalb wählte man ihn auch zum Küchenjungen, ließ ihn Gemüse putzen, Geschirr spülen, Kartoffeln schälen u. dgl.

Das Essen zu bereiten war fast ein größerer Spaß als es zu verzehren, und trotz der vielen Köche ward nicht einmal der Brei, d. h. die Suppe, verdorben (Cockaleekie, nach einem Rezept des Laird).

Erst um zehn Uhr konnte das Göttermahl seinen Anfang nehmen.

Zouzou und Dodor, die von allen Köchen die thätigsten und nützlichsten gewesen waren, schienen ganz zu vergessen, daß sie zu dieser Stunde beide wieder in ihren Kasernen 168 hätten sein sollen, denn es war ihnen nur la permission de dix heures bewilligt worden. Wenn sie überhaupt daran dachten, so machte ihnen doch die Gewißheit, daß Zouzou am nächsten Morgen abermals zum Gemeinen degradiert werden, und Dodor einen ganzen Monat keinen Urlaub erhalten würde, nicht die geringste Sorge.

Ebenso gut wie die Küche war auch die Bedienung. Die hübsche, lebhafte, entschlossene Madame Vinard war an hundert Orten zugleich und trieb mit Schimpfen und Schelten auch ihren Gatten zur Rührigkeit. Die niedliche, kleine Madame Angèle bewegte sich sehr zierlich und leise wie ein Mäuschen; wobei jedoch beide Frauen ganz vergnüglich an der allgemeinen Unterhaltung teilnahmen, sobald diese auf Französisch geführt wurde.

Trilby, groß, stattlich, anmutig und doch gleichfalls rasch zur That, obwohl sie mehr einer Diana oder Juno als einer Hebe glich, widmete sich insbesondere ihren eigenen Günstlingen – Durien, Taffy, dem Laird, dem kleinen Billy – auch Dodor und Zouzou, denen sie sehr gewogen war und die sie duzte, wie zwei gute Kameraden, während sie ihnen die besten Leckerbissen anbot.

Die beiden kleinen Vinards gaben sich die größte Mühe, rührten die Pasteten nicht an und zerbrachen nur zwei Ölflaschen und eine Konservenbüchse, worüber ihre Mutter sehr in Harnisch geriet. Um sie zu trösten, setzte der Laird die Kinder auf seine Kniee, und fütterte sie mit Plumpudding und vielen 169 andern guten Sachen, die sie noch nie gegessen hatten und die ihren kleinen französischen Mägen gar nicht zuträglich waren.

Der feine Carnegie hatte sich sein Lebtag noch nicht in so gemischter Gesellschaft befunden. Es erweiterte seinen Ideenkreis außerordentlich, auch brachten ihm Dodor und Zouzou, neben denen er saß, (der Laird hatte gemeint, es würde ihm gut thun, einen Gemeinen und einen einfachen Korporal zu Tischnachbarn zu haben), mehr Französisch bei, als er in den drei Monaten seines Pariser Aufenthalts bis jetzt gelernt hatte. Dies Französisch war ihre besondere Spezialität, eine Umgangssprache, die sich dem Gedächtnis einprägt, aber in diplomatischen Kreisen nicht gerade bevorzugt wird. Bei seiner kirchlichen Laufbahn hat es Carnegie jedoch nicht geschadet.

Er ging ganz aus sich heraus und war der erste, der sich freiwillig erbot, ein Lied zum besten zu geben, nachdem die Pfeifen und Zigarren angezündet und die gebräuchlichsten Gesundheiten auf Ihre Majestät, auf Tennyson, Thackeray, Dickens und John Leech ausgebracht waren.

Dies Lied, das einzige, welches er konnte, trug er mit krächzender Stimme und etwas schwerer Zunge auf Englisch vor; der Refrain aber war nach seiner Behauptung französisch, und lautete:

»Viverler, viverler, viverler, vi
Viverler companyie!
«

Zouzou und Dodor sagten ihm so viel Schmeichelhaftes über seine französische Aussprache, daß er sich nur 170 mit Mühe davon abbringen ließ, das Ganze noch einmal zu singen.

Dann ließen sie sich alle der Reihe nach hören.

Der Laird sang mit prächtigem Bariton:

»Es lebe das Hochland, dideldumdei!« und man rief da capo.

Der kleine Billy sang den ›kleinen Billy‹.

Vincent sang:

»Ein Segel naß, 'ne frische See,
Ein Wind, der paßt und faßt &c.«

Die Worte dieses herrlichen Liedes sind der Melodie wie angegossen.

Antoine sang: ›Le Sire de Framboisy‹. Stürmisches da capo.

Lorrimer fühlte sich ganz besonders begeistert, verstieg sich bis zu Händels Hallelujah und spielte sogar die Klavierbegleitung dazu, fand jedoch nur geringen Beifall.

Durien sang:

»Plaisir d'amour ne dure qu'un moment
Chagrin d'amour dure toute la vie...
«

Dies war sein Lieblingslied, ist auch eines der schönsten, die es überhaupt giebt. Er trug es wunderschön vor und es hat seitdem im Quartier latin allgemeine Aufnahme gefunden.

Der Grieche konnte nicht singen und war klug genug, es bleiben zu lassen.

171 Zouzou gab ein famoses Loblied auf ›le vin à quat sous‹ ganz famos zum besten.

Taffys Jagdlied im breiten Yorkshiredialekt klingt mir noch heute in den Ohren, besonders der Schluß:

»Und wenn ihr nach des Lieds Bedeutung mich wollt fragen,
So kann ich euch nur dies zur Antwort sagen:
Ich weiß es nicht trali, ich weiß es nicht, trala!
An Nancy denk' ich, mein Herz ihr schenk' ich, Trali, trala!«

Taffys Stimme war so voll und kräftig und man fühlte ganz deutlich, daß Nancy ein liebes, süßes Mädchen sein müßte, wo und wann sie auch gelebt haben mochte. Es half nichts, Taffy mußte den Gesang, erst zu ihrer und dann zu seiner Ehre, noch zweimal wiederholen.

Der tapfere Dragoner sang zuletzt noch zu aller Erstaunen auf Englisch: ›O Schwester mein‹, ans der Stummen von Portici, mit solchem Pathos und so rein und hoch und richtig, daß die Zuhörer mitten in ihrer lauten Fröhlichkeit auf einmal ganz weichmütig und gerührt wurden, wie das bei Engländern in der Fremde oft vorkommt, wenn sie in etwas angetrunkenem Zustand schöne Musik hören und an ihre, oder ihrer lieben Freunde liebe Schwestern jenseits des Meeres denken.

Madame Vinard, die bei ihrem Weihnachtsschmaus auf dem Tritt saß, konnte nicht weiter essen; sie mußte zuhören und sich die Augen trocknen: Il est gentil tout plein, ce 172 dragon! sagte sie zu Madame Boisse, die bescheiden neben ihr stand. »Mon Dieu, comme il chante bien! Il est Angliche aussi, il paraît. Ils sont joliment bien élevés tous ces Angliches - tous plus gentiles les uns que les autres, et quant à Monsieur Kleinerbili, on lui donnerait le bon Dieu sans confession!«

Und Madame Boisse war ganz ihrer Meinung.

Nun kamen Svengali und Gecko; es war Zeit zum Abendessen und der Tisch mußte von neuem gedeckt und geschmückt werden.

Bei dieser Mahlzeit ging es womöglich noch heiterer zu als vorhin beim Mittag, denn die eigentliche Eßlust war gestillt und alle sprachen zu gleicher Zeit – der beste Beweis für eine gehobene Stimmung. Nur wenn Antoine einiges aus seinem Leben berichten wollte, hörte man ihm zu. Er erzählte unter anderm, er habe sich einmal einen Monat lang nicht aus dem Hause getraut, um den Manichäern nicht in die Hände zu fallen. Dann aber konnte er es nicht länger aushalten und ging Sonntag morgens nach den Bains Deligny, wo er unvorsichtigerweise in eine zu tiefe Stelle geriet. Ein kühner Schwimmer rettete ihn zwar aus dem nassen Grabe, aber ach, es war Sartory, sein Schuhmacher, dem er sechzig Franken schuldete, gerade der Gläubiger, vor dem ihm am meisten gebangt hatte – auch wurde er so bald nicht wieder losgelassen.

Svengali äußerte hierauf, er wäre Sartory auch 173 sechzig Franken schuldig – »Mais comme che ne me baigne chamais, che n'ai rien à craindre!«

Das rief ein schallendes Gelächter hervor; Svengali aber war stolz darauf; er hatte seiner Meinung nach einen besseren Witz gemacht als Antoine, und schmeichelte sich, diesmal die Lacher auf seiner Seite zu haben.

Nach dem Essen spielten Svengali und Gecko so wundervoll, daß alle Gäste wieder nüchtern wurden und neuen Durst bekamen. Man brachte die grünbekränzte Punschbowle herbei, stellte sie mitten auf den Tisch, und rings herum reine Gläser.

Dodor und Zouzou forderten nun Trilby und Madame Boisse zum Tanze auf. Ihr Cancan war unbeschreiblich komisch für die Zuschauer, aber doch ganz ehrbar und anständig.

Der Laird gab einen schönen Schwerttanz zum besten; dann entblößte Taffy, zur allgemeinen Bewunderung, seine mächtigen Arme, und machte allerlei Kraftübungen, wobei er den kleinen Billy statt der Hanteln benutzte, und ihn fast in die Punschbowle fallen ließ. Als er aber einen zinnernen Löffel mit Dodors Säbel zerhauen wollte, flog der Löffel durchs Fenster, worüber Taffy ergrimmte, und schalt, daß die französischen Säbel von noch schlechterem Metall wären als die französischen Löffel. Da blinzelte der Laird dem kleinen Billy zu und meinte sehr salbungsvoll: dergleichen fabriziere man eben besser in England.

