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Der Graf ging mit wundem Herzen aus dem Hause, wo er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu sehen.
Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine gewaltige Veränderung in Monte Christo vorgegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angelangt, zu dem er auf einem steilen und gekrümmten Pfade aufgestiegen war, hatte er auf der anderen Seite des Berges den Abgrund des Zweifels erblickt, und das Gespräch, das soeben zwischen ihm und Mercedes stattgefunden, hatte sein Herz übermäßig erschüttert.
Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ich betrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte er bei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zu beweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!
Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Es begegnet mir, was den Leuten begegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.
Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantes betrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!
Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.
Er ging auf dem Kai hinab durch die Rue Saint-Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.
Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martigues begaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.
Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieser Barken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, das bei den Kataloniern brannte, der Anblick des Kastells If, der ihn belehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sich besiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.
Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes' Herz überströmt hatte. Für ihn gab es von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigen Barken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihn beben, als ob plötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.
Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Graf bis an das Ende der Barke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.
Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze eines Bajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.
Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.
Seit der Julirevolution gab es keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalte Blässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, ob noch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.
Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder das bleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst sein Bett stand, und erkannte hinter dem Bette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.
Monte Christo fühlte, wie seine Beine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.
Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend eine besondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?
Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.
Monte Christo bebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesicht beinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dicken Barte, seinem braunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?
Ja, sprechen Sie! Und erschrocken darüber, daß er seine eigene Geschichte erzählen hören sollte legte er die Hand auf seine Brust, um ein heftiges Schlagen des Herzens zurückzudrängen.
Dieser Kerker, sagte der Hausmeister, war vor langer Zeit von einem sehr gefährlichen Menschen bewohnt, der um so gefährlicher war, weil er große Gewandtheit und Schlauheit besaß. Gleichzeitig mit ihm bewohnte ein anderer Mensch das Kastell; dieser war nicht bösartig, sondern nur ein armer, närrischer Priester.
Ah! Worin bestand seine Narrheit?
Er bot Millionen, wenn man ihn frei ließe.
Monte Christo schlug die Augen zum Himmel auf, doch er sah den Himmel nicht; es war ein steinerner Schleier zwischen ihm und dem Firmament. Er bedachte, daß ein nicht minder dichter Schleier zwischen den Augen derer, denen der Abbé seine Schätze bot und diesen Schätzen selbst gewesen war.
Konnten sich die Gefangenen sehen?
Oh nein, mein Herr, das war ausdrücklich verboten; doch sie vereitelten das Verbot, indem sie eine Galerie von einem Kerker zum andern aushöhlten.
Wer von beiden machte die Galerie?
Sicher der junge Mann, denn er war erfinderisch und stark, der alte Abbé aber alt und schwach; überdies war sein Geist zu sehr zerrüttet, als daß er einen Gedanken hätte verfolgen können.
Die Blinden! murmelte Monte Christo.
So viel ist gewiß, fuhr der Hausmeister fort, der junge Mann höhlte eine Galerie aus; womit? Das weiß man nicht; aber er höhlte sie aus, und zum Beweise dient, daß man noch die Spur davon sieht. Sehen Sie!
Und er hielt die Fackel an die Wand.
Ah! ja, in der Tat, sagte Monte Christo mit erschütterter Stimme.
Daraus ging hervor, daß die Gefangenen miteinander in Verbindung standen. Wie lange diese Verbindung dauerte, weiß man nicht. Eines Tages wurde nun der alte Gefangene krank und starb. Können Sie sich denken, was der junge tat? fragte der Hausmeister, sich unterbrechend.
Nun?
Er trug den Gestorbenen fort, legte ihn mit der Nase gegen die Wand in sein eigenes Bett, kehrte in den leeren Kerker zurück, verstopfte das Loch und schlüpfte in den Sack des Toten. Haben Sie je dergleichen gehört?
Monte Christo schloß die Augen und empfand wieder alle Eindrücke, die er gehabt, als ihm die grobe Leinwand, die noch die Kälte des Leichnams an sich hatte, das Gesicht streifte.
Der Hausmeister fuhrt fort: Hören Sie, was sein Plan war: Er glaubte, man begrabe die Toten im Kastell If, und so dachte er, die Erde mit seinen Schultern aufzuheben; doch zu seinem Unglück herrschte im Kastell If ein anderer Gebrauch; man band dem Toten eine Kugel an die Füße, um sie ins Meer zu schleudern, was auch diesmal geschah. Der tollkühne Mensch wurde oben von der Galerie ins Wasser geworfen. Am andern Tage fand man den wahren Toten in seinem Bett, und man erriet alles, denn die Totengräber sagten nun, was sie bis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, sie hätten in dem Augenblick, wo sie den Körper in die Luft geschleudert, einen furchtbaren Schrei gehört, der auf der Stelle vom Wasser, in dem der Sack verschwand, erstickt worden sei.
