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Sobald Benedetto auf die Straße hinaustrat, verließen ihn die Ruhe und die Zuversicht, mit der er seinen Fluchtplan ausgedacht hatte. Eine Wolke verdunkelte seine Augen, sein Herz klopfte gewaltsam, und das Blut stürmte ihm durch die Adern. Ihm war, als trüge der Wind ihm das Todesröcheln des Schließers zu. Gleich Kain unter dem Fluche Gottes fliehend, zitterte er vor seinem eigenen Schatten, außer sich vor Entsetzen und Schrecken, und stürzte wie ein Wahnsinniger fort. – So lief er, lief er immer weiter, als ob alle Soldaten der Wache von La Force ihm auf den Fersen wären.
Nach einer halben Stunde war er schon weit von seinem Gefängnisse entfernt.
Nun blieb er keuchend stehen, blickte um sich, und als er keinen verdächtigen Menschen sah, atmete er freier auf.
Wohin sollte er nun sich wenden?
Schon hatte er seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen: sein fester Blick drang unerschrocken in die Finsternis; gleich dem Hunde, der das Wild wittert, atmete er die Luft ein und suchte sich zu orientieren.
»Endlich frei! frei!« sagte er, indem er in die Hände schlug. «Ich bin frei! – O, die Welt ist groß! Graf von Monte Christo, wenn Du nicht tot bist, so werde ich Dich finden! – Aber werden mir 60000 Franks zu dem genügen, was ich vorhabe? Nun, wir wollen sehen; das Kapital kann sich ja vergrößern! Einstweilen muß ich an das Wichtigste denken: es gilt die Auffindung eines sichern Lagers.«
Er überlegte einige Augenblicke, schlug sich dann vor die Stirn und rief wie ein Geizhals, der einen Schatz entdeckt hat: »Ich habe es!«
Er erinnerte sich an eine jener Höhlen, deren es in Paris eine Menge gibt, und in denen man einen nicht sehr gewissenhaften Wirt findet, der zu jeder Stunde der Nacht die Gäste aufnimmt, die an seiner Tür klopfen. Benedetto, der sich beinahe vollständig von seiner Furcht erholt hatte, lenkte seine Schritte nach einem dieser Orte, den er in einem der schmutzigsten Teile der Stadt kannte. Begünstigt durch die Dunkelheit der Nacht und beschützt durch den dichten Nebel, der auf Paris lastete, die Stadt einhüllend wie in ein geheimnisvolles und bewegliches Tuch, gelangte der kecke Mörder ohne Hindernis und ohne mit einer Patrouille in Berührung gekommen zu sein, zu der Tür des schmutzigen Loches. Er klopfte an, indem er einen gellenden Schrei ausstieß, dem des Käuzchens ähnlich.
Bei diesem Signal erkannte der Herr des Hauses, daß er ohne Furcht öffnen konnte, und er tat dies sogleich. Sich in eine Decke hüllend, sprang er von seinem elenden Lager auf, kletterte auf einer Leiter herab von einer Art von Gerüst, welches, aus Brettern bestehend, an einem Strick zwischen zwei Pfeilern über einem großen Schlafsaale hing.
»Holla, mein Junge, Du kannst eintreten!«
»Guten Abend!«
»Du willst ein Bett? Es ist keines mehr frei; alle sind besetzt. Sieh selbst,« sagte er, indem er mit der Hand über einen langen, schmutzigen, feuchten Raum hindeutete, der von dem flackernden Lichte einer Laterne beschienen wurde, die in einer Vertiefung der Mauer stand, und deren stinkender Dunst die Luft erfüllte, welche man an diesem fürchterlichen Orte einatmete.
»Das tut nichts,« erwiderte Benedetto. »Ich kann in einer Ecke schlafen, und morgen, oder vielmehr jetzt gleich, haben wir miteinander zu sprechen.«
Der Mörder sagte diese Worte mit einer solchen Zuversicht und mit einem solchen Wesen der Heimlichkeit, daß der Wirt dadurch neugierig gemacht wurde.
»Nun, was gibt's?« fragte er mit einem liebenswürdigen, aber entsetzlichen Lächeln, und indem er begierig horchte.
