Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
~~~~~~~~~~~~~~~~
In Desenzano, am Ende des Gardasee's war am 15. Mai 1846 was man dort den »Winter der Maulbeerbäume« nennt, d. h. eine Kälte, als wäre man im Januar. Dazu brüllte der See ärger als ein Meer.
Eine Vettura kam vor das Albergo della Posta vecchia gerollt, welches das größte Hôtel in Desenzano ist und unmittelbar am See liegt.
Die Vettura war eine ächte und rechte Vettura, ganz Holz, Glas und Geklapper. Der Vetturin ein hübscher, stattlicher Mensch in schwarzer Sammetjacke, eine Rose hinter dem Ohr und immer eine Melodie auf der Lippe. Das Pferd ein Schimmel, welcher geisterroßartig durch die frühe Dämmerung des Regenabends leuchtete. Der Inhalt des Gefährtes bestand aus einem leichten Koffer, einer buntgestickten Reisetasche und einem jungen Manne von ungefähr fünfundzwanzig Jahren.
Der Schimmel hielt an, die Vettura stand still, der Vetturin sprang herab, der junge Mann sah heraus und fragte den langen Camerière, welcher am Schlage erschien, nach einem Zimmer.
Der lange Camerière hatte Zimmer. Der junge Mann stieg aus und begehrte eines zu sehen.
Der lange Camerière ging mit einem Lichte voraus, welches immerfort zu verlöschen drohte, so tobten auf den Gallerieen Wind und Regen. Der junge Reisende schüttelte sich vor Frost.
»Ein liebenswürdiges Wetter,« murmelte er auf deutsch.
Der Camerière führte ihn verbindlich und feierlich in eine kleine, nackte und kalte Stube.
»Was?« fragte der junge Deutsche, »hier soll ich wohnen? Dank.«
»Gefällt es dem Signor nicht?« fragte der Camerière. Er war mit einem großen und einem kleinen Auge begabt, und machte bei seiner Frage das große zu und das kleine auf.
Der junge Reisende antwortete: »es gefällt dem Signor so wenig, daß der Signor bittet, ihn augenblicklich wo andershin zu führen.«
Der Camerière schritt wieder voraus und wieder hinaus auf die Gallerie. – Der junge Mann murmelte abermals auf deutsch: »närrisches Volk – immer zuerst eine Bedientenstube. Nun, ich bin jetzt schon etwas klüger und nehme sie nicht mehr.«
Der Camerière öffnete eine andere Thür, leuchtete hinein und sagte: Das sei ein Appartamento.
»Gut,« sprach der junge Deutsche, »das Appartamento nehme ich – für drei Franken.«
»Unmöglich, Signor,« betheuerte der Camerière.
»Allermöglichst,« sagte kaltblütig der Reisende. »Fünf,« schlug der Camerière vor.
»Vier,« endete der Deutsche. Wo nicht, fahre ich in ein anderes Hôtel.«
Der Camerière gab zu verstehen: der Signor werde dort bedeutend schlechter logirt sein.
»Das ist dem Signor ganz gleich,« erwiederte der junge Mann, dem diese Verhandlung als eine Zerstreuung auf die nasse Nachmittagsfahrt zu dienen schien.
Der Camerière erklärte: er müsse die Padrona fragen, der Reisende antwortete: das möge er thun. Während der Camerière fort war, stand der junge Mann, die Hände in den Taschen seines Paletots, humoristisch frierend, und sah bei dem flatternden Licht, welches der Camerière auf das Geländer gestellt, hinab in den schwimmenden Hof. Das Brüllen des See's schlug eben wieder an das Haus, als wollte es die Mauern sprengen.
»Lieber See das,« sagte der Reisende.
Der Camerière kehrte zurück mit dem selbstzufriedenen Aussehen eines Menschen, der einen schwierigen Auftrag glücklich erfüllt hat.
»Die Padrona sagt: eigentlich ist es unmöglich, aber um den Signor nicht zu verlieren, muß es möglich sein.«
»Brava, die Padrona!« sagte lustig der junge Mann und unterbrach sich, denn ein frisches mädchenhaftes Gekicher schlug an sein Ohr, und eine Thür in der Nähe wurde geschwind und leise zugezogen.
»Was war das?« fragte er, nachdem er sich rasch hingewendet hatte und Nichts sah, als die zugemachte Thür.
Es wird die englische Signorina gewesen sein,« antwortete der Camerière.
»So? wohnt hier eine englische Signorina?«
»Ja, Signore, mit ihrem Vater und ihrer Mutter.«
»So? Hm! Nun, das ist ja angenehm,« sagte der junge Mann, indem er Besitz von seinem Appartamento nahm. Drei Stunden später fuhr er in einem Briefe an die Seinigen, den er am Abend vorher abgebrochen, folgendermaßen fort:
»Verona und Regen ist für mich fortan ein und derselbe Begriff. Im Regen kam ich an, im Regen sah ich die Arena und ›das Grab,‹ im Regen kletterte ich auf das Kastell, und im Regen fuhr ich heute früh um elf wieder ab. Ich glaube den allgemeinen Vernunftgrundsätzen nach, daß in Verona auch die Sonne scheinen kann und sogar scheint – vorstellen aber kann ich mir's nicht – dazu reicht meine Phantasie nicht aus. Entschuldigt mich daher, wenn ich nicht in Bewunderung über die Arena ausbreche und nicht in Empfindung über das Grab hinschmelze – ihr wißt, im Regen kann ich nur stumm oder toll sein. Seh' ich Verona noch ein Mal in der Sonne, so sollt ihr eine Beschreibung davon haben.
In die Ebene verlieb' ich mich mehr und mehr. Ich hätt' es nicht für möglich gehalten, ich, der Thor für das Gebirg. Aber sie ist so göttlich fruchtbar, daß ich einen ganz neuen Genuß daran habe, mit Sinnen und Gedanken in ihrem Ueberflusse zu schwelgen. Zwar fehlten heute die Rebengehänge, aber wie breitästig, wie laubtriefend standen die Maulbeerbäume auf den Feldern, wo ihr kein unbebauetes Fleckchen hättet ausspähen können, und hättet ihr es mit einem Goldstücke zudecken wollen. So muß die Kultur zur Araberzeit in Spanien gewesen sein, so wird sie zur Schönheit. Die Erde wird dann aufgefordert, ihr ganzes Vermögen zu offenbaren. Sie thut es, und man kann nicht mehr seufzen: die arme Erde! Und das ist gut, denn dieser Seufzer klingt so hoffnungslos und ist so überflüssig. Dem Himmel bleibt doch noch genug, was nur er gewähren kann, auch wenn die Erde nicht arm ist.
Nun, hier ist sie's nicht, sondern im Gegentheile ganz und gar Verschwenderin. Lange Strecken dufteten an der Landstraße die Akazien in der feuchten aber warmen Luft. Vergißmeinnicht und wilde Rosen blühten in allen Gräben und an allen Hecken. Einzelne lombardische Pappeln und Cypressen waren prachtvoll hoch. An Castelnuovo fuhr ich vorüber – es lag malerisch links oben im Grün. Bald darauf kam ein altes Kastell, oder war's ein Palast? Groß war's, einfach, massenhaft ein langes Gebäude mit einem starken Thurme am linken Ende. Weiter wieder, nahe an der Straße, trat aus einem Garten eine halbrunde Mauer hervor, und vier schlanke Cypressen erhoben sich in dem weißen Halbkreis Lauter Züge einer fremden Landschaft. Kurz vor Peschiera war ein kleiner Wasserfleck mit hohem Rohr, daran standen Trauerweiden, wie wir sie uns im Norden nicht träumen lassen. Bei uns tragen sie den Namen mit Recht; da trauern sie wirklich, weil der Boden ihnen nicht Nahrung genug giebt. Aber hätte manches junge Reimtalent, ehe es anfing zu versen, Italien besucht, so würden in vielen Gedichten die Thränenweiden keine so große, oder doch eine andere Rolle spielen. Ich erinnerte mich heute mit großem Vergnügen, wie freundlichironisch Tieck bei seiner ersten Privataudienz mir schließlich sagte: ›mein Lieber, und etwas weniger Thränenweiden in Ihre Gedichte.‹
Hier am Orte stürmt, tobt, brandet und brüllt es, als führten die Wogen eine Ouvertüre zu einem Sabbath auf. Das ist der erste blaue, hesperische See. Himmlisch, sag' ich euch.
Dennoch habe ich mich heute Abend gut unterhalten, denn ich habe eine Bekanntschaft gemacht, eine wirkliche Bekanntschaft, die größte Seltenheit auf einer Reise. Ihr werdet mir nicht glauben, aber es ist so – man macht auf Reisen Studien, Bücher und Dummheiten, aber keine Bekanntschaften, man macht eher Alles, als Bekanntschaften. Meine heutige aber ist wirklich gemacht und noch dazu eine sehr angenehme. Der General von Below aus Braunschweig mit Frau und Tochter. Sie sitzen seit gestern hier; um, wie sie sagten, es regnen zu sehen. Zu meiner Ueberraschung, denn man hatte sie mir als Engländer genannt, hörte ich sie im Speisesaale deutsch sprechen, und – führte mich ein. Am Ende, man muß doch etwas für sein armes liebes Ich thun. Sie kannten mich – die Tochter wurde ganz roth, als sie meinen Namen hörte. Sonderbar, daß die Eitelkeit gegen diese Art von Eindruck nicht abstumpft.
Wir sind für den Augenblick die einzigen Fremden im Hôtel und wollen morgen noch hierbleiben, um zu sehen, was das Wetter machen wird. Schlaft wohl – nicht mein Stoff, aber meine Tinte ist erschöpft. Ich fordere aus großer Vorsicht jetzt immer ein volles Tintenfaß, aber die Begriffe von ›Voll‹ und ›Leer‹ müssen verschieden sein, ich wenigstens nenne dieses mein heutiges Tintenfaß, welches mir als voll gebracht wurde, unzweifelhaft leer, denn es ist mit dem letzten Tropfen darinnen, daß ich euch gute Nacht sage.«
Leo von Studnitz, der junge Reisende und Briefschreiber, schrieb nicht nur Briefe, sondern auch Bücher, und zwar gehörte er seiner Stellung und Gesinnung nach unter die sogenannten eleganten Schriftsteller.
Man kann immerhin sagen, er gehörte unter sie, denn die eleganten Schriftsteller haben aufgehört, eine wenn auch noch so kleine Fraktion zu bilden – der Märzwind hat sie auseinandergeblasen. Was jetzt von guter Gesellschaft noch schreibt, das ist romantisch, und die übrige Literatur huldigt entschieden – dem Gegentheil der Eleganz. Versteht sich, nur die schöne – die gelehrte behauptet den Platz, welcher als der eigentlich deutschen ihr zukommt.
Sternberg hat in seinem »Fasching in Wien« In »Ein Fasching in Wien« (1851) stellte Alexander von Ungern-Sternberg (1806-1868) Reiseeindrücke von Breslau und Wien zusammen. eine phlegmatisch-geistreiche Apologie der Salonpoesie versucht. Wozu das? Wo eine solche Apologie nöthig ist, da ist sie auch überflüssig. Will die Literatur sich barbarisiren, wer will sie daran hindern? Gewiß ist es, daß ihr dergleichen eben nur in Deutschland einfallen kann. Ueberall anderswo hat die Eleganz das uralte Bürgerrecht in der Literatur, bei uns allein war es möglich, daß sie als eine Eindringerin angeschrieen wurde, die eigentlich herausgeworfen werden müsse.
Leo erschien gerade noch in den letzten Jahren, wo man sie sich grunzend gefallen ließ, weil – man nicht anders konnte. Er war kein Genie, wohl aber ein frisches und selbst ein originelles Talent. Wenigstens schrieb er immer aus innerer Anregung und verdankte den Erfolg, welchen er hatte, ganz allein sich selbst, denn er war viel zu sorglos und wohl auch zu stolz, um die Gunst der Kritik zu suchen. Wie es oft geht, wurde sie ihm gerade deshalb zu Theil, mehr als die des Publikums. Er machte ein gewisses Aufsehen, er wurde in englischen und französischen Journalen besprochen, er war eines bestimmten Kreises von Lesern sicher, aber die lesende Menge gewann er nicht. Vielleicht war er zu subjectiv, vielleicht noch zu jung, vielleicht auch nicht mächtig genug. Er fürchtete das Letztere, denn er war sich selbst gegenüber bescheiden, oft bis zur Muthlosigkeit. Dann sagte er, was ein Jeder sagt, dem es nicht glücken will: »es sind meine unglücklichen Verhältnisse – wären die nicht, würde ich schon etwas Ordentliches leisten.« Diese unglücklichen Verhältnisse bestanden darin, daß er in Schlesien Die Autorin war selbst schlesischer Herkunft und hat ihre Jugend dort verbracht, bevor sie im Alter von 19 Jahren nach Dresden übersiedelte. geboren und erzogen, und in jedem Sinne ein einziger Sohn war. Man muß ihm zugeben, daß diese Umstände keine günstigen waren. Schlesien hat kein Klima zum geistigen Gedeihen. Es ist durch und durch provinziell und provinziell ohne jene Originalität, welche für die Welt entschädigt. Man langweilt sich in Schlesien, und muß man zu lange da aushalten, so wird man zuletzt selbst langweilig, man mag sich wehren wie man will. Etwas Gutes nur hat die vornehme schlesische Gesellschaft: die Ueberlieferung der Formen. Sie sind kleinlich, aber regelrecht, und wer in ihnen gebildet ist, eignet sich leicht die gemessene Freiheit der großen Welt an. Leo war bereits so weit. Ausflüge nach Wien und nach Berlin hatten ihn Sicherheit gewinnen lassen. Weiter war er bisher noch nicht gedrungen, denn seine Mutter war Wittwe und er ihr einziger Sohn. Nicht ihr einziges Kind – er hatte zwei ältere Schwestern – aber ihr einziger Sohn und daher von tausend haarfeinen Rücksichten an den Boden seiner Geburt festgehalten. Jedes Wünschen hinweg erschien der Mutter wie ein Mangel an Liebe. Sie begriff wohl, daß Leo andere Bedürfnisse haben müsse, als sie, aber sie verlangte, daß er sie, wenn auch nicht ein für alle Mal, doch so oft wie möglich ihr zum Opfer bringen sollte. Leo wollte es auch »so oft wie möglich«, aber wie oft dieses »so oft« stattfinden sollte, darüber konnten Mutter und Sohn sich nie vereinigen. Daher Scenen, Schmerzen und eine Leidenschaftlichkeit, wie sie sich wohl für ein bräutliches, aber nicht für ein kindliches und mütterliches Verhältniß schickte. Leo hatte versucht, die Mutter ihrerseits zur Nachgiebigkeit zu bewegen. »Wenn wir wo anders wohnten,« sagte er zu ihr, »würde ich in der Nähe haben, wonach ich jetzt in die Ferne strebe – Anregung, Mannigfaltigkeit, Schönheit.« Er wollte, sie sollte ihr Gut, welches bei Hirschberg lag, verkaufen, und sich etwa am Rhein niederlassen. Da war man in Deutschland und doch auch leicht überall – in Belgien, in England, in der Schweiz. Aber Frau von Studnitz wollte nicht. Sie war eine Ortsanhängerin. Sie fand, daß ihr Gut der einzig schöne Ort war, den man sich wünschen konnte, und sie blieb. Leo mußte mit bleiben, mußte sich ausschließlich lieben lassen und sein Bestes thun, um ausschließlich wieder zu lieben. Er that es, denn er bedurfte der Harmonie. Er zwang sich mehr aus Selbstdrang, als aus Zwang. Frau von Studnitz war bisweilen ihrem Sohn erkenntlich, und in einer dieser Erkenntlichkeitszeiten hatte sie ihm das Geld geschenkt, um Oberitalien besuchen zu können. Wenn er glücklich wiederkäme, würde sich ein Jahr später ja auch Rath nach Florenz, Rom und Neapel finden lassen. Leo dankte seinem Schöpfer, daß es ihm wenigstens glücken sollte, die Alpen und die Lombardei zu sehen. Er hing in Geldangelegenheiten gänzlich von der Mutter ab, indem sie die Besitzerin des Vermögens war. Die Honorare, die er bisher erhalten hatte, waren deutsche Honorare gewesen, kaum groß genug, um ein Pferd zu kaufen, oder einige geheime Schulden zu decken. So kam es, daß Leo dem Reisegelde von der Mutter gar nichts hinzuzufügen hatte, und sich buchstäblich begnügen mußte, so weit zu reisen, wie es ihm erlaubt worden war. Er that jedoch vor der Abreise das stille Gelübde, von nun an zu sparen, um das nächste Mal unabhängig reisen zu können. Er wollte ein herrliches, noch nie dagewesenes Buch über Oberitalien schreiben – er fühlte ganze Goldminen in seinem Gehirn. Einstweilen, bis er das Gold zu Tage gefördert und münzbar gemacht hätte, saß er am Gardasee in Desenzano eben so innerlich vergnügt und selbstzufrieden, wie er am Bosporus oder am atlantischen Meere hätte sitzen können.
Wie Leo mit allen diesen Eigenschaften als Naivetät, kindliche Liebe, Bescheidenheit u. s. w. und bei allen den Hindernissen wie ein Wohnort in Schlesien, eine leidenschaftliche Mutter und eine eigentlich lächerliche Unbekanntschaft mit der Welt, hatte ein eleganter Schriftsteller werden können? Wie Luther Reformator und Napoleon Kaiser wurde: ohne es selbst zu wissen.
Während er geschrieben, was er nie versäumte, denn die Mutter mußte wünschen, daß er recht oft reisen sollte, damit sie recht viele Briefe bekäme, plauderten einige Zimmer weiter die Generalin von Below und ihre Tochter Clotilde von der neuen Bekanntschaft.