Der Graf atmete schmerzlich, der Schweiß lief ihm von der Stirn, die Bangigkeit schnürte ihm das Herz zusammen.
Nein! murmelte er, nein! Der Zweifel, der sich in mir regte, war ein Anfang des Vergessens; doch hier höhlt sich das Herz abermals aus und wird wieder hungrig nach Rache. Und der Gefangene? fragte er, er war verschwunden, man hat nie etwas von ihm gehört?
Nie, gar nie; Sie begreifen, es sind nur zwei Fälle möglich; entweder ist er platt gefallen, und da er fünfzig Fuß hinabstürzte, so wird er auf der Stelle tot gewesen sein.
Sie sagten, man habe ihm eine Kugel an die Füße gebunden, folglich wird er senkrecht gefallen sein.
Oder er ist senkrecht gefallen, fuhr der Hausmeister fort, dann hat ihn die Kugel auf den Grund hinabgezogen, wo der arme Mensch geblieben ist.
Sie beklagen ihn?
Meiner Treu, ja! Obgleich er in seinem Elemente war.
Was wollen Sie damit sagen?
Es ging das Gerücht, dieser Unglückliche sei seiner Zeit Marineoffizier gewesen und als eifriger Bonapartist gefangen gehalten worden. – Will der Herr seinen Besuch fortsetzen? fragte der Hausmeister.
Ja, besonders wenn Sie mir das Zimmer des armen Abbés zeigen wollen.
Ah! der Nummer 27?
Ja, der Nummer 27, wiederholte Monte Christo.
Und es kam ihm vor, als höre er noch die Stimme Farias, wie dieser ihm die Nummer durch die Mauer zurief.
Folgen Sie mir!
Warten Sie, sagte Monte Christo, lassen Sie mich einen letzten Blick auf alle Teile dieses Kerkers werfen.
Das ist mir lieb, versetzte der Führer, ich habe den Schlüssel des andern vergessen. – Holen Sie ihn. – Ich lasse die Fackel hier zurück. – Nein, nehmen Sie die Fackel mit.
Doch Sie haben dann kein Licht. – Ich sehe in der Nacht. – Gerade wie er. – Welcher er?
Der Nummer 34, der hier gehaust hat. Man sagte, er habe sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er eine Nadel im finsteren Winkel seines Kerkers hätte sehen können.
Der Führer entfernte sich mit der Fackel.
Der Graf hatte wahr gesprochen; kaum war er ein paar Minuten in der Finsternis, als er alles wie am hellen Tage unterschied.
Ja, sagte er, dies ist der Stein, auf dem ich saß! Dies ist die Spur meiner Schultern, die ihren Eindruck in der Mauer zurückließen! Dies ist die Spur des Blutes, das von meiner Stirn floß, als ich mir eines Tages den Schädel an der Wand zerschmettern wollte! . . . Oh! diese Zahlen . . . ich erinnere mich ihrer . . . ich machte sie eines Tages, als ich das Alter meines Vaters berechnete, um zu wissen, ob ich ihn lebendig wiederfinden würde, und Mercedes' Alter, um zu wissen, ob ich sie frei wiedersehen würde. Ich hatte einen Augenblick Hoffnung, nachdem ich die Berechnung gemacht . . . Ich rechnete ohne den Hunger und ohne die Untreue!
Und ein bitteres Lachen entströmte dem Munde des Grafen.
Auf der andern Wand traf seinen Blick eine Inschrift, die sich noch weiß auf der grünlichen Wand hervorhob: Mein Gott, erhalte mir das Gedächtnis. Oh! ja, rief der Graf, das war das einzige Gebet meiner letzten Zeit; ich verlangte nicht die Freiheit, ich verlangte das Gedächtnis, ich befürchtete, ein Narr zu werden und zu vergessen; mein Gott, du hast mir das Gedächtnis erhalten, und ich habe mich erinnert. Dank, Dank, mein Gott!
In diesem Augenblick spiegelte sich das Licht der Fackel auf den Wänden. Der Führer stieg herab, und ohne daß man nötig hatte, wieder an den Tag hinaufzusteigen, ließ er Monte Christo durch ein unterirdisches Gewölbe wandern, das zu einem andern Eingang führte.
Auch hier wurde Monte Christo von einer Welt voll Gedanken ergriffen. Vor allem fiel ihm der an der Wand gezogene Meridian in die Augen, mit dessen Hilfe der Abbé Faria die Stunden zählte; dann sah er die Überreste des Bettes, auf dem der arme Gefangene gestorben war.
Statt der Beklemmung, die der Graf in seinem Kerker empfunden hatte, erfüllte sein Herz bei diesem Anblick ein zärtliches Gefühl, ein Gefühl der Dankbarkeit, und zwei Tränen rollten aus seinen Augen hervor.