»Laß uns dort hinauf steigen nach Deinem Neste«, entgegnete Benedetto, indem er auf das Gerüst deutete, wo das Bett des Hausherrn stand.
»Was! Dort ganz allein mit mir, mein Junge? Das streitet gegen die Regel meines Hauses!«
»Wenn ich Dir aber sage, daß ich mit Dir zu sprechen habe – und zwar über eine Angelegenheit, die Dir großen Gewinn bringen kann –«
»Das ändert freilich die Sache; Du kannst mit mir hinauf kommen.«
Bei diesen Worten eilte Benedetto auf die Leiter zu und erkletterte sie im Nu; der greise Wirt folgte ihm so schnell wie möglich, und kaum hatte er den Fuß auf das Gerüst gesetzt, als er seine bewegliche Treppe nachzog.
»Nun sag, um was handelt es sich?« fragte er, indem er sich auf den Rand des Bettes setzte und seinen Gürtel befühlte, als wollte er sich überzeugen, daß er das Mittel besaß, jede gewalttätige Frage zu unterdrücken.
Benedetto seinerseits machte dieselbe Bewegung und schien mit dem Erfolg ebenso zufrieden zu sein wie der alte Schelm von Wirt.
»Nun, mein Junge«, sagte dieser, »ich höre.«
»Ich bedarf für morgen, wenn ich von hier fortgehe, einer vollständigen Kleidung, wie sie sich für einen anständigen Menschen geziemt. – Verstehst Du? Kurze Haare, glattrasierten Bart, guten Mantel, gute Hosen, gutes Schuhwerk und einen guten Rock.«
»Vortrefflich! Du willst von hier so fortgehen, daß man Dich nicht erkennen kann. Nun, wir verstehen uns schon. Was Haare und Bart betrifft, so ist das meine Sache; ich werde dafür selbst sorgen. Was aber die Kleidung betrifft, so mußt Du Dich mit dem begnügen, was meine Nachbarin hat, die ein ganz vortreffliches Trödelmagazin hält, in dem man allerhand sehr anständige Sachen findet, wie sie sich für ordentliche Leute geziemen. Sie ist eine Frau von Takt, und ich stehe für sie ein. Aber das Geld?«
»Das Geld wird sich morgen finden, mein Alter«, erwiderte Benedetto; »ich erwarte meinen Bankier, der ebenfalls Takt besitzt, wie vier Deiner Nachbarinnen, die Trödlerin.«
»Ich mache dich im voraus darauf aufmerksam, daß ich Kommissionsgebühren verlange.«
»Du sollst mich freigebig finden.«
»Gut, gut. – Trinke jetzt, wenn Du willst einen Schluck Schnaps, denn es ist gewaltig kalt und Du bist durchnäßt. Der Teufel soll mich holen, wenn ich es früher schon bemerkt hatte.«
»Nun, mit dem Schnaps mag es sein«, sagte Benedetto, indem er die Hand ausstreckte, um eine zerbrochene Tasse mit ganz gewöhnlichem Branntwein zu ergreifen, die der alte Kneipenwirt ihm reichte.
»Und jetzt pack Dich runter und richte Dich ein, wie Du kannst. Es versteht sich von selbst, daß ich für Deine Kasse nicht einstehe. Hier verwahrt sich jeder, wie er kann; das ist Hausgesetz.«
»Bist Du denn toll, mein Alter?« rief Benedetto. »Um keinen Preis darf mich irgend jemand dort unten sehen, und außer Dir darf niemand eine Ahnung haben, daß ich hier oben bin.«
»Dann mußt Du doppelt bezahlen!«
»Habe ich Dir nicht schon gesagt, daß ich freigebig sein werde?«
»Nun gut denn. Trink noch einen Schluck und dann schlafe.«
Der Greis warf sich auf sein Lager und hüllte sich in seine Decke; während Benedetto sich auf dem Boden ausstreckte und die Arme über der Brust kreuzte. Indes schlief die ganze Nacht hindurch keiner von beiden; Benedetto nicht, weil er irgend eine nicht sehr zufriedenstellende Spekulation von dem alten Schelm fürchtete, und dieser, weil er vor seinem improvisierten Schlafgenossen die gleiche Furcht hegte. Mit Tagesanbruch entfernten sich die Gäste der elenden Herberge und der Besitzer derselben eilte zu seiner Nachbarin, der Trödlerin, um die Kleidung auszuwählen, durch welche Benedetto sich zu entstellen beabsichtigte. Als er zurückkehrte, fand er seinen Schlafgenossen nachlässig auf seinem Lager sitzend, und zwischen den Fingern drehte Benedetto mit der größten Gleichgültigkeit eine Banknote von 500 Franks umher.
