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In dem Hause der Rue Saint-Germain-des-Prés, das Albert von Morcerf für seine Mutter und sich gewählt hatte, war der erste Stock, bestehend aus einer kleinen Wohnung, an eine sehr geheimnisvolle Person vermietet.
Diese Person war ein Mann, dessen Gesicht der Portier selbst nie hatte sehen können; denn stets steckte sein Kinn, wenn er kam oder ging, in einer hohen Halsbinde. Gegen alles Herkommen wurde dieser Hausbewohner von niemand bespäht, und das Gerücht, sein Inkognito verberge eine sehr hochgestellte Person, welche »gar lange Arme« habe, verschaffte seiner geheimnisvollen Erscheinung großen Respekt. Er traf fast immer gegen vier Uhr in seiner Wohnung ein, in der er nie eine Nacht zubrachte.
Zwanzig Minuten später hielt ein Wagen vor dem Hotel; eine schwarz gekleidete, stets aber in einen großen Schleier gehüllte Frau stieg aus, schwebte wie ein Schatten vor der Loge vorüber und ging rasch die Treppe hinauf. Im ersten Stocke kratzte sie auf eine besondere Weise an einer Tür; diese öffnete sich und verschloß sich dann wieder hermetisch.
Beim Verlassen des Hauses wurde ebenso verfahren. Die Unbekannte ging, stets verschleiert, zuerst hinaus und stieg wieder in ihren Wagen, der bald an dem einen Ende der Straße, bald an dem andern verschwand; zwanzig Minuten nachher entfernte sich auch der Unbekannte.
An dem Tage nach dem, wo der Graf von Monte Christo Danglars einen Besuch gemacht hatte, und Valentine beerdigt worden war, erschien der geheimnisvolle Bewohner bereits gegen zehn Uhr vormittags.
Kurz darauf fuhr ein Fiaker vor, und die verschleierte Dame stieg rasch die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich und schloß sich. Doch ehe sie ganz geschlossen war, rief die Dame: Oh, Lucien! oh, mein Freund!
Und so erfuhr der Portier, der diesen Ausruf gehört hatte, zum ersten Male, daß sein Mietsmann Lucien hieß.
Nun! Was gibt es denn, teure Freundin? fragte Lucien, sprechen Sie geschwind.
Mein Freund, kann ich auf Sie zählen?
Gewiß, das ist Ihnen bekannt, doch was gibt es? Ich war ganz bestürzt über Ihr Billett von heute morgen. Diese Hast, diese unordentliche Schrift . . . beruhigen Sie mich, oder erschrecken Sie mich ganz und gar!
Lucien, ein großes Ereignis! sagte die Dame, einen fragenden Blick auf Lucien heftend; Herr Danglars ist heute nacht abgereist.
Herr Danglars abgereist! Und wohin?
Ich weiß es nicht.
Wie! Sie wissen es nicht? Er ist also abgereist, um nicht mehr zurückzukommen?
Allerdings! Um zehn Uhr abends brachten ihn seine Pferde an die Barrière von Charenton; hier sagte er zu seinem Kutscher, er fahre nach Fontainebleau.
Nun! Was sagten Sie dazu?
Warten Sie, mein Freund. Er ließ mir einen Brief zurück. Da lesen Sie.
Die Baronin zog aus ihrer Tasche einen Brief und bot ihn Debray, der einen Augenblick zögerte, ehe er ihn las.
Madame und sehr teure Gemahlin!
Wenn Sie diesen Brief empfangen, haben Sie keinen Gatten mehr! Oh! erschrecken Sie darüber nicht zu sehr; Sie haben keinen Gatten mehr, wie Sie keine Tochter mehr haben; ich werde nämlich auf einer von den dreißig Straßen sein, die aus Frankreich führen.