Nun kamen Hahnenkämpfe an die Reihe. Das ist 174 ein sehr hübsches Spiel: Jedem der beiden Gegner werden die Handgelenke über dem Schienbein festgebunden und ein Besenstiel dazwischen durchgesteckt. So gefesselt setzt man sie einander gegenüber und sie müssen versuchen, sich mit den Füßen umzuwerfen. Der Dragoner und der Zuave wurden dabei so wütend, und ihr Anblick war so unbeschreiblich komisch, daß die ganze Gesellschaft glaubte, vor Lachen bersten zu müssen. Als der Lärm gar kein Ende nehmen wollte, kam ein sergent de ville herein und forderte sie höflich auf, sich etwas stiller zu verhalten, sie brächten das ganze Quartier in Aufruhr; draußen sei schon ein förmliches rassemblement. Natürlich machten sie den Polizisten betrunken und einen zweiten, der nach seinem Kameraden sehen wollte, gleichfalls, und auch einen dritten. Die Pariser Sicherheitswächter mußten sich darauf am Hahnenkampf beteiligen; sie waren noch drolliger, als die beiden Soldaten und schrieen, lachten und tobten noch lauter, als alle übrigen, so daß Madame Vinard sich ins Mittel legte. Bald waren sie so berauscht, daß sie nicht mehr sprechen konnten und fest einschliefen, worauf man sie, einen neben den andern, hinter den Ofen legte.

Die fin de siècle Leser, welche sich mit Abscheu von einem Trinkgelage abwenden, wie ich es eben zu beschreiben versucht habe, möchte ich daran erinnern, daß das alles in den fünfziger Jahren geschehen ist. Damals erlaubten sich noch die anständigsten Herren, beim Nachhausegehen fremde 175 Thürklingeln abzureißen, ja sie kamen betrunken vom Derbyrennen zurück und tranken sogar nach Tische zu viel, ehe sie zu den Damen ins Gesellschaftszimmer gingen. Das alles hat John Leech durch seine unsterblichen Sitten- und Charakterbilder im Punch für die Nachwelt getreulich aufgezeichnet und dargestellt.

 

Monsieur und Madame Binard, Trilby und Angèle Boisse wünschten den Herrschaften nun Gute Nacht.

Trilby war die letzte, welche sich empfahl; der kleine Billy begleitete sie bis zur Treppe, und dort sagte er zu ihr:

»Neunzehnmal habe ich dich schon gefragt, Trilby, und du hast dich stets geweigert. Heute, am Weihnachtsfest, frage ich dich zum zwanzigstenmal – willst du mich heiraten – Sagst du nicht ja, so verlasse ich morgen früh Paris und komme niemals wieder. Das schwöre ich, bei meiner Ehre!«

Trilby wurde leichenblaß; sie lehnte sich gegen die Wand und fing an zu weinen.

Der kleine Billy zog ihr die Hände vom Gesicht. »Antworte mir, Trilby!«

»Gott verzeih' mir, ja!« rief sie und lief rasch die Treppe hinunter.

Es war bereits sehr spät geworden.

 

Bald erkannte jedermann, daß der kleine Billy ganz ungewöhnlich guter Dinge war und in einem sehr aufgeregten Gemütszustand.

176 Er forderte Svengali auf, sich mit ihm zu boxen, schlug ihm die Nase blutig und jagte ihm solche Angst ein, daß er seine hämischen Witze hinunterschluckte. Er gab ganz wunderbare und überraschende Proben seiner Kraft zum besten. Er schwor Zouzou und Dodor ewige Freundschaft, füllte ihre Gläser immer wieder, auch (in aller Unschuld) sein eigenes, und trank ihnen fortwährend zu. Sie blieben bis ganz zuletzt, und zwischen fünf und sechs Uhr morgens befand er sich zu seiner Überraschung Arm in Arm mit Zouzou und Dodor bei scharfem Wind und hellem Mondschein in der Rue Vieille des Mauvais Ladres. Bald waren sie auf einer Seite des gefrorenen Rinnsteins, bald auf der andern, dann gerade in der Mitte; von Zeit zu Zeit stand er still, um ihnen zu sagen, daß sie zwei famose Kerle wären, und wie lieb er sie hätte.

Nicht lange, so flog ihm der Hut vom Kopfe, und rollte, hüpfte und sprang die enge Straße hinunter. Sobald sie einander aber losließen um ihm nachzulaufen, setzten sie sich merkwürdigerweise alle drei auf den Boden.

Dodor und der kleine Billy blieben mit den Füßen im Rinnstein sitzen, und umschlangen sich mit den Armen, während Zouzou auf allen Vieren dem Hute nachkroch, ihn glücklich einholte und seine Beute im Munde zurückbrachte, wie ein betrunkener Jagdhund. Der kleine Billy lachte und weinte vor Dankbarkeit und sie saßen noch eine Weile in Liebe und Freundschaft beisammen, bis es ihnen gelang, 177 einander wieder auf die Beine zu helfen. Auf welche Art sie endlich das Hotel Corneille erreichten, darüber schweigt die Weltgeschichte.

Sie setzten den kleinen Billy auf die Schwelle der Hausthür und zogen die Klingel. Da sie aber gerade jemand über den Odeonsplatz kommen sahen, und fürchteten es möchte ein Schutzmann sein, nahmen sie rasch, aber sehr zärtlich, vom kleinen Billy Abschied. Sie küßten ihn noch auf beide Wangen, wie es französische Sitte ist, und machten dann, daß sie um die Ecke kamen und den Blicken entschwanden.

Der kleine Billy aber versuchte Zouzous Trinklied

           »Quoi de plus doux
           Que les glougloux -
Les glougloux du vin à quat' sous...«

Der Fremde kam näher. Zum Glück war es kein Polizist, sondern Ribot, der gerade von einer Weihnachtsfeier mit nachfolgendem Ball im Familienkreise bei seiner Tante, Madame Kolb (der Frau des Elsässer Bankiers), heimkehrte.

Am nächsten Morgen war der arme kleine Billy schrecklich krank.

Er hatte eine entsetzliche Nacht in seinem Bette verlebt, das sich wie die Wellen des Ozeans hob und senkte, und die Folgen waren nicht ausgeblieben. Sein Licht hatte er zu löschen vergessen, aber es war zum Glück von Ribot ausgeblasen worden, nachdem ihn dieser gute Samariter zu Bett gebracht und warm zugedeckt hatte.

178 Als ihm Madame Paul am andern Morgen eine Tasse tisane de chiendent brachte, war sie zwar freundlich, ermahnte ihn aber wie eine Mutter und sprach in sehr strengem Ton über die Schande und die Gefahren der Trunksucht.

»Wenn der gute Monsieur Ribot nicht dazugekommen wäre,« sagte sie, »würden Sie die Nacht über vor der Hausthür gelegen haben, und niemand wird behaupten wollen, Sie hätten das nicht verdient. Und dann bedenken Sie nur, welchen Schaden ein Betrunkener anrichten kann, dem man in einem kleinen Schlafzimmer mit Kattunvorhängen, ein brennendes Licht anvertraut!«

»Ribot war so freundlich, mein Licht auszulöschen,« sagte der kleine Billy sehr kleinlaut.

»Ah Dame!« rief Madame Paul mit bedeutsamem Nachdruck – »an moins il a bon coeur, Monsieur Ribot!«

Am grausamsten aber waren die Gewissensbisse des kleinen Billy, als der gutmütige und unverbesserlich festfrohe Ribot neben ihm am Bette saß, sich freundlich teilnehmend nach seinem Befinden erkundigte und ihm (hinter Madame Pauls Rücken) eine Herzstärkung aus der Apotheke holte.

»Credieu! vous vous êtes crânement bien amusé, hier soir! quelle bosse, hein! je parie, que c'était plus drôle que chez ma tante Kolb!«

Das alles brauche ich wohl nicht zu übersetzen, außer dem Wort bosse, was so viel wie noce heißen soll, und ein lustiges kleines Trinkgelage bedeutet.

179 In seinem ganzen, unschuldigen kleinen Leben, hatte der kleine Billy eine solche Demütigung, solchen schimpflichen Abgrund von Elend, Schmach und Reue auch nicht einmal im Traum für möglich gehalten. Es lag ihm nichts mehr am Leben. Er hatte nur noch den einen Wunsch: daß Trilby, die liebe, freundliche Trilby kommen möchte, sein Haupt an ihrer Brust betten und ihm ihre sanfte Hand kühlend auf die brennende Stirn legen. So wollte er einschlafen und sterben!

Obgleich er nun aber kein anderes Ruhekissen für sein schmerzendes Haupt hatte, als das Polster seines Bettes im Hotel Corneille, so schlief er doch, schlief und schlief, und starb diesmal noch nicht. Als aber, nach etwa achtundvierzigstündigem Schlaf, sein Kopf ganz frei war von den Dünsten jener wüsten Schwelgerei am Christfest, fand er, daß eine ebenso traurige, wie seltsame Veränderung mit ihm vorgegangen sei.

Es war, als habe ein befleckender Hauch den Spiegel seiner Erinnerung berührt, und eine Trübung darauf zurückgelassen, so daß er aus seinem früheren Leben nichts mehr mit der alten ursprünglichen Klarheit darin zu erblicken vermochte. Seine Fähigkeit, sich Vergangenes mit allem Glanz und allem Reiz lebendig ins Gedächtnis zu rufen, schien stumpf und roh geworden zu sein. Es hatte ihm stets besondere Freude gemacht, sich Gefühle, Gemütsbewegungen und Erlebnisse noch einmal zu vergegenwärtigen, sie gleichsam durch die Kraft seines Willens wieder zur Wirklichkeit werden 180 zu lassen. Von diesem Genuß war der zarte Blütenstaub jetzt wie weggewischt. Und er erlangte jene unbezahlbare Gabe, die er seiner Jugend und einer glücklichen Kindheit verdankte, und die er, ohne es zu wissen, in so seltener Vollkommenheit besessen hatte, nie wieder in gleichem Maße. Er sollte bald noch andere kostbare Fähigkeiten seiner allzu reichen und mannigfachen Natur verlieren, die erst beschnitten, gelichtet und veredelt werden mußte, damit seine eine höchste Anlage, die Begabung zur Malerei, Spielraum finden könne, sich aufs vollkommenste zu entfalten; sonst hätte man bei ihm vielleicht den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen (oder vice versa – wenn das richtiger ist).

* * *

Am Neujahrstag saßen Taffy und der Laird im Atelier bei ihrer Arbeit, als an die Thür geklopft wurde, und Monsieur Vinard, ehrerbietig, mit der Mütze in der Hand, zwei Fremde hereinführte, eine englische Dame und einen Herrn.