»Hier mein Junge«, sagte der Wirt, indem er auf das Bett ein Paket warf. »Ich habe alles so gut wie möglich gemacht. Laß uns jetzt rechnen.«
»Mach Dich bezahlt,« sagte Benedetto, indem er ihm die Banknote reichte.
»Was! Eine Banknote?«
»Das wundert Dich? Mein Bankier ist in Deiner Abwesenheit hier gewesen«, sagte der Mörder mit einem höhnischen Lächeln, »und da er kein bares Geld bei sich hatte, gab er mir diesen Fetzen hier.«
»Hm!« sagte der Wirt, »das ist mir nicht klar; mir sind Münzen lieber.«
»Nun meinetwegen; so geh und wechsle.«
»Und wenn die Banknote falsch wäre, wen würde man dann packen? Mich!«
»Nun, bleibe ich nicht etwa hier?«
»Das wollen wir sehen.«
Der Wirt nahm die Banknote, stieg die Leiter hinab und schloß die Tür sorgfältig hinter sich zu. »So«, sagte er zu sich selbst, »bin ich wenigstens sicher, daß Du mir nicht entwischest, und wehe Dir, wenn dabei Contrebande ist.«
Benedetto begnügte sich damit, zu lächeln, indem er mit den Achseln zuckte.
»Sie war meiner Treu gut«, rief der alte Schelm, als er nach einigen Minuten zurückkehrte und die Fünffranksstücke klingen ließ, die er in der Tasche hatte. »Du bist ein glücklicher Schelm, daß Du einen Bankier hast, der Dir solche Fetzen gibt. Sag einmal«, fügte er dann mit schmeichelndem und geheimnisvollem Tone hinzu, »wenn Du es etwa wärest, der sie macht, so wäre es sehr hübsch von Dir, wenn Du mir zeigtest, wie man das anfängt.«
»Geh zum Teufel!« entgegnete Benedetto ungeduldig, »und laß uns rechnen.«
Der Wirt leerte seine Tasche und zählte dann die Gegenstände auf, die er gekauft hatte, indem er ganz natürlich und wie es sich von selbst verstand, den dreifachen Preis dafür angab. Benedetto ließ sich dadurch nicht täuschen, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und nachdem er sich nur der Form wegen einige Einwürfe erlaubt hatte, zahlte er, was man von ihm verlangte, ohne dabei ein anständiges Trinkgeld für den Wirt zu vergessen, dessen Gunst er nicht verscherzen wollte, denn er wußte, daß ein Wort desselben ihn verderben konnte.
Als die Rechnung vollständig geordnet war, wartete Benedetto, anständig gekleidet, mit kurz geschnittenem Haar und glatt rasiertem Bart, auf eine günstige Gelegenheit, den Ort verlassen zu können, fest überzeugt, daß es ganz unmöglich sein würde, in ihm den Mörder des alten Schließers von La Force zu erkennen; denn der Wirt hatte ihm wiederholt die Versicherung gegeben, daß er selbst ihn nicht wiedererkennen würde, wäre er nicht Zeuge seiner Verwandlung gewesen. Benedetto wußte zwar wohl, daß er diesen Versicherungen nicht vollen Glauben schenken durfte, aber sie trugen wenigstens den Schein der Glaubwürdigkeit, und Benedetto, der sich vollkommen in seine neue Kleidung zu finden wußte, so daß man darauf hätte schwören können, er wäre ein achtungswerter Bürger, zumal auf seinem Gesichte nicht die leiseste Spur von Aufregung zu lesen war, verließ endlich mit der Ueberzeugung, daß er sicher sein würde, die Kneipe.