Hier, sagte der Führer, war der verrückte Abbé; durch dieses Loch kam der junge Mensch zu ihm, und er zeigte Monte Christo die Öffnung der Galerie, die man auf dieser Seite nicht verstopft hatte. An der Farbe des Steines, fuhr er fort, erkannte ein Gelehrter, daß die zwei Gefangenen ungefähr zehn Jahre miteinander in Verbindung gestanden haben. Die armen Leute müssen sich während dieser zehn Jahre viel gelangweilt haben.
Dantes nahm ein paar Louisd'or aus seiner Tasche und reichte sie dem Manne, der ihn zum zweiten Male beklagte, ohne ihn zu kennen.
Der Hausmeister nahm sie, im Glauben, er erhalte Silbermünzen, doch beim Scheine der Fackel erkannte er den Wert der Summe, die ihm der Fremde gab.
Mein Herr, sagte er zu ihm, Sie haben sich getäuscht.
Wieso? – Sie haben mir Gold gegeben. – Ich weiß es wohl. – Und ich kann es mit gutem Gewissen behalten? – Ja.
Der Hausmeister schaute Monte Christo mit Erstaunen an.
Ehrlichkeit! murmelte der Graf wie Hamlet.
Mein Herr, sagte der Hausmeister, der nicht an sein Glück zu glauben wagte, mein Herr, ich begreife Ihre Großmut nicht.
Sie ist doch leicht zu begreifen, mein Freund, versetzte der Graf. Ich bin Seemann gewesen, und Eure Geschichte mußte mich mehr rühren, als Euch.
Mein Herr, sagte der Führer, da Sie so großmütig sind, so erlauben Sie mir, Ihnen auch etwas anzubieten.
Was habt Ihr mir anzubieten, mein Freund? Muscheln, Stroharbeiten? Ich danke.
Nein, mein Herr, nein; einen Gegenstand, der sich auf die soeben erzählte Geschichte bezieht.
In der Tat! rief der Graf, was ist denn das?
Hören Sie, sagte der Hausmeister, wie das gekommenen ist. Ich sagte mir, man findet immer etwas in einem Zimmer, in dem ein Gefangener fünfzehn Jahre geblieben ist, und ich fing an, die Wände zu untersuchen.
Ah! rief Monte Christo, sich des doppelten Verstecks des Abbés erinnernd.
Nach langem Nachsuchen, fuhr der Hausmeister fort, entdeckte ich, daß es oben am Bette und unter dem Herde des Kamins hohl klang.
Ja, sagte Monte Christo, ja.
Ich nahm die Steine weg und fand . . .
Eine Strickleiter, Werkzeug! rief der Graf.
Woher wissen Sie das? fragte der Hausmeister voll Erstaunen.
Ich weiß es nicht, ich errate es nur; man findet gewöhnlich dergleichen in den Verstecken der Gefangenen.
Ja, mein Herr; eine Strickleiter, Werkzeug.
Und Ihr habt diese Gegenstände noch?
Nein, mein Herr, ich verkaufte sie an Besucher, denn sie waren sehr seltsam; doch es blieb mir noch etwas anderes.
Was denn? fragte der Graf ungeduldig.
Es blieb mir eine Art von Buch, auf Leinwandstreifen geschrieben.
Oh! rief Monte Christo, Ihr habt dieses Buch?
Ich weiß nicht, ob es ein Buch ist, aber ich habe das Ding noch.
Holt es mir, mein Freund, geht, sagte der Graf, und der Führer ging hinaus.
Der Graf neigte das Haupt in Erinnerung an die erhabene Seele seines väterlichen Freundes und faltete die Hände, in Sinnen verloren.
Sehen Sie, mein Herr, sprach eine Stimme hinter ihm, und der zurückkehrende Hausmeister reichte ihm die Leinwandstreifen, auf denen der Abbé Faria alle Schätze seines Geistes zum Ausdruck gebracht hatte. Es war das große Werk über das Königtum in Italien.
Der Graf nahm es ungestüm an sich, dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Portefeuille, das zehn Banknoten über je tausend Franken enthielt.
Nehmt dieses Portefeuille! sagte er.
Sie schenken es mir?
Ja, doch unter der Bedingung, daß Ihr erst hineinschaut, wenn ich weggegangen bin.
Und an seiner Brust die wiedergefundene Reliquie bewahrend, die für ihn den Wert des reichsten Schatzes hatte, eilte er aus dem unterirdischen Gewölbe fort, bestieg wieder seine Barke und rief: Nach Marseille!
Während sich das Fahrzeug von dem Kastell If entfernte, sagte er, die Augen auf das düstere Gefängnis geheftet: Wehe denen, die mich in diesen finsteren Kerker einsperren ließen, und denen, die vergaßen, daß ich darin eingesperrt war!