Der General schlief schon, darum mußte das Gespräch leise geführt werden. Dennoch war es von Seiten der Tochter lebhaft. Am Gardasee den jungen Schriftsteller kennen zu lernen, dessen Romane sie mehr als ein Mal entzückt hatten, war für ein junges Mädchen keine alltägliche Begebenheit – es war sogar die erste außergewöhnliche. Die Mutter hörte wohlwollend und nachsichtig den unbefangenen Aeußerungen des jungen Mädchens zu. Was für sie nichts Neues war, durfte es doch für Clotilde sein – die Frau von vierzig erlaubte das dem Mädchen von zwanzig. Als daher Clotilde naiv fragte: »Mutterchen, hättest du ihn dir so hübsch vorgestellt?« lächelte sie freundlich und bemerkte nur: »hübsch? Er ist ja blond, und du schwärmst für das Dunkel?«
Clotilde wiederholte nachsinnend: »blond? ist er's? Ich dächte doch nicht.«
»Gewiß doch mehr blond, als braun,« antwortete die Mutter.
»O nein, Mutterchen, mehr braun!« rief Clotilde nach einem Weilchen in sicherm Tone.
Die Generalin sagte lachend: »wir werden das morgen besser sehen können; du weißt bei Licht trügt die Farbe, z. B. von den Augen.«
»Braune Augen hat Studnitz gewiß!« rief Clotilde lebhafter als bisher.
»Möglich,« erwiederte die Generalin, etwas kühler, »jetzt geh' schlafen, Kind, wenn der See dich schlafen läßt.«
»Wenn er mich auch wach erhält,« versicherte das junge Mädchen, »das Brausen ist so großartig, daß ich es lieber hören, als schlafen mag.«
»Ich ziehe den Schlaf vor,« sagte die Mutter.
Clotilde hatte ein Zimmer vor dem der Eltern. Es war ungewöhnlich groß und so leer, daß es dadurch fast wüst wurde. Ein einigermaßen furchtsames Geschöpf hätte gewiß nicht allein darinnen geschlafen; Clotilde war nicht furchtsam ihr kam das kahle, unheimliche Gemach nur drollig vor, besonders wenn sie es mit ihrem niedlichen Nestchen daheim verglich. Wie man weiß, ist Braunschweig mit wunderhübschen Gärten und wunderhübschen Landhäusern umkränzt, und in einem der allerhübschesten von diesen wohnte die Familie von Below. So war das einzige Töchterchen – denn auch Clotilde war eine einzige Tochter und ein einziges Kind noch dazu – so war sie also in Betreff des Herbergens etwas verwöhnt und hatte sich nicht ganz ohne Nasenrümpfen in die italienischen Zimmer geschickt. Auch heute sagte sie wieder mit einem ganz schnippischen Ausdruck in dem feinen Gesicht: »eigentlich wäre diese Stube nicht einmal für meine Katze gut genug. Man muß sich auf Reisen Mancherlei gefallen lassen. Indessen ist's doch hübsch, das Reisen. Außer auf der Reise hätte ich diesen meinen Lieblingsschriftsteller nicht kennen gelernt, denn gesetzt auch, er wäre nach Braunschweig gekommen, so wäre er doch sicherlich nicht zu uns gekommen. Und daß ich seine Bekanntschaft gemacht habe, das gäbe ich um keinen Preis hin. Was wird die Julie nur sagen, wenn ich es ihr erzählen werde, denn es ihr zu schreiben, das lohnt sich nicht mehr – wir sind ja nun auf der Rückreise.«
Das junge Mädchen hatte sich während dieses Monologes ausgezogen. Bei den letzten Worten seufzte sie ein wenig, setzte aber gleich innerlich freudig hinzu: »Julie wird sich recht freuen und die Katze auch!« Julie war ihre Herzensfreundin und die Katze ihr Schooßthier, und sie legte sich kaum je schlafen, ohne Beiden den Tribut eines zärtlichen Andenkens gezollt zu haben. Sie würde sich einen Vorwurf daraus gemacht haben, Eine oder die Andere zu vergessen, wär' es auch nur für einen Abend gewesen. Heute hatte sie nun ihrer Treue Genüge gethan, daher kroch sie zufrieden mit sich in das unermeßliche Bett und schlief wider Willen ein, während ihre Mutter wider Willen wachte. Abermals der Unterschied der zwanzig Jahr.
Wenn man Clotilde übrigens für zwanzig Jahr noch sehr kindisch findet, so hab' ich Nichts dagegen. Sie war es, denn sie hatte sich spät entwickelt. Als Kind ungemein kränklich, von Natur äußerst zart und zerbrechlich, sah sie mit siebzehn kaum wie vierzehn aus, und konnte jetzt mit zwanzig höchstens für siebzehn gelten. Die Aerzte hatten ihr starke Bewegung, spätes Schlafengehen, mit einem Worte Alles, was bei einem geselligen Leben unvermeidlich ist, auf das Strengste untersagt, und so hatte sie bis jetzt gänzlich im Familienkreise gelebt. Diese Reise war ihre erste, und der nächste Winter sollte ihr erster in der Gesellschaft sein.
Sie hatte sich zu Hause auf die Reise gefreut und auf der Reise wieder auf Zuhause. Heute zum ersten Male hatte der Gedanke an das Aufhören der Reise sie seufzen gemacht. Sie fragte sich nicht, woher das kommen möge, sie empfand nur die leise Beklemmung darüber, daß sie bald nicht mehr hier, bald auch gar nicht mehr in Italien sein würde. Um sie jedoch im Schlafe zu stören, dazu war das Empfinden nicht stark oder nicht peinlich genug. Sie erwachte nur etwas früher als gewöhnlich. Ihr erster, halb noch schlaftrunkener Blick war nach dem Fenster, welches durch keine Vorhänge geschlossen wurde. Der Tag war wo möglich noch grauer als der vergangene, Wind und Regen tobten, der See heulte wo möglich noch stärker. Einen Augenblick lang dachte Clotilde mit Vergnügen daran, wie es diesen unfreundlichen Tag über heimlich in dem großen Saale sein würde, eine Erwartung, die etwas seltsam war, denn der Speisesaal eines Hôtels pflegt nicht durch Wohnlichkeit anzusprechen. Gleich darauf aber fiel es ihr zu ihrem größten Schrecken ein: »ach, wenn Vaterchen am Ende ungeduldig wird und heute schon nach Riva will! Vaterchen wird so leicht ungeduldig.«
Sie konnte vor dieser Unruhe nicht mehr einschlafen und entschloß sich endlich, lieber aufzustehen und so das Erwachen der Eltern abzuwarten.
Bald war sie fertig angezogen, wickelte sich in einen großen Shawl und öffnete ihr Fenster, welches gerade über dem Balkon des Saales lag. Sie sah hinüber nach dem Monte Baldo – er hing ganz voller Nebel, alle Berge hingen voll Nebel und Wolken, das Kastell auf Sermione war kaum zu erkennen. Clotilde stützte den Arm auf das Fensterbrett und betrachtete die Halbinsel ganz kläglich. »Wenn es doch schön würde und wir könnten hinüber,« seufzte sie. So fahren wir am Ende fort und sind nicht dort gewesen.« Clotilde hatte bisher kaum etwas von Sermione gehört, aber jetzt auf ein Mal ein heftiges Verlangen, es zu sehen.
»Guten Morgen!« rief es vom Balkon herauf.
Clotilde fuhr zusammen und blickte verwirrt hinab. Studnitz lehnte zurückgebogen am Geländer und sah freundlich in die Höhe.
»Was sagen Sie zu dem häßlichen Wetter?« rief Clotilde, aber ihre weiche Stimme verhallte in dem Getöse des andonnernden Wassers.
»Sprechen Sie nicht,« rief Leo, der ihren Versuch sich hörbar zu machen gesehen hatte. »Um sich hier verständigen zu können, müßte man Sprachrohre haben.« Und um sie zu keiner neuen Anstrengung zu verleiten, ging er nach einem nochmaligen Grüßen in den Saal zurück.
Clotilde schloß zögernd das Fenster. »Wie schnell man mit ihm bekannt wird,« dachte sie. »Er ist gar nicht anmaßend, und so einfach, so natürlich.«
Leo war Beides, war es in dem Grade, daß er sich in Männergesellschaft immer sehr in Acht nahm, um sich nicht preiszugeben. Bei Frauen dagegen ließ er sich mit der Koketterie eines Kindes gehen. Auch bei den Belows hatte er es gethan, und da er dann immer am liebenswürdigsten war, so hatte er nicht nur auf Mutter und Tochter, sondern auch auf den gewöhnlich etwas mißtrauischen General einen sehr angenehmen Eindruck gemacht.
Was nicht immer der Fall ist: dieser Eindruck verstärkte sich während des Tages, den die kleine Gesellschaft wirklich in dem großen Speisesaale zubrachte. Allerdings hatte der General im Laufe des Vormittags mehrmals geäußert, es würde wohl am Klügsten sein, heute noch nach Riva abzufahren, aber während des Mittagessens schien er dieses Klügsten ganz zu vergessen, und als es sich schon nach Tische fand, man habe die leise Andeutung des Camerière überhört und das Dampfschiff sei fort, da lächelte der alte Herr gutmüthig und meinte: »nun, so werden wir wohl noch hier sitzen bleiben müssen.«
Leo sagte lebhaft: »ich glaube, Herr General, die Fahrt nach Riva sowohl wie nach Roveredo würde bei diesem Wetter nicht gerade erfreulich sein.«
»Erfreulich gar nicht,« antwortete der General, »es ist mir nur darum, daß wir nun wieder drei Tage auf das Dampfschiff warten müssen.«
Clotilde kam hinter seinen Stuhl und legte sich schmeichelnd an seinen Hals. »Väterchen,« flüsterte sie, »wenn es weiterregnete, bliebst du ja morgen doch in Riva, und da soll das Hôtel bei Weitem nicht so gut sein, wie hier.«
»Aber wie, wenn es nicht weiterregnet?« fragte der Vater.
»Da haben wir hier zu fahren und zu sehen genug.«
»Dir gefällt es also hier? Vermuthlich weil der See so brüllt?«
Clotilde bejahte ernsthaft.
»Du bist eine kleine Einfalt«, sagte er und sah sie mit der größten Zärtlichkeit an. Er hatte erst im vorgerückten Alter geheirathet, und so war seine Liebe zu der einzigen Tochter mehr die eines Großvaters für seine jüngste Enkelin, als die eines vernünftigen Vaters.
Die Generalin stand jetzt auf; der General rauchte nach Tische immer, und sie liebte wohl ihren Mann, aber nicht seine Pfeife. So ließ sie ihn denn in einem großen Armstuhl behaglich zum Genuß derselben eingerichtet und ging mit Clotilden hinauf in ihr Zimmer. Leo begleitete die Damen, als gehörte er zu ihnen. Die Generalin schien es auch so anzusehen, denn sie setzte sich ohne irgend eine Entschuldigung bequem in eine Sophaecke zum halben Schlafe zurecht. Sie liebte es sehr so zu sitzen; eine gewisse Lässigkeit lag in ihrer ganzen Art, man hätte beinah sagen können, eine allerliebste Faulheit. Clotilde glich dem Vater, war lebhaft und bisweilen sogar hastig, aber dabei gut wie ein Kind oder wie ein Engel. Leo wurde fast wehmüthig bei der Betrachtung dieser Seelengüte, die sich so sonnenvoll in dem reinen Gesichtchen abspiegelte. »Wird sie nicht recht viel gekränkt und recht viel getäuscht werden?« fragte er sich. »Wer es ihr ersparen könnte! Man möchte sie in einem Blumenhag einschließen.« Weiter dachte er nicht; er scheute zurück vor der Möglichkeit, daß er es sein könnte, der dieses holde Geschöpf zu hüten und zu pflegen bekäme. Die Welt lag noch vor ihm, er wollte noch frei bleiben für sie. Er bereute, daß er nicht am Mittag abgefahren. »Man kann recht thöricht sein, wenn man nichts Anderes zu thun hat,« dachte er unruhig. »Ich muß mich wirklich zusammennehmen. Morgen will ich auf meiner Stube bleiben – dichten.«
Ein leises Gelächter von Clotilden unterbrach ihn in seinen Vorsätzen und führte ihn zu ihr an das Fenster, welches auf den See ging.
»Da,« sagte sie vergnügt und zeigte auf drei Enten, welche, eine bunte voran, eine bunte zuletzt, und eine weiße in der Mitte, unendlich feierlich in den wilden See hinausschwammen.
»Das sind Heldinnen,« sagte Leo.
»Mich ergötzt besonders ihre unerschütterliche Ernsthaftigkeit,« bemerkte Clotilde. Enten können nicht anders als ernsthaft sein,« sagte Leo im Orakelton.
»Wär' es wirklich nicht möglich, daß sie lachen könnten?«
»Ich fürchte, nein.«
»Und kann man alberner schwatzen, als wir?«
»Ich fürchte auch, nein.«
»Ich bin es sogar überzeugt.«
»Warum sollen wir nicht miteinander lachen? Hat unsere Bekanntschaft doch damit begonnen, daß Sie über mich gelacht haben.«
»Haben Sie mich also gehört?«
Leo verbeugte sich.
»Nun, da war es eine Bekanntschaft durch die Ohren,« sagte Clotilde lachend, »denn auch ich hatte Sie nur gehört.«
»Wenn nur Bekanntschaften wie die unsern nicht so flüchtig wären,« sprach Leo nicht ohne Absicht. Vielleicht, daß ich Sie noch über die Alpen begleiten darf, dann trennen sich unsere Straßen wieder.«
Sie kehren nach Ihrem schönen Schlesien zurück,« entgegnete Clotilde mit scheinbarer oder wirklicher Unbefangenheit, »wir nach unserm lieben Braunschweig.«
»Wo es auch schön ist – nicht wahr?« fragte Leo.
»O ja, nur auf eine andere Art,« antwortete Clotilde und fing an von der Vaterstadt zu er zählen und vom Harz und bald auch vom Haus und vom Garten und von Julie und von der Katze. Leo hörte ihr halbträumerisch zu, während er bisweilen einen Blick hinauswarf.
Die Wolken webten noch immer stürmisch durcheinander, das brescianische Ufer links war in der Höhe eben nur angedeutet, unten deutlich, aber finster. Der See war lichtgrün in der Mitte, braunviolett im Hintergrunde – vorn wallte er gelblichweiß. Hier und da leuchtete purpurner Schein zwischen dem Schaume der Wellen auf.
Clotilde sah jetzt, dem Blicke Leo's folgend, auch hinaus und hielt inne mit Geplauder. Leo drehte sich rasch zu ihr um und sagte unwillkürlich: »ich will doch auch in den Harz.«
»O, er ist schön,« antwortete sie. Ihre Stimme war ungewiß, und sie wandte sich ganz gegen das Fenster.
»Wenn es doch endlich ruhig würde, daß wir morgen hinaus könnten,« sagte Leo, plötzlich ungeduldig. »Dieses unaufhörliche Brausen und dabei Zimmergefangenschaft und Kälte!«
»Es muß besonders für Sie recht unangenehm sein, recht – langweilig,« sagte Clotilde leise. Dann rief sie mit gezwungener Lebhaftigkeit: »wissen Sie, wir wollen dem See was schenken, damit er guter Laune werde. Ich habe einen schönen Strauß – den soll er haben – vielleicht besänftigt ihn das.« Sie lief in ihr Zimmer; die Mutter rief ihr nach: »wohin Clotilde?« – »dem See was holen,« rief sie zurück.
Sie blieb viel länger, als es nöthig war. Das arme, zarte Kind – es fühlte zum ersten Male, wie das Herz schlagen kann. »Ich will doch auch in den Harz,« lispelte sie und fuhr dann scheu zusammen, sich überall umsehend, ob auch Niemand sie gehört. Das war nicht möglich – sie beruhigte sich, nahm ihren Strauß und kam zurück zu Leo, welcher mit der Stirn am Fenster lehnte. Die Generalin fragte: was die Tochter denn eigentlich wolle – Clotilde sagte es ihr – sie meinte: »Herzchen, du bist doch recht kindisch,« und legte sich friedlich wieder in ihre Sophaecke zurück.
Leo sah sich den Strauß an und auch die kleine Hand, die ihn hielt. Am liebsten hätte er die Hand geküßt, da er das nicht konnte, wurde er ärgerlich und fragte: »und mit diesem halbwelken Strauß als Opfer soll der See sich begnügen? das wird er bleiben lassen.« – »Ei, mag er's halten, wie er will,« antwortete Clotilde, trotzig gemacht durch Leo's Ton, »er kriegt Nichts Besseres.«
Mit ironischer Bereitwilligkeit öffnete Leo das Fenster, Clotilde erhob sich so hoch sie konnte auf den Fußspitzen und schleuderte den armen Strauß mitten in das böse Gewässer hinein.
»Nun werden wir sehen,« sagte Leo und wollte das Fenster wieder zumachen, da warf ein Windstoß, ärger als noch einer gekommen, beide Fensterflügel auseinander und stieß zugleich die Thür gegenüber krachend auf.