Ich bin Ihnen eine Erläuterung schuldig: Eine Zahlung von fünf Millionen kam mir heute früh unversehens, ich habe sie ausgeführt; eine andere von derselben Summe sollte fast unmittelbar darauf erfolgen; ich vertage sie auf morgen und reise heute ab, um dieses Morgen zu vermeiden, das mir unerträglich wäre.
Nicht wahr, Sie begreifen das, Madame und sehr kostbare Gemahlin? Ich sage: Sie begreifen das, weil Sie ebensogut wie ich meine Angelegenheiten kennen, Sie kennen sie sogar noch besser als ich, denn wenn es sich darum handelte, anzugeben, wohin eine gute Hälfte meines jüngst noch so schönen Vermögens gekommen ist, so vermöchte ich dies nicht, während Sie im Gegenteil, davon bin ich fest überzeugt, vollständig zu antworten wüßten.
Haben Sie sich über die Schnelligkeit meines Sturzes gewundert, Madame? Waren Sie geblendet durch das weißglühende Schmelzen meiner Goldstangen? Ich meinerseits gestehe, daß ich nur das Feuer dabei gesehen habe; wir wollen hoffen, daß Sie etwas Gold in der Asche fanden.
Mit dieser tröstlichen Hoffnung entferne ich mich, Madame und sehr kluge Gemahlin, ohne daß mir mein Gewissen den geringsten Vorwurf darüber macht, daß ich Sie verlasse; es bleiben Ihnen Freunde, die fragliche Asche und, um Ihr Glück vollzumachen, die Freiheit, die ich Ihnen wiederzugeben mich beeile.
Es ist indessen der Augenblick gekommenen, Madame, hier ein Wort vertraulicher Erklärung einfließen zu lassen. Solange ich hoffte, Sie arbeiteten für die Wohlfahrt unseres Hauses, für das Vermögen Ihrer Tochter, machte ich philosophisch die Augen zu; da Sie aber aus diesem Hause eine große Ruine gemacht haben, so will ich nicht als Grundlage für das Vermögen eines andern dienen. Ich habe Sie reich, aber wenig geehrt zu mir genommen. Verzeihen Sie mir, daß ich so offenherzig mit Ihnen spreche, da ich aber ohne Zweifel nur für uns beide spreche, sehe ich nicht ein, warum ich die Worte unter einer Schminke verbergen sollte . . . Ich habe unser Vermögen vermehrt, und es nahm fünfzehn Jahre lang zu, bis zu dem Augenblick, wo unbekannte und für mich noch unbegreifliche Katastrophen es packten und erdrosselten, ohne daß ich, das darf ich wohl sagen, die geringste Schuld daran habe. Sie, Madame, haben nur für Vermehrung des Ihrigen gearbeitet, was Ihnen gelungen ist, davon bin ich überzeugt. Ich lasse Sie also, wie ich Sie genommen habe, reich, aber wenig ehrenwert, zurück.
Leben Sie wohl. Von heute an gedenke ich auch für meine Rechnung zu arbeiten. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen sehr dankbar für das Beispiel bin, das Sie mir gegeben haben, und das ich befolgen werde.
Ihr
sehr ergebener Gatte
Baron Danglars.
Die Baronin folgte während des Lesens Debray mit den Augen; sie sah den jungen Mann, trotz seiner großen Selbstbeherrschung, wiederholt die Farbe wechseln.
Als er geendet hatte, faltete er das Papier langsam zusammen und nahm eine nachdenkliche Haltung an.
Nun? fragte Madame Danglars mit einer leicht begreiflichen Angst, welchen Gedanken flößt Ihnen dieser Brief ein?
Das ist ganz einfach; er flößt mir den Gedanken ein, daß Herr Danglars mit einem Verdacht abgereist ist. Sicher; doch ist das alles, was Sie mir zu sagen haben? Ich begreife nicht.
Er ist abgereist, um nie wiederzukommen!
Oh! Glauben Sie das nicht! rief Debray.