Als der Graf wieder bei den Kataloniern vorüberkam, wandte er sich ab und murmelte, sein Haupt in den Mantel hüllend, den Namen einer Frau.
Der Sieg war vollständig, der Graf hatte zweimal den Zweifel niedergeschlagen.
Der Name, den er mit einem Ausdrucke der Zärtlichkeit, beinahe der Liebe aussprach, war der Haydees.
*
Als Monte Christo den Fuß wieder auf die Erde setzte, wanderte er nach dem Kirchhofe, wo er Morel fand.
Auch er hatte zehn Jahre vorher ein Grab auf dem Friedhofe gesucht, aber vergebens. Er, der nach Frankreich mit Millionen zurückkam, hatte das Grab seines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht finden können. Morel hatte ein Kreuz darauf setzen lassen, doch dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es in seinen Ofen gesteckt.
Der würdige Handelsmann war glücklicher gewesen als der alte Dantes. In den Armen seiner Kinder gestorben, wurde er von diesen zu Grabe geleitet und neben seiner Frau, die ihm um zwei Jahre in die Ewigkeit vorangegangen war, beigesetzt. Zwei große Marmorplatten, auf denen ihre Namen geschrieben standen, lagen nebeneinander innerhalb eines kleinen Geheges, das durch ein eisernes Geländer geschlossen und von vier Zypressen überschattet wurde.
Maximilian lehnte an einem von diesen Bäumen und heftete seine matten Augen auf die beiden Gräber. Sein Schmerz war bodenlos tief, fast wie der Schmerz eines Unzurechnungsfähigen.
Maximilian, Sie drückten auf der Reise das Verlangen aus, sich einige Tage in Marseille aufzuhalten; ist dies noch Ihr Wunsch?
Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur kommt es mir vor, es wird mir weniger peinlich sein, in Marseille als anderswo zu warten.
Desto besser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?
Ah! Ich werde es vergessen, Graf, ich werde es vergessen!
Nein, Morel, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Mann von Ehre sind, weil Sie geschworen haben, weil Sie noch einmal schwören werden.
Oh! Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ich bin so unglücklich!
Ich habe einen Menschen gekannt, der unglücklicher war, als Sie, Morel.
Unmöglich! Was gibt es Unglücklicheres, als einen Menschen, der das einzige Gut, das er auf der Welt begehrte und liebte, verloren hat?
Hören Sie, Morel, und lassen Sie einen Augenblick Ihren Geist das festhalten, was ich Ihnen sagen werde. Ich habe einen Menschen gekannt, bei dem alle seine Hoffnungen auf Glück, wie bei Ihnen, auf einer Frau beruhten. Dieser Mensch war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eine Braut, die er anbetete; er war eben im Begriff, sie zu heiraten, als plötzlich das launenhafte Schicksal ihm seine Freiheit, seine Geliebte und alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft raubte, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu stürzen.
Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.
Er blieb vierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.
Maximilian bebte und murmelte: Vierzehn Jahre!
Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.
Nun?
Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfang begriff er vielleicht nicht die unendliche Barmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.
Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater – sein Vater war tot.
Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.
Ja, aber Ihr Vater starb in Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starb arm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grab suchte, da war sogar sein Grab verschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.
Oh! seufzte Morel.
Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grab seines Vaters wiederfinden sollte.
Aber es blieb ihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Sie täuschen sich, Morel, diese Frau . . .
Sie war tot? rief Morel.
Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihres Bräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.
Und ihm hat Gott dennoch Trost verliehen?
Er hat ihm wenigstens Ruhe verliehen.
Und dieser Mensch kann noch glücklich sein?
Ich hoffe es, Maximilian.
Der junge Mann ließ sein Haupt auf seine Brust sinken.
Sie haben mein Versprechen, sagte er nach kurzem Stillschweigen, Monte Christo die Hand reichend; nur erinnern Sie sich . . .
Am fünften Oktober, Morel, erwarte ich Sie auf der Insel Monte Christo. Am vierten holt Sie eine Jacht im Hafen von Bastia ab; diese Jacht heißt der Eurus, Sie nennen sich dem Patron, und er führt Sie zu mir. Nicht wahr, das ist abgemacht, Maximilian?
Es ist abgemacht, und ich werde tun, was gesagt ist; nur erinnern Sie sich des fünften Oktobers. Wann reisen Sie?
Auf der Stelle, das Dampfboot erwartet mich. In einer Stunde bin ich fern von Ihnen.
Morel begleitete Monte Christo bis zum Hafen; schon wirbelte der Rauch aus der schwarzen Röhre des Dampfers hervor. Bald lief das Schiff aus, und eine Stunde nachher durchstreifte derselbe Strich von weißlichem Rauch, kaum noch sichtbar, den von den ersten Nebeln verdüsterten östlichen Horizont.