Die Generalin that einen leichten Schrei, Clotilde duckte sich unwillkürlich vor dem gewaltigen Zugstrome, Leo faßte kräftig die Fensterflügel und zwang sie, sich wieder zusammen zu geben. Dann blickte er Clotilde an, aber dieses Mal gutmüthig lächelnd. Sie richtete sich wieder auf und sagte launig: »na, das war der Dank des See's.«
»Ich weiß wirklich nicht, was wir machen, wenn das morgen und übermorgen noch so fort geht,« sprach die Generalin kleinmüthig vom Sopha her. »Der gute See sollte sich doch ein klein wenig gastlicher erweisen.«
»Gnädige Frau,« fragte Leo: »ist es nicht ein etwas zu hoher Anspruch, auf Reisen immer ein ganz besonderes Wetter zu verlangen?«
Sie antwortete lächelnd: »Sie wissen, man macht Ansprüche, mögen sie nun zu hoch sein oder nicht.«
»Wenn Sie nicht allzuhohe machen wollten,« sagte er mit zögernder Bescheidenheit, »da wir heute doch nichts Besseres anfangen können – ich habe einige Kleinigkeiten unterwegs hingeworfen – vielleicht –«
»Sie würden sehr liebenswürdig sein,« antwortete die Generalin freundlich. Ueber und über roth klopfte Clotilde in die Hände.
Leo eilte auf sein Zimmer, mißbilligend wandte die Generalin sich zur Tochter. »Kind, wie benimmst Du Dich denn?« fragte sie, »wer zeigt denn sein Vergnügen so? Der junge Mann muß ja denken, er sei der erste interessante Mensch, den Du kennen lernst.« – »Das ist ja auch so, Mutterchen,« sagte Clotilde vorschnell. – »So behalte es für Dich,« sprach die Mutter ernstlich unzufrieden.
Clotilde hing das Köpfchen. Als Leo zurückkam, sah er gleich, daß sie gescholten worden war, und errieth auch weßwegen. Es war ihm, als hätte er etwas gut zu machen, und er wandte sich beim Lesen fast ausschließlich und mit einem Bezeigen ernster Achtung an Clotilde. Sie saß Anfangs mit niedergeschlagenen Augen – sie schämte sich, bald aber vergaß sie mit dem Leichtsinn der Unschuld, daß und warum die Mutter gescholten, und hörte mit glänzenden Augen und immer heißer werdenden Wangen den Beschreibungen zu, welche Leo von Meer und Alpen las. Obgleich Alles erst Entwurf war, dünkte es ihr doch Vollendung. Warum können Dichter nicht nur für Menschen schreiben, von denen sie schon geliebt werden, oder doch geliebt werden sollen? Was für Wunder würden sie da thun!
Leo war gegen diese süßeste Schmeichelei, von einem jungen Mädchen gehört zu werden, von dem es möglich war, daß es ihn bald lieben würde, nicht gestählt genug – er verwirrte sich allmälig, las falsch, mußte sich wiederholen, verlor die Stimme und hörte endlich auf.
»Ich weiß nicht«, sagte er befangen, »die starke Zugluft vorhin muß mir den Hals angegriffen haben.«
»Clotilde, gieb doch Herrn von Studnitz ein Bonbon von meinen,« sagte die Generalin gleichmüthig. Clotilde gehorchte. Leo aß sein Bonbon und dachte ingrimmig: »Ich glaube, die Mama macht sich lustig über mich.«
» Und was für eine Stellung nehmen Sie denn so im Hause ein?« fragte der General freundlich, während Clotilde emsig Thee machte.
Der General hatte mit der Eitelkeit, wie man sie wohl bei alten Herren findet, Leo's Anschließen als eine Schmeichelei für sich genommen. Um ihn dafür zu belohnen, widmete er sich ihm während des Abends ausschließlich, und erkundigte sich mit der Neugier, welche bei dem Alter Theilnahme heißt, genau nach den Verhältnissen seines neuen jungen Bekannten. Leo, der auf seine Mutter und seine Schwestern noch stolz war, ließ sich nicht bitten, sie zu schildern. Der General hörte beifällig zu, und dann that er die obige Frage: »und was für eine Stellung nehmen Sie denn so im Hause ein?«
Leo erwiederte: »Ich? nun, die des Sohnes, der sich pflegen und anbeten läßt.«
»Ich meine, ob Sie Antheil an den Geschäften nehmen«, erläuterte der alte Herr.
Leo wurde durch den Ton dieser Erläuterung etwas betroffen, versetzte aber freimüthig: »Zu Geschäften taug' ich nicht, Herr General. Ich bin ein unnützer Mensch, ich mache Bücher – das ist Alles.«
»Ich weiß, daß Sie sehr hübsche Bücher machen,« war die Antwort des Generals, »aber – nehmen sie einem alten Manne die Freimüthigkeit nicht übel – ist das genug?«
»Wenn die Bücher nur gut genug wären, so wär's schon genug,« antwortete Leo lachend.
»Die Bücher werden schon ein Mal gut genug werden,« sagte begütigend der alte Herr, »ich meine, daß Sie später auch für Männer schreiben werden. Bis jetzt schreiben Sie noch blos für Köpfchen, wie das da,« fuhr er fort, nach Clotilden hinsehend, »doch das ist natürlich – es liegt in Ihrem Alter, und ich finde es sogar sehr hübsch. Die Jugend darf ausschließlich für die Jugend schreiben, aber – wenn ich einen Sohn hätte, so würde ich nicht wünschen, daß er Nichts thäte, als schreiben.«
»Wenn man nun aber einen unüberwindlichen Widerwillen gegen alle hergebrachte Geschäfte hat!« rief Leo etwas ungeduldig.
»Lieber junger Freund, ohne einen oder den andern Widerwillen in sich erstickt zu haben, wird man nicht tüchtig,« sprach der General mit bedächtigem Kopfschütteln.
»Können Sie sich denn nicht ein blos nachsinnendes oder lehrendes Dasein denken?« drängte Leo. »Im Alterthume, im Morgenlande, im Mittelalter waren die Dichter die Lehrer der Menschheit.«
»Wollen Sie sich als Lehrer der Menschheit auf den Katheder stellen?« fragte der General mit gutmüthiger Ironie.
Leo lachte, wenn auch vielleicht nicht ganz ehrlich. Clotilde stimmte ein, und sie war aufrichtig dabei. Dann sagte Leo, ernsthaft werdend, mit einem leichten Seufzer: »Ich fürchte, ich werde schon unter der Rubrik ›unnütze Menschen‹ bleiben müssen. Es war der Wunsch meiner guten Mutter«, setzte er hinzu, »daß ich mich durch keine Carriere binden, sondern völlig frei – für sie bleiben möchte. Vielleicht bin ich ein allzugehorsamer Sohn gewesen.«
»Die Damen lassen nie gern die Söhne los«, sprach der General, mit dem Kopfe nickend, »man weiß das.«
»Besonders, wenn sie Wittwen sind – dann soll der Sohn ihnen den Mann ersetzen, und das ist am Ende auch sehr verzeihlich«, bemerkte die Generalin, ohne die geringste Bosheit zu beabsichtigen.
Leo und der General tauschten ein Lächeln aus, dann sagte Leo: »Ich bin der Ueberzeugung, daß es in den meisten Fällen für einen jungen Mann nichts Schlimmeres geben kann, als die Muttererziehung.«
Der General stimmte bei und meinte: »Ein Mann wird von weiblichen Händen immer entweder zu weich, oder zu hart angefaßt. – Bei Ihnen ist das Letztere nicht der Fall gewesen«, bemerkte er dann; »haben Sie nie Revolutionsgedanken gehabt?«
Leo wurde nun etwas gereizt. »Ich habe mir mein gehöriges Maß Freiheit immer vorweg genommen«, antwortete er kühl; »Sie werden mir zugestehen, daß ein Unterschied zwischen gezwungener und freiwilliger Nachgiebigkeit Statt findet.«
»Gewiß«, antwortete höflich der General und leitete das Gespräch in eine andere Richtung.
Aber als er mit seiner Frau allein war, sagte er: »Schade um den jungen Mann. Jetzt erklär' ich mir die Weichlichkeit in seiner Schreibart. Wieder einmal ein tüchtiger Kopf, der unter einer Familienschlafmütze dumm werden wird.«
»Aber, lieber Below, er hat sich ja schon ausgezeichnet«, wandte die Generalin ein.
»Das nennst Du sich auszeichnen?« fragte der General mitleidig. »Liebes Kind, wenn wir einen Sohn hätten, ich würde lieber wollen, daß er der alltäglichste Mensch wäre, als so ein eleganter Modeschriftsteller.«
»Ich stimme Dir ganz bei,« sagte die Generalin, »aber nur weil es mir leid thun würde um ein Talent, das nicht anerkannt werden würde.«
»Du wirst doch nicht unserer heutigen Literatur das Wort reden wollen?« fragte der alte Herr, indem er sich die Stiefeln auszog.
»Wenn Männer sich ernst mit ihr beschäftigten, würde sie ernster sein,« antwortete sie mit seltener Lebhaftigkeit. »Wir haben's gesehen, als unsere besten Meister die leichte Literatur nicht unter ihrer Größe hielten. Jetzt werft ihr sie den Frauen hin, wie Kindern einen bunten Ball – dadurch wird sie zum Spielwerk.«
Der General entgegnete, indem er sich sein Halstuch losband, sehr bedächtig: »sie wird dadurch zum Spielzeug, daß Knaben sie handhaben wollen. Ein Flachkopf, der in seinem Fache Nichts taugt, was wird er? – Literat. ›Um einen Roman zu schreiben, dazu hab' ich vollkommen das Zeug,‹ denkt er, und er hat Recht. Das Publikum, dieser liebe Vielfraß, verschlingt diese halbreifen Früchte und diese halbgahren Backwerke – warum sollten die jungen Leute es nicht nach seinem Heißhunger bedienen, statt nach den schweren Vorschriften des guten Geschmacks? Sie wären große Thoren, thäten sie es nicht.«
Der General stieg nach dieser Enderklärung in's Bett und legte sich gemüthsruhig zum Schlafen zurecht. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würde seine Frau ihm nicht mehr widersprochen haben, denn bei dem geringsten Widerspruche zu viel wurde der alte Herr gleich sehr lebhaft. Aber bei sich selbst entschied sie, daß Leo kein Flachkopf, und ein beliebter Modeschriftsteller zu sein eine sehr hübsche Stellung sei, daß ihr Mann die Vorurtheile des vorigen Jahrhunderts habe, und daß es für ihre zarte Clotilde gar nichts Besseres geben könne, als wenn dieser junge liebenswürdige Mann, der von lauter Frauen zur höchsten Zartheit aufgezogen sei, sich ernstlich für sie interessiren sollte.
Leo war höchst verstimmt zu Bett gegangen und gleichsam aus Trotz augenblicklich eingeschlafen. Er hatte an diesem Abend nicht mehr an Clotilde denken wollen.
Am andern Morgen weckte der See ihn in der grausten Frühe mit einem ganz unerhörten Brausen. Es war als wollten die Wasser alle sich unwiderstehlich auf das preisgegebene Desenzano hinaufwälzen. Leo wurde von einer unaussprechlichen Bangigkeit ergriffen. Während einer langen Krankheit in einem unserer heftigsten Winter hatte er oft ein gleiches ehernes Brausen gehört, wenn er die langen Nächte fiebernd durchwacht hatte, und die Erinnerung daran machte ihn jetzt so beklommen. Damals war dieser Schallsturm in der Luft gewesen, jetzt war er am Boden – jetzt wie damals klang er unheimlich und unirdisch. Leo hatte, wie wir schon wissen, keine Sturmvogelnatur; er liebte die Ruhe in den Elementen wie in den Empfindungen, fühlte mehr stark, als gewaltsam und war nur in der Phantasie, nicht aber in seinem Wesen beweg- und erregbar. So fluchte er denn jetzt recht kräftig und mit gutem Willen auf den See, der so gar Nichts von Gastlichkeit gegen seine Besucher wisse, daß er sie nicht einmal schlafen lasse. Er versuchte den schönen Schlaf wieder zu ergreifen, aber es ging und ging nicht – er mußte ihn auf- und sich in das Wachen ergeben. Auf das Aeußerste verdrießlich, langte er endlich nach dem zweiten Theile von den Briefen der Lady Montague. Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), englische Schriftstellerin und Lyrikerin. Die Briefe, die sie während ihres Aufenthalts in Konstantinopel schrieb und die postum als › Turkish Embassy Letters‹ veröffentlicht wurden, machten sie europaweit bekannt. Eine deutsche Übersetzung erschien 1763. Er führte dieses Buch, in welchem weibliche Beobachtungen männlich niedergeschrieben sind, ausdrücklich als Reiselektüre für Italien bei sich und verehrte in der Schreiberin desselben so ziemlich ein Ideal, denn Alles, was etwa Tadelnswerthes in der geistreichen Engländerin sein mag, schob er dem ihrer in der Seele unwürdigen Manne zu. Er sagte sich gelegentlich wohl sogar: »wenn ich eine solche Frau fände, ich würde sie zu lieben und zu fesseln wissen.«
Heute indessen glitt ganz unvermerkt ein neues Bild zwischen das Blatt und sein Auge. Er wollte von Lady Mary lesen, und verlor sich in Gedanken an Clotilde.
»Wenn ich sie nun in unser Haus brächte?« fragte er sich unwillkürlich. »O Thorheit!« setzte er sogleich hinzu, »es ist noch viel zu früh!«
Da kam auf dem brescianischen Ufer ein Gewitter angerollt, mit einzelnen, gleichsam feierlichen Schlägen. Jeder derselben hallte ausdauernd in den Bergen wieder, und der Wiederhall war stärker als der eigentliche Donner, denn nicht vor diesem, wohl aber vor jenem erklangen die Fenster. Nach jedem Schlage hielt der See mit Brausen inne, und zu Allem, zu den großen Klängen, wie zu dem athemlosen Schweigen läutete die Frühglocke mit heiserm, gebrochenem Tone.
Es war ein seltsames Morgenwerden. – Leo fühlte sich fremdartig aufgeregt. Er streckte den rechten Arm verlangend aus wie nach einem Glücke oder nach einer Gestalt. Dann ließ er ihn auf die Decke niedersinken und nestelte den Kopf in den linken, gekrümmten. Die Augen schließend, athmete er wie ein Kind, welches sich am Geburtstagsmorgen Gewalt anthut, um nicht allzu ungeduldig auf die noch verborgenen Geschenke zu werden.
»Wenn ich sie doch erst wiedersehen könnte!« seufzte er aus der tiefsten Sehnsucht.
Als er sie wiedersah, war er befangen und stumm. Sie sprach vom Gewitter und bekannte, daß sie sich gefürchtet habe.
»Das ist ja neu von Dir«, bemerkte die Mutter. Clotilde entschuldigte sich: es mache, weil sie nicht zu Hause seien.
Leo nahm jetzt das Wort und sagte: »Mir dünkt ein Gewitter im Gegentheil immer drohender, wenn ich zu Hause bin. Man kann sich dann der Besorgniß nicht erwehren, Hab' und Gut könnte in weniger als einer Stunde weniger als Nichts sein. Auf Reisen hat man nur sich selbst zu retten, und das kann man leicht, und kann man es nicht –« er machte eine Bewegung der Sorglosigkeit.
Clotilde wich scheu zurück, schmiegte sich an die Mutter und sagte leise: »o, vom Blitz möchte ich nicht getroffen werden.«
»Es ist ein Geraubtwerden vom Himmel,« sprach Leo.
»Ja, nur ein gar zu plötzliches.«
»Wollen Sie denn einst langsam sterben?«
»Mit Sammlung – ja.«
»Sie haben Recht – es ist edler mit Bewußtsein.«
»Seid doch nicht thöricht,« rief der General launig verdrießlich. »Am frühen Morgen reden sie vom Sterben, als hätten sie Nichts Besseres zu thun.«
»Wir haben auch wirklich Nichts Besseres zu thun,« sprach Leo. »Wenn das Paese nicht seines Gleichen an Schmutz suchte, so wollte ich Spaziergänge der Verzweiflung vorschlagen, aber ich war unten, und es ist geradezu unmöglich für Damen wenigstens.«
»Lassen Sie sich dadurch nicht abhalten, Herr von Studnitz,« sagte die Generalin. »Sie bleiben sicher nur aus Mitleid für uns hier oben.«
Clotilde sah ihn unwillkürlich an. Er schüttelte halblächelnd langsam den Kopf und blieb stehen, wie er stand, den Ellenbogen gegen den Fensterwirbel gestemmt.
»Oder kommen Sie mit mir,« schlug der General vor, der seine Aufrichtigkeit vom vorigen Abend diesen Morgen in der Erinnerung etwas unbefugt gefunden hatte und gern wieder gut machen wollte.
»Wo willst Du denn hin?« fragte lächelnd die Generalin.
»Den See versuchen,« antwortete er. »kommen Sie mit, Herr von Studnitz?«
»Morgen haben wir's besser,« sagte Leo, »wozu soll man da heute auf's Wasser?«
»O die jungen Leute!« rief der General, nicht wenig stolz, daß er um so viel unternehmender sei, als Leo.
Leo lächelte und verharrte in seiner Stellung. Clotilde stand vor ihm neben dem Stuhle der Mutter und seufzte naiv: »Wer hätte das gedacht, daß es in Italien so schmutzig sein könnte!«
»Wie ich schon gestern bemerkte,« sprach Leo, »soll die Natur sich in außerordentliche Unkosten setzen, weil wir da oder dort ankommen? Sie bewirthet uns eben mit dem Alletage.«
»Ach, das Alletage haben wir zu Hause,« meinte sie trübselig.
»Und die hier wohnen haben's hier, und wir, die wir herkommen, müssen mit dieser Hausmannskost vorlieb nehmen,« entgegnete Leo.
»Aber herzlich wider unsern Willen,« sagte die Generalin.
»Was thun wir denn mit unserm Willen?« fragte er.
Clotilde blickte so bedenklich vor sich nieder, daß die Mutter sie fragte, ob sie über die Gränzen der Willensfreiheit nachgrüble.
»Ach nein,« antwortete sie, »ich dachte nur darüber nach, wie zwei Tage unter ganz gleichen Verhältnissen so ganz ungleich sein können. Gestern waren wir auch nicht wo anders, als hier im Eßsaal, sahen auch Nichts Anderes als den See, und gestern waren wir Alle heiter, und heute sind wir Alle –« sie hielt inne.