Der Herr, ein Prediger, war klein, mager, breitschulterig, kurzsichtig, langhalsig und sprach mit trockener Höflichkeit. Die Dame stand im mittleren Lebensalter, sah aber noch jung aus, trotz ihres ergrauten Haars, hatte zierliche Hände und Füße, war klein, doch sehr hübsch, und geschmackvoll gekleidet. Sie war die Mutter des kleinen Billy; der Prediger war ihr Schwager.

Als die beiden Maler den kummervollen Ausdruck im 181 Gesicht der Eintretenden sahen, verging ihnen der Mut, sie wegen der Nachlässigkeit ihres Anzugs und dem Tabaksgeruch, der den ganzen Raum erfüllte, um Entschuldigung zu bitten. Die Mutter des kleinen Billy erkannte die Herren auf den ersten Blick, nach den Skizzen und Beschreibungen in ihres Sohnes Briefen.

Nachdem alle vier Platz genommen, entstand eine kurze, verlegene Pause; dann wandte sich Frau Bagot an Taffy:

»Wir sind in der schrecklichsten Aufregung, Herr Wynne. Ich weiß nicht, ob mein Sohn Ihnen mitgeteilt hat, daß er seit Weihnachten verlobt ist und entschlossen zu heiraten!«

»Zu – heiraten!« riefen Taffy und der Laird wie mit einem Munde. Das war in der That eine Neuigkeit!

»Ja, eine Miß Trilby O'Ferrall, die sich, nach seinen Äußerungen zu urteilen, in einer ganz anderen gesellschaftlichen Stellung befinden muß als er selbst. Kennen Sie die Dame, Herr Wynne?«

»O ja, ich kenne sie sehr gut; wir kennen sie alle.«

»Ist sie Engländerin?«

»Sie ist eine britische Unterthanin, glaube ich.«

»Ist sie protestantisch oder katholisch?« fragte Herr Bagot.

»Hm – ja – das weiß ich wahrhaftig nicht.«

»Sie kennen sie sehr gut, und doch wissen Sie das nicht, Herr Wynne!« rief der Geistliche.

»Ist sie eine gebildete Person, eine Dame?« fragte Frau Bagot etwas ungeduldig, als ob das weit wichtiger wäre.

182 Inzwischen hatte der Laird seinen Freund schmählich im Stich gelassen. Er war in das Schlafzimmer gegangen, von dort durch eine andere Thür auf die Straße, und hatte das Weite gesucht.

»Eine Dame?« wiederholte Taffy; »ja, wissen Sie – es fragt sich nur, was man darunter versteht; hier ist alles so – so – ganz anders. Ihr Vater war, glaube ich, ein gebildeter Mann – hatte in Cambridge studiert – ein Prediger – wenn das etwas zur Sache thut . . . er wurde vom Mißgeschick verfolgt, wenn ich nicht irre – auch war er, fürchte ich, etwas dem Trunk ergeben, und es wollte ihm nichts glücken. Seit sechs oder sieben Jahren ist er tot.«

»Und ihre Mutter?«

»Von ihrer Mutter weiß ich wirklich sehr wenig, außer daß sie sehr hübsch gewesen ist. Sie war, glaube ich, aus niedrigerem Stande als ihr Gatte. Sie ist auch tot; bald nach ihm gestorben.«

»Was ist denn das Fräulein? Vielleicht englische Erzieherin oder dergleichen? Giebt sie Unterricht?«

»O nein, nein – nichts der Art,« sagte Taffy. (Inwendig aber fügte er hinzu: »Dieser Laird, dieser feige, hinterlistige Schotte, dieser Schleicher – mich so allein in der Patsche stecken zu lassen!«)

»Dann hat sie wohl Vermögen – eigene Mittel für ihren Unterhalt?«

183 »Hm – nicht daß ich wüßte; ich glaube, sie hat gar keine.«

»Aber was ist sie denn? Hoffentlich doch wenigstens etwas Anständiges!«

»Augenblicklich ist sie – blanchisseuse de fin – das gilt hier für ein sehr anständiges Gewerbe.«

»Was? – Ist das nicht dasselbe wie eine Wäscherin?«

»Nun, doch wohl nicht ganz dasselbe; – de fin, wissen Sie; hier in Paris sieht man eben die Sachen so sehr anders an. Ich glaube, Sie würden nicht finden, daß sie einer Wäscherin gleicht – dem Aussehen nach.«

»Ist sie denn so hübsch?«

»O ja, ungewöhnlich hübsch; das kann man wohl sagen – sehr schön sogar. Hierüber ist wenigstens nicht der geringste Zweifel.«

»Und von unbescholtenem Ruf?«

Taffy wurde rot und schwitzte wie bei seinen Turnübungen; sein Gesicht drückte die kläglichste Verlegenheit aus – und er schwieg.

Ein Blick voll des unbeschreiblichsten Jammers traf ihn aus den besorgten Mutteraugen, die bange auf ihn gerichtet waren. Nach einer kurzen, höchst peinlichen Stille sagte sie:

»O, Herr Wynne – können Sie mir keine Antwort geben?«

»Beste Frau Bagot– Sie bringen mich in eine schreckliche Lage! Ich – ich liebe Ihren Sohn wie meinen eigenen Bruder. Seine Verlobung ist mir eine vollkommene – 184 sehr schmerzliche Überraschung. Ich habe wohl an mancherlei Möglichkeiten gedacht – nur an das nicht! Ihnen kann und darf ich nicht verhehlen, daß die Heirat für Ihren Sohn durchaus nicht wünschenswert wäre – in den Augen der Welt nämlich – obgleich wir, sowohl ich als mein Freund Mc. Allister, die aufrichtigste wärmste Hochachtung für die arme Trilby O'Ferrall hegen – ja ich kann wohl sagen, große Bewunderung, Zuneigung und Verehrung. – Sie war früher Modell.«

»Modell, Herr Wynne? Was für ein Modell – es gibt natürlich Modelle der verschiedensten Art.«

»Nun, ein Modell von jeder Art, in jedem Sinne des Wortes. Für den Kopf, die Hände, die Füße, für alles.«

»Doch nicht – die Figur?«

»Nun ja – auch das.«

»O mein Gott! mein Gott! – Frau Bagot war aufgesprungen; sie schritt jetzt in der entsetzlichsten Gemütsbewegung im Atelier auf und ab. Der Schwager folgte und bat sie, sich zu fassen – aber sie hörte nicht auf ihn.

»O Herr Wynne, Herr Wynne, wenn Sie nur wüßten, wie sehr mein Sohn mir ans Herz gewachsen ist – wie er unser alles ist – von jeher. Noch nie im Leben haben wir ihn von uns gelassen, bis er hierher kam, in diese gottlose, verruchte Stadt. Mein seliger Mann wollte nicht zugeben, daß er eine Schule besuchte, aus Furcht, er möchte dort Dinge lernen, die ihm schaden könnten. Mein Sohn 185 war so reinen Herzens, so unschuldig wie ein junges Mädchen; ich konnte mich unbedingt auf ihn verlassen – und deshalb gab ich auch endlich nach, als er nach Paris wollte. O ich thörichte Mutter! Ich hätte ihn nicht allein lassen sollen an diesem verderbten Ort; ich hätte bei ihm bleiben müssen – ich arme, arme Thörin! . . . . .

»Er weigert sich sogar uns zu sehen – mich, seine Mutter und seinen Onkel! Im Hotel habe ich einen Brief von ihm vorgefunden, in dem er sagt, er habe Paris verlassen – ich weiß nicht einmal wo er jetzt ist! . . . . . Könnte nicht einer von Ihnen – Sie selbst Herr Wynne, oder Herr Mc. Allister – irgend etwas versuchen, um diesen Jammer, dies Elend abzuwenden? – Sie glauben nicht, wie lieb er Sie beide hat – Sie sollten nur seine Briefe an mich und meine Tochter lesen – die sind immer ganz voll von Ihnen.«

»Verlassen sie sich darauf, Frau Bagot, daß Mc. Allister und ich alles thun werden, was in unserer Macht steht. Aber jeder Versuch, Ihren Sohn zu beeinflussen wäre ganz umsonst, davon bin ich überzeugt. Sie ist es, an die wir uns wenden müssen.«

»O, Herr Wynne, was soll das nützen! Eine Wäscherin – ein Modell – und der Himmel weiß was sonst noch – der ein solches Glück in den Schoß fällt! –«

»Sie kennen sie nicht, Frau Bagot. Was sie auch gewesen sein mag – es wird Ihnen seltsam vorkommen – 186 mir selbst erscheint es wunderbar – aber – bei meiner Ehre – ich halte sie für das beste, selbstloseste Geschöpf, das ich kenne, für das treuste –«

»Ah! Sie muß sehr schön sein – das ist mir jetzt ganz klar!«

»Sie hat eine schöne Seele, Frau Bagot – mögen Sie es glauben oder nicht. An diese will ich mich wenden, als der Freund Ihres Sohnes, dem sein Wohl am Herzen liegt. Ich nehme gewiß großen Anteil an der augenblicklichen Bekümmernis Ihres Mutterherzens, aber doch gestehe ich, daß ich noch weit mehr Gram und Schmerz empfinde, wenn ich an sie denke.«

»Ist es möglich! Sie thut Ihnen leid, wenn sie meinen Sohn heiratet!«

»Das nicht – sondern wenn sie auf die Heirat verzichtet. Ich kann mich vielleicht irren – aber ein inneres Gefühl sagt mir, daß sie es thun wird.«

»Das ist doch sehr unwahrscheinlich.«

»Ich will thun was ich kann, es dahin zu bringen. Bei meinem felsenfesten Vertrauen auf ihre selbstlose Herzensgüte, und bei der leidenschaftlichen Liebe, die sie zu Ihrem Sohne gefaßt hat –«

»Woher wissen Sie denn, daß sie ihn so leidenschaftlich liebt?«

»Mc. Allister und ich haben es längst geahnt, obgleich wir nicht glaubten, daß es diesen Ausgang nehmen würde. 187 Vor allem sollten Sie sie erst einmal selbst sehen; Sie würden einen ganz anderen Begriff von ihr bekommen; ich sage Ihnen, Sie würden sich verwundern.«

Frau Bagot zuckte die Achseln und einige Minuten vergingen unter tiefem Schweigen.

