Alexander Dumas
Ange Pitou. Band 2
Alexander Dumas

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Die Gräfin von Charny.

Bei dem Befehl, die Gräfin von Charny kommen zu lassen, zog sich Gilbert in eine Fenstervertiefung zurück.

Der König ging in dem Saal des Oeil-de-Boeuf auf und ab, in seinem Innern bald mit den öffentlichen Angelegenheiten, bald mit dem Zudrängen von Gilbert beschäftigt, dessen seltsamem Einfluß er in diesem Augenblick unterlag, wo ihn außer den Nachrichten von Paris nichts hätte interessieren sollen.

Plötzlich wurde die Thüre des Kabinetts geöffnet; der Thürhüter meldete die Frau Gräfin von Charny, und Gilbert konnte durch die nahe zusammengezogenen Vorhänge eine Frau erschauen, deren weite seidene Gewänder den Thürflügel streiften.

Diese Frau trug nach der Mode der Zeit ein Nachtkleid von grauer Seide, einen ähnlichen Rock, eine Art von Shawl, der hinter der Taille zusammengeknüpft war und ganz außerordentlich die Vorzüge einer reichen, schön gebauten Brust zeigte.

Ein kleiner, zierlich auf dem Ende einer hohen Frisur befestigter Hut, Pantoffeln mit hohen Absätzen, welche die Feinheit eines bewunderungswürdigen Knöchels hervorhoben, ein an den Spitzen der Finger einer zarten, langen, vollkommen aristokratischen Hand spielendes Stöckchen, das war die von Gilbert so lebhaft erwartete Person.

Der König machte einen Schritt ihr entgegen.

Sie waren im Begriff, wegzufahren, Gräfin, wie man mir gesagt hat?

In der That, Sire, ich wollte eben in den Wagen steigen, als mir der Befehl Eurer Majestät zukam.

Bei dieser Stimme mit dem festen Klang füllten sich die Ohren von Gilbert mit einem gräßlichen Geräusch. Das Blut floß plötzlich nach seinen Schläfen, tausend Schauer durchliefen seinen ganzen Leib.

Unwillkürlich machte er einen Schritt aus dem Obdach der Vorhänge, hinter denen er verborgen war.

Sie, murmelte er, . . . sie . . . Andrée.

Madame, fuhr der König fort, der ebensowenig als die Gräfin etwas von der Bewegung des im Schatten verborgenen Gilbert wahrgenommen hatte, ich habe Sie gebeten, zu mir zu kommen, um eine Auskunft zu erlangen.

Ich bin bereit, Eurer Majestät zu entsprechen.

Der König neigte sich auf die Seite von Gilbert, als wollte er ihm einen Wink geben.

Dieser begriff, der Augenblick, sich zu zeigen, sei noch nicht gekommen, und zog sich allmählich wieder hinter seinen Vorhang zurück.

Madame, sagte der König, es ist vor ungefähr acht bis zehn Tagen Herrn von Necker das Gesuch um einen geheimen Verhaftsbefehl zugestellt worden.

Gilbert heftete durch die beinahe unbemerkbare Öffnung der Vorhänge seinen Blick auf Andrée. Die junge Frau war bleich, fieberhaft, unruhig und wie gebeugt unter der Last einer geheimen Bedrückung.

Sie hören mich, nicht wahr, Gräfin? fragte Ludwig XVI., als er sah, daß Frau von Charny zu antworten zögerte.

Ja, Sire.

Nun wohl! wissen Sie, was ich sagen will, und können Sie auf meine Frage antworten?

Ich suche mich zu erinnern, erwiderte Andrée.

Erlauben Sie mir, Ihr Gedächtnis zu unterstützen. Der Verhaftsbefehl ist von Ihnen verlangt worden, und das Gesuch war mit einer Randbemerkung der Königin begleitet.

Statt zu antworten, überließ sich die Gräfin immer mehr der fieberhaften Zerstreuung, die sie aus den Grenzen des wirklichen Lebens hinauszuziehen schien.

Antworten Sie mir doch, Madame! sagte der König, der ungeduldig zu werden anfing.