»Was sind wir?« fragte Leo.
»Verdrießlich,« vollendete sie zögernd.
»Sind Sie's? Ich bin es nicht.«
»Was sind Sie denn da?«
»Nur nachdenkend.«
»Worüber denn?«
»Clotilde!« erinnerte lächelnd die Mutter. »Sie ist noch ganz wie ein Kind,« sagte sie dann entschuldigend zu Leo.
Er neigte beistimmend den Kopf. Clotilde nahm ihm das übel und ging an ein anderes Fenster. Der Vater war schon im Boote und grüßte sie. Clotilde wäre am liebsten zu ihm hinuntergelaufen, aber sie fürchtete sich vor den hohen Wellen. So blieb sie am Fenster sitzen und schmollte für sich allein. Zum ersten Male, seit die Reisenden in Desenzano angelangt, brach die Sonne als glühendes Schräglicht aus den Wolkenwogen hervor und beleuchtete Sermione und weiter rechts Peschiera. Um die nahen dunkelgrünen Ufer legten sich Regenbogensäume, und der See war ein purpurschillerndes Gedränge mit blendenden hellgrünen und violetten Spiegelstreifen. Clotilde athmete tief auf. »Ich möchte hier bleiben,« murmelte sie.
»Auch ich,« sagte Leo neben ihr. Er hatte sich ihr so leise genähert, daß sie ihn nicht gehört. Er lehnte sich an die Fensterwand, so daß er über sie hinweg in die Landschaft blicken konnte.
Aber er blickte nicht in die Landschaft, er blickte nieder auf Clotilde. Ihre feinen braunen Locken ringelten sich auf ihrem durchsichtigen Halse. Die Haltung des Kopfes, alle Umrisse waren mädchen- oder blumenhaft. Leo schwieg einige Augenblicke, dann flüsterte er leise, ganz leise: »Sind Sie mir böse, daß ich vorhin Ihrer Frau Mutter beigestimmt?«
»Nun,« antwortete sie, ohne den Kopf umzuwenden, etwas trotzig, »mit zwanzig Jahren will man gerade kein Kind mehr sein.«
»Was will man denn da sein?« fragte er, gebannt durch die Bewegung, welche ihr Sprechen in den feinen Locken verursachte.
»Ein junges Mädchen.«
»Ja so.«
Jetzt drehte sie sich nach ihm um, und Beide lachten.
»Ich komme Ihnen sonderbar vor, nicht wahr?« fragte Leo.
»Kann denn das anders sein?« entgegnete sie. »Sie sind ja ein Dichter.«
»Ein Dichter?« wiederholte er. »O nein. Ein Schriftsteller, ja, aber kein Dichter.«
»Ist denn das etwas Anderes?« fragte sie.
»Etwas ganz Anderes,« sagte Leo. »Wenn ich einen Journalartikel schriebe, würde ich Ihnen die beiden Begriffe recht raffinirt definiren. Mit dem Dichter wären die Vergangenheiten und die Welt des Traumes, mit dem Schriftsteller die Gegenwart und die Welt der Wirklichkeiten zu schildern. Aber ich hasse Nichts mehr, als die Koketterie des Geistreichthuns, wo sie nicht hingehört. Hier wäre sie seltsam außer der Uebereinstimmung. Für Deutsche ist sie's überhaupt, mögen sie nun Daheim sein, oder in der Fremde für sich. Wir können nicht sprechen lernen, weder in Salons noch auf Rednerbühnen, denn wir haben bis jetzt weder Rednerbühnen noch Salons. Also können wir unser Licht nie als glänzendes Feuerwerk leuchten lassen, immer nur als ehrwürdige, einsame Studirlampe.«
Clotilde hörte dem jungen Eiferer gegen das unnütze Geistreichthun sehr ernsthaft zu; ob sie ihn ganz verstand, weiß ich nicht.
Leo fragte darnach nicht; er fuhr fort: »Deswegen sind auch unsere Journale sammt und sonders so verwünscht langweilige Geschichten. Wir können noch keine schreiben – ein Journal soll geschriebene Rede oder geschriebenes Geschwätz sein – wir sind Beides noch nicht im Stande, wir haben gar keinen Feuilletonwitz, gar keinen Artikelverstand, gar kein Tiradengeschick, d. h. als zünftige Literaten. Als simple junge Menschen – o ja. Als Student hab' ich selbst mit einigen guten Köpfen gemeinschaftlich eine Zeitung für unsern Clubb geschrieben, wie wir eine wöchentliche Tabagieversammlung nannten, da waren vortreffliche Dinge drinnen. Das machte, wir genirten uns weder zu lügen, noch die Wahrheit zu sagen. Ohne etwas Lüge und viele Wahrheit keine Journale.«
Clotilde wurde nachsinnend, als Leo schwieg. Dann richtete sie die braunen Augen fest und klar auf ihn, und sagte mit unschuldiger Ernstlichkeit: »ich glaube doch, daß Sie ein Dichter sind.«
Leo hätte sich am liebsten vor ihr niedergeworfen. Dennoch bewegte er verneinend den Kopf. Sie fragte: »Sie wollen also durchaus nur ein Schriftsteller sein?«
»Ich will es nicht sein, ich bin es nur. Wie Ihr Herr Vater meint, bin ich ja noch weniger so gut wie Nichts.«
»O, verzeihen Sie meinem Vater,« sagte sie schüchtern bittend.
»Gestern grollte ich ihm – heute frage ich mich, ob er nicht vielleicht Recht hat.«
»Das glaube ich durchaus nicht,« sagte Clotilde mit einer Entschiedenheit, als verstände sie vollkommen die Verhältnisse der Welt. »Ich bin fest überzeugt, daß Sie sich eben zu Nichts eignen, als zum Schreiben.«
»Glauben Sie wirklich mir dadurch eine Schmeichelei zu sagen?«
»Das versteht sich,« erwiederte sie eifrig. »Meiner Ansicht nach giebt es Nichts Höheres, als das Schaffen in Kunst oder Poesie.«
Leo dachte heimlich auch so. Sie waren zu jung, als daß ihnen der Himmel nicht voll von den Morgenwolken der Täuschungen hätte hängen sollen. Sie hatten noch den Glauben und die Begeisterung der Jugend an und für das Mysterium der Dichtung. Glückliche, glänzende, unvergeßliche Zeit, wo ein Gedicht ein Schicksal und ein Buch eine Welt ist!
Den übrigen Vormittag brachten Leo und Clotilde damit zu, vom Balkon des Saales den Fischen im See Brod zu brocken. Leo fragte dabei Clotilde ein Mal neckend: »was sind wir wohl jetzt?« und sie rief jubelnd: »Kinder.«
Nach Tische mußte Leo auf das alte Kastell über dem Flecken hinaufsteigen, die Generalin ließ es sich nicht versichern, daß ein Spaziergang ihm nicht wünschenswerth sein sollte. Natürlich sah er sich oben so gut wie gar nicht um und genoß den stillgewordenen Abend nicht eher, als bis er wieder neben Clotilden am Fenster stand.
Die Matten einiger Vorberge fingen an im letzten Sonnenscheine mit köstlichem Lichte zu brennen. Die Alpentiefen ließen sich ahnen. Die nächsten Wellen schimmerten silberhell, nur rechts im Schatten kamen sie blutroth aus purpurnem Violett angespült. Zuletzt war der ganze See lichtblau, und die Berge und die Bäume malten sich auf seiner Ruhe.
»Wir werden morgen einen schönen Tag haben,« sagte Leo mit dem Tone, womit man eine große Hoffnung auszusprechen pflegt, gedämpft, geheim, gleichsam fürchtend, sie könne durch ein zu lautes Wort noch verscheucht werden. »Wie freue ich mich auf Sermione! Catulls Villa ist da – die wollen wir besuchen.«
Clotilde erkundigte sich wißbegierig nach Catull, und Leo machte sich bereitwillig zum Lebensbeschreiber des römischen Dichters.
Früh am nächsten Morgen fuhren sie nach Sermione. Der See ging noch hoch, aber sie hatten vier Ruderer zu ihrer starken Barke und kamen schon nach zwei Stunden bei den Stufen an, welche vom Fuße des alten Kastells links hinauf zum Albergo della Rosa führen.
Hier nahm sie im Hofe sogleich der Führer von Sermione in Beschlag, ein alter kurzer Mann mit einem großen viereckigen Gesicht unter einem großen runden Hute. Er trieb die Sucht der hiesigen Italiener, französisch zu sprechen, bis zu einem solchen Uebermaaß, daß er seine Muttersprache gar nicht mehr zu können schien. Hätte er nur wenigstens das Französisch gekonnt, aber er verfuhr so barbarisch damit, daß Leo dringend Clotilde bat, sie möchte mit ihm weit genug zurückbleiben, um sich durch dieses furchtbare Radebrechen nicht das Kastell verderben zu lassen.
Dieses entzückte das junge Paar. Auch ist sein längliches Viereck mit den zierlichsten Zinnen wirklich sehr graziös. Die Generalin meinte: noch eleganter würde es aussehen, wenn der eine Eckthurm nicht um soviel höher wäre, als die drei andern, aber Clotilde fand so gut wie Leo gerade diese Ungleichheit malerisch.
Der große Thurm erhebt sich unmittelbar aus dem Hofe, und dicht neben ihm führt die Treppe zur Gallerie, welche inwendig rings um die Mauer läuft. Unsere Gesellschaft stieg feierlich hinauf und blickte, wie es sich gebührte, durch jedes einzelne Fenster, und aus jedem einzelnen auf das veronesische Ufer oder auf den Monte Baldo.
Der kleine Hafen öffnet sich ebenfalls nach dem Monte Baldo. In die Betrachtung seines hohen Rohres vertiefte sich hauptsächlich Clotilde, indem sie sich ungekünstelt, aber bildhaft auf die Brüstung des Fensters stützte.
Natürlich kam Leo zu ihr. »Woran denken Sie so ernsthaft?« fragte er.
Sie antwortete: »an die Zeit, wo hier kein Rohr wuchs.«
»Ah, an die italienische Zeit in Italien.«
»Ja; ich weiß wenig von ihr, wie – von Allem, aber ich träume mir unwillkürlich, wie sie gewesen sein muß.«
»Das will ich Ihnen sagen: im Ganzen glänzend, wie heute der Himmel ist, aber oft auch schwarz von Gewittern.«
Und sie politisirten ein wenig. Clotilde war für das Wiederkehren der alten Zeit. Leo sagte mit einer Beziehung auf Novalis: »ich glaube nicht, daß alte Zeiten jung werden können. Wie es war, kann Italien nicht wieder werden – ob anders, muß die Zukunft zeigen.«
»Bis die Zukunft kommt, Herr von Studnitz, machen Sie doch eine Romanze auf den kleinen Hafen, eine nach einer bekannten Melodie, damit ich sie singen kann,« sagte Clotilde.
Leo versprach sein Bestes zu thun und zerbrach sich beim Frühstück im Albergo den Kopf über eine Melodie. Er vergaß dabei zu essen, und sah beinah aus wie übler Laune. Plötzlich erheiterte sich sein Gesicht, und, sich entschuldigend, eilte er rasch noch ein Mal nach dem Kastell, welches nur wenige Schritte vom Albergo steht. Dort stützte er sich, wie vorhin Clotilde gethan, auf die Brüstung des Fensters über dem Hafen und sang halblaut:
La Brigantine
Qui va tourner,
Roule et s'incline,
Pour m'emporter.
O Vierge Marie,
Pour moi priez Dieu!
Adieu, Patrie,
Provence, adieu!
Nachdem er sich so der Melodie zu Delavigne's Casimir Delavigne (1793-1843), französischer Dichter; einer der Hauptvertreter der liberalen Richtung der französischen Literatur jener Zeit. schönsten Versen vergewissert, nahm er seine Schreibtafel und schrieb hastig, gleichsam als Improvisation:
Nicht Wacht, nicht Riegel
Am hohen Thor,
Der Wasserspiegel
Durchgrünt von Rohr –
O schweigender Hafen
Am blühenden Strand,
Gleich dir muß schlafen
Das Vaterland.
Wo sind die Barken,
Die du umspannt?
Wo sind die Starken,
Die du gekannt?
schweigender Hafen
Am blühenden Strand,
Die Kräfte schlafen
Im Vaterland.
Nicht grüßt dich Einer
Mit Nachtgesang,
Es weckt dich keiner
Mit Ruderklang.
O schweigender Hafen
Am blühenden Strand,
Die Echo's schlafen
Im Vaterland.
Die Fremden schauen
In dich hinein,
Von holden Frauen
Wird Mitleid dein.
O trauriger Hafen
Am einsamen Strand,
Wie lange soll schlafen
Mein Vaterland?
Mit einer sichtlichen Freude kehrte Leo an den Frühstückstisch zurück. Es machte ihn glücklich, daß er Clotilden's erste Bitte an ihn so rasch hatte erfüllen können.
Clotilde wurde purpurroth, als sie das Blatt empfing, welches Leo aus der Schreibtafel geschnitten hatte. Sie las hastig für sich – ihre feinen Hände zitterten.
»Wenn Du fertig bist, laß uns die schönen Verse doch auch hören,« sagte die Mutter.
Clotilde wollte anfangen, zögerte, verwirrte sich und bat endlich Leo, selbst zu lesen.
»Ich würde die Verse verderben«, sagte sie.
Leo schüttelte den Kopf, that aber ihren Willen.
»Das ist sehr hübsch, wirklich sehr hübsch«, sagte der General. »Aber eine verkehrte politische Ansicht, mein junger Freund, nehmen Sie mir das nicht übel.«
»Nicht die meinige, Herr General, nur die der Situation.«
»Also die Ihrige –«
»Ich bin der Meinung, ein Volk hat, so gut wie ein Mensch, nur was es verdient und folglich haben kann.«
»Brav so. Mein Kind, gieb mir noch etwas Schinken.«
Clotilden's kleiner Fuß fing an unter dem Tische zu spielen. Am liebsten wäre sie unartig gegen »Vaterchen« gewesen. Die ersten Verse, die ganz eigen auf ihren Wunsch und für sie gedichtet worden, so zu behandeln, als wären es ganz unbedeutende, ganz alltägliche Verse – es war zum Aergern – man muß das eingestehen – Clotilde aß nicht mehr.
Der General ließ es sich um so besser schmecken, und Leo holte eifrig nach was er versäumt. Clotilde bewunderte seinen Gleichmuth. »Es würden wahrhaftig nicht viele junge Dichter eine solche Gleichgültigkeit so geduldig hinnehmen,« dachte sie, und sie hatte nicht ganz Unrecht.
Als das Frühstück abgethan war, wurde der nöthige Spaziergang um Sermione unternommen. Durch die Stadt, d. h. durch allerlei Bogengängchen und Straßenendchen, die immer von drei wunderlichen Häusern zu drei andern wunderlichen Häusern führten, kam man an den Oelbaumwald, der von hier aus die ganze Insel bedeckt und so schön ist, wie die Olivenhaine am Mittelmeer nur sein können.
Der Oelbaum beschützt gern Blumen – hier war der Boden ganz glühend von rothem Feldmohn, dessen feurige Farbe wohlthuend in die bläulichen Schatten des Haines einstimmte. Langsam, denn es war Mittag und hier ebenso heiß, wie es in Desenzano bisher kalt gewesen, ging die kleine Gesellschaft an dem Strande entlang, welcher sich dem veronesischen Ufer gegenüber bis zur Villa des Catull hinzieht.
Die Trümmer der Villa sind noch zahlreich vorhanden und wohl erhalten. Sie liegen rund um die Spitze der Halbinsel her, Feigen und Oelbäume überwuchern, der Epheu durchrankt, der Quendel Ein mitteleuropäischer naher Verwandter des Thymians. durchduftet sie.
Der General und die Mutter ruhten oben im Schatten aus. Clotilde klimmte, von Leo gestützt, leicht hinunter. Dort durchkrochen und bewunderten sie erst sämmtliche Mauerreste, und dann setzten auch sie sich auf einige Bruchstücke und schauten rechts hinüber auf Garda, und links hinein in die Bucht von Salò.
Das Wasser vor ihnen war durchsichtig wie Glas, und grünlich schimmernd schienen weiße Steine daraus herauf.
Leo sagte: »das war eine Dichterwohnung – die alten Römer verstanden es, mit poetischer Schwelgerei zu leben. Duft, Schatten, Wärme, Schönheit – das Alles gehörte zu ihrem Begriffe von Ueppigkeit – ihre Sinnlichkeit war die geistvolle, die wir noch heute hier im Süden sehen. Der Facchin Gepäckträger, Hotelpage., der sich in der Sonne ausstreckt und das Meer anstarrt, genießt nur durch die Sinne und nur Sinnliches, aber wie schön ist dieser Genuß und wie fein das Genießen! Wir Nordländer können immer nur mit dem Geiste genießen, alles Materielle ist bei uns zu rauh, zu hart, zu schwer. Die Luft z. B. ist im Norden nichts als eine Nothwendigkeit, oft sogar eine Qual, fast nie, wie hier so häufig, ein absoluter Genuß. Deßwegen waren mir die letzten Tage so unangenehm, weil ich mitten im Süden zu dem uns aufgedrungenen eigenthümlichen Luftbewußtsein genöthigt wurde.«
Leo dachte nicht daran, daß Clotilde »das Unangenehme dieser letzten Tage« mißverstehen könnte. Auch ihr fiel es nicht ein, er könne damit etwas Anderes meinen, als eben das Wetter.