Da erscholl, gerade wie in einem Theaterstück, Trilbys Ruf: »Die Milch ist da!« vor der Thür. Sie erschien in dem kleinen Vorzimmer, wollte sich jedoch gleich wieder entfernen, als sie die Fremden gewahrte. Im Grisettenanzug, ihrem Sonntagskleid und dem hübschen weißen Häubchen, nahm sie sich sehr vorteilhaft aus.

»Kommen Sie herein, Trilby!« rief Taffy. Und Trilby trat in das Atelier.

Sobald sie Frau Bagots Gesicht sah, stand sie still, in aufrechter Haltung, die Schultern leicht in die Höhe gezogen, kreidebleich, mit großen, angstvoll blickenden Augen – eine rührende, schöne und vornehme Erscheinung, trotz ihrer einfachen Kleidung.

Die kleine Dame stand auf und trat dicht an sie heran; sie mußte ordentlich zu ihr hinaufsehen. Trilby atmete schwer.

Endlich sagte Frau Bagot:

»Sie sind Miß Trilby O'Ferrall, nicht wahr?«

»O ja, – – ich bin Trilby O'Ferrall; und Sie sind Frau Bagot, das sehe ich gleich!«

Ihre volle, tiefe, weiche Stimme hatte einen neuen, ungewohnten Klang angenommen; sie war so tieftraurig, 188 so herzbewegend und paßte so wunderbar zu ihrem ganzen Aussehen und der Lage der Dinge, daß es Taffy kalt den Rücken hinunterrieselte und er fühlte, wie ihm das Blut in den Adern erstarrte.

»Ja freilich – Sie sind schön – sehr, sehr schön – darüber ist kein Zweifel. Und Sie wünschen meinen Sohn zu heiraten?«

»Ich habe es ihm neunzehnmal abgeschlagen – um seinetwillen; er kann Ihnen das selber sagen. Ich bin keine passende Frau für ihn, das weiß ich. Weihnachten machte er mir seinen Antrag zum zwanzigstenmal und schwor, er würde Paris am nächsten Morgen auf immer verlassen, wenn ich nicht einwilligte. Ich hatte nicht den Mut – es ging über meine Kräfte – und da – – Es war ein furchtbarer Irrtum!«

»Lieben Sie ihn denn so sehr?«

»Ob ich ihn liebe? – Thun Sie es denn nicht auch?«

»Ich bin seine Mutter, mein gutes Kind.«

Hierauf fand Trilby offenbar nichts zu erwidern.

»Sie haben eben selbst gesagt, daß Sie nicht die richtige Frau für meinen Sohn wären. Wenn Sie ihn denn so lieb haben, werden Sie ihn doch nicht heiraten wollen, um ihn in den Staub zu ziehen, ins Verderben zu stürzen, sein Fortkommen in der Welt zu hindern, ihn von seiner Schwester, seiner Familie, seinen Freunden zu trennen?«

Trilbys schmerzerfüllte Blicke suchten Taffys 189 kummervolle Augen. »Und wird das wirklich alles daraus entstehen, Taffy?« fragte sie.

»O Trilby, es geht so vieles verkehrt auf dieser Welt und läßt sich nicht wieder gut machen. Ich fürchte, es wird wohl so sein. Es thut mir ganz unbeschreiblich leid – aber belügen kann ich Sie doch auch nicht.«

»O nein, Taffy; ich weiß, Sie lügen nicht.«

Trilby zitterte so heftig, daß Taffy sie bat, sich zu setzen, aber das wollte sie nicht. In schrecklicher Angst und atemloser Spannung – beinah flehend, sah Frau Bagot ihr ins Gesicht.

Da reichte ihr Trilby mit freundlicher Miene ihre bebende Hand. »Leben Sie wohl! Ich werde Ihren Sohn nicht heiraten, das verspreche ich Ihnen. Ich will ihn nie wiedersehen!«

Frau Bagot ergriff die ausgestreckte Hand, drückte sie und wollte sie küssen: »Gehen Sie noch nicht fort, Sie liebes, gutes Mädchen; ich möchte noch mit Ihnen sprechen, möchte Ihnen sagen, wie tief ich fühle, was –«

»Leben Sie wohl,« wiederholte Trilby, machte ihre Hand los und verließ rasch das Zimmer.

Frau Bagot schien ganz betroffen und nur halb zufrieden mit ihrem schnellen Triumph.

»Die Frau Ihres Sohnes wird sie nicht werden,« sagte Taffy. »Ich wünschte nur zu Gott, daß sie mich heiraten wollte!«

190 »O Herr Wynne!« rief Frau Bagot, in Thränen ausbrechend.

Der Prediger hustete, räusperte sich und sagte mit einem etwas spöttischen Lächeln: »Nun, wenn das sich einrichten ließe – das Fräulein würde schwerlich Widerspruch erheben (er machte Taffy eine schmeichelhafte Verbeugung), so wäre es ja für alle Teile höchst wünschenswert.«

»Es ist außerordentlich gütig von Ihnen, werter Herr,« versetzte Taffy, »daß Sie sich so für meine bescheidenen Angelegenheiten interessieren. Sehen Sie – ich bin kein großes Genie wie Ihr Neffe, und was ich mit meinem Leben anfange, kümmert niemand viel, außer mich selbst. Aber ich kann Sie versichern – hätte Trilby mir ihr Herz zugewandt wie ihm – ich würde mit Freuden mein Geschick lebenslang mit dem ihrigen verbinden. Sie ist eine unter Tausenden. Die eine Sünderin, die Buße thut, wissen Sie.«

»Ja so – jawohl, versteht sich – ich weiß das alles sehr gut. Aber, über gewisse Thatsachen läßt sich doch nicht hinwegsehen; die Welt ist eben die Welt, und wir müssen in ihr leben,« sagte der geistliche Herr, dessen spöttisches Lächeln vor dem Zornesblitz aus Taffys blauen Augen verschwunden war.

Der gute Taffy sah stirnrunzelnd auf den Pfarrer herab (der ein höchst einfältiges Gesicht machte, wie das Menschen manchmal thun, die doch das Recht ganz auf ihrer Seite haben), und fuhr fort: »Ich kann Ihnen nicht sagen, 191 Herr Bagot, wie unbeschreiblich ich während dieser – höchst peinlichen Unterredung gelitten habe, da mir Trilby O'Ferrall die größte Hochachtung einflößt. Ihnen und Ihrer Schwägerin wünsche ich Glück zu dem vollständigen Sieg; Ihr Neffe thut mir aber aufrichtig leid. Er hat vielleicht mehr verloren, als er durch den – den gelungenen Ausgang dieser – dieser Verhandlung – gewinnen kann.«

Mit Taffys Beredsamkeit war es aus; länger konnte er seine heftige Natur nicht bezwingen.

Da trocknete Frau Bagot ihre Augen, trat zu ihm, ergriff seine Hand und sagte mit einfacher Herzlichkeit: »Ich glaube, ich weiß, wie Ihnen jetzt zu Mute ist, Herr Wynne. Bitte versuchen Sie, Nachsicht mit uns zu haben. Wenn wir fort sind und Sie ein wenig Zeit finden, zu überlegen, urteilen Sie vielleicht weniger hart. Was aber das schöne, hochherzige Mädchen betrifft, so wünschte ich nur, sie wäre der Art, daß mein Sohn sie heiraten könnte – ihr vergangenes Leben, meine ich. Ihr niederer Stand würde mich nicht erschrecken – ich meine das ganz aufrichtig, bitte glauben Sie mir! Und verdammen Sie auch die Mutter Ihres Freundes nicht allzusehr. Denken Sie an alles, was ich mit meinem armen Sohn noch werde durchmachen müssen. Er hat sich das Herz eines solchen Mädchens erobert und kann jetzt noch nicht einsehen, wie verderblich die Heirat für ihn wäre. Daß seine Liebe zu ihr so groß ist, wundert mich nicht. Ich begreife den Zauber, den sie ausübt, sehr 192 wohl, glaube auch trotz allem an ihre Güte. Und dabei ist sie so schön und hat eine so wunderbare Stimme. Das fällt natürlich alles in die Wagschale. Ich bedaure sie von ganzer Seele und wüßte ihr auch keinen Ersatz zu leisten. Ich werde es nicht einmal versuchen; für solchen Verlust gibt es keine Entschädigung. Nur schreiben will ich ihr, und ihr alles sagen, was ich denke und fühle. – Nicht wahr, Sie werden uns verzeihen?«

Frau Bagot sprach mit so lebhaftem, warmem Gefühl, mit solcher Anmut und Aufrichtigkeit, und war dabei in ihrem Wesen dem kleinen Billy so lächerlich ähnlich, daß es dem großen Taffy das Herz rührte. Er hätte ihr alles vergeben, nur wußte er nicht was.

»Aber ich bitte Sie, Frau Bagot – von Verzeihung kann ja gar keine Rede sein; alles liegt ja nur an den unglücklichen Verhältnissen, ich wüßte nicht, daß irgend jemand daran schuld wäre. – Leben Sie wohl – ich empfehle mich, Herr Bagot.«

Er begleitete sie hinunter, bis zu der Mietkutsche, in der eine wunderhübsche junge Dame saß, mit bleichem, ängstlichem Gesicht. Sie glich dem kleinen Billy so auffallend, daß es ordentlich komisch war und das Herz des großen Taffy abermals rührte.

 

Als Trilby das Atelier verließ und in den Hof hinunter kam, sah sie Miß Bagot am Wagenfenster. Ihre Augen 193 begegneten sich und sie las in des Fräuleins Miene nur angenehme Überraschung und teilnehmende Bewunderung. Wie oft hatte der kleine Billy ihr solchen Blick zugeworfen und dabei ganz ebenso den Mund ein wenig geöffnet und die Augenbrauen in die Höhe gezogen. Sie erkannte seine Schwester sofort, und es schnitt ihr ins Herz.