Nein, sage ich Ihnen, er wird nicht wiederkommen; ich kenne ihn, er ist ein unerschütterlicher Mann in allen Entschließungen, die sein Interesse erheischt. Hätte er mich zu etwas nütze geglaubt, so würde er mich mitgenommen haben; er läßt mich hier, weil unsere Trennung seinen Plänen dienlich sein kann. Sie ist also unwiderruflich, und ich bin für immer frei, fügte Madame Danglars mit demselben fragenden Ausdrucke hinzu.
Doch statt zu antworten, ließ sie Debray in diesem angstvollen, erwartungsvollen Zustand verharren.
Wie! sagte sie endlich, Sie antworten mir nicht?
Ich habe Sie nur eins zu fragen: Was gedenken Sie zu tun?
Das wollte ich Sie fragen, erwiderte die Baronin mit pochendem Herzen, ich verlange einen Rat von Ihnen.
Wenn Sie einen Rat wollen, entgegnete der junge Mann kalt, so rate ich Ihnen, zu reisen. – Sie sind, wie Herr Danglars gesagt hat, reich und frei. Eine Abwesenheit von Paris wird, scheint mir, nach dem doppelten Lärm über die vereitelte Heirat Fräulein Eugenies und das Verschwinden Herrn Danglars', durchaus notwendig sein. Es ist wichtig, daß man Sie allgemein für verlassen und arm hält; denn man würde der Frau des Bankerottierers ihren Reichtum nicht verzeihen. Darum entfernen Sie sich von Ihrem Hotel, nehmen Sie Ihre Juwelen nicht mit und leisten auf Ihr Wittum Verzicht, und alle Welt wird Ihre Uneigennützigkeit rühmen und Ihr Lob singen. Man weiß dann, daß Sie verlassen sind, und hält Sie für arm, denn ich allein kenne Ihre finanzielle Lage und bin bereit, Ihnen als redlicher Partner Rechenschaft abzulegen.
Die Baronin hatte, bleich und niedergeschmettert, diese Rede mit um so mehr Schrecken und Verzweiflung angehört, als Debray sich bemühte, völlig ruhig und gleichgültig zu erscheinen..
Verlassen? wiederholte sie, oh! sehr verlassen . . . Ja, Sie haben recht, mein Herr; niemand wird meine Verlassenheit bezweifeln. Das waren die einzigen Worte, welche die stolze und so heftig verliebte Frau hervorbrachte.
Aber reich, sehr reich sogar, fuhr Debray fort, indem er einige Papiere aus seinem Portefeuille zog und auf dem Tische ausbreitete.
Nur bemüht, die Schläge ihres Herzens zu ersticken und die Tränen zurückzuhalten, die am Rande ihrer Augenlider hervorbrechen wollten, ließ ihn Frau Danglars gewähren.
Endlich aber gewann das Gefühl der Würde bei ihr die Oberhand; wenn es ihr nicht gelang, ihr Herz zu bewältigen, so gelang es ihr wenigstens, die Tränen zurückzuhalten.
Gnädige Frau, sagte Debray, wir sind ungefähr seit sechs Monaten assoziiert. Sie haben eine Einlage von 100 000 Franken gemacht. Im Monat April dieses Jahres hat unsere Assoziation stattgefunden. Im Mai begannen unsere Operationen, und wir gewannen sofort 450 000 Franken. Im Juni belief sich der Nutzen auf 900 000 Franken. Im Juli kamen 1 700 000 Franken dazu; Sie wissen, das ist der Monat der spanischen Bons. Am Anfang des Monats August verloren wir 300 000 Franken; doch am 15. erholten wir uns wieder, und am Ende des Monats waren wir entschädigt, denn unsere Rechnungen sind gestern von mir abgeschlossen worden und geben ein Aktivum von 2 400 000 Franken, das heißt, von 1 200 000 Franken für jedes von uns. Ich bin nun vorgestern so vorsichtig gewesen, Ihr Geld flüssig zu machen; Sie sehen, es ist noch nicht lange her, und es sieht aus, als hätte ich vermutet, ich würde bald Rechenschaft abzulegen haben. Ihr Geld ist hier, halb in Banknoten, halb in Anweisungen.