Sie sah ihn jetzt schüchtern an und sagte leise: »Ich habe Ihnen noch zu danken. Wie gütig von Ihnen, daß Sie mir gleich die schönen Verse dichteten. Ich darf sie mir doch abschreiben nicht wahr?«
»Wollen Sie Ihre Abschrift mir geben und dagegen mein Gekritzel behalten?« fragte Leo zurück.
Sie erröthete bis über die Stirn, bejahte aber.
»Sie haben sich in der Romanze als jungen Italiener gedacht,« fing sie dann wieder an. »Es muß recht schwer sein, sich so in alle mögliche Menschen hineinzudenken.«
Leo lachte und sagte: »Dieses Abstreifen der eigenen Persönlichkeit und dieses Fahren in die fremde ist allerdings nicht bequem, und ich gehabe mich immer noch ungelenk genug dabei. Fast immer fühle ich, wenn ich mich in meinem Helden oder in meiner Heldin befinde, daß ich doch irgend ein Fetzchen von meinen eigenen Sünden an mir hängen habe. Ich tröste mich damit, daß es menschlich ist. Selbst Göthe, der wegen seiner Objectivität Gepriesene, ist doch im Schaffen auch nur die bewunderungswürdig vielseitige und entwickelungsfähige Persönlichkeit, die er im Leben war. Seine Helden sind, gleich den Erscheinungen des indischen Gottes, nur die chronologischen Verkörperungen seines Genius, oder wenn ich mir ein etwas keckes Bild erlauben darf, die verschiedenen Häutungen dieser göttlichen Schlange. Bei keinem andern Dichter dürften die Ursprünge seines Schaffens sich so verfolgen lassen, wie gerade bei ihm; aber die Leute erkannten ihn nicht wieder, wenn er mit einem andern Gesicht erschien. Schiller ist viel objectiver, dieser gab uns ideale Abstractionen, aber nicht sich selbst.
Eigentlich«, fuhr Leo nach einer kurzen Pause fort, »eigentlich müßte ein Dichter, ehe er nur einigermaßen auf wirkliche Objectivität hoffen dürfte, die ganze Erde bereist, alle Sitten studirt, alle Sprachen gelernt und mit sämmtlichen menschlichen Typen in der genausten Vertraulichkeit gelebt haben. Da aber dazu ein unmöglicher Reichthum und ein unmögliches Alter gehörte, so muß ein Jeder sich bescheiden damit genügen lassen, irgend eine Fraction vorzustellen, und es muß sich aus allen diesen Fractionen die Weltliteratur bilden, wie aus allen den millionenfachen Individualitätstheilchen das Ganze der Menschheit und aus allen den einzelnen Schicksalen das Weltschicksal.«
Clotilde saß mit vorgebogenem Kopfe und halbgeöffneten Lippen horchend da, und Leo fand, daß kein Dichter sich eine Hörerin lieblicher träumen könne.
»Ob Lesbia so reizend war?« fragte er sich. Und er murmelte halblaut: » passer, deliciae meae puellae –«
Clotilde rief lebhaft: »das ist Lateinisch – nicht wahr?«
»Aus Catull,« versetzte Leo. »Der Anfang eines Gedichtes auf einen Sperling, welcher seiner Geliebten Lesbia gehört. Dank Catull ist dieser Sperling eines von den berühmten Thieren geworden, denn das Gedicht auf seinen Tod gilt für Catull's Bestes.«
»Der Sperling starb?
»Ja, der Sperling starb, der liebe Sperling, der seine Herrin so gut kannte wie eine Tochter die Mutter, während sie ihn mehr liebte, als ihre Augen. Er starb, und Catull fordert alle Liebesgöttinnen und alle Götter und die ganze ehrenwerthe Menschheit zur Trauer über den beklagenswürdigen Sperling auf, der da ging den dunklen Weg dahin, von wannen sie sagen, daß man nicht wiederkehre.«
Clotilde lachte und rief: »ich möchte meine Katze auf diese Art unsterblich werden sehen.«
»Was, Sie wünschen Ihrer getreuen Katze den Tod, und das blos aus Sucht nach einer leidigen Unsterblichkeit? Das arme Thier! wenn es wüßte, wie seine Herrin es schlecht mit ihm meint!«
»Nicht doch – aber wenn sie einmal sterben sollte – sie kann doch nicht ewig leben.« Clotilde sagte das fast weinerlich.
»Ich würde mich mit Begeisterung anbieten, aber, leider, um einen geliebten Gegenstand in Versen einbalsamiren zu können, dazu gehört eine Sprache, die in ihrer Todesruhe nicht mehr gestört wird. In einer lebenden muß man sich darin ergeben, höchstens Jahrhundertliteratur zu liefern. Wenn Sie wüßten, das wievielste Deutsch wir jetzt sprechen!«
»O, da will ich doch lieber, daß meine Katze nicht unsterblich werden und unsere Sprache noch lebendig bleiben soll.«
»Ich meine auch,« sagte Leo und wurde nachdenkend.
»Woran denken Sie denn?« fragte nach einer kleinen Pause das junge Mädchen zutraulich.
»An mein Lieblingsgedicht von Catull. Ich konnte den Anfang nicht finden.«
»Haben Sie ihn jetzt?«
»Ja.«
»Und wie ist er denn?« drängte sie unschuldig neugierig. »Ich meine, wie das Gedicht ist – den Anfang könnte ich ja nicht verstehen.«
Leo zögerte einen Augenblick, dann sprach er, seitwärts mit Epheuranken spielend: »Der Dichter erinnert die Geliebte, daß unser Tag kurz, unsere Nacht dagegen eine ewigen Schlafes sei, und darum fleht er: gieb mir der Küsse tausend, dann hundert, dann tausend andere, dann ein zweites Hundert, und so begehrt er fort bis zu einer Zahllosigkeit von Küssen, die sie alle so untereinander mischen wollen, daß sie nicht wissen, wie viel es sind, damit kein Böser sie beneide, wenn er erführe, es gäbe so viele Küsse.«
Clotilde sagte Nichts, regte sich nicht, athmete nicht.
Leo dagegen holte tief Athem. Dann sagte er: »Ich fand neulich ein Lied, das erinnerte mich recht an diese Verse. Es ist ein böhmisches und heißt ungefähr: Am Himmel sind nicht so viele Sterne, wie mir meine Liebste Küsse schenkte – so lange die Welt Welt ist, sind nicht und werden nicht so viele Küsse sein. Und dieses Liedchen«, fuhr Leo fort, denn er wollte sich durch Sprechen betäuben, »dieses Liedchen ruft uns wieder unser deutsches zurück:
So viel Sternlein, wie da stehen
An dem blauen Himmelszelt,
So viel Mal sei'st du gegrüßt.«
»Giebt es so viele Aehnlichkeiten in der Welt?« fragte Clotilde träumerisch.
»Alles ist wie etwas Anderes,« sprach Leo.
Sie forschte schüchtern: »Da bleibt ja wohl gar nichts Neues mehr zu sagen?«
»In den Wissenschaften doch. Da sind wir sogar, wie ich glaube, überall noch so ziemlich bei den Alphabeten. Aber die Dinge der Empfindung, der Anschauung, des Daseins überhaupt – das sind – alte Sachen, die durch Wenden wieder neu werden.«
»O das ist traurig!«
»Nein; empfindet, wer da empfindet, zum erstenmale – ist's da nicht gleich, ob er der Erste, oder der Tausendste ist, der so empfindet? Ahmt nicht im Geborenwerden und im Sterben ein Geschlecht dem andern nach, warum nicht auch im Leben und – im Lieben?«
Wie vorhin Leo mit den Epheuranken, so spielte jetzt Clotilde mit einem Quendelzweige, und wie vorhin sie, so fragte jetzt Leo: »woran denken Sie?«
»O, nicht an Verse,« antwortete sie erröthend, »ich bin nicht so belesen wie Sie. Mir fiel nur Jules Janins Jules Gabriel Janin (1804-1874), französischer Schriftsteller und Literaturkritiker. hübsche Geschichte von dem Quendelzweige ein.«
»Die kenn' ich wieder nicht,« sagte Leo. »Bitte, erzählen Sie mir sie.«
»Ja, wenn ich nur können werde,« meinte sie und runzelte die Stirn.
»O gewiß,« sagte Leo überredend.
Sie ließ sich überreden und erzählte. Die Geschichte war wirklich sehr hübsch, und Clotilde beim Ende ganz glühend vor Anstrengung und Befangenheit.
Die Mutter, welche Beiden jetzt zurief, sah die Tochter, als sie mit einiger Mühe wieder hinaufgeklimmt war, nicht ohne Befremdung an.
»Ich darf sie nicht mehr so ungestört mit ihm lassen,« dachte die erfahrene Frau. »Sie ist zu unbefangen – wenn sie sich zu früh verräth –« Der brescianischen Seite gegenüber war der Wald noch dichter, das Laub noch üppiger, und Leo sagte: »wie gut versteht man hier, warum die Griechen den Oelbaum zum Zeichen der Friedensfülle wählten.«
So recht voll und lebensfrisch sahen sie die Oelbäume jedoch erst am Abend, als sie an dem brescianischen Ufer selbst dahinfuhren. Es ist dieses köstlich durch seine sanften Bogenlinien und sein überschwellend Grün, und die Oelbaumkronen sahen auf dem frischen Grunde und vermischt mit Maulbeerbäumen und lombardischen Pappeln wirklich aus, als träuften sie von Fruchtbarkeit.
Auf klarem Wasser in schwanenhaft gleitender Barke – das ist ganz die rechte Bewegung für Zweie, die sich einander gegenüber mit erwachenden Empfindungen für einander zu beschäftigen haben. Entrückt dem gewöhnlichen Boden, wie sie sind, dünkt ihnen was ungewöhnlich in ihren Herzen sich regt, natürlicher und unverfänglicher als sonst. Clotilde fühlte sich ohne Scheu glücklich, Leo dachte nicht mehr daran, sein Gefühl und seine Zukunft gegeneinander abzuwägen. Seite an Seite saßen sie da und schauten in jener schlafwachen Stimmung umher, wo man sieht und nicht sieht. Alles prägte sich ihnen mit der wunderbarsten Deutlichkeit ein, ohne daß sie die geringste Anstrengung gemacht hätten, es aufzufassen.
Belvedere, ein Haus zwischen hohen Cypressen, lag oben an den Hügeln, unten am See eine kleine idyllische Wohnung. Leo zeigte erst auf jenes und dann auf diese und fragte: »Dort oder dort?« Clotilde wagte nicht auf diese Frage zu antworten, sie sagte nur: »Man möchte immer so fahren.«
Es war auch wirklich wunderschön. Die brescianischen Gebirge lagen schon im Schatten, während die veronesischen, Monte Baldo voran, noch violettröthliche Abhänge aus dem blauen Düster hervorleuchten ließen. Auf diesen Farben ruhte dunkelgrün scharfgezeichnet Sermione, über den Oelbaumwogen vor ihnen flimmerte ein letzter blasser Sonnenwiederschein, und in der Klarheit oben war ein ganzes Füllhorn des lieblichsten Wolkengefieders, luftigen, lichtgelblichen Flaumes, und langer, hinschwebender, perlfarbiger Wolken ausgeschüttet. Es war schön, aber die Luft wurde kühl, und die Generalin wünschte die Heimkehr.
»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte Clotilde in ihrer Seele mit schmerzlichsüßer Wehmuth zu Allem, was um sie her und so schön war. Sie bat einen der Schiffer, ihr etwas von dem Rohre zu pflücken, welches lautlos in der durchsichtigen Flut stand. Den ganzen Abend über blieb sie zerstreut und einsilbig, und der Vater hatte die größte Unruhe, daß sie sich erkältet haben könnte.
I.
Du kannst mich heut'
In unserm Garten
Am grünen Zaun
Gewiß erwarten,
Sobald Du sicher
Vor Spähern bist,
Sobald der Thau
In den Rosen ist.
Du schmolltest jüngst
Des Kusses wegen,
Wozu ich mich
Nicht ließ bewegen –
Wir wollen schlichten
Den ernsten Zwist,
Sobald der Thau
In den Rosen ist.
Die Tante mag
Den Tag durch murren,
Der Vetter späh'n,
Der Dachshund knurren,
Wenn nur mein Liebster
Es nicht vergißt:
Sobald der Thau
In den Rosen ist.
Der grüne Zaun ist eine verhängnißvolle Erinnerung. Er war allerdings grün – aber von Nesseln. Die Rosen waren das wenigste daran, und der Thau – the rest is silence.
II.
Ich mache eben
Mir viel Gedanken –
Mir d'raus zu helfen
Würd' ich Dir danken –
Was ist wohl süßer,
Ich möcht' es wissen:
Sich küssen zu lassen,
Oder selbst zu küssen?
Du machst gerade
Auch eine Miene,
Als ob die Sache
Dir schwierig schiene;
Man wird, was süßer,
Erproben müssen:
Sich küssen zu lassen,
Oder selbst zu küssen.
Wir erprobten es. Tony war mehr für die praktische, als für die theoretische Lösung einer solchen Frage und ich am Ende auch.
III.
Liebe Kleine, Deinem Mäulchen
Seh' ich's an, es liebt zu naschen –
Morgen komm' ich, Pfefferkuchen,
Zuckerkand in allen Taschen;
Mandeln bring' ich und Rosinen,
Apfelsinen, Nüsse, Feigen, –
Aber komm' ich zu der Schwester,
Mußt der Mutter Du's verschweigen.
Deine Augen sind voll Neugier,
Und Du hörtest schon von Negern
Und von Schiffen und von Tigern
Und von wilden ind'schen Jägern;
Schön und bunt in Bilderbüchern
Will ich Dir das Alles zeigen –
Aber komm' ich zu der Schwester,
Mußt der Mutter Du's verschweigen.
Süße Kleine, Du bist reizend!
Wie die Zöpfe gut Dir stehen!
Und das schöne, grüne Kleidchen –
Schöner kann man keines sehen!
Und die prächt'gen rothen Schuhe –
Sind sie wirklich ganz Dein eigen?
Nun, nicht wahr, komm' ich zur Schwester,
Wirst der Mutter Du's verschweigen?
Das winzige Ungeheuerchen – es dreht sich noch vor mir herum in seiner ganzen bunten Schrecklichkeit. Der kleine selbstbestellte Spion, er war nicht blind zu machen – der kleine boshafte Kobold, er war nicht zu bändigen. Trotz der Naschwaaren sagte sie's der Mutter, trotz der Bilderbücher der Tante, trotz der Schmeicheleien dem Vetter, diesem Tölpel, welcher neben meiner hübschen Tony gerade aussah wie ein Frosch neben einer frischen Blume. Ja, Tinchen, du bliebst unzähmbar wie ein böses Kätzchen, aber Frieden sei mit dir! Du warst unser Schutzgeist, ein sehr garstiger und widerwärtiger, aber immer ein Schutzgeist. Dir allein dank' ich's, daß ich heute meiner Braut von deiner Schwester Tony erzählen könnte, wenn – ich eine Braut hätte.
Ob die Frau Kämmerer Krause in Hirschberg wohl ahnt, daß eben jetzt am Gardasee von »dem Herrn von Studnitz« ihrer gedacht wird, um dessen Huldigungen sie von ihren Freundinnen so ungemein beneidet wurde? Schwerlich. Wer weiß, ob sie überhaupt noch oft an mich denkt. Ich war ernstlicher als sie. Sie hatte die ganze vorsichtige Koketterie des Bürgermädchens, und ich die ganze Verliebtheit des funfzehnjährigen Gymnasiasten.
Die ganze Liebe war ein Viertelpfund Bonbons, in Löschpapier gewickelt und mit Zimmet und Kaffee parfümirt. Ich kann nie an einem Materialladen vorübergehen, ohne durch dessen Geruch an Tony erinnert zu werden.
V.
In der Nacht,
Bin ich still,
Weißt Du doch,
Was ich will.
In Dein Haus
Will ich ein,
Und bei Dir
Will ich sein.
In der Nacht,
Brennt kein Licht,
Kennst Du doch
Mein Gesicht;
Denn mein Mund
Grüßt Dich leis',
Und mein Mund
Küßt Dich heiß.
Hörst Du Flut,
Hörst Du Wind,
Frägst Du nicht,
Was sie sind;
Denn Du weißt
Was da braus't,
Und Du, weißt,
Was da saus't.
Wie ein Gesicht im Nebel, zeigt sich mir das dunkle Schloß am Abhang zwischen den düstern Fichten. Wieder durchrieselt mich das Tröpfeln der Springbrunnen, welche dort hinter den Gebüschen spielen. Aber dieses Nachgefühl thut mir nicht wohl.
V.
Und zünde die Welt
Mit Flammen mir an,
Und wirf mich in's Meer,
Nur rette mich dann.
Und folt're mein Herz
Mit Qualengewalt,
Nur lass' es mir nie
Ermattet und kalt.
Und bleibe von Erz,
Und sei mein Tyrann,
Nur trage mich stark
Die Höhen hinan.
Thorheit! Als es zur Entscheidung kam, zögerten wir Beide.
Es ist ein vollkommener Unsinn, in Deutschland und nun gar in Schlesien etwas Anderes zu wollen, als die alltäglichste Tugend oder – die alltäglichste Sünde.
V
I.
Mit Dir allein
Da war ich einst –
Weiß, daß Du weinst,
Wenn d'ran Du denkst,
Daß Deinen Kopf
Du traurig senkst.
Der Glocken Schlag
War eben verhallt,
Und die Nacht war schwarz,
Und der Wind war kalt.
Ich hielt Dich fest
So liebestoll,
Dein Busen schwoll,
Dein Auge brach;
Wir flammten still,
Und Keines sprach,
Und Frühling war's
Um Deine Gestalt,
War die Nacht auch schwarz,
War der Wind auch kalt.