Es ist wahr, erwiderte sie bebend, es ist wahr, ich habe den Brief geschrieben, und Ihre Majestät hat auf dem Rande etwas beigesetzt.

So nennen Sie mir das Verbrechen, das derjenige begangen, gegen den man diese Maßregel forderte? fragte Ludwig XVI.

Sire, sprach Andrée, ich kann nicht sagen, welches Verbrechen er begangen hatte, das aber kann ich Ihnen sagen, daß das Verbrechen groß war.

Ah! Sie können mir das nicht sagen?

Nein, Sire.

Dem König?

Nein . . . Eure Majestät entschuldige mich, doch ich kann nicht.

So werden Sie es ihm selbst sagen, Madame, sprach der König; denn was Sie dem König Ludwig XVI. abschlagen, können Sie dem Doktor Gilbert nicht verweigern.

Dem Doktor Gilbert! rief Andrée, großer Gott! wo ist er denn?

Der König trat auf die Seite, um den Platz Gilbert zu überlassen; die Vorhänge öffneten sich, und der Doktor erschien, beinahe ebenso bleich als Andrée.

Hier ist er, Madame, sagte der König.

Als sie Gilbert erblickte, wankte die Gräfin. Ihre Beine zitterten unter ihr. Sie warf sich rückwärts, wie eine Frau, die in Ohnmacht sinkt, und blieb nur stehen mit Hilfe eines Lehnstuhls, auf den sie sich stützte, in einer düstern, unempfindlichen, beinahe verstandlosen Haltung.

Madame, sagte Gilbert, indem er sich mit demütiger Höflichkeit verbeugte, erlauben Sie mir, die Frage zu wiederholen, welche Seine Majestät an Sie gerichtet hat?

Die Lippen von Andrée bewegten sich, – doch kein Ton kam aus ihrem Munde.

Was habe ich Ihnen gethan, Madame, daß man mich auf einen von Ihnen herrührenden Befehl in ein abscheuliches Gefängnis geworfen hat?

Bei dieser Stimme fuhr Andrée auf, als ob sie einen Riß im Gewebe ihres Herzens gefühlt hätte.

Dann senkte sie plötzlich einen eisigen Schlangenblick auf Gilbert und sprach: Mein Herr, ich kenne Sie nicht.

Doch während sie diese Worte sprach, hatte sie Gilbert seinerseits mit einer solchen Hartnäckigkeit angeschaut, er hatte den Blitz seiner Augen mit so viel unbesiegbarer Kühnheit geladen, daß die Gräfin ihre Augen völlig niederschlug und ihr Blick unter dem seinigen erlosch.

Gräfin, sagte der König mit einem sanften Vorwurf, sehen Sie, wohin dieser Mißbrauch der Unterschriften führt? Hier steht dieser Herr, den Sie nicht kennen, – Sie gestehen es selbst, – dieser Herr, der ein großer Praktiker ist, ein gelehrter Arzt, ein Mann, dem Sie nichts vorzuwerfen haben . . .

Andrée erhob das Haupt, um Gilbert mit einer königlichen Verachtung niederzuschmettern.

Er blieb ruhig und stolz.

Ich sage also, fuhr der König fort: da Sie nichts gegen Herrn Gilbert haben, da Sie in ihm einen andern verfolgten, so ist die Strafe auf einen Unschuldigen gefallen. Gräfin, das ist schlimm.

Sire . . . versetzte Andrée.

Oh! unterbrach sie der König, der schon Angst hatte, der Günstlingin seiner Frau unverbindlich begegnet zu sein, ich weiß wohl, daß Ihr Herz nicht schlecht ist, und daß, wenn Sie jemand mit Ihrem Hasse verfolgten, es verdient hat; doch Sie begreifen, in Zukunft dürfte ein solcher Mißgriff sich nicht erneuern.

Dann wandte er sich gegen Gilbert um und sprach:

Was wollen Sie, Doktor? das ist mehr die Schuld der Zeiten, als die der Menschen. Wir sind in der Verderbnis geboren, und wir werden darin sterben; doch wollen wenigstens wir danach trachten, die Zukunft für die Nachwelt zu verbessern, und Sie, Doktor Gilbert, werden mich, wie ich hoffe, bei diesem Werke unterstützen.