Frau Danglars nahm mechanisch die Anweisungen und die zusammengebundenen Banknoten mit trockenen Augen, aber mit einer von verhaltenem Schluchzen schwellenden Brust und erwartete bleich und stumm ein Wort von Debray, das sie trösten sollte. Doch sie wartete vergebens.
Nun haben Sie ein herrliches Dasein, gnädige Fran, sagte Debray, 60 000 Livres Renten, was für eine Frau, die wenigstens ein Jahr lang keinen Haushalt führen wird, ungeheuer ist. Sie können nun allen Ihren Phantasien ungescheut nachgeben.
Debray sagte dies alles mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, machte dann eine tiefe Verbeugung und verfiel hierauf in ein bezeichnendes Schweigen. Dieses Benehmen erzürnte und enttäuschte seine Geliebte so, daß sie sich hoch aufrichtete, die Tür öffnete und, ohne ihren Partner eines letzten Grußes zu würdigen, zur Treppe eilte.
Bah! sagte Debray, als sie fort war, was wird sie nun tun? Sie wird ruhig in ihrem Hause bleiben, Romane lesen und Lanzknecht spielen, da sie nicht mehr an der Börse spielen kann.
Er nahm sein Notizbuch, strich die Summen aus, die er bezahlt hatte, und sagte: Es bleiben mir 1 060 000 Franken. Wie schade, daß Fräulein von Villefort gestorben ist! Sie hätte in jeder Beziehung meinen Wünschen entsprochen, und ich würde sie geheiratet haben.
Seiner Gewohnheit gemäß wartete er phlegmatisch, bis Frau Danglars zwanzig Minuten weggegangen war, und entfernte sich dann ebenfalls.
Unter dem Zimmer, wo Debray mit Frau Danglars zwei Millionen geteilt hatte, war ein anderes Zimmer durch einen merkwürdigen Zufall ebenfalls von Personen unserer Bekanntschaft bewohnt; es waren dies Mercedes und Albert.
Mercedes hatte sich seit ein paar Tagen sehr verändert . . . nicht als ob sie die Armut bedrückt hätte, sie hatte sich verändert, weil ihr Auge nicht mehr glänzte, weil ihr Mund nicht mehr lächelte, weil eine beständige Verlegenheit das rasche Wort, das einst ihr stets bereiter Geist ihr eingab, auf ihren Lippen zurückhielt.
Albert aber fühlte sich beunruhigt, unbehaglich und beengt durch den ihm noch anklebenden Luxus, der ihn verhinderte, seiner gegenwärtigen Lage zu entsprechen; er wollte ohne Handschuhe ausgehen und fand seine Hände zu weiß dazu; er wollte zu Fuß gehen und fand seine Stiefel zu fein.
Diese beiden so edeln und verständigen, durch das Band der mütterlichen und kindlichen Liebe unauflöslich verbundenen Seelen verstanden sich, ohne viele Worte zu machen, und scheuten sich nicht, ohne Umschweife miteinander von den materiellen Lebensbedürfnissen zu sprechen.
Albert konnte am Ende zu Mercedes, ohne daß sie erbleichte, sagen: Meine Mutter, wir haben kein Geld mehr.
Der Winter nahte heran; Mercedes hatte in dem kahlen und nun auch kühlen Zimmer kein Feuer, sie, für die einst ein Ofen mit tausend Röhren das ganze Haus von den Vorzimmern bis zu den Boudoirs erwärmte; sie hatte nicht einmal ein armseliges Blümchen, sie, deren Zimmer mit den kostbarsten Pflanzen gefüllt gewesen war.
Aber sie hatte ihren Sohn.