Den ganzen Tag verwendete er darauf, sich Pässe zu verschaffen, indem er sich für einen Studenten der Archäologie ausgab, der den Wunsch hegte, die Vergangenheit auf den merkwürdigen Punkten zu studieren, welche über die Oberfläche der Erde verteilt sind, und die man mit dem Namen der Ruinen zu bezeichnen pflegt. Mit dem Anbruche der Nacht kehrte indes in seine Züge jener unbeschreibliche Ausdruck zurück, der ihm eigentümlich war, der Ausdruck verbissener Wut, finsterer Melancholie und der Verwegenheit: Der vorgebliche Student der Archäologie legte seine moralische Livree des Banditen wieder an.
Mit festem, sicherem Schritt ging er durch die ganze Stadt nach dem Kirchhof des Père La Chaise, jener geräumigen Nekropole, wo sich die Mausoleen der vornehmsten aristokratischen Familien blähen. Vorsichtig schritt er an der Mauer entlang, um einen Punkt zu wählen, von wo er das Feld überschauen konnte, auf dem die Toten nach dem Beispiele der Lebenden durch den Reichtum ihres Totenlagers mit einander im Prunke zu wetteifern scheinen. Indes so viel Mühe er sich auch gab, war sie doch umsonst, und er erkannte, daß ihm, um auf den Gottesacker zu gelangen, kein anderes Mittel blieb, als mit Geld das Gewissen des Hüters zu erkaufen. Er bot seine ganze Zuversicht auf, näherte sich dem Eisengitter und klopfte.
»Wer da?« fragte die dünne, aber noch kräftige Stimme des Menschen, der die Wache über die Toten hielt und brummend aus einer Art von Pavillon trat, welcher an das Gitter stieß.
»Gut Freund«, erwiderte Benedetto. »Oeffnet mir ohne Furcht.«
Durch einen sonderbaren Zufall und ganz gegen alle seine Hoffnungen, schritt der Aufseher auf das Gitter mit einem Eifer zu, welcher hinlänglich sein Verlangen bewies, der an ihn ergangenen Aufforderung zu genügen.
»Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er, wenn ich länger zögerte, als ich eigentlich gesollt hätte; aber ich glaubte nicht, daß Sie so bald zurückkehren würden.«
Benedetto war starr vor Staunen. Er erkannte wohl, daß hier ein Irrtum walte, aber er beschloß, denselben um jeden Preis zu benutzen. Gleichwohl traf er seine Vorsichtsmaßregeln und trat erst ein, nachdem er sich das Gesicht mit den Falten seines Mantels verhüllt hatte.
»Sie kommen ohne Zweifel«, sagte der Aufseher, »um jemand wieder zur Auferstehung zu bringen, denn wenn Sie nicht ein Engel sind, so besitzen Sie doch jedenfalls das Geheimnis, welches Lazarus dem Leben zurückgab! – Ich stehe ganz zu ihren Befehlen, gnädiger Herr.«
»Das ist sonderbar,« dachte Benedetto, »und wenn ich nicht wüßte, daß ich heute nicht mehr als eine halbe Flasche Wein getrunken habe, so würde ich glauben, ich stehe unter dem zauberhaften Einflüsse einer bacchantischen Luftspiegelung.«
»Wünschen Sie, daß ich Sie begleite?« fragte der Hüter.
»Nein«, entgegnete Benedetto.