Nach diesen Worten hielt Ludwig inne; er glaubte genug gesagt zu haben, um beide Parteien zu befriedigen.

Der arme König! hätte er eine solche Redensart in der Nationalversammlung vorgebracht, diese würde ihm nicht nur Beifall geklatscht haben, sondern er hätte sie auch am andern Tage in allen Zeitungen des Hofes wiederholt gefunden.

Doch das Auditorium von zwei erbitterten Feinden fand wenig Geschmack an seiner versöhnenden Philosophie.

Mit der Erlaubnis Eurer Majestät, sprach Gilbert, werde ich Madame bitten, zu wiederholen, was sie schon gesagt hat, nämlich, daß sie mich nicht kenne.

Gräfin, sagte der König, wollen Sie thun, was der Doktor verlangt?

Ich kenne den Doktor Gilbert nicht, wiederholte Andrée mit fester Stimme.

Aber Sie kennen einen andern Gilbert, meinen Namensbruder, dessen Verbrechen auf mir lastet?

Ja, erwiderte Andrée, ich kenne ihn und halte diesen für einen Schändlichen.

Sire, es ist nicht an mir, die Gräfin zu befragen, sagte Gilbert; doch wollen Sie die Gnade haben, sie zu fragen, was dieser schändliche Mensch gethan hat.

Gräfin, Sie können einem so gerechten Verlangen keine Weigerung entgegensetzen.

Was er gethan hat? versetzte Andrée. Ohne Zweifel wußte es die Königin, da sie den Brief, in dem ich die Verhaftung verlangte, eigenhändig gutgeheißen hat.

Aber es ist durchaus nicht genug, daß die Königin überzeugt ist; es wäre gut, wenn ich auch überzeugt würde. Die Königin ist die Königin, doch ich, ich bin der König.

Wohl, Sire, der Gilbert des Verhaftsbefehles ist ein Mensch, der vor sechszehn Jahren ein gräßliches Verbrechen begangen hat.

Eure Majestät wolle die Frau Gräfin fragen, welches Alter heute dieser Mensch hat.

Der König wiederholte die Frage.

Dreißig bis zweiunddreißig Jahre, erwiderte Andrée.

Sire, sprach Gilbert, wenn das Verbrechen vor sechzehn Jahren begangen worden ist, so ist es nicht von einem Mann, sondern von einem Kinde begangen worden, und wenn seit sechzehn Jahren der Mann das Verbrechen des Unmündigen beweint hat, würde dieser Mann nicht einige Nachsicht verdienen?

Aber, mein Herr, fragte der König, Sie kennen also den Gilbert, von dem die Rede ist?

Ich kenne ihn, Sire, erwiderte Gilbert.

Er hat also keinen andern Fehler begangen, als einen Jugendfehler?

Ich wüßte nicht, Sire, daß ihm von der Zeit an, wo er – ich sage nicht diesen Fehler, sondern weniger nachsichtig als Sie – dieses Verbrechen beging, irgend jemand in der Welt etwas vorwerfen könnte.

Nein, wenn nicht das Verbrechen, bemerkte Andrée, daß er seine Feder in Gift getaucht und sehr ärgerliche Schmähschriften verfaßt hat.

Sire, sprach Gilbert, fragen Sie die Frau Gräfin, ob die wahre Ursache der Verhaftung von diesem Gilbert nicht die war, daß man seinen Feinden, oder vielmehr seiner Feindin jede Bequemlichkeit geben wollte, sich eines gewissen Kistchens zu bemächtigen, das gewisse Papiere enthielt, die eine vornehme Dame, eine Dame vom Hofe gefährden können.

Andrée schauerte vom Scheitel bis zu den Zehen.

Mein Herr, murmelte sie.

Gräfin, wie ist es mit diesem Kistchen? fragte der König, dem die Blässe und das Zittern der Gräfin nicht entgehen konnten.