Meine Mutter, sagte Albert in demselben Augenblick, wo Frau Danglars die Treppe hinabging, wir wollen, wenn es Ihnen recht ist, einmal alle unsere Reichtümer zählen; ich muß die ganze Summe wissen, um meine Pläne aufzubauen.
Die Summe ist Null, erwiderte Mercedes mit schmerzlichem Lächeln.
Oh nein! Einmal haben wir 3000 Franken, und ich behaupte, daß ich uns mit diesen 3000 Franken ein anbetungswürdiges Leben verschaffen werde.
Kind! seufzte Mercedes.
Ach! gute Mutter, sagte der junge Mann, ich habe Sie leider Geld genug gekostet, um dessen Wert zu kennen; hören Sie, 3000 Franken, das ist ungeheuer, und ich baue auf diese Summe eine wunderbare, dauerhafte Zukunft.
Du sagst das, mein Freund, entgegnete die arme Mutter; doch vor allem, nehmen wir diese 3000 Franken an?
Mir scheint, das ist abgemacht, erwiderte Albert mit festem Tone; wir nehmen sie um so mehr an, als wir sie noch nicht haben, denn sie sind, wie Sie wissen, im Garten des kleinen Häuschens in den Allées de Meillan in Marseille vergraben.
Mit 200 Franken, sagte Albert, kommen wir beide nach Marseille. Diese 200 Franken sind hier und noch weitere 200. Ich habe meine Uhr und meine Kette verkauft.
Doch sind wir hier im Hause etwas schuldig?
Dreißig Franken, ich bezahle sie von dem Geld. Doch das ist noch nicht alles, was sagen Sie hierzu, meine Mutter? Albert zog aus einem kleinen Notizbuch mit goldenem Schlosse eine Tausendfrankennote.
Was ist das? fragte Mercedes.
1000 Franken, meine Mutter.
Woher hast du diese tausend Franken?
Hören Sie und beunruhigen Sie sich nicht, gute Mutter!
Albert stand auf, küßte seine Mutter wiederholt und hielt nur inne, um ihr ins Gesicht zu schauen.
Sie können sich gar nicht denken, meine Mutter, wie schön ich Sie finde! sagte der junge Mann mit dem tiefen Gefühle kindlicher Liebe; Sie sind in der Tat die schönste, wie Sie die edelste aller Frauen sind, die ich je gesehen habe.
Teures Kind! sagte Mercedes, vergebens bemüht, eine Träne zurückzuhalten.
In der Tat, Sie mußten nur noch unglücklich werden, damit sich meine Liebe in Anbetung verwandle.
Ich bin nicht unglücklich, solange ich meinen Sohn habe.
Ganz richtig; doch hier fängt die Prüfung an, meine Mutter! Sie wissen, was verabredet ist?
Ist denn etwas zwischen uns verabredet?
Ja, daß Sie in Marseille wohnen, und daß ich nach Afrika abreise, wo ich mir einen neuen Namen verdienen will.
Mercedes stieß einen Seufzer aus.
Nun, meine Mutter, seit gestern bin ich bei den Spahis eingereiht, fügte der junge Mann mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Ich glaubte, mein Körper gehöre mir und ich könnte ihn verkaufen; seit gestern bin ich Stellvertreter von irgend jemand. Ich habe mich verkauft, wie man sagt, und um eine größere Summe, als ich wert zu sein glaubte, nämlich um 2000 Franken.
Also diese 1000 Franken? fragte Mercedes bebend.
Sind die Hälfte der Summe, meine Mutter, die andere Hälfte kommt in einem Jahre.
Mercedes schlug die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke zum Himmel auf, und Tränen strömten unter der inneren Aufregung über ihre Wangen.
Der Preis seines Blutes! murmelte sie.
Ja, wenn ich getötet werde, erwiderte Albert. Aber ich versichere Ihnen, gute Mutter, daß ich im Gegenteil die Absicht habe, meine Haut grausam zu verteidigen; ich habe nie so viel Lust zu leben in mir gefühlt, wie gegenwärtig.