»Dann will ich Ihnen meine Lampe holen.«
Bei diesen Worten machte der Aufseher einige Schritte in der Richtung nach seinem Häuschen; plötzlich aber blieb er stehen. Er kehrte um und sagte mit dem unterwürfigsten Tone:
»Um Ihnen zu beweisen, gnädiger Herr, daß ich die Erinnerung an Ihren letzten Besuch, der auch Ihr erster war, noch nicht verloren habe, will ich in allen Punkten den Weisungen folgen, die Sie mir damals erteilten, wenn es nämlich wieder Ihre Absicht ist, wie in jener Nacht in die Gruft der Familien St. Méran und Villefort hinabzusteigen.«
Bei diesen Worten erbebte Benedetto; aber da er fühlte, daß er jedenfalls eine den Fragen entsprechende Antwort geben mußte, beeilte er sich mit leiser Stimme zu murmeln: »Ja!«
»Ganz wohl, Herr Wilmore«, erwiderte der Hüter. »In diesem Falle werde ich meine Laterne an den bewußten Ort setzen, und Sie können dann hinabsteigen, wenn es Ihnen gefällig ist. Den Weg kennen Sie ja schon.«
Der Aufseher ergriff die Laterne, und wie ein Mensch, der seiner vollkommen sicher ist und alle Schlangenwindungen, die durch das ungeheure Labyrinth führen, genau kennt, schritt er zwischen den Gängen einher, welche von den Grabmonumenten gebildet wurden.
»Wilmore!« murmelte Benedetto, als fühlte er den Biß einer Natter. »Wilmore? Ist das ein Traum? – Der Engländer, der mich in Toulon von der Galeere rettete? – Ha! Edmund Dantès – ich erinnere mich jetzt, daß dieser Name dieselbe Person bezeichnet. – Edmund Dantès – der Mörder meines Vaters, meines Bruders und meiner Schwester, der Unschuldigen! – Verflucht! – Und indem ich herankam, um in mir den Gedanken an die Rache, die ich meinem sterbenden Vater schwur, zu befestigen, tönt Dein Name mir in das Ohr, wiederholt, so zu sagen, durch das Echo des Grabes, in welchem Deine Opfer ruhen. – Ha! es sind die Toten, welche gegen ihren Henker schreien! – Ha! es ist das unschuldige Kind, das in seinem neunten Jahre durch Dich vergiftet wurde, und das jetzt den Namen seines unbarmherzigen, blutdürstigen Henkers ruft – Edmund Dantès!«
Als dieser Augenblick der Exaltation vorüber war, kehrte bei Benedetto seine gewöhnliche Ruhe und Festigkeit zurück.
»Also ist schon vor mir jemand hier gewesen und in das Grabgewölbe der St. Méran und Villefort hinabgestiegen,« sagte er zu sich selbst; »und dieser Mensch war Edmund Dantès! – Elender! – Solltest Du etwa zufällig gekommen sein, um Deine Opfer zur Auferstehung zu bringen, wie der Aufseher meint, indem er Dich einen Engel nennt? – O, ich verstehe Dich – Du bist hergekommen, um Deinen verfluchten Blick an dem Anblicke der Leichen Deiner Opfer zu weiden und die Ruhe des Grabes durch das Echo Deines höllischen Gelächters zu stören, als wolltest Du ihnen so selbst die Ruhe, selbst den Frieden des Grabes rauben; als wolltest Du sie noch nach ihrem Tode martern.«
Indem Benedetto, sich diesen Gedanken überlassend, seinem Führer folgte, blieb derselbe endlich vor einer Erhöhung stehen, die von einem Gitter umgeben war, welches eine eiserne Tür schloß. Der Aufseher setzte seine Laterne auf eine der Stufen, und Benedetto, den der Schein des Lichtes leitete, trat näher, indem er mit gutem Grunde vermutete, dies sei das Grabgewölbe seiner Familie. Das Licht warf seine zitternden Strahlen auf einen feuchten, kalkigen Grund und bildete so eine längliche und bewegliche Gestalt, welche einem feurigen Phantome in der Mitte der Marmorgräber glich.
In geringer Entfernung zeigten sich die Umrisse eines menschlichen Gesichtes; es war der Hüter, welcher die letzten Befehle Wilmores zu erwarten schien.
Benedetto zog eine Börse aus der Tasche, näherte sich ihm und ließ das Geld klingen.