Oh! Madame! rief Gilbert, der fühlte, daß er die Lage beherrschte, keine Ausflüchte, keine Umschweife . . . genug der Lügen von der einen und der andern Seite. Ich bin der Gilbert des Verbrechens; ich bin der Gilbert der Schmähschriften; ich bin der Gilbert des Kistchens. Sie, Sie sind die vornehme Dame, die Dame vom Hofe. Ich wähle den König zum Richter, nehmen Sie ihn an, und wir wollen diesem Richter, dem König, alles sagen, was zwischen uns vorgefallen ist, und der König wird entscheiden.

Sagen Sie, was Sie wollen, mein Herr, erwiderte die Gräfin, doch ich kann nichts sagen, denn ich kenne Sie nicht.

Und Sie kennen dieses Kistchen auch nicht?

Die Gräfin zog die Fäuste krampfhaft zusammen und biß sich bis aufs Blut in ihre Lippen.

Nein, ebensowenig, sagte sie.

Doch die Anstrengung, die sie machte, um diese Worte auszusprechen, war so groß, daß sie auf ihren Beinen schwankte, gleich einer Bildsäule, deren Grundfläche ein Erdbeben erschüttert.

Madame, rief Gilbert, nehmen Sie sich in acht, ich bin, wenn Sie nicht vergessen haben, der Schüler eines Mannes, den man Josef Balsamo nannte; die Macht, die er über Sie besaß, hat er mir übertragen; zum letztenmal also, wollen Sie auf die Frage, die ich an Sie richte, antworten?

Nein, erwiderte die Gräfin, von einer unbeschreiblichen Verwirrung ergriffen, indem sie eine Bewegung machte, um aus dem Zimmer zu stürzen. Nein, nein, nein!

Nun denn! sprach Gilbert, ebenfalls erbleichend, und seinen mit Drohungen beladenen Arm erhebend, nun denn! stählerne Natur, ehernes Herz, biege dich, zerspringe unter dem unwiderstehlichen Druck meines Willens. Du willst nicht sprechen, Andrée?

Nein, nein! rief die Gräfin ganz betäubt. Zu Hilfe, Sire, zu Hilfe!

Du wirst sprechen, sagte Gilbert, und niemand, wäre es der König, wäre es Gott, wird dich meiner Macht entziehen! Du wirst sprechen, du wirst deine ganze Seele dem erhabenen Zeugen dieser Szene öffnen, und alles, was in den Falten deines Gewissens ist, alles, was Gott allein in der Finsternis tiefer Seelen lesen kann, Sire! das werden Sie durch diese hier erfahren, die sich weigert, es zu offenbaren. Schlafen Sie, Frau Gräfin von Charny, schlafen Sie und sprechen Sie, ich will es.

Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Gräfin mitten in einem angefangenen Schrei plötzlich inne hielt, die Arme ausstreckte, einen Stützpunkt für ihre wankenden Beine suchte und wie in einen Zufluchtsort zwischen die Arme des Königs fiel, der, selbst zitternd, sie in einen Lehnstuhl setzte.

Oh! sagte Ludwig XVI., ich habe hiervon sprechen hören, doch nie habe ich etwas dergleichen gesehen. Nicht wahr, mein Herr, sie ist dem magnetischen Schlaf verfallen?

Ja, Sire: nehmen Sie nun die Hand der Gräfin und fragen Sie sie, warum sie mich habe verhaften lassen, antwortete Gilbert, als ob ihm allein das Recht des Befehlens zukäme.

Ganz betäubt von dieser wunderbaren Szene, machte Ludwig XVI. zwei Schritte rückwärts, um sich zu überzeugen, daß er nicht selbst schlafe, und daß das, was unter seinen Augen vorging, nicht ein Traum sei; interessiert wie ein Mathematiker bei der Entdeckung einer neuen Lösung, näherte er sich sodann der Gräfin, nahm ihre Hand und sagte: Sprechen Sie, Gräfin, Sie haben also den Doktor Gilbert verhaften lassen?