Mein Gott! mein Gott! rief Mercedes.
Überdies, warum soll ich getötet werden, meine Mutter? Ist Morel getötet worden? Bedenken Sie doch, welche Freude, wenn Sie mich mit einer gestickten Uniform zurückkommen sehen! Ich erkläre Ihnen, daß ich herrlich darin auszusehen hoffe und dieses Regiment aus Eitelkeit gewählt habe.
Mercedes seufzte, während sie zu lächeln versuchte; die Mutter begriff, daß sie ihr Kind nicht dürfe die ganze Last des Opfers tragen lassen.
Sie sehen also, meine Mutter, fuhr Albert fort, es sind bereits mehr als 4000 Franken für Sie gesichert; mit dieser Summe werden Sie zwei volle Jahre leben.
Glaubst du? versetzte Mercedes.
Diese Worte entschlüpften der Gräfin mit dem Ausdruck so tiefen Schmerzes, daß ihr wahrer Sinn Albert nicht entging; er fühlte, wie sein Herz sich zusammenschnürte, nahm die Hand der Mutter, drückte sie zärtlich und sagte: Ja, Sie werden leben.
Ich werde leben, rief Mercedes, aber nicht wahr, du wirst nicht abreisen?
Meine Mutter, ich werde reisen, sagte Albert mit ruhiger, fester Stimme; Sie lieben mich zu sehr, um mich müßig und unnütz bei sich zu lassen; überdies habe ich unterzeichnet.
So tu' nach deinem Willen, mein Sohn.
Nicht nach meinem Willen, meine Mutter, sondern nach den Geboten der Vernunft und der Notwendigkeit. Nicht wahr, wir sind zwei verzweifelte Geschöpfe? Was ist heute das Leben für Sie? Nichts. Was ist das Leben für mich? Oh! sehr wenig ohne Sie, meine Mutter, das glauben Sie mir; denn ohne Sie, das schwöre ich Ihnen, hätte dieses Leben an dem Tage aufgehört, wo ich an meinem Vater zweifelte und seinen Namen verleugnete! Ich lebe, wenn Sie mir versprechen, noch Hoffnung zu hegen; überlassen Sie mir die Sorge für Ihr zukünftiges Glück, so verdoppeln Sie meine Kräfte. Ich werde dort den Gouverneur von Algerien aufsuchen, der ein redliches Soldatenherz ist, ich erzähle ihm meine traurige Geschichte, ich bitte ihn, von Zeit zu Zeit die Augen dahin zu wenden, wo ich sein werde, und wenn er mir Wort hält, wenn er mich handeln sieht, so bin ich vor sechs Monaten Offizier oder tot. Bin ich Offizier, so ist Ihr Schicksal gesichert, meine Mutter, denn ich habe Geld für Sie und für mich und überdies einen neuen Namen, auf den wir beide stolz sein können, denn es wird Ihr Name sein. Werde ich getötet . . . nun wohl! Werde ich getötet, liebe Mutter, so sterben Sie, wenn Sie so wollen, und dann hat unser Unglück sein Ziel gerade in seinem Übermaße gefunden.
Es ist gut, sagte Mercedes mit ihrem edlen, beredten Blicke; du hast recht, mein Sohn; beweisen wir gewissen Leuten, die uns beobachten, daß wir wenigstens des Beklagens würdig sind!
Keine traurigen Gedanken, teure Mutter, rief der junge Mann; ich schwöre Ihnen, daß wir glücklich sind, oder wenigstens glücklich werden können. Einmal im Dienste, bin ich reich; einmal in dem Marseiller Hause, sind Sie ruhig. Versuchen wir es, ich bitte Sie, meine Mutter.
Ja, versuchen wir es, mein Sohn, denn du sollst leben, du sollst glücklich sein.