»Nein, nein,« sagte sie und wandte sich ab, »ich will ihn nicht von seiner Schwester, seiner Familie, seinen Freunden trennen. Das steht ein für allemal fest. Damit hat es nun keine Gefahr mehr.«

Ihr war etwas wirr im Kopfe, und um sich zu sammeln, bog sie in die Rue Vieille des Mauvais Ladres ein, welche um diese Zeit ganz menschenleer zu sein pflegte. Die Straße war auch wie ausgestorben, nur eine einsame Gestalt saß auf einem Pfosten und ließ die Beine herabbaumeln; sie hatte die Hände in den Hosentaschen, die Pfeife verkehrt im Munde, einen zerknitterten Strohhut auf dem Kopf, und ihr langer Überrock hing bis zu den Fersen herab. Es war der Laird.

Sobald er sie gewahrte, sprang er von seinem Sitz herunter, kam auf sie zu und sagte:

»O Trilby – was ist denn nur geschehen? Ich konnte es nicht aushalten und bin fortgelaufen. Die Mutter des kleinen Billy ist da!«

»Ich weiß, lieber Sandy; ich komme eben von ihr!«

»Nun, und was ist denn los?«

»Ich habe ihr versprochen, den kleinen Billy nie wieder 194 zu sehen. Es war sehr thöricht von mir, mich mit ihm zu verloben. Immer wieder habe ich ihn abgewiesen während der letzten drei Monate; aber als er sagte, daß er Paris verlassen würde und nie wiederkommen, gab ich doch nach. Ich hatte mich erboten bei ihm zu leben, für ihn zu sorgen, seine Magd zu sein, alles zu thun was er wünschte – nur nicht seine Frau zu werden; aber er wollte nichts davon hören. O der liebe, liebe kleine Billy! Er ist so engelsgut. Durch mich soll ihm nie ein Leid geschehen, das habe ich mir fest vorgenommen. Ich verlasse die abscheuliche Stadt und gehe aufs Land; irgendwie kann ich mir schon das Leben fristen. Ich weiß ein paar arme Leute, die mich früher sehr lieb hatten; bei denen will ich wohnen, ihnen bei der Arbeit helfen und für meinen Unterhalt sorgen. Nur über Jeannot bin ich noch im Zweifel. Ich habe es alles längst überlegt, wie Sie sehen; es traf mich nicht unvorbereitet.«

Sie lächelte trübselig und preßte die Lippen fest aufeinander.

»Aber Trilby, was sollen wir beide, Taffy und ich, denn ohne Sie anfangen? – Sie gehören doch nun einmal zu uns.«

»O wie lieb und gut von Ihnen, das zu sagen!« rief die arme Trilby, deren Augen sich mit Thränen füllten. »Für dies Glück habe ich ja einzig und allein gelebt, bis das alles geschah. Aber jetzt kann es doch nicht mehr so weiter gehen, nicht wahr? Alles ist nun anders geworden, selbst der Himmel scheint mir nicht mehr derselbe. Ach 195 Duriens Liedchen: ›Plaisir d'amour - chagrin d'amour‹ ist nur allzu wahr. – Ich will mich nur gleich aufmachen und Jeannot mitnehmen; das wird am besten sein!«

»Aber wohin wollen Sie denn gehen?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen, lieber Sandy, bis nach langer, langer Zeit. Stellen Sie sich nur vor, was für Verdruß entstehen würde, wenn – nein, es ist keine Zeit zu verlieren; ich muß den Stier bei den Hörnern fassen.«

Sie versuchte zu lachen, hielt ihn an dem großen Backenbart fest, küßte ihm Mund und Augen, und ihre Thränen benetzten sein Gesicht.

Reden konnte sie nicht mehr; sie nickte ihm nur noch ein Lebewohl zu und schritt dann rasch die schmale, gewundene Straße hinunter. Als sie an die erste Biegung kam, drehte sie sich um, warf ihm noch ein paar Kußhände zu, winkte zum letztenmal, und verschwand.

In tiefem Mitgefühl, bekümmert und niedergeschlagen, starrte der Laird ihr noch mehrere Minuten lang nach, die leere Straße hinunter. Dann füllte er seine Pfeife von neuem, zündete sie an, schwang sich wieder auf seinen Pfosten, saß dort mit baumelnden Beinen und schlug die Hacken an einander. So wartete er bis die Kutsche mit den Bagots fortfahren würde, damit er nach Hause gehen, Taffys gerechtem Zorn mit Mannesmut begegnen, und alle etwaigen Vorwürfe wegen seiner Feigheit und Fahnenflucht vor dem Feinde, über sich ergehen lassen könne.

196 Am nächsten Morgen erhielt Taffy zwei Briefe. Der eine, sehr lange, war von Frau Bagot. Er las ihn zweimal durch, und mußte sich eingestehen, daß nur eine kluge, warmherzige Frau so schreiben konnte, die ihren Sohn liebte wie ihren Augapfel. Man fühlte, sie wäre bereit gewesen, ihrem besten Freunde bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen, um dem kleinen Billy ein Paar Handschuhe daraus zu machen, wenn er sie nötig brauchte; der arme Freund aber hätte ihr nichtsdestoweniger aufrichtig leid gethan. Taffys eigene Mutter war auch ein wenig dieser Sinnesart gewesen, und es verging kein Tag, an dem er sie nicht schmerzlich vermißte.

Frau Bagot ließ allen äußeren und inneren Vorzügen, die Trilby besaß, volle Gerechtigkeit widerfahren. Aber sie war auch schlau und spitzfindig, wie ihr Geschlecht es sein kann, wenn ihm ein besonderer Fall am Herzen liegt. Mit großem Scharfsinn erörterte sie, was die unausbleiblichen Folgen einer solchen Heirat schon nach wenigen Jahren – vielleicht sogar noch früher, sein würden: völlige Ernüchterung und lebenslange Reue auf beiden Seiten.

Er hätte ihre Beweisführungen mit keinem Worte zu widerlegen gewußt. Zwar war er der Überzeugung, daß es sich bei Trilby und dem kleinen Billy um zwei außergewöhnliche Menschen handle, aber er konnte doch unmöglich behaupten, die Natur des kleinen Billy besser zu kennen als dessen Mutter. Kunst und Freundschaft hatten sie eng 197 verbrüdert, wenn er aber sein leiblicher Bruder gewesen wäre, hätte er dann wohl seine Einwilligung zu einer solchen Verbindung geben können, dürfen oder wollen?

Nein, weder als Freund noch als älterer Bruder, das unterlag keinem Zweifel.

Der andere Brief, in Trilbys kühner, regelloser Handschrift, die über die ganze Seite fuhr, war stellenweise mangelhaft in der Rechtschreibung – er lautete so:

»Lieber, lieber Taffy! Ich möchte Ihnen noch Lebewohl sagen. Um all dem Elend ein Ende zu machen, an dem ich ganz allein schuld bin, gehe ich fort.

»Gleich nachdem ich dem kleinen Billy mein Jawort gegeben, wußte ich ganz genau, was für eine Thörin ich war und schämte mich vor mir selber. Die ganze Woche über war mir jämmerlich zu Mute, das kann ich Ihnen versichern. Mir ahnte schon wie alles kommen würde.

»Ich bin schrecklich unglücklich; aber wenn ich ihn heiratete und er es je bereute und sich meiner schämen sollte, würde ich noch viel, viel unglücklicher sein, selbst wenn er es in seiner Engelsgüte vor mir zu verbergen suchte.

»Eine Dame könnte ich doch nie werden – wie wäre das möglich? Ich hätte wohl eine werden sollen, aber mit mir scheint alles verkehrt gegangen zu sein. Das ist mir früher noch niemals klar geworden; aber jetzt läßt sich's nicht mehr ändern.

»Armer Papa!

198 »Ich nehme Jeannot mit. In der letzten Zeit habe ich ihn schrecklich vernachlässigt, aber das will ich jetzt wieder gut machen.

»Sie müssen nicht versuchen herausfinden, wohin ich gehe. Nicht wahr, Sie werden nicht nach mir forschen, wenn ich Sie darum bitte, und auch sonst niemand. Es würde mir nur alles noch schwerer machen!

»Angèle weiß es und hat versprochen, zu schweigen. Ich möchte aber gern noch ein Briefchen von Ihnen haben. Schicken Sie es ihr, sie wird es mir zukommen lassen.

»Lieber Taffy, nächst dem kleinen Billy liebe ich Sie und den Laird mehr als irgend jemand auf Erden. Ich bin nie wirklich glücklich gewesen, bis ich Sie kennen lernte. Sie haben mich zu einer ganz anderen Person gemacht; Sie und Sandy und der kleine Billy.

»O, es war eine so wunderschöne Zeit, wenn sie auch nicht lange gedauert hat. Mir muß sie für das ganze Leben genügen. Leben Sie wohl; ich vergesse Sie niemals, nein niemals, und bleibe in herzlicher Liebe

Ihre immer getreue Freundin

Trilby O'Ferrall

»Nachschrift: Wenn erst alles wieder in Ruhe ist und Gras darüber gewachsen – falls das je geschieht – komme ich vielleicht eines Tages nach Paris zurück und wir sehen uns wieder.«

199 Der gute Taffy grübelte lange über diesen Brief nach. Er las ihn wohl ein halbes Dutzend mal; dann küßte er ihn, steckte ihn wieder in den Umschlag und verschloß ihn.

Er wußte, wie tief der Herzenskummer war, der hier einen nicht gerade gewählten Ausdruck gefunden hatte. Und er begriff, daß Trilby, die im täglichen Verkehr stürmisch und zärtlich in ihren Freundschaftsbezeugungen war, wie ein Kind, sich in solchem Fall zurückhaltender zeigen mußte als die meisten Frauen.

Seine Antwort schickte er durch Vermittelung von Angèle Boisse; sie war sehr ausführlich, herzlich und liebevoll.

Auch der Laird schrieb einen langen Brief voll aufrichtiger Ergebenheit. Beide sprachen ihre feste Hoffnung und Erwartung aus, Trilby bald wieder zu sehen und ihr altes, freundschaftliches Verhältnis zu erneuern, wenn sie die erste Bitterkeit ihres Grams überwunden haben würde.

Da ihnen nun ganz erbärmlich zu Mute war, gingen sie zusammen nach dem Café de l'Odéon, wo die Omeletten gut waren und der Wein nicht blau, und verzehrten stillschweigend ihre Mahlzeit.

Spät am Abend saßen sie, jeder mit einem Buch in der Hand, im Atelier. Sie fanden es gar nicht leicht, die Unterhaltung in Fluß zu bringen, wenn der kleine Billy nicht da war, um ihnen zuzuhören. Man muß zu dreien sein, um sich Gesellschaft zu leisten, zwei sind oft zu wenig!