Doch obgleich eingeschlafen, machte die Gräfin einen letzten Versuch, riß ihre Hand aus der Hand des Königs, raffte alle ihre Kräfte zusammen und erwiderte: Nein, ich werde nicht sprechen.

Der König schaute Gilbert an, als wollte er ihn fragen, wer von beiden, sein Wille oder der von Andrée, den Sieg davon tragen werde.

Gilbert lächelte.

Sie werden nicht sprechen? sagte er.

Und die Augen auf die eingeschlafene Andrée gerichtet, machte er einen Schritt gegen den Lehnstuhl.

Andrée bebte.

Sie werden nicht sprechen? fügte er bei, indem er einen zweiten Schritt machte, der den Zwischenraum zwischen ihm und ihr noch mehr verminderte.

Andrée stemmte ihren ganzen Körper in einer äußersten Gegenstrebung an.

Ah! Sie werden nicht sprechen? sagte er. Und er machte einen dritten Schritt und stand nun unmittelbar neben Andrée, über deren Haupt er seine Hand ausgestreckt hielt; ah! Sie werden nicht sprechen?

Andrée krümmte sich in heftigen Konvulsionen.

Nehmen Sie sich in acht! rief Ludwig XVI., nehmen Sie sich in acht. Sie werden sie töten!

Seien Sie unbesorgt, Sire, es ist die Seele, mit der ich es zu thun habe; die Seele kämpft, doch sie wird nachgeben.

Dann senkte er die Hand und wiederholte: Sprechen Sie.

Andrée streckte die Arme aus und machte eine Bewegung, um zu atmen, als wäre sie unter dem Drucke einer Luftpumpe gewesen.

Alle Muskeln der jungen Frau schienen dem Zerreißen nahe. Eine Schaumfranse trat auf ihre Lippen, und ein Anfang von Epilepsie erschütterte sie vom Kopf bis zu den Füßen.

Doktor, wiederholte der König, nehmen Sie sich in acht.

Doch ohne auf ihn zu hören, senkte Gilbert zum dritten Mal die Hand, berührte mit ihrer Fläche oben den Kopf der Gräfin und sagte: Sprechen Sie, ich will es.

Andrée stieß bei der Berührung dieser Hand einen Seufzer aus, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab; ihr zurückgeworfener Kopf senkte sich sachte vorwärts auf ihre Brust, und reichliche Thränen sickerten durch ihre geschlossenen Augenlider.

Mein Gott, mein Gott, mein Gott, murmelte sie.

Rufen Sie Gott an, gut; derjenige, welcher im Namen Gottes wirkt, fürchtet Gott nicht.

Oh, sagte die Gräfin, wie hasse ich Sie!

Hassen Sie mich, gut; doch sprechen Sie.

Sire, Sire, rief Andrée, sagen Sie ihm, er versenge mich, er verzehre mich, er töte mich.

Sprechen Sie, sagte Gilbert.

Dann bedeutete er dem König durch ein Zeichen, er könne sie nun befragen.

Gräfin, sagte der König, derjenige, welchen Sie verhaften ließen, ist also wirklich der Doktor?

Ja.

Und es waltete kein Irrtum, kein Mißgriff ob?

Nein.

Und dieses Kistchen?

Nun! versetzte dumpf die Gräfin, sollte ich denn dieses Kistchen in seinen Händen lassen?

Gilbert und der König wechselten einen Blick.

Und Sie haben es genommen? fragte Ludwig XVI.

Ich habe es nehmen lassen.

Ho! ho! erzählen Sie mir das, Gräfin, rief der König, indem er, alle Würde vergessend, vor Andrée niederkniete; Sie haben es nehmen lassen? Wo und wie?

Ich erfuhr, dieser Gilbert, der seit sechzehn Jahren schon zwei Reisen nach Frankreich gemacht hatte, werde eine dritte machen, und diesmal um sich hier niederzulassen.

Aber das Kistchen? fragte der König.

Ich habe durch den Polizeileutnant, Herrn von Crosne, erfahren, daß Gilbert während einer dieser Reisen Güter in der Gegend von Villers-Cotterêts gekauft; daß der Pächter, der ihm diese Güter verwalte, sein ganzes Vertrauen genieße, und so vermutete ich, das Kistchen befinde sich bei diesem.