Unsere Teilung ist also gemacht, fügte der junge Mann hinzu, indem er sich den Anschein gab, als fühle er sich ganz leicht. Ich denke, wir können noch heute reisen.
Gut, es sei, reisen wir! sagte Mercedes, sich in ihren einzigen Schal hüllend.
Albert sammelte hastig seine Papiere, klingelte, um die dreißig Franken zu bezahlen, die er dem Hausmeister schuldig war, bot seiner Mutter den Arm und stieg die Treppe hinab.
Es ging ein Mann vor ihnen; als dieser das Streifen eines seidenen Kleides an dem Geländer hörte, wandte er sich um.
Debray! murmelte Albert.
Sie, Morcerf! erwiderte der Sekretär des Ministers.
Die Neugierde trug bei Debray den Sieg über das Verlangen, sein Inkognito zu bewahren, davon; überdies sah er sich erkannt. Es war doch interessant, in diesem unbekannten Hause den jungen Mann wiederzufinden, dessen unglückliches Abenteuer ein so großes Aufsehen in Paris erregt hatte.
Morcerf, wiederholte Debray. Als er dann im Halbdunkel die Gestalt und den schwarzen Schleier der Frau von Morcerf bemerkte, fügte er lächelnd hinzu: Ah! verzeihen Sie, ich entferne mich, Albert.
Albert begriff Debrays Gedanken und sagte, sich zu Mercedes wendend: Meine Mutter, dies ist Herr Debray, Sekretär des Ministers des Innern, ein ehemaliger Freund von mir.
Wie! ehemalig! stammelte Debray; was wollen Sie damit sagen?
Ich sage dies, Herr Debray, weil ich heute keine Freunde mehr habe und keine mehr haben soll. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig waren, mich zu erkennen.
Debray stieg zwei Stufen zurück, gab Albert einen kräftigen Händedruck und sagte mit aller Rührung, deren er fähig war: Glauben Sie, lieber Albert, daß ich innigen Anteil an Ihrem Unglück genommen habe, und daß Sie in jeder Beziehung über mich verfügen können.
Ich danke, mein Herr, erwiderte Albert lächelnd; doch mitten in unserem Unglück sind wir reich genug geblieben, um zu niemand unsere Zuflucht nehmen zu müssen; wir verlassen Paris, und es bleiben uns nach Bezahlung unserer Reise noch 5000 Franken.
Schamröte übergoß Debrays Stirn, der eine Million in seinem Portefeuille trug. Trotz seiner geringen poetischen Veranlagung konnte er nicht umhin, Vergleiche darüber anzustellen, daß dasselbe Haus noch vor wenigen Augenblicken zwei Frauen enthielt, von denen die eine mit 1 500 000 Franken doch arm wegging, während die andere, erhaben in ihrem Unglück, mit wenigen Pfennigen reich war.
Diese Betrachtung störte ihn in seinen Höflichkeitsphrasen; er stammelte ein paar allgemeine Worte und ging rasch die Treppe hinab.
An diesem Tage hatten die ihm untergeordneten Schreiber im Ministerium viel unter seiner verdrießlichen Laune zu leiden. Doch am Abend kaufte er sich ein schönes, auf dem Boulevard de la Madeleine liegendes Haus.
Am andern Tage, um fünf Uhr abends, stieg Frau von Morcerf, nachdem sie ihren Sohn zärtlich umarmt hatte und zärtlich von ihm umarmt worden war, in den Wagen der Schnellpost.
Ein Mann stand verborgen im Hofe der Messagerie Laffitte hinter einem von den gewölbten Fenstern, die jenes Büro überragten; er sah Mercedes in den Wagen steigen, er sah die Post wegfahren, er sah Albert sich entfernen.
Dann fuhr er mit der Hand über seine vom Zweifel durchfurchte Stirn und sagte: Ach! Wie vermag ich diesen beiden Unschuldigen das Glück zurückzugeben, das ich ihnen genommen habe?