Plötzlich polterte es mit rasender Eile die dunkle Treppe 200 herauf: der kleine Billy kam wie ein Wirbelwind ins Zimmer gestürzt – verstört, außer Atem, zuerst keines Wortes mächtig vor Aufregung.

»Wo ist Trilby? . . . Was ist aus ihr geworden? . . . Sie ist fort . . . O sie hat mir einen schrecklichen Brief geschrieben! . . . Wir wollten uns trauen lassen . . . auf der Gesandtschaft . . . Meine Mutter . . . hat sich eingemischt . . . und der alte, verfluchte Esel . . . der Unheilstifter . . . mein Onkel! . . . Die sind hier gewesen! Ich weiß alles . . . Warum seid ihr beide nicht für sie eingetreten? . . .«

»Ich that es . . . so gut ich konnte. Sandy hielt es nicht aus und lief fort.«

»Du, Du hättest dich ihrer angenommen! . . . Hast Du nicht meiner Mutter beigestimmt, daß Trilby mich nicht heiraten sollte! . . . Du falscher, falscher Freund! . . . O, sie ist ein Engel – viel zu gut für meinesgleichen . . . das weißt Du wohl. Was sie von ihrer gesellschaftlichen Stellung sagen und dergleichen . . . lauter faules Geschwätz! Ihr Vater war ganz ebenso gebildet wie meiner . . . und überdies . . . was schere ich mich denn um ihren Vater . . . sie will ich, sie, sie ganz allein . . . ich sage euch, ich kann ohne sie nicht leben . . . ich muß sie wieder haben – hört ihr . . . ich muß sie haben! Wir wollten zusammen in Barbizon bleiben – unser Lebenlang – ich hätte die herrlichsten Bilder gemalt, wie die andern Leute dort. Wer 201 fragt wohl nach ihrer gesellschaftlichen Stellung . . . oder nach der ihrer Frauen? Welt und Gesellschaft sind bloße Narrenspossen – wie oft haben wir das gesagt und uns vorgehalten. Ein Künstlerleben hat nichts mit der Welt zu schaffen, es steht hoch über ihrem niedrigen und gemeinen Treiben. Die Gesellschaft ist ein Pfuhl, ein verrotteter, vermoderter Sumpf, der einem zum Ekel wird, vor dem einem graut. Das haben wir gesagt und geglaubt. Und jetzt soll auf einmal kein Wort davon mehr wahr sein! . . . Die Liebe geht allem vor – sie macht alles gleich – die Liebe, die Kunst . . . . und die Schönheit. Wer denkt bei einer Schönheit wie Trilbys noch an Rang und Stand? Und was ist denn meine gesellschaftliche Stellung? – großer Gott! – Keinen Pinselstrich thue ich mehr, bis ich sie wiederhabe . . . . nein, niemals – ich sage euch, ich kann nicht – und ich will nicht! . . .«

So schrie und tobte der arme Junge weiter und geberdete sich wie ein Verzweifelter; er warf Stühle und Staffeleien um, und raste wild hin und her in wahnsinniger Erregung.

Um ihn zur Vernunft zu bringen, redeten sie ihm zu, und versuchten ihm auseinander zu setzen, daß Trilby, auch ganz abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Stellung, weder zur Frau für ihn passe, noch zur Mutter seiner Kinder u. s. w.

Aber es war alles umsonst. Er geriet nur noch mehr außer sich, stammelte unzusammenhängende Sätze und stieß 202 verwirrte Laute aus – der traurige Anblick schnürte ihnen ordentlich das Herz zusammen.

»Gerechter Himmel! seid ihr beide denn so fleckenrein, daß ihr Steine auf die arme Trilby werft? Es ist eine Schande, eine himmelschreiende Schande, daß es ein anderes Gesetz für die Frau gibt, wie für den Mann! . . . Die armen, schwachen, liebevollen Geschöpfe, denen die rohen Männer immer nachlaufen, um sie zu ängstigen, sie ins Verderben zu locken und dann unter die Füße zu treten! . . . O, o . . . es macht mich krank . . . es bringt mich um!« Er rang nach Atem, kreischte laut auf und fiel in Krämpfen zu Boden.

Man schickte nach dem Arzt. Taffy fuhr mit einer Droschke ins Hotel de Lille et d'Albion, um die Mutter des kleinen Billy zu holen. Der Kranke lag ganz bewußtlos da; Sandy und Madame Vinard entkleideten ihn und legten ihn auf das Bett des Laird.

Der Doktor kam, und bald darauf Frau Bagot mit ihrer Tochter. Es war ein sehr ernster Fall. Noch ein zweiter Arzt wurde zugezogen. Man schaffte Betten herbei und schlug sie im Atelier auf für die zwei schwerbekümmerten Frauen. So endete dieser Unglückstag, an dem der arme Billy eigentlich hatte Hochzeit halten wollen, wie sich herausstellte.

Der Anfall schien epileptischer Natur gewesen zu sein. Es entwickelte sich eine Gehirnentzündung darauf, zu der 203 noch andere Übel hinzutraten, eine langwierige schleppende Krankheit. Viele Wochen vergingen, bis er außer Gefahr war, und auch seine Genesung machte nur allmähliche Fortschritte und zog sich sehr in die Länge.

Sein ganzes Wesen war verändert. Er lag matt und teilnahmlos da und erwähnte Trilby nie, außer einmal, um zu fragen, ob sie zurückgekommen wäre, ob man wisse, wo sie sei, ob man ihr Nachricht gegeben habe.

Das war offenbar nicht geschehen. Frau Bagot hielt es für besser, nicht zu schreiben, und Taffy und der Laird stimmten ihr bei, daß es zu nichts Gutem führen könne.

Frau Bagot trug Bitterkeit im Herzen gegen das Mädchen, welches die Ursache des ganzen Elends war, und Bitterkeit gegen sich selbst, daß sie so ungerecht urteilte. Es war eine trostlose Zeit für alle.

 

Aber das Unglück war noch nicht erschöpft. Eines Tages im Februar suchte Madame Angèle Boisse Taffy und den Laird in dem Atelier auf, wo sie einstweilen arbeiteten. Sie befand sich in schrecklicher Angst und Sorge.

Trilbys kleiner Bruder war am Scharlachfieber erkrankt und gestorben. Am Tage nach seinem Begräbnis hatte sich Trilby aus ihrem Zufluchtsort entfernt und sich nicht wieder blicken lassen. Seitdem war schon eine Woche vergangen. Sie hatte mit Jeannot in Vibraye, einem Dorfe des Bezirks La Sarthe, bei armen Leuten gewohnt, wo sie mit 204 Waschen und Näharbeit ihren Unterhalt erwarb, bis ihr Brüderchen krank wurde.

Sie wich nun Tag und Nacht keinen Augenblick von seinem Bett und als er starb, war ihr Schmerz so schrecklich, daß alle glaubten, sie würde den Verstand verlieren. Am Tage nach der Beerdigung konnte man sie nirgends finden – sie war verschwunden und hatte nichts mitgenommen, nicht einmal ihre Kleider – ohne Abschied, ohne irgend eine Botschaft zurückzulassen, war sie fortgegangen.

Alle Teiche und Brunnen wurden nach ihr durchsucht, auch der Fluß, an dem Vibraye liegt und der nahe Wald.

Taffy fuhr nach Vibraye und fragte dort die Leute aus; er benachrichtigte auch die Pariser Polizei – alles ohne Erfolg; und jeden Nachmittag ging er mit bange klopfendem Herzen nach der Morgue . . . . .

 

Vor dem kleinen Billy verheimlichte man die Nachricht natürlich. Das machte keine Schwierigkeit; er fragte nie nach etwas, sprach überhaupt kaum ein Wort.

Als er zum erstenmal das Bett verließ und in das Atelier getragen wurde, verlangte er nach seinem Bilde ›Der Krug geht zu Wasser‹. Er sah es eine Weile an, zuckte dann die Achseln und fing an zu lachen – es klang jammervoll – wie das Lachen eines harten alten Mannes, der lacht, weil er sonst weinen würde. Dann sah er seine Mutter und seine Schwester an, und erkannte, welche 205 furchtbare Spuren Gram und Sorge in ihren Zügen zurückgelassen hatten.

Ihm war, als erwache er aus einem schweren Traum; als habe ihn der Wahnsinn jahrelang umnachtet, als sei er der Gegenstand endloser Herzensangst und Bekümmernis gewesen. In seinem armen, wirren Kopf schien es nun endlich wieder klar zu werden; die Erinnerung an so viele nie ermüdende Liebe und Güte, mit der man ihn überschüttet hatte, kehrte zurück, und mit ihr kam die bitterste Reue. Sein herziges Schwesterchen, seine geliebte, vielgeprüfte Mutter – was war denn nur eigentlich geschehen, um ihr Aussehen so zu verändern!?

Er umschlang sie beide mit seinen schwachen Armen und brach in einen Strom von Thränen aus.

Lange weinte er verzweiflungsvoll, und als er keine Thränen mehr hatte, schlief er ein.

Als er erwachte ward er inne, daß sich noch etwas anderes, tief trauriges mit ihm zugetragen hatte. Aus irgend einer rätselhaften Ursache war seine Liebeskraft nicht mit dem Bewußtsein zurückgekehrt – sie war fortgeblieben und ihm war, als habe er sie auf ewig verloren, und könne sie nie mehr finden – nicht einmal die Liebe zu Mutter und Schwester; auch seine Liebe zu Trilby nicht. Wo das alles einmal gewesen war, fühlte er jetzt nur noch eine tiefe Kluft, eine schreckliche Öde und Leere . . .

Wahrlich, wenn Trilby auch viel gelitten hatte, so 206 war sie doch auch die unschuldige Ursache furchtbaren Leidens gewesen. Die arme Frau Bagot konnte den Groll gegen sie nicht aus ihrem Herzen reißen.

Doch es ist hohe Zeit, daß ich diesen Teil meiner Geschichte abkürze; sie ist schon viel zu traurig geworden.