Jetzt einsam ich,
Und einsam Du,
Ich hab' nicht Ruh',
Du hast sie nicht.
Der Gram zerfraß
Mein Angesicht –
Ein Jüngling noch,
Und doch schon alt –
Und die Nacht ist schwarz,
Und der Wind ist kalt.
Hab' ich sie geliebt? Es klingt so, und doch – ich finde auch nicht mehr den Staub einer Trauer um sie in meinem Herzen. Hab' ich sie geliebt? Mir wird's zweifelhaft. Wenn ich's gethan, hätt' ich da gezögert, als es galt, zu brechen oder zu bekennen? Ich sagte mir selbst so gut wie Bianka: Der Gedanke an die Mutter halte mich zurück. Und wenn jetzt die Mutter nicht wollte, ich würde – aber sie wird wollen.
Und ich – will ich denn wirklich schon? Bin ich schon so gefangen? Wie lange sind wir hier? Drei Tage, und es ist, als wäre es Unendlichkeiten her. Es mag mit jedem Gefühl so sein, welches zu herrschen bestimmt ist. Offenbart es sich erst, so begreifen wir nicht, wie bisher, ohne daß wir es kannten, unser Dasein möglich gewesen.
Dennoch will ich besonnen bleiben, will mich in mir verfolgen wie ein Späher, will mißtrauisch sein, als wollte ich mich selbst geflissentlich betrügen. Um was es sich hier handelt, das ist das Leben, gesetzt auf eine Karte – verliert die, sind wir verloren. Ich will der Vormund meines Herzens sein.
Als Leo am andern Morgen nicht herunter kam, wurde Clotilde sehr bald von einer großen, großen Unruhe ergriffen. Es überraschte sie mit einem schmerzlichen Erschrecken, daß er sich von ihnen absondern, für sich bleiben wollen konnte. Also gehörte er nicht zu ihnen! Etwas wehmüthiges Nachdenken ließ sie einsehen, daß dies allerdings der Fall sei, und daß sie eine Zufälligkeit für eine Nothwendigkeit genommen habe. Wenn »Herr von Studnitz« sich drei Tage lang ihnen angeschlossen, so folgte daraus noch gar nicht, daß er es noch länger thun müsse. Oft genug hatte Clotilde gehört, Schriftsteller wären wandelbar in ihren Launen und Neigungen – warum sollte gerade Herr von Studnitz, der noch so jung war, eine Ausnahme darin machen? Und dann – wozu war er gegen sie, d. h. gegen die Eltern und Clotilde, verpflichtet? Mußten sie ihm nicht dankbar sein, daß er ihnen ganzer drei Tage gewidmet? So suchte Clotilde sich zu beweisen, daß Leo's Ausbleiben ganz einfach und natürlich sei, und doch lauschte sie mit einer Art nervöser Angst auf jede Thür, welche oben ging, auf jeden Tritt außerhalb des Saales.
»Kommt er nicht endlich? Er wird wohl gar nicht mehr kommen.« Zwischen dieser Frage und dieser Furcht zitterte das arme Herz hin und her. Sie konnte bei keiner Beschäftigung und an keiner Stelle bleiben. Die Mutter nahm ihre Unruhe bald wahr und schlug, um sie etwas zu zerstreuen, einen Spaziergang durch Desenzano vor. Ach, mit welchem innerlichen Widerstreben folgte Clotilde den Eltern! Wenn nun während der Zeit »Herr von Studnitz« herunterkam, Niemand fand und wieder hinaufging! Wenn er dann auf seinem Zimmer aß! Wenn er am Ende gar seinen Reiseplan geändert hatte und statt mit ihnen gleich nach Riva, erst noch an den Iseosee wollte? Er hatte gleich am ersten Abend die Aeußerung hingeworfen: er möchte eigentlich gern Lovere sehen, weil Lady Montague so lange dort gelebt. Wenn er nun da abreiste, während sie in dem schmutzigen Desenzano herumliefen, an dem doch wahrhaftig Nichts zu sehen war! Wie ein Opfer ließ Clotilde sich von ihren Eltern weiter führen, und wäre nicht ihre mädchenhafte Scham gewesen, sie hätte bitterlich geweint.
Zum Glück vergaß der General nie die Stunde einer Mahlzeit, und da die heutige, des Dampfschiffs wegen, um Vieles früher festgesetzt war, so konnte der Spaziergang nicht lange genug dauern, um Clotilde bis zum Aeußersten zu bringen, nämlich bis zu einem verdrießlichen Gesicht gegen die Eltern.
Als sie in den Saal traten, blickte Clotilde an allen Gliedern bebend nach dem Tische. Er war für Vier gedeckt, und der lange Camerière versicherte, er werde diesen Augenblick eilen, um es dem »Freunde« zu sagen, daß die Signori auf ihn warteten. Clotilde war bleich vor Glück. Er aß also mit ihnen – dessen wenigstens war sie gewiß.
Noch eine Minute, und sie hörte seine Stimme auf der Gallerie: »Legt mein Gepäck zu dem des Generals,« sagte er. Clotilde wandte sich ab und faltete die Hände – er fuhr mit ihnen! er fuhr mit ihnen!
Als er eintrat, that er es fast feierlich. Er hatte sich fassen müssen, um Clotilde nach der Trennung einer Nacht und eines Morgens wiedersehen zu können, ohne sich schon jetzt völlig zu verrathen.
Die Generalin rief ihm freundlich entgegen: »Sie haben heute gewiß geschrieben.«
»Nur gedacht,« antwortete er.
»Das geht dem Schreiben voraus.«
»Nicht immer, gnädige Frau, wenigstens bei mir nicht. Ich denke im Gegentheil sehr oft, ohne zu schreiben.«
»Aber Sie schreiben gewiß nie, ohne zu denken,« sagte sie lächelnd.
Clotilde dankte es ihm innerlich, daß er sie nicht anredete. Sie hätte ihm nicht zu antworten vermocht. Erst gegen das Ende der Tafel, als er ihr Erdbeeren anbot, fand sie Muth genug zu den geistreichen Worten: »ich fürchte, es regnet heute wieder.«
Leo antwortete nicht minder tiefsinnig: »Der Regen steht freilich nicht in den Reisebüchern, aber auf dem Gardasee scheint er allerdings ganz zu Hause zu sein.«
Es war für die Befangenheit des jungen Paares sehr gut, daß es auf dem Dampfschiffe gleich viel zu lachen gab.
Erstens war das Zelt des Verdeckes ganz voller Löcher, und Leo fragte Clotilden, wie das wohl werden solle, wenn ihre Prophezeiung wegen des Regens eintreffe.
Clotilde schaute sehr weise in die Höhe und sagte: »es wird dann wohl auf das Verdeck regnen.«
»Es scheint mir auch so,« meinte Leo. »Ich bin dessen ganz gewiß,« schloß Clotilde, und Beide lachten sich glücklich aus der ersten Verlegenheit heraus.
Dann sahen sie sich unter der Reisegesellschaft um.
»Diese vierblättrige Familie gefällt mir,« sagte Leo.
»Sie ist ja nur dreiblättrig,« wandte Clotilde ein, »der geistliche Herr ist doch nur eine Zufälligkeit.«
»Eine Zufälligkeit! Sehen Sie diesen Mann, diese Frau und dieses Kind noch tausend Mal, und sehen Sie, ob Sie den geistlichen Herrn nicht sehen.«
»Sieh' doch, Mutterchen,« flüsterte Clotilde, »die Frau hat Filzschuhe an, ungeheure Filzschuhe, mitten im Mai!«
»Warum nicht?« entgegnete die Mutter. »Ich sehe mich an dem Jungen nicht müde. Er ist bildhübsch mit seinen schwarzen Schelmaugen.«
»Wenn er nur nicht die Harmonika hätte,« sagte Leo bedenklich. »Ich fürchte Entsetzlichkeiten von ihm. Und hören Sie – er fängt an.«
Und der Junge fing an. Vater, Mutter und geistlicher Herr suchten ihn auf alle mögliche Weise dahin zu bringen, daß er sein Talent nicht gerade jetzt ausüben möchte umsonst, die Raserei der Kunst war in ihm – er spielte. Dazu kam der prophezeite Regen wirklich mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit auf das durchlöcherte Zelt und durch dieses auf das gedrängtvolle Verdeck.
»Wie ich gesagt habe!« rief Clotilde vergnügt.
»Ich bewundere Dich,« sagte die Mutter etwas verdrießlich. »Ich habe gar keine Lust, mich über uns selbst lustig zu machen. Gewiß ist es, der Gardasee war nicht sehr angenehm bis jetzt, weder in Desenzano, noch heute.«
Clotilde warf einen langen, heißen Dankblick auf das geschmähte, zurückweichende Desenzano – sie hatte ihre ersten Paradiesestage dort gelebt.
»Kennen Sie Nikolaus Nickelby »Nicholas Nickleby« (1838/39), Roman von Charles Dickens; ins Deutsche übersetzt in den Jahren der englischen Erstveröffentlichung.?« fragte plötzlich Leo.
Sie fuhr zusammen; dann antwortete sie mit Ja.
»Nun,« sagte er, »da habe ich die Ehre, Ihnen Smike vorzustellen.«
Clotilde folgte der Richtung seines Blickes und sah einen brittischen Jüngling, lang und dünn, mit schlotternden Gliedmaßen, mit ungeheuren Händen, die ohne Handschuh aus den zu kurzen Aermeln eines grauen Röckchens hervorkamen, mit einer schiefen Mütze auf dem herabhängenden sandfarbigen Haar, mit langem, blassem, eingefallenem Gesicht, mit großen, runden, glotzenden Augen, endlich mit einem Munde, der buchstäblich groß genug war, um das ganze übrige Gesicht verschlucken zu können. Clotilde fand die Aehnlichkeit, die Leo herausgebracht, so schlagend, daß sie sich kaum hielt, um nicht in ein lustiges Gelächter auszubrechen.
»Und hier,« fuhr Leo fort, »hier ist das seltenste Exemplar von der Engländer-Race, welche, wie Georges Sand entdeckt hat, in einem für jedes Element undurchdringlichen Fluidum reist.«
Clotilde wurde nicht ernsthafter durch den jungen Gentleman, der wirklich eben erst aus einem Ei herausgekommen zu sein schien, und mit einem unermeßlichen Fernrohr selbst die Ansichten anstarrte, die man, des Regens wegen, heute nicht sehen konnte.
»Er begeht, wie ich eben hörte,« sprach Leo weiter, »den einzigen kleinen Irrthum, die Orte, welche auf dem rechten Ufer liegen, auf dem linken zu suchen; aber am Ende kommt das auf Eins heraus.«
Jetzt hielt Clotilde sich nicht länger, sondern lachte so hell auf, daß die Generalin sie höchst mißbilligend ansah. Das glückliche Mädchen bemerkte dies nicht, aber Leo nahm es wahr und sich fortan in Acht, sie nicht mehr zu so lauter Fröhlichkeit zu verführen.
Die Orangengärten gefielen Clotilden nicht so gut, wie sie erwartet. »Sie wachsen ja nicht im Freien,« sagte sie.
»Wir wollen nach Sorrent, nicht wahr?« fragte Leo.
»Ja, wer's könnte!« meinte sie. »Ah, dabei fällt mir ein«, rief sie dann, »was ich Sie schon fragen wollte – warum begnügen Sie sich denn mit einem solchen bloßen Stückchen von Italien?«
»Weil ich nächstes Jahr wieder her wollte, und zwar halb und halb mit Mutter und Schwestern. Mein jetziger Ausflug war eigentlich nur ein Bissen vor Tische.«
»Das wird eine sehr schöne Reise werden.« Clotilde seufzte halb.
»Wenn ich sie noch mache.«
»Wie, fürchten Sie, daß Etwas dazwischen kommen könnte?«
»Ich fürcht' es nicht – ich hoff' es.«
Clotilde verstummte. Verstand sie ihn, oder war sie nur unsinnig eingebildet? Sie blickte, ohne etwas zu sehen, an dem steilen Felsenufer empor, welches immer dunkler und senkrechter aufstieg, je näher man Riva kam. Endlich erschien dieses, und Leo weckte Clotilde aus ihrer Vergessenheit alles Aeußern, um ihr den höchst malerischen Anblick zu zeigen. »Sehen Sie dort,« sagte er, »links oben auf dem Berge das zerfallene Kastell. Sehen Sie hier rechts in der Stadt das neuere. So elegant wie unser liebes auf Sermione ist es nicht, aber wie üppig umschattet ist es, und der Hafen wie reizend umgrünt! Sind Sie denn nicht entzückt?«
Clotilde hatte kaum Stimme genug, um stammelnd sagen zu können: »Ich bin ganz ungewöhnlich müde – darum bleib' ich wohl so stumpf.«
Leo sah sie mit dem Wunsche an, sie emporheben und auf seinen Händen tragen zu dürfen. Wenigstens den Arm durfte er ihr bieten, als sie an der Piazza landeten, und bei dem hohen grauen Glockenthurme vorbei in die Nereidenstraße eilten. Dank diesem Vorwärtsdrängen erhielt die Familie das beste Zimmer in der »goldnen Sonne«; Leo begnügte sich mit einem, welches auf die Gallerie ging und statt aller Fenster nur eine Glasthür hatte.
Es war Clotilden sehr drückend, daß sie gerade heute ein Zimmer mit den Eltern theilen mußte, denn sie hatte die erste schlaflose Nacht in ihrem Leben.
»Ach, hätt er mir doch das nicht gesagt,« seufzte sie mehr als ein Mal, lautlos, wie sie es mußte, um die Eltern nicht zu wecken. »Es ist gar zu schlimm, so wach liegen zu müssen. Ob denn das jetzt öfter so sein wird?«
Als es ungefähr fünf war, wagte sie es, sich aus dem Bette zu stehlen und auf den Fußspitzen an ein Fenster zu schleichen.
Der See lag in lichter Morgenruhe. Die Berge links ruhten mit großen dunkelblauen Schatten in ihm. Die rechts waren schon hell, obwohl die Sonne noch nicht hoch genug gekommen war, um in die Gegend scheinen zu können. Der Garten des Hôtels ging mit seinem von Rosen durchflochtenen Weingange bis dicht an den See – er war noch ganz einsam und lautlos. Ueberhaupt war eine allgemeine Stille, und selbst das kleine Segelboot, welches auf der spiegelhellen Flut schwebte, fuhr so langsam, daß es so gut wie unbeweglich schien.
Der erhabene und friedliche Anblick dieses Alpenmorgens legte sich beruhigend auf die aufgeregte Seele des jungen Mädchens. Die Hände faltend murmelte Clotilde ein abgebrochenes Gebet, daß der Vater im Himmel ihr Herz und – noch ein anderes nach seiner Weisheit und Liebe lenken möge; dann schlich sie zu ihrem Lager zurück, verbarg den Kopf im Arm, wie eine Taube unter dem Flügel, und beruhigt und getröstet schlief sie ein.
»Willst Du mit nach Ponale?« fragte drei Stunden später die Generalin, sich über die schlafende Tochter beugend, »dann steh' auf – es ist acht.«
Clotilde fuhr in die Höhe; sie hatte von ihrem Garten in Braunschweig geträumt, und daß sie eben die Thür sich öffnen und Leo eintreten sehe – natürlich »zu einem Besuche bei den Eltern.«
Die Generalin sah mit Beängstigung, wie blaß Clotilde heute war.
»Wenn diese Bekanntschaft einen wirklich tiefen Eindruck auf sie gemacht hat, und sie bliebe ohne Ergebniß –« die Mutter wagte nicht das auszudenken.
Bald saßen sie im Boot. Die Sonne strahlte jetzt über den See, aber der Wind war so stark, daß sie wie auf Wogengipfeln dahinfuhren, und der Schaum immer und immer wieder über Bord spritzte.
Die Generalin konnte einige Aengstlichkeit nicht verbergen. Clotilde saß mit kindlicher Sicherheit da und spielte mit der rechten Hand im Schaume. In der linken hielt sie eine Rose, eine ächt italienische Mairose, mit durchsichtigem Kelch voll thauigen Duftes, frisch wie der südliche Frühling und süß wie die ganze Natur dort. Leo hatte sie vor der Abfahrt am Weingange des Gartens gepflückt, Clotilde hatte es gesehen und sich beklommen gefragt, wozu wohl »Herr von Studnitz« die Rose pflücken möge, und jetzt duftete die Rose für sie. Wie hätte sie sich da vor den hohen Wellen fürchten können? Sie freute sich vielmehr an ihnen und sagte mit glänzendem Blicke: »wie sie uns tragen!«
»›Werfen‹ wäre passender«, seufzte die Generalin unbehaglich.
»Lassen Sie es wenigstens ›Schaukeln‹ sein«, bat Leo; »die Wellen meinen es gut mit uns.«
»Und ist es nicht, als wären sie ganz aus himmelblauem Krystall, selbst hier in der nächsten Nähe?« rief Clotilde. »Und diese Silberperlen, die von den Rudern stäuben!«
Leo sagte: »Ich entsinne mich, wie ich eines Abends in Venedig von blaßgrünen Wellen ähnliche runde Perlen herabrollen sah, aber nicht silberndurchsichtig wie diese, sondern schwergolden.« Und dann dachte er, daß Clotilde die silberne und die goldene Perle seines Herzens sei.
Um sich etwas vor den Wellen zu schützen, ruderte die Barke dicht an den dunklen Felsen hin. Aus Spalten in diesen wehten große bläulichrothe Blumenbüschel. Clotilde wollte wissen, was für Blumen es wären; Leo bekannte sich als gänzlich unwissend in der Botanik. Nun wollte sie welche haben; Leo hieß die Schiffer sich mit den Rudern hart gegen den Felsen stemmen, erhob sich so hoch er konnte und riß, nicht ohne Gefahr in das Wasser zu stürzen, einige Büschel ab.