»Verzeihung, gnädiger Herr«, sagte abwehrend der Hüter; »aber – ich würde es vorziehen, wenn Sie mich auf dieselbe Weise belohnten wie das erste Mal, das heißt, indem Sie die Börse neben die Laterne legten, wenn Sie das Gewölbe verlassen. Es kommt daher, sehen Sie, weil ich zittere – denn obgleich ich sehe, daß Sie ein Mensch sind wie ich, der sich bewegt, geht, atmet und lebt, so liegt doch in Ihnen etwas Feierliches und Entsetzliches, wovor ich erstarre. Entschuldigen Sie mich – das ist eine Schwäche von mir! – Gewöhnt daran, hier zwischen den Toten zu leben, fürchte ich nicht diese, wohl aber Sie, denn weder die Toten noch irgend ein Lebender handeln so wie Sie!«
Benedetto gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen, und als dies geschah, ging er selbst nach dem Eingange der Gruft. Hier bemerkte er eine kleine Erhöhung und sah, daß die Erde frisch aufgeworfen war. Er hielt dies für die Arbeit des Hüters, der den Willen des geheimnisvollen Wilmore genau zu kennen schien. Benedetto zog hierauf aus der Tasche einen Dietrich, steckte ihn in das Schloß, öffnete es und wich dann einen Schritt zurück, indem er die Hand an die Nase legte, um den Dunst abzuwehren, der aus der Tiefe herausstieg.
Die Tür öffnete sich ohne Schwierigkeit, da die vor derselben liegende Erde entfernt worden war. Benedetto nahm die Laterne und stieg in das Innere der Gruft hinab.
Er war ein verwegener Räuber, ein kecker Mörder, aber dennoch zitterte er unwillkürlich, denn er war unfähig, den Schrecken zu überwinden, den ihm das feierliche Schweigen, die erhabene Dunkelheit des Asyles der Toten erregte. Er taumelte und fühlte seine Knie unter sich brechen, aber er machte eine gewaltsame Anstrengung, um über sein Entsetzen zu siegen, stieß ein gotteslästerliches Gelächter aus und sagte, als wollte er sich durch das Echo seiner eigenen Stimme ermutigen: »»Was soll denn das heißen? Wäre Edmund Dantès etwa stärker als ich? Wie, er, der die Leichen, welche hier ruhen, in dieses Grab hinabstürzte, hat sich nicht gefürchtet, in ihre Mitte zu treten, – und ich sollte nicht den Mut haben, hinabzugehen? – Ha! Vielleicht zu eben dieser Stunde ist er hergekommen; er hat die Dunkelheit vertrieben und ist kühn, verwegen, unerschrocken diese Marmortreppe hinabgestiegen!«
Bei diesen Worten schritt auch Benedetto die Stufen hinab und erblickte sich bald darauf im Innern des Gewölbes, welches kaum dreißig Quadratfuß groß war. An den Wänden zogen sich Marmorstufen entlang, von denen schon acht durch bleierne Särge besetzt waren.
»Marquis von St. Méran«, sagte er, indem er die Inschrift auf dem ersten Sarge las: »Das war der Schwiegervater meines Vaters durch seine erste Ehe, ein alter Edelmann; erfüllt von allen Vorurteilen seines edlen Stammes, muß seine Leiche mit allem Schmucke seines Ranges beladen sein.«
Indem er so sprach, sprengte er mit einem Eisen, das er zu diesem Zwecke mitgebracht hatte, den Deckel des Sarges. Die einbalsamierte Leiche, gekleidet in eine reiche Uniform, trug in der Tat auf der Brust mehrere Orden und Kreuze von großem Werte.
Benedetto bemächtigte sich derselben, schloß dann den Sarg des Marquis wieder und näherte sich dem folgenden, der die Inschrift trug: Frau von St. Méran. Auch diesen öffnete er.
»Ha!« murmelte er; »wie reich Du Dich geschmückt hast, um Deinen letzten Schlaf zu schlafen, große und vornehme Dame! Der letzte Beweis der Torheit, den das Geschöpf gibt, und durch den sich dessen ganzer Stolz, dessen ganze Eitelkeit verrät!«
Die Edelsteine, welche die Finger und die Brust der Leiche schmückten, gingen in die Hände Benedettos über, welcher auch den dritten Sarg plünderte, der die Inschrift trug: Frau von Villefort.
»Genug!« murmelte Benedetto, indem er vor dem vierten Sarge stehen blieb, bezeichnet mit dem Namen: Valentine von Villefort.