Als die wärmere Witterung eintrat und die Kräfte des kleinen Billy zunahmen, erhielt das Atelier ein freundlicheres Ansehen. Die Betten der Damen wurden eine Treppe tiefer, nach einem Raum geschafft, der gerade leer stand, und die Freunde besuchten den kleinen Billy, um ihn und seine Schwester etwas zu zerstreuen.

Taffy und der Laird waren freilich schon die ganze Zeit über Frau Bagots Stab und Stütze gewesen, zwei feste Krücken, ohne deren unschätzbare Hilfe sie sich schwerlich in alle den Schicksalswirren hätte aufrecht halten können.

Monsieur Carrel kam jeden Tag, um mit seinem Lieblingsschüler zu plaudern und Frau Bagots Herz zu erfreuen. Auch Durien, Carnegie, Petrolicoconose, Vincent, Antoine, Lorrimer, Dodor und l'Zouzou fanden sich ein. Die beiden letzteren schienen Frau Bagot ganz unwiderstehlich, sobald sie erst wußte, daß sie Edelleute waren, was kein Mensch vermuten konnte.

Sie zeigten sich auch wirklich nur von der vorteilhaftesten Seite, und obgleich sie in allem das schnurgerade Gegenteil des kleinen Billy waren, hegte Frau Bagot doch fast mütterliche Gefühle für sie und gab ihnen manchen 207 harmlosen, wohlgemeinten Rat, den sie avec attendrissement entgegen nahmen, ohne auch nur einen Blick miteinander zu wechseln. Oftmals hielten sie ihr die Wolle und lauschten mit frommem Augenverdrehen und heuchlerischen Mienen auf Miß Bagots geistliche Musik.

Wer Soldat ist und ein lockerer Zeisig, hat es wahrlich gut; er bezaubert und entzückt alle weiblichen Herzen, jung und alt, hoch und niedrig (höchstens mit Ausnahme einiger weltlich gesinnter Mütter heiratsfähiger Töchter). Und während er sich insgeheim über seine Verehrerinnen lustig macht, halten sie alles was er sagt, für bare Münze.

Sämtliche gute Frauen der ganzen Welt haben sich von jeher mit Wonne von diesen windigen, tollkühnen Prahlhänsen zum Besten halten lassen. Man findet es so rührend, daß sie nie einen Heller in der Tasche haben und glaubt, sie wären jeden Augenblick (selbst in den weichlichsten Friedenszeiten) bereit, ihr Leben in die Schanze zu schlagen. Ja, sogar einige von den wenigen schlechten Frauen, die es giebt, und für die selbst die besten und klügsten unserer Männer oft ihre Seelen verkaufen möchten, haben nur Augen für solche Teufelskerle!

»Mein lustiges Soldatenblut,
Mein kühnes Auge, wohlgemut,
Ein grünes Wams und blanke Wehr
Hast du gekannt, und sonst nichts mehr
Von mir, mein Lieb, von mir! . . . . .«

Als ob das nicht ganz genug wäre.

208 Dem kleinen Billy kam es schier unbegreiflich vor, daß diese beiden höflichen, sanftmütigen und teilnehmenden Söhne des Mars, dieselben sein sollten, die damals auf dem Omnibus von St. Cloud, mir nichts dir nichts, mit aller Welt anbändelten. Er konnte nicht umhin zu bewundern, wie geschickt sie noch die Heuchelei mit ihren übrigen Lastern verbanden.

Svengali ließ sich nicht blicken, er mußte offenbar nach Österreich zurückgekehrt sein, mit Taschen voll Napoleons und großen Havanazigarren und eingewickelt in seinen weiten Pelzmantel, den er den ganzen Sommer über nicht vom Leibe gelassen hatte. Aber der wackere Gecko kam oft und machte himmlische Musik, die für den kleinen Billy wohlthätiger war als alles übrige.

Sie half ihm, sich in Gedanken die ganze Liebesfülle vorzustellen, die er im Herzen nicht mehr empfinden konnte. Jedes melodische Tonstück erschien ihm wie ein kühler, erfrischender Balsam, oder wie Manna in der Wüste. Es war sein einziges Gut, das ihm nicht genommen werden konnte, solange er Ohren hatte zu hören und ein Meister ihm vorspielte.

Der arme Gecko behandelte die beiden englischen Damen de bas en haut, als ob sie Gottheiten wären, sogar wenn sie ihn auf dem Klavier begleiteten. Er bat sie bei jeder falschen Note, die sie anschlugen, um Entschuldigung, ging auf ihre tempi ein – das ist der richtige 209 technische Ausdruck, glaube ich – und machte Trauermärsche aus Scherzos und Allegrettos, um sich gefällig zu zeigen; ja der kleine schwarze Verräter kam sogar mit ihnen überein, daß es alles so viel besser klänge.

O Beethoven, o Mozart, wendet ihr euch nicht im Grabe um?

Später fuhr der kleine Billy bei schönem Wetter mit seiner Mutter und Schwester im offenen Wagen nach dem Bois de Boulogne, wobei Taffy gewöhnlich den vierten Platz einnahm, oder nach Passy, Auteuil, Boulogne, St. Cloud, Meudon – man kann sehr hübsche kurze Spazierfahrten in der Umgegend von Paris machen.

Zuweilen begleiteten Taffy und der Laird auch Frau Bagot und ihre Tochter nach der Gallerie du Luxembourg, nach dem Louvre, dem Palais Royal, ein oder zweimal auch in die Comédie française und dann und wann an Sonntagen zur englischen Kapelle in der Rue Marboeuf. Es machte ihnen allen viel Vergnügen, und Miß Bagot zählte ihres Bruders Genesungszeit zu den glücklichsten Tagen ihres Lebens.

Oft speisten sie alle fünf zusammen im Atelier; Madame Vinard bediente sie, und ihre Mutter (ein cordon bleu) war Köchin. Dann erschien der ganze Raum wie umgewandelt; verschönert, durchleuchtet und durchduftet von dem Wirken so vieler neuer weiblicher Kräfte und Einflüsse.

Und was kann reizender sein, als dem Keimen und Wachsen eines jungen Liebestraums zuzusehen, wenn 210 Schönheit und Stärke sich am Lager eines geliebten Kranken zusammenfinden?

Der teilnehmende Leser sieht natürlich längst voraus, daß der wackere Taffy in kürzester Frist dem Liebreiz der Schwester seines Freundes zum Opfer fallen muß, und daß auch sie seine mehr als brüderliche Neigung allmählich erwidert; bis an einem schönen Frühlingsabend, gerade als der Märzmonat Abschied nimmt, (um dem 1. April Platz zu machen) der kleine Billy ihre Hände zusammenfügt und ihnen seinen brüderlichen Segen giebt.

In Wirklichkeit geschah indessen nichts dergleichen. Was zutrifft ist immer nur das Unvorhergesehene. Pazienza!

 

Eines Tages endlich – es war noch dazu ein Apriltag mit hellem Sonnenschein und Regenschauern, und durch das große Atelierfenster, das oben offen stand, strömte eine angenehme Kühle herein – gerade wie zu Anfang unserer kleinen Geschichte – da hielt ein Omnibus am Hofthor auf dem Platz St. Anatole des Arts und brachte den kleinen Billy, seine Mutter und Schwester, nebst allen ihren Habseligkeiten nach dem Chemin de Fer du Nord, (das berühmte Bild war schon vorausgeschickt worden). Taffy aber und der Laird fuhren mit auf den Bahnhof, um die lieben Menschen noch bis zuletzt zu sehen, ehe sie der Zug aus Paris entführte. Der kleine Billy mit dem ästhetischen Sinn und der raschen Auffassung, warf manchen traurigen Abschiedsblick auf die grauen Türme von Notre Dame und 211 andere französische Dinge und Orte, die ihm lieb geworden waren. Gott weiß, wann er sie wiedersehen würde! In seinem Heimatland, wo der Ozean die schönen roten Sandsteinfelsen der englischen Küste bespült, wollte er einen reichen Vorrat an Formen und Farben haben, die er sich wieder vor die Seele zaubern könnte, wenn einst sein Herz wieder erwachte.

Er hatte eine schwache Hoffnung, daß es ihm leid thun würde, von Taffy und dem Laird Abschied zu nehmen.

Als es aber Zeit war Lebewohl zu sagen, konnte er gar keinen Schmerz empfinden, wie sehr er sich auch anstrengte und abmühte.

So dankte er ihnen denn aufs inbrünstigste und überschwenglichste für alle ihre Güte, Geduld und Teilnahme, (seine Mutter und Schwester thaten das auch), die Freunde aber konnten vor Rührung kein Wort hervorbringen und machten ganz griesgrämliche Gesichter, wie das ihre Art war, wenn etwas sie innerlich tief bewegte und sie sichs nicht merken lassen wollten.

Und wie er zum Wagenfenster hinausschaute, als der Zug sich in Bewegung setzte, und sie beide trübselig dastanden und ihm nachblickten, sah der kleine Billy ganz abgehärmt aus, weil es ihm so leid that, daß er keinen Schmerz fühlte. Sie konnten seinen Anblick kaum ertragen; es war ihnen, als dürften sie ihn nicht allein reisen lassen, oder müßten wenigstens mit dem nächsten Zuge nach Devonshire folgen, um ihn zu zerstreuen und aufzuheitern, und sich selbst auch.

212 Doch gaben sie dieser liebenswürdigen Schwäche nicht nach. Traurig, Arm in Arm, die Regenschirme hinter sich herschleifend, gingen sie über den Fluß zurück und gerieten bald in das Café de l'Odéon, wo sie in düsterm Schweigen viele Omeletten verzehrten, sehr niedergeschlagen vom besten tranken, der zu haben war, und sich höchst unglücklich fühlten.


            Félicité passée
            Qui ne peux revenir,
            Tourment de ma pensée,
Que n'ai-je en te perdant, perdu le souvenir!

* * *

Fast fünf Jahre sind vergangen, seit wir Taffy und dem Laird Lebewohl und au revoir sagten, und dem kleinen Billy, seiner Mutter und Schwester glückliche Reise wünschten auf ihrer Fahrt nach Devonshire. Dort sollte sich der arme Kranke noch ein paar Monate ganz ruhig verhalten und Kräfte sammeln, um dann mit neuem Mut wieder an die Arbeit zu gehen. Der wohlverdiente Erfolg seines Erstlingswerkes trug gewiß auch nicht wenig zu seiner Genesung bei.