Die Generalin hatte geschwiegen, so lange Ruhe nöthig war; jetzt, da die Barke wieder hinwogte, machte sie Clotilden scharfe Vorwürfe. »Wenn nun, um Deine Laune zu befriedigen, Herr von Studnitz hineingestürzt, wenn gar die Barke umgeschlagen wäre!« sagte sie.
Leo lächelte über dieses »Gar,« es war so ehrlich. »Wir Männer können alle schwimmen,« sagte er, »in keinem Falle also wäre eine wirkliche Gefahr vorhanden gewesen.«
»Als die, über und über naß und dadurch tödtlich krank zu werden,« sprach unwillig die Generalin.
Clotilde blickte die Mutter bittend an, und der General sagte gutmüthig: »laß es sein – Herr von Studnitz ist nicht hineingefallen, und wir scheinen ja auch glücklich ankommen zu sollen. Sollen wir da hinein?« fragte er dann, auf die Felsenwölbung deutend, aus welcher der Wasserfall hervorstäubte, um in den blauen See einen wallenden lichtgrünen Halbkreis zu malen.
»Schwerlich,« versetzte Leo lachend, sich wüßte wenigstens nicht, wie wir da wieder herauskommen sollten.«
»Wir wollen's abwarten,« sagte der General kaltblütig.
Die Barke fuhr nicht in die Wölbung ein, aber dicht daneben legte sie an. Der Landungsplatz war mit trocknen Fichtenzweigen bedeckt, trotzdem kam man schwer heraus aus der Barke, die keine Sekunde in derselben Lage blieb. Auch das Hinaufsteigen war bei dem klebrigen Boden nicht leicht, und Leo konnte nicht anders, als die Generalin unterstützen. Clotilde klimmte gewandt voran, und hielt sich höchstens hier und da an einem Zweige fest. Leo mußte die Augen gewaltsam von ihr abwenden, er wäre sonst ein schlechter Führer gewesen.
Es war schattig und einsam den Abhang hinauf, nur ein Maulthiertreiber mit zwei Thieren kam ihnen entgegen. Das zweite von diesen, ein ganz junges, das erst steigen lernen sollte, folgte mit allerliebster Aengstlichkeit dem ersten älteren, welches trotz seiner Last mit sicherer Leichtigkeit herabschritt. Die Gesellschaft hatte sich an die Seite gedrückt, um den kleinen Zug vorüberzulassen. Clotilde und Leo waren sich einige Augenblicke nah. »Ich denke an Mignon,« sagte sie ihm heimlich, freudig. – »Ich auch,« flüsterte er zurück.
Oben in der Mühle, welche neben dem Wasserfalle hängt, erschüttert von seinem Geräusch, durchschauert von seinem Schaum, fanden Alle den Wein unerlaubt sauer, aber die Aussicht, welche sich zwischen Feigen, Wein und Epheu öffnete, unbeschreiblich schön. Ihre Barke sahen sie gerade unter sich in bachantischer Tollheit tanzen. »Man begreift gar nicht, wie man wieder dahineingelangen soll,« rief Leo übermüthig. »Ich begreife es wirklich nicht,« sagte die Generalin kläglich.
Clotilde schaute von dem See auf die Alpen. und wieder von den Alpen auf den See. »Dort der blendende Schnee,« sagte sie, »und hier der Wein und die Feige, und überall wie ein Meer das Oellaub wie ist das wunderbar und wunderschön!«
»Alpen und Süden – es klingt wie ein Akkord«, sagte Leo.
Als der junge Mann, nachdem er die Familie glücklich in die Barke gebracht, sich selbst hinein schwang, bäumte sie sich so auf, daß er das Gleichgewicht verlor und über die Bank hinstürzte.
Clotilde wurde mit niedergerissen, und einige Sekunden lag sie, von Leo umfaßt, auf den Knieen. Leo verlor beinah die Besinnung, indessen die Schiffer leisteten lachend hülfreiche Hand, und das Ganze ging wie ein Scherz vorüber. Aber konnten diese Sekunden je weder von Leo noch von Clotilden vergessen werden?
Den Nachmittag durchstreiften sie das italienisch gebaute Städtchen und bestiegen die nächsten Höhen, und ihr Schatz süßer, ewiger Erinnerungen vermehrte sich an jeder Stelle, die sie betraten, mit jedem Worte, das sie wechselten.
Ich weiß nicht, bei welcher Veranlassung Leo äußerte, er könne Alles thun, um eine Geliebte zu erringen, nur nicht weinen.
»Und wenn sie nun gerade Thränen verlangte?« fragte Clotilde mit einem Blicke, in welchem bereits das Bewußtsein ihrer Macht dämmerte.
Leo schwieg, am Abend jedoch bewies er, daß er sich schon mitten im Wirbelwinde der Uebertreibung befand, denn er schrieb diese Verse:
Ich möchte nicht gerne weinen,
Nicht gern so elend erscheinen,
Und doch – du wirst mich zwingen,
In Thränen zu vergeh'n.
Denn siehst du, wenn ich weine,
Ist's nicht der Thränen eine,
Aus meinen Augen wird dringen
Ein Meer zum Untergeh'n.
Ich kann nicht weinen und leben,
Soll ich dir Thränen geben,
An denen, die ich dir weine,
Wirst du mich sterben seh'n.
Man war ungewiß gewesen, ob man nach Roveredo den Umweg über Arco nehmen sollte, Clotilde hatte für den Umweg gebeten, und er war beschlossen worden. Wenn Clotilde auch bisweilen gescholten wurde – was sie wünschte, geschah doch immer. Clotilde war eigentlich das glücklichste junge Mädchen, welches es auf der lieben, alten, unvollkommenen Erde nur geben konnte. Darum hatte sie sich auch noch nie nach der Liebe gesehnt, sondern die Liebe war über sie gekommen, wie das Licht über einen Südmorgen, wo eben noch Alles Stille, Frieden und Traum war, und nun plötzlich Alles Leben, Glanz und – Unruhe ist.
Der Weg nach Arco führt in großer Alpenumgebung durch lauter Rebengärten. Oelpflanzungen klimmen hinan, so weit es gehen will – hier und da sind Obstbäume.
Die Luft wurde immer schwüler, je weiter unsere Reisenden bergeinwärts fuhren, während hinter ihnen auf dem See noch unverändert der frischeste Wind wehte. Die Felsen waren heißblau anzusehen, die Weinpflanzungen fahl. Das Schloß von Arco schaute ihnen schon lange entgegen, ehe sie durch einen gewölbten Thorweg auf die Piazza des Ortes einbogen. Eine Bottega lag links, ein Camerière stand davor, lauernd auf Gäste, wie ein Angler auf Forellen, oder wie eine Spinne auf Fliegen. Der Vetturin hielt an und fragte, ob seine Herrschaft trinken wolle. »Essen,« sagte der General, »essen,« wiederholte Leo dem Vetturin, der Wagen fuhr nach dem Albergo weiter, und der Camerière der Bottega hatte das Nachsehen.
Mitten auf der Piazza stand in scharfen, braunen Umrissen die Kirche, und von ihren starken Strebepfeilern wehten eben solche Blumen, wie Leo Tags vorher für Clotilde von den Felsen gerissen. Clotilde zeigte sie dem jungen Manne mit einem Blicke voll Reue und Dankbarkeit – Leo lächelte.
Bis das Frühstück fertig sein würde, erhielt das junge Paar vom General die Erlaubniß, zum Kastell hinaufzusteigen. Die Mutter machte keinen Einwand; aber kaum hatte die Thür sich hinter Leo und Clotilde geschlossen, so sagte sie unmuthig: »lieber Below, der junge Mann muß sich ja wirklich einbilden, du wollest ihm Gelegenheit zu einer Erklärung geben.«
»Gelegenheit zu welcher Erklärung?« fragte der General mit der ganzen rührenden Einfalt eines Papa's, der seine Tochter noch immer als ein Kind betrachtet, welches heirathen zu wollen ja keinem vernünftigen Menschen beikommen kann.
Die Generalin erläuterte, was sie gesagt. Ihr Mann sah sie so verdutzt an, daß sie zu lachen anfing. Aber er sagte höchst ernsthaft: »mein Kind, das ist nicht zum Lachen. Wenn du es schon vor ein Paar Tagen merktest, daß der junge Mann solche Absichten hege, warum hast du es mir da nicht gleich gesagt?«
»Was hättest du denn gethan, lieber Below?«
»Die Reiseroute geändert.«
»Wie – du wünschtest nicht –«
»Nein, ganz entschieden nicht.«
»Sag' mir warum?«
»Du weißt was ich gegen ihn habe.«
»Die Mutter also?«
»Die Mutter, die ihn nie aufgeben, nie einer Schwiegertochter überlassen wird.«
»Aber liebe ich denn nicht auch Clotilde als unser Einziges? Und wie gern wäre ich doch bereit, alle meine Rechte dem Manne zu überlassen, den sie und der sie liebte.«
»Ja du,« sagte der General, »du bist auch eine Perle unter den Frauen. Doch nun sprich aufrichtig: glaubst du, das Mädchen liebt ihn schon?«
»Ich glaub' es, lieber Below.«
»Dann ist's ein großes Unglück, daß wir den jungen Mann kennen lernten,« sprach der Vater schwerbekümmert.
»Lieber Freund, sollte es nicht eher eine Fügung sein? Es kam so sonderbar und doch so natürlich!«
»Des Herrn Schickung ist Alles, aber diese wird eine schwere sein.«
»Warum denn, lieber Below, warum denn? Er ist jung, scheint gut, soweit man einen Menschen nach seinen unwillkürlichen Aeußerungen beurtheilen kann – geistreich ist er auch, es läßt sich gar nicht läugnen –«
»Das ist er nur zu sehr.«
»Clotilde kann nur durch Geist gefesselt werden.«
»Gefesselt, ja; aber glücklich? Glücklich macht nur ein tüchtiger Charakter.«
»Traust du Studnitz gar keinen Charakter zu?«
»Ein junger Mann, der sich bis über achtzehn noch von der Mutter festhalten läßt – glaube mir, er kann sich nicht tüchtig entwickeln, selbst wenn die Anlagen dazu in ihm wären. Und selbst die setz' ich bei Studnitz nicht voraus, sonst hätt' er eine unabhängige Stellung gesucht. Unabhängig zu sein ist zu sehr das Bedürfniß eines wirklichen Mannes.«
»Weißt du, ob es nicht auch das von Studnitz gewesen und noch ist, ob er es nicht blos aus Schonung für seine Mutter unterdrückt hat? Das spräche für sein Gemüth.«
»Liebes Kind,« sprach der General, die Hand seiner Frau nehmend, »das Gemüth ist für Euch. Bei uns ist's schon ganz gut, wenn es in einem gelinden Maße vorhanden ist, damit wir nicht geradezu Barbaren werden, aber zuviel davon – besser keins. So z. B. wenn der junge Mann hier aus Gemüth sein ganzes Leben lang bei seiner Mutter sitzen will, so – so mag der Teufel ihn holen, ihn und sein Gemüth dazu – es ist dann weder an dem Einen, noch an dem Andern was gelegen.«
Die Generalin wollte nochmals mit der Schonung für die Mutter anfangen.
»Schonung, Schonung,« erwiderte der General, immer hitziger werdend, »wenn die Frau sich nur als geschont betrachtet, so lange ihr Junge Nichts thut, da hätte sie ihn lieber gar nicht erst in die Welt bringen sollen, denn da wäre sie vollkommen sicher gewesen, daß er nie etwas gethan hätte.«
»Ereifere Dich nicht so, lieber Below,« bat die Generalin, »wir kennen ja die Frau gar nicht.«
»Ich will sie auch gar nicht kennen lernen – ich habe, ohne sie zu kennen, genug an der Romanerziehung, die sie ihrem Sohne hat angedeihen lassen.«
»Aber, lieber Freund, wenn Clotilde den Sohn nun liebt?«
»Aber, aber ich werde doch mein einziges Kind nicht in die weite Welt lassen sollen, Gott weiß, wohin?« schrie der General in wirklicher Angst.
»So mag Frau von Studnitz bei ihrem Sohne auch gedacht haben, lieber Below,« sagte sanft die Generalin.
»Clotilde ist ein Mädchen«, erwiderte er, sich vertheidigend. »Bei einem Sohne würde ich anders gedacht und auch anders gehandelt haben, darin kennst Du mich. Aber eine Tochter und noch dazu das einzige Kind! die Frau hat zwei Töchter außer dem Sohne – da könnte sie ihn hingeben, dächt' ich.«
»Du meinst also, daß er im Falle – im Falle ich recht errathen hätte, zu uns ziehen sollte?«
»Ich meine gar Nichts – ich will ihn der Frau nicht nehmen – ich will nur mein Kind behalten.«
»Das heißt, Clotilde ihrer natürlichen Bestimmung entziehen.«
»Ihre natürliche Bestimmung ist, ihren Eltern Freude zu machen,« antwortete der General, polternd, weil er verlegen war.
»Mir kommt es vor,« sagte die Generalin lächelnd, »es wäre ihre natürliche Bestimmung, sich zu verheirathen und ihrerseits Kinder zu haben.«
»Die sie ihrerseits werden verlassen wollen, sobald sie erzogen sind.«
»Dazu sind die Eltern da.«
»Du bist zu gut, Du.«
»Nein, lieber Below, ich bin nur alltäglich gerecht.«
»Die alltägliche Gerechtigkeit ist die schwerste,« brummte der alte Herr.
»Weil es immer leichter ist, das Außerordentliche zu thun, welches im ganzen Leben nur ein oder höchstens zwei Mal von uns gefordert wird.«
»Mag es sein, warum es will – ich sage, die alltägliche Gerechtigkeit ist schwer.«
»Wenn sie schwer ist, lohnt sie sich um so mehr der Mühe, lieber Below,« sagte im Tone zärtlicher Schmeichelei die Generalin.
»Das will sagen,« seufzte der General, »wir haben als gehorsame Eltern unsern Segen zu ertheilen, sobald es dem Fräulein einfällt, ihn zu begehren.«
Er hatte gar keine Ruhe mehr, der alte, gute General. Jede Minute wollte er auf die Straße, um zu sehen, ob Clotilde noch nicht zurückkäme. In seiner Phantasie verlobte sie sich schon jetzt auf dem Schlosse von Arco unfehlbar mit »dem jungen Menschen.« Umsonst stellte seine Frau ihm vor, daß Clotilde und Leo sich nicht auf ein Mal in Tauben verwandeln, und daß nur Tauben oder überhaupt Vögel schon wieder vom Schlosse herunter sein könnten, der General ließ sich nicht beruhigen und stellte sich zuletzt sogar unter den Thorweg des Albergo, um ja gleich sehen zu können, wenn das junge Paar endlich unten in der Straße erscheinen würde.
Die Angst des guten Vaters war für dieses Mal eine unnöthige – Clotilde und Leo hatten durchaus keine Zeit zu einer Liebeserklärung. Das Schloß von Arco liegt so hoch, daß sie trotz allen Eilens eben erst oben angelangt waren, als der General sie schon wieder im Gasthofe haben wollte.
Der alte Herr hielt es auch vor der Thür nicht lange aus – er kam wieder hinauf zu seiner Frau und schlug ihr vor, sie wollten sich auch das Schloß ansehen, wenn auch nur von unten. Mit einem gutmüthigen Lächeln setzte die Generalin sich den Hut auf und gab ihrem Manne den Arm. Er wußte ihre Nachgiebigkeit zu schätzen, denn sie ging höchst ungern in der Mittagszeit. »Du bist schon eine einzige Frau,« sagte er, ihren Arm an die Brust drückend. »Und Du ein guter, thörichter Vater,« antwortete sie.
Sie gingen und sahen bald das Schloß mit seinem gewaltigen Thurme von dem rechten Ufer der weißlichen Sarca herabblicken. Die Höhe, welche es trägt, steigt, ölbaumbedeckt, an der einen Seite sanft hinan, auf der andern fällt sie steil nach dem Flusse zu ab. Der General versicherte: es sei ein prächtiges Gemälde.
»Welches zu betrachten Du jetzt ganz in der Stimmung bist,« sagte seine Frau.
Er schwieg und führte sie nicht ohne Gewissensbisse, aber darum doch nicht minder beharrlich in der Sonne auf und nieder, bis Clotildens blaues Kleid zwischen den Oelbäumen sichtbar wurde, und gleich darauf das Mädchen, erhitzt vom Steigen, aber völlig unbefangen auf die Eltern zueilte, um ihre Verwunderung über deren Spazierengehen in der Mittagshitze auszudrücken.
»Bist Du denn nicht eben da oben gewesen?« fragte der Vater, »warum sollen wir da nicht hier unten sein?«
»O, ich sah doch etwas!« rief sie.
»Nun, wir sahen auch etwas – das Schloß von unten,« antwortete er launig, denn es war ihm unendlich leichter um das Herz, seit er sein Kind wiedersah.
Sie hing sich an seinen Arm und plauderte ihm von den Herrlichkeiten vor, die oben sein sollten. Leo führte die Generalin. Er hatte schon das Benehmen des Sohnes gegen sie.
Zurück fuhren sie auf einem andern Wege, doch in keiner andern Gegend. Der See wurde wieder sichtbar. Sie kamen über die Sarca und durch Torbole, dann fingen sie an, längs des heißen Gebirges in die Höhe zu fahren. Links unter ihnen lagen die Rebenthäler, die sie eben verlassen, hinter ihnen blieb der See zurück. Clotilde und Leo saßen ihm zugewendet und verwandten kein Auge von ihm. Saphirschimmernd lag er, ein Bruchstück südlicher Himmelsklarheit, hinabgesunken in die Größe des Gebirgs. Die Sarca durchwühlte seine blaue Schönheit weithin mit ihrem unruhigen Schäumen. Endlich war der Wagen mitten im Gebirg und der See verschwunden.