»Du, Jungfrau,« sagte er, »einfach wie die Blumen des Feldes, Deine Leiche kann keinen andern Schmuck haben als den heiligen Zauber der Reinheit und der Unschuld, welche Deine Seele zierten. – Weiter!«
»Ha! Der Sarg Eduards! Eduards, des armen, kaum neunjährigen Geschöpfes, welches zugleich mit seiner Mutter durch das Uebermaß einer erbarmungslosen Rache vernichtet wurde! – Eduard, mein Bruder, Du sollst gerächt werden!
Auch Du, mein Vater!« fuhr der Bandit fort, indem er den Deckel eines Sarges sprengte, welcher nur aus Holz war, ärmlicher und einfacher als alle übrigen, und in welchem die Leiche ruhte, umgeben von einem weißen Leichentuche.
Einige Augenblicke betrachtete Benedetto schweigend diese Leiche.
»Ach!« sagte er dann, »auf Deiner Stirn, mein Vater, erblicke ich noch den Stempel des entsetzlichen Leidens, welches Du durch das Unglück zu tragen hattest, nacheinander rings um Dich her Deine Teuersten fallen zu sehen: Gattin, Sohn, Tochter, gleich Blumen, die der Sturm aus dem Boden reißt. Deine Lippen scheinen mir noch Deinen letzten Wunsch zuzuflüstern, nachdem Du mir in eben jener Nacht, in der Du den letzten Seufzer aushauchtest, Dein Leben geschildert hattest! – Dein Wille soll geschehen!« fuhr Benedetto fort, indem er die Hände des Toten auseinander legte und aus seinem Busen einen scharf geschliffenen Dolch zog; »ja, diese Hand, mit der Du während Deines Lebens eine grausame, entsetzliche Rache nicht bestrafen konntest, soll nach Deinem Tode Edmund Dantès in das Gesicht schlagen!«
Nach diesen Worten trennte Benedetto mit einem kräftigen Schnitt die einbalsamierte und vertrocknete Hand der Leiche von dem Arme, ergriff sie, betrachtete sie voll Ehrfurcht und rief dann, indem er den Sarg wieder schloß:
»Lebe wohl, zum letztenmal! Als enterbter und unbekannter Sohn, als ohnmächtiger Sprößling einer mächtigen Familie, bin ich in Deine letzte Wohnung hinabgestiegen, um meine einzige Erbschaft in Empfang zu nehmen, indem ich alle menschlichen Gesetze verhöhnte und ihnen trotze! Eine unsichere, traurige Erbschaft, dennoch aber genügend, wenn sie mir die Möglichkeit verleiht, dahin zu gehen, wohin die Totenhand mich führen wird!
Fort!«
Benedetto nahm die Laterne und stieg hastig die kleine Treppe hinauf. Wer ihn jetzt gesehen hätte, wie er bleich, außer sich, aus dem Grabe hervorging, die Schatten der Nacht durch die Leuchte in seiner Hand verbannend, der hätte ihn sicher für einen Verstorbenen gehalten, der unter dem Antriebe einer mächtigen Leidenschaft, die nicht mit ihm gestorben war, auf die Oberfläche der Erde zurückkehrte und hinter sich den Schatten und das Geheimnis des Grabes ließ.
Benedetto blieb stehen, atmete tief auf und trocknete den kalten Schweiß, der von seiner Stirn rieselte. Dann setzte er die Laterne nieder und brach in ein teuflisches Gelächter, das Gelächter des Mörders, aus.
»Wilmore,« sagte er, »es wird bald jemand kommen, der Dich dieser Entweihung anklagt!«
In der Tat, als der Hüter zurückkam, die Laterne zu nehmen und die versprochene Börse einzustecken, suchte er die letztere vergebens.
»Ha!« murmelte er, »ich tat unrecht daran, sie nicht gleich anzunehmen. Wilmore hat meine törichte Furcht benutzt, – um mich zu betrügen!«
Am folgenden Tage, als er bemerkte, daß das Grabgewölbe offen geblieben war, und daß man die Särge gesprengt hatte, schwur er darauf, daß Wilmore nichts sei, als ein durchtriebener Spitzbube, und nahm sich vor, ihn verhaften zu lassen, wenn er einen dritten Besuch machen sollte.
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