Viele meiner Leser werden sich noch seines glücklichen Debüts in der königlichen Akademie in Trafalgar Square erinnern. Gleich am ersten Morgen der Ausstellung wurde das jetzt so berühmte Gemälde: ›Der Krug geht zu Wasser‹ dreimal hintereinander verkauft, das drittemal für tausend Pfund. Das war fünfmal so viel als er selber dafür 213 erhielt; eine große Summe in damaliger Zeit für die Arbeit eines Anfängers, ein Bild von zwei zu vier Fuß.

Ich weiß sehr wohl, daß dies nur ein ärmlicher Beweis für den Wert eines Kunstwerkes ist. Allein das Bild von dem ich rede, ist jetzt längst aller Welt bekannt. Erst letztes Jahr (mehr als sechsunddreißig Jahre nach seiner Vollendung) wurde es bei Christie für dreitausend Pfund verkauft.

Sechsunddreißig Jahre – das ist eine lange Zeit, und ein besseres Zeugnis als gemeines Geld, und wenn es selbst dreitausend Pfund sind.

Der ›Wasserkrug‹ hängt jetzt in der Nationalgallerie neben dem andern Gemälde von derselben Hand, der ›Monduhr‹. Dort kann sie jeder bei einander sehen, sein erstes und sein letztes Bild – die Blüte und die Frucht.

Sein Leben war nur kurz; aber er hatte das Glück, welches Künstlern nur selten widerfährt, selbst wenn ihre Werke bestimmt sind ewig zu leben – sein erster Versuch fand gleich die richtige Anerkennung.

Ein besserer und schmeichelhafterer Erfolg, als ihm zu Teil wurde, läßt sich nicht denken. Er fing hoch oben an, wie sich's gebührt, bei den Meistern seiner eigenen Kunst. Bald aber verbreitete sich sein Ruhm auch unter den übrigen Genossen und in immer weitere Kreise. Doch war es kein allzu wohlfeil erkaufter Ruhm, der sich schnell verflüchtigt; denn es fehlte ihm auch nicht an Widerspruch, groben Schmähungen und Herabsetzung. Es giebt ja keinen 214 besseren Prüfstein als den grimmen Haß des Philisters, keine lieblichere, erfrischendere, heilsamere Musik als sein Wutgebrüll. Das ist, wie Svengali sagen würde, un cri de coeur.

Hat dann aber die öffentliche Bewunderung große Kunsthändler und hohe Wechsel herbeigerufen, so erheben die Krämerseelen ihr gedrucktes Geheul. Sie fühlen sich im Innersten verwundet: In der Hoffnung, einst reiche Geldsäcke zu werden, haben sie alles für die Kunst geopfert, und mußten doch zuletzt einsehen, daß sie nicht malen können, und sich nie einen gefeierten Namen erwerben werden. Nun fangen sie an über diejenigen zu schreiben, die ihre Kunst verstehen – und was für Artikel.

Mit Gift und Galle über unsere glücklicheren Berufsgenossen und ihre Bewunderer herzuziehen ist kein sehr reinliches Gewerbe. Es scheint aber leider recht leicht zu sein, und es bereitet vielen Leuten Vergnügen. Man braucht nicht einmal einen guten Stil dazu, aber es macht sich besser bezahlt als Gelehrsamkeit, Geschmack, Talent, Humor, Gefühl, Witz und Weisheit. Es ist sogar einträglich genug, um damit eine Zeitschrift zu begründen und fortzuführen. Für elenden Sold dient dies Gewerbe den niedrigsten Trieben des Menschen; denn manche von uns können sich einer gemeinen Schadenfreude nicht erwehren, wenn sie sehen, wie diejenigen mit Schmutz, mit faulen Eiern und toten Katzen beworfen werden, welche sie nicht umhin können zu bewundern und insgeheim zu beneiden.

215 Hiermit wollte ich nur andeuten, daß der kleine Billy zwar überschwengliches Lob erfuhr, aber auch heftige Angriffe von rechts und links. Es lief aber alles von ihm ab wie die Regentropfen von einem Mantel; sowohl das Lob wie der Tadel.

 

Es war ein glücklicher Sommer für Frau Bagot, der ihr für alle Herzensangst des vorhergegangenen Winters die freundlichste Entschädigung brachte. Sie hatte ihre beiden geliebten Kinder zusammen unter ihren Flügeln, und alle Welt verkündete den Ruhm ihres Sohnes, ihres Augapfels, den eine gütige Vorsehung noch rechtzeitig dem Rachen des Todes entrissen hatte, und auch aus andern Gefahren befreit, die der glühenden Eifersucht ihres Mutterherzens kaum minder entsetzlich dünkten.

Seine Zuneigung für sie schien mit der fortschreitenden Genesung zurückzukehren; aber ach! er wurde nie wieder derselbe fröhliche, unschuldige und freimütige Knabe, der er gewesen, ehe er jenes verhängnißvolle Jahr in Paris zugebracht hatte. Ein Kapitel seines Lebens war abgeschlossen und durfte nie mehr berührt werden; niemals sprach er mit seiner Mutter von jener Zeit, und niemals sie mit ihm. Sie konnte weder vergeben noch vergessen; sie konnte nur schweigen.

Im übrigen war er freundlich und liebenswürdig im Verkehr, und es geschah alles, um sein Leben daheim behaglich und angenehm zu machen, was eine liebende Mutter 216 und eine anmutige Schwester ihm an den Augen absehen konnten. Auch die liebreizenden Schwestern Anderer kamen herbei, und waren sehr geneigt, dem jungen, gefeierten Künstler Weihrauch zu streuen, der bei aller Ehre und Auszeichnung so bescheiden und anspruchslos blieb. Unter ihnen auch die Freundin seiner Schwester, das Pfarrerstöchterlein, welches, wie sie, Lehrerin an der Sonntagsschule war, ein einfaches, züchtiges und frommes Mädchen aus guter Familie, das alle Eigenschaften besaß, die ihn früher bei einer jungen Dame entzückt hätten. Sie hieß Alice, war schön, und hatte goldbraunes Haar.

Wenn er die kleinen ländlichen Vergnügungen, Kränzchen, Schmausereien, Gartenfeste und musikalischen Abende vielleicht nicht mehr ganz so aufregend fand wie früher, so ließ er sich doch nichts davon merken.

Es gab überhaupt vieles, wovon er sich nichts merken ließ, und was Mutter und Schwester sich vergebens bemühten zu erraten – sehr vieles!

Eines aber ging ihm fortwährend im Kopfe herum und machte ihn sehr unglücklich: sein Mangel an Gefühl! Zwar, seiner Mutter und Schwester ebenso zärtlich zu begegnen als wäre nichts geschehen, fiel ihm schon aus lieber alter Gewohnheit nicht schwer, ja er war womöglich noch zuvorkommender und rücksichtsvoller, aus lauter Dankbarkeit und Zerknirschung.

Aber ach, er fühlte, daß er sich im innersten Herzen nichts, gar nichts mehr aus ihnen machte; auch für Taffy 217 spürte er keinerlei Zuneigung mehr, nicht für den Laird, nicht für sich selber; nicht einmal für Trilby, an die er fortwährend dachte, aber ohne Gemütsbewegung. Man hatte ihm die Geschichte ihres seltsamen Verschwindens erzählt und sie war ihm in allen Einzelheiten durch Angèle Boisse, an die er geschrieben hatte, bestätigt worden.

Der Teil seines Hirns, welcher den Sitz des Gefühlsvermögens bildete, schien völlig gelähmt zu sein, während er selbst im übrigen noch gerade so rege und thatkräftig geblieben war wie früher. Ihm war zu Mute wie einem armen Vogel, Vierfüßler oder Reptil, dem der Vivisektor zu Versuchszwecken ein Stück des Cerebellums bei lebendigem Leibe herausgeschnitten hat. Die stärkste Empfindung, deren er noch fähig war, schien eben seine Angst und Sorge über dieses sonderbare Symptom zu sein, und der Zweifel, ob er irgend jemand davon Mitteilung machen solle.

Er that dies nicht, aus Furcht andere zu beunruhigen, denn er hoffte, es würde mit der Zeit vorübergehen. So verdoppelte er denn seine Zärtlichkeit für Mutter und Schwester, und zeigte in Wort und That die größte Rücksicht für andere; gerade als hoffte er durch ein äußerliches Nachahmen der Tugend, welche er nicht mehr besaß, diese zurückzugewinnen. Er würde keine Mühe gescheut haben, um selbst dem Geringsten eine Freude zu machen.

Auch allen Stolz auf sich selbst hatte er verloren, und er vermißte ihn eben so sehr wie seine Liebesfähigkeit.

218 Zwar sagte er sich wieder und immer wieder, daß er ein großer Künstler sei und keine Anstrengung scheuen wolle um immer Höheres zu erreichen. Aber er selbst hatte kein Verdienst dabei.

2 + 2 = 4, auch 2 × 2 = 4; das war ganz richtig, aber doch kein Grund, warum die 4 sich etwas einbilden sollte. Sie war, so oder so, doch nichts als ein Resultat.

Ganz ebenso wie die 4, war auch er nur ein unvermeidliches Resultat von Umständen, über die er keine Gewalt hatte; und wenn er sich auch zu einer so großen 4 machen wollte wie möglich, so empfand er doch nicht mehr die alte Eitelkeit, das alte Selbstgefühl; und dies war ein Vergnügen gewesen, das er mit Schmerzen entbehrte.

Auf dem Grunde seiner Seele aber lag eine ruhelose, dumpfe Schwermut, ein fortwährendes Mißbehagen.

Und ihm schien zu seiner tiefen Bekümmernis, als sei diese unglückliche Stimmung das stärkste was er überhaupt zu fühlen im stande sein werde. Sie verließ ihn nie, und machte seinen moralischen Zustand zu einer langen, grauen Öde – einer ewigen Dämmerung. Sollte ihm denn nie wieder ein hoffnungsfrohes Morgenlicht aufgehen? –

So stand es um den kleinen Billy. –

Eines Tages im Spätherbst breitete er seine Schwingen aus und flog fort, nach London, wo William Bagot, alias der kleine Billy, der schon ein berühmter Maler war, mit offenen Armen empfangen wurde.

 


 


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