Wie haben Sie das vermutet?

Ich bin bei Mesmer gewesen, habe mich einschläfern lassen und es gesehen.

Es war?

In einem großen Schranke im Erdgeschoß, unter Weißzeug verborgen.

Das ist wunderbar! sagte der König. Weiter, weiter!

Ich kehrte zu Herrn von Crosne zurück, und dieser gab mir auf Empfehlung der Königin einen seiner gewandtesten Agenten.

Der Name dieses Agenten? fragte Gilbert.

Andrée bebte, als hätte sie ein glühendes Eisen berührt.

Ich frage Sie nach seinem Namen, wiederholte Gilbert.

Andrée versuchte es zu widerstehen.

Seinen Namen, ich will ihn wissen, sagte der Doktor.

Pas-de-Loup, antwortete sie.

Hernach? fragte der König.

Gestern morgen hat sich dieser Mann des Kistchens bemächtigt. Das ist das Ganze.

Nein, das ist nicht das Ganze, entgegnete Gilbert; es handelt sich nun darum, dem König zu sagen, wo das Kistchen ist.

Oh! versetzte Ludwig XVI., Sie fragen zu viel.

Nein, Sire.

Aber durch diesen Pas-de-Loup, durch Herrn von Crosne könnte man erfahren . . .

Oh! man wird alles viel besser und viel schneller durch die Gräfin erfahren.

Mit einer krampfhaften Bewegung, die sichtbar darauf abzweckte, den andringenden Worten die Lippen zu verschließen, preßte Andrée die Zähne zum Zerbrechen aneinander.

Der König machte den Doktor auf diese nervöse Konvulsion aufmerksam.

Gilbert lächelte.

Er berührte mit dem Daumen und dem Zeigefinger den untern Teil des Gesichtes von Andrée, und ihre Muskeln spannten sich in demselben Augenblicke ab.

Madame, sagen Sie vor allem dem König, daß dieses Kistchen dem Doktor Gilbert gehörte.

Ja, ja, es gehört ihm, erwiderte die Schläferin voll Wut.

Und wo befindet es sich in diesem Augenblick? fragte Gilbert; geschwinde, beeilen Sie sich, der König hat keine Zeit zu warten.

Andrée zögerte einen Augenblick.

Gilbert entging dieses Zögern nicht, so unbemerklich es war.

Sie lügen! rief er, oder vielmehr Sie versuchen es, zu lügen. Wo ist das Kistchen? Ich will es wissen.

Bei mir in Versailles, antwortete Andrée, in Thränen zerfließend und mit einem nervösen Zittern, das ihren ganzen Körper schüttelte. Bei mir, wo Pas-de-Loup, wie dies verabredet war, mich heute abend um elf Uhr erwartet.

Es schlug Mitternacht.

Und er wartet noch?

Ja.

In welchem Zimmer ist er?

Man hat ihn in den Salon eintreten lassen.

Welchen Platz nimmt er in dem Salon ein?

Er steht an den Kamin angelehnt.

Und das Kistchen?

Auf einem Tisch vor ihm. Oh!

Was?

Beeilen wir uns, ihn herausgehen zu lassen. Herr von Charny, der erst morgen zurückkommen sollte, wird heute nacht kommen . . . wegen der Ereignisse. Ich sehe es, er ist in Sèvres . . . Lassen Sie ihn weggehen, daß ihn der Graf nicht im Hause findet.

Eure Majestät hört es. Wo wohnt in Versailles Frau von Charny?

Wo wohnen Sie, Gräfin?

Auf dem Boulevard de la Reine, Sire.

Gut.

Sire, Eure Majestät hat es gehört, dieses Kistchen gehört mir. Befiehlt der König, daß es mir zurückgegeben werden soll?

Auf der Stelle, mein Herr.

Der König umstellte Frau von Charny mit einem Windschirm, damit man sie nicht sehen konnte, rief den Offizier vom Dienste und gab ihm leise einen Befehl.

 


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