Clotilde athmete schmerzlich auf, der Vater fragte: was ihr sei.
»Ich sehe den See nicht mehr,« sagte sie mit einer weichen Stimme.
»Du wirst noch andere Seeen in Deinem Leben sehen,« meinte der General.
Sie schwieg, aber als bald nachher der Vater sich zu einem Schläfchen von einigen Minuten einrichtete, sagte sie leise: »Dieser See wird doch einzig für mich bleiben – es war der erste.«
»Für mich war er nicht der erste,« sprach Leo noch leiser als sie, »aber einzig wird er mir doch bleiben, denn – Sie waren hier.« Das erste, wirklich bedeutungsvolle Wort zwischen Beiden wurde im Schweigen des glühenden Nachmittags, in der Stille des heißen Gebirges laut.
An der fahlen Abdachung lag Nayo unter seinem alten Schlosse. Das von Arco ragte bereits tief, tief unten.
»Wie unbedeutend erscheint von hier aus die Höhe, die zu ersteigen uns so schwer geworden ist,« bemerkte Clotilde, in welcher noch das Echo von Leo's letzten Worten bebte.
Leo antwortete ruhig: »keine Höhe ist, die nicht tiefer wäre, als eine andere – über den Gebirgen der Erde sind die Sterne, und über diesen ist das ewige Wo, in welchem Gott wohnt.«
»Wohnt Gott nicht überall?«
»Für unsern Verstand. Für unsere Empfindung – wohin blicken Sie, wenn Sie beten wollen? Lassen Sie uns an den alten Vorstellungen hängen – sie sind unsere unwillkürlichen, und was unwillkürlich ist, das ist wahr.«
»Eine gefährliche Theorie,« warf die Generalin hin.
Leo verstummte ehrfurchtsvoll, wie immer, wenn das Wort »Theorie« genannt wurde.
Er pflegte zu behaupten, man könne ihn, sollte er je als Geist umgehen, unfehlbar augenblicklich bannen, sobald man ihm dieses mächtige Wort entgegenrufe.
Der General erwachte jetzt wieder, eben als die Straße an einer keinen Höhle vorbeiführte, in welcher an einem kleinen, frischsprudelnden Quell ein großer Eisenlöffel hing. Wer durstig war, schöpfte mit diesem und trank, wie gerade in diesem Augenblick ein malerisch zerlumpter Bube that.
»Ach Vaterchen!« rief Clotilde, als der Vetturin stillhielt und die Herrschaften fragte, ob sie dieses eiskalte und eisklare Wasser versuchen wollten.
Der General führte einen silbernen Becher bei sich. Er holte ihn aus dem Etui hervor und gab ihn dem Mädchen.
»Du kannst ja doch nicht weiter, ohne hier getrunken zu haben – ich weiß es ja,« sagte er gutmüthig.
Clotilde sprang leicht aus dem Wagen, nahm den Becher und rief: »den bring' ich Dir – ich trink' aus dem Löffel!«
Sie that es. Allerdings ließ sie das Wasser einige Mal über das ungewohnte Trinkgeschirr rieseln, aber dann trank sie auch so durstig, als wäre der Quell wenigstens der ewiger Jugend. Leo folgte ihr nach, und Beide kehrten höchst befriedigt an den Wagen zurück.
»Du bist noch kindischer, Clody, als ich bisher geglaubt habe«, sagte der Vater, indem er den gefüllten Becher von ihr empfing.
Sie setzte sich wieder ihm gegenüber und antwortete nachdenklich: »Vaterchen, laß es mich doch noch sein – man sagt ja, die Zeit, wo man es ist, sei die beste im Leben.«
»Nun, die Vernunft ist auch nicht übel.«
»Ist ein Kind denn unvernünftig? Es hat den Instinkt, die Vernunft der Natur.«
»Gott behüte uns, was wird das Mädchen weise! Haben Sie ihr das beigebracht, junger Freund?«
Leo schüttelte lächelnd den Kopf. Clotildens Auge ruhte noch auf dem Born, der sie gelabt.
»Er fließt und fließt und wird's nimmer müde,« sagte sie.
»So sollte die Liebe sein – ein unermüdliches Geben,« sprach Leo leise.
»Ist sie's je?« fragte ebenso das junge Mädchen.
»Nein,« versetzte er ernst; »vollkommene Liebe macht ein vollkommenes Dasein aus und unsers Daseins eigenstes Wesen ist die Unvollkommenheit.«
Das Geräusch des Wagens auf dem wenig ebenen Wege bedeckte diese Aeußerungen des jungen Paares. Das Gebirg wurde immer öder. Etwas Ginster auf dem Gestein war Alles, was von Pflanzenleben zu sehen war. Die Luft war brennend und der Wind heftig. Der Vetturin mußte mehrmals anhalten, weil ihm immer wieder sein großer schlaffer Hut vom Kopfe flog. Die Generalin wurde bei der sechsten oder siebenten Wiederholung dieses Unglücksfalles endlich etwas ungeduldig.
»Ob der Mann denn seine Pferde nicht ohne seinen Hut antreiben könnte?« fragte sie.
Leo antwortete lachend: »ich fürchte, die Intelligenz sitzt bei ihm nicht im Kopfe, sondern in der Kopfbedeckung – bei ihm würde ›hutlos‹ ›rathlos‹ heißen.« Clotilde lachte auch. – Was hätte heute wohl geschehen können, ohne ihr entweder interessant oder unterhaltend vorzukommen?
Der schwarze See von Lopio lag still und geheimnißvoll links von der Straße. Auch schwarzgründunkel waren die Berge an seinem jenseitigen Ufer. Am diesseitigen wuchs wild und üppig hohes Schilf, und daraus erhob sich ein kleiner runder Inselhügel mit den schönsten Bäumen.
»O was für ein schönes Lokal!« rief Clotilde.
»Nein,« antwortete Leo, »es ist nicht reich genug an Einzelheiten, und in der Einförmigkeit nicht großartig genug.«
Bald darauf hatten Beide die lebhafteste Freude an den herrlichen Kastanienbäumen, die überall ihr glattes glänzendes Laub zeigten. Bei Mori rührte sie eine kleine weiße Kirche, die links oben hing. Sie hätten hinaufsteigen und beten mögen. Aus solchen kleinen Gebirgskirchen kommen wunderbare Einladungen zum Gebet an alle nur irgend hörende Herzen, wie denn nicht zu denen zweier Liebenden?
Auf einer Fähre setzten sie endlich über die heftige Etsch, und dann währte es nicht lange mehr bis Roveredo.
Es war gerade ein festlicher Sonntag, Ernani ›Ernani‹ (1844), Oper von Giuseppe Verdi auf ein Libretto von Francesco Maria Piave. Die Oper war im 19. Jahrhundert eine der meistgespielten Verdi-Opern. Mit dieser - seiner fünften - Oper schaffte Verdi endgültig den Durchbruch. von Verdi angekündigt, der Kreishauptmann angekommen und die Musikbande der Stadt in der unbeschreiblich schönsten Uniform eben begriffen im Versammeln. Sobald sie vollständig versammelt war, was vor dem Hause des Kreishauptmannes geschah, fing sie an rauschend, aber geschickt zu spielen. Die ganze große und kleine Welt von Roveredo zog zuerst am Cavallo bianco vorüber, um der Bande zuzuhören, und kehrte dann mit der Bande zurück, um in das Theater zu ziehen.
Clotilde hätte seelengern eine Oper in Roveredo mit angehört, aber die Generalin war nicht ganz wohl und folglich nicht ganz gut gestimmt, und so mußte das arme Kind im Zimmer sitzen bleiben, während der Vater und Leo in den Ernani gingen.
Aber sie war gut, Clotilde, obwohl sie ein einziges Kind war. Sie schmollte nicht, sie sah sogar nicht betrübt aus, sie setzte sich freundlich und geduldig an das Fenster und sah, während die Mutter auf dem Sopha einschlief, den violetten Abend leise über die Alpen kommen.
Sie wurde belohnt. Kaum eine Stunde war vergangen, als sie den Vater und den Geliebten, denn so muß ich Leo schon jetzt nennen, die Straße wieder heraufkommen sah.
Einen furchtsamen Blick warf sie nach dem Sopha die Mutter schlief so fest, wie sie nur wünschen konnte. So faßte sie sich denn Muth, öffnete geräuschlos das Fenster und winkte den beiden Ankommenden entgegen.
Sie blieben unter dem Fenster stehen, und Clotilde machte, in das Zimmer zurückzeigend, die Pantomime des Schlafens.
Der General winkte nun seinerseits. Clotilde zögerte, obgleich hart versucht, »Vaterchens« einladender Hand zu folgen. »Vaterchen« winkte noch ein Mal, dringender und überredender, Clotilde that noch einen Blick nach dem Sopha, faßte ganz leise Hut und Handschuhe, und schlich, nachdem sie das Fenster wieder zugemacht, so glücklich geräuschlos aus der Stube, daß sie, an der Thür horchend, eben Nichts erhorchte, als die Athemzüge eines ungestörten Schlafes.
Jetzt bekam sie auf ein Mal Flügel an die Füße und flatterte die Treppe hinunter und hinaus – zum Vater.
»Wir sind schon wieder da,« sprach dieser. »Der junge Herr da ließ mir durchaus keine Ruhe.«
»Da ich wußte, daß Sie nur meinetwegen so gütig waren, dort zu sein, Herr General –« entgegnete Leo heuchlerisch.
»Natürlich, das konnten Sie nicht dulden«, sprach der General. Er sah Clotilde an; sie versuchte ihre Röthe, ihre Verlegenheit zu verbergen, indem sie sich den Hut aufsetzte und immerfort daran rückte.
»Dein Hut sitzt schon«, sagte der Vater mild, »gieb mir den Arm und laß uns noch ein Stündchen spazieren.«
Leo hatte Clotilde mit einem Blicke solcher Innigkeit angesehen, daß der alte Herr es nicht über das Herz bringen konnte, »die Kinder« nicht noch ein Bischen spazieren zu führen.
» Nun, wer ist's jetzt«, fragte am andern Morgen die Generalin, »wer ist's jetzt, der –«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach der alte Herr sie humoristisch verlegen, »wird's nicht immer so, wie ihr, Du und das Mädchen, es wollt?«
Die »Kinder« kamen zu zwei verschiedenen Thüren, aber beinah in ein und derselben Sekunde herein, Clotilde fertig zum Ausgehen, Leo den Hut in der Hand.
»Da Sie also statt unserer über sie wachen wollen, Herr von Studnitz«, sagte lächelnd die Generalin, »so spielen Sie nun recht die Mama.« – »Und Vaterchen auch«, rief muthwillig Clotilde.
»Ich werde mein Möglichstes thun,« versicherte Leo.
Der General küßte sein Töchterchen und ließ es dann mit einem Seufzer von sich. Es war ihm, als wär's auf immer. Er fühlte Schmerz, er warf sich vor, daß er den »Kindern« einen Morgenspaziergang vorgeschlagen, dann dachte er wieder an die Freude, welche bei dem Vorschlag aus Clotilden's Augen geleuchtet, und er gab sich zufrieden, setzte sich zu seiner Frau und fragte wohl nachdenklich, aber zugleich mit einem gewissen Vergnügen: »Wie werden wir das Kind wiedersehen?«
»Wie Gott will«, antwortete die Generalin, indem sie durch das Fenster sehend dem jungen Paare mit den Augen folgte. Es blickte noch ein Mal grüßend hinauf, dann ging es links die Straße hinab.
Leo bot Clotilden seinen Arm. Sie zögerte einen Augenblick, aber auch nicht länger. Was sie jetzt noch im Bereich des mütterlichen Auges that, das war erlaubt – was sie jetzt nicht that, das durfte sie auch nachher nicht thun. Sie nahm den Arm Leo's an.
Es ging sich köstlich in der Morgenfrische, und die Alpen schauten kühlblau über die Mauern, welche zu beiden Seiten die Straße begränzten. Doch nur kurze Zeit genügte der Neugier von so jungen Reisenden das bloße Gehen. Sie wollten die Gärten hinter den Mauern sehen, und mit der Frage, ob es keinen öffentlichen gäbe, wandte Leo sich an einen Straßenarbeiter, welcher Steine klopfte.
Nein, einen öffentlichen gab es nicht, aber mit dem Gärtner eines naheliegenden Landhauses war er bekannt, und wenn die Signori dahin geführt sein wollten –
Die Signori wollten es sehr gern, und der Mann ließ seinen Steinhaufen liegen und eilte an ein nicht gar weit entferntes Gitterthor, wo er läutete.
Auf diesen Ton erschien jenseits des Gitters zuerst ein hübscher Hund, welcher den Anblick von Fremden mit freudigem Winseln willkommen hieß, dann ein alter Mann in einem Klapphut und in Schlapp-Pantoffeln. Es war der Gärtner, dem nun der Führer des jungen Paares dessen Anliegen vortrug.
Er lächelte wohlwollend und steckte einen rostigen Schlüssel in das knarrende Schloß des Gitterthores. Während dieses sich langsam öffnete, bot Leo dem Führer ein Fünfkreuzerstück. Der Mann küßte mit glänzendem Gesicht seine eigene Hand, nahm die Münze und entfernte sich wie mit der Eile der Freude.
Clotilde lächelte Leo verwundert an: »Für fünf Kreuzer!«
»Er fand sie am Wege«, antwortete Leo, auch lächelnd.
Das Gitter ging auf, der Hund stürzte heraus und sprang liebkosend an dem jungen Paar in die Höhe. Clotilde erwiederte seine Zärtlichkeitsbezeigungen überrascht und erfreut, und Leo sagte: »Das muß hier ein gastliches Haus sein – wir wollen nach Kirschen fragen.«
Er that es, der Gärtner antwortete: er werde gleich einen ganzen Korb voll pflücken, schloß wieder zu, schlurfte in seinen Pantoffeln davon und überließ es seinem Hunde, den Wirth zu spielen.
So waren sie zum ersten Male, die Beiden, allein, ungestört, abgeschieden, denn das Landhaus war, außer von dem Gärtner und dem Hunde, gänzlich unbewohnt. Wie gehoben, wie feierlich sie gingen, wie in einer andern schöneren Welt! Das alltäglich gebaute Landhaus schien ihnen ein Wunder von Geschmack, und der Garten nun erst, o, das war der Garten der Hesperiden!
Er war auch in der That lieblich und heimlich, der einsame Garten von Roveredo. Es hätte noch viel mehr daraus gemacht werden, Vieles noch ganz anders gepflanzt und geordnet werden können, aber Fichtenschatten, Rosenblüthe, Jasminschnee, Citronenduft, Thau, Glanz und Wärme, das Alles war zugleich mit der mährchenhaften Einsamkeit darinnen, und rings umher lag die blaue Bergwelt mit ihrer Morgenglut, ihren Oelbaumdämmerungen und den unzähligen weißen Flecken und Wohnungen, die sich an sie angehangen hatten, wie eben so viele Nester – der Garten konnte für alle vernünftige Menschen als ein höchst angenehmer Ort, für zwei Liebende aber, über denen die erste Stunde des Alleinseins schwebte, geradezu als ein irdischer Himmel gelten.
»Ich habe noch nie einen so glühendblauen Himmel gesehen«, sagte Clotilde.
»Ich habe noch nie eine solche Luft geathmet«, sagte Leo.
Der Hund jagte in weiten Kreisen um sie herum, über die Rasen weg und dahin an den Beeten.
»O, er wird den Thau stören!« rief Clotilde.
»Warum soll der Thau nicht ebensogut jetzt fallen, wie er sich in einer Stunde verzehren würde?« fragte Leo.
Eine Thräne löste sich von Clotilden's Wimper – war's um den Thau, der fallen oder sich verzehren mußte?
Der Gärtner kam und brachte einen großen Korb gehäuft voll von den frischesten, saftigsten, weißen Kirschen, und als Leo sich nach einem Platze umsah, führte der kluge Alte sie nach dem Citronenhause.
Das Dach war auch hier bereits abgenommen, die Bäume standen, schlank, glänzend und blühend, so gut wie im Freien. Ein von immerblühenden Rosen eingefaßter Springquell plätscherte auf dem schmalen Kiesplatze, der zwischen dem Citronenhause und einer dichten Hecke von Lebensbäumen und Fichten lag. An dieser Hecke, gerade vor dem Springquell, stand vor einer Bank ein Tisch. Auf diesen setzte der Gärtner den Korb, die Bank wischte er ab, und auf die Rosen zeigte er und sagte: »Wenn die Signora sich pflücken will – es sind ihrer genug.« Und damit schlurfte er abermals seiner Wege.
»Man kann sich wirklich in einem fremden Hause nicht mehr zu Hause fühlen, wie wir hier,« sagte Clotilde, indem sie den Hut abnahm und am Springquell niederkniete, um Rosen zu pflücken.
Leo kniete neben ihr nieder, sie sahen sich an, und es war wie ein Verlöbniß der Seelen.
Sie pflückten einen großen Strauß, banden ihn mit einer Epheuranke zusammen und steckten dann die Stiele in das Wasser. Der Hund guckte ihnen bei dem Geschäfte äußerst neugierig zu.
»Nun wollen wir essen,« sagte Clotilde und stand auf.
Aber sie aßen noch nicht, so verführerisch auch die Kirschen sie einluden. Sie hatten erst etwas Wichtigeres zu thun: sich zu sagen, wie sie sich liebten.
Wie sie es sich gesagt, weiß ich nicht. Daß sie aber einander verstanden hatten, daß sie trotz alles Stotterns, alles Zitterns, aller Verwirrung klug aus einander geworden waren, das hätte der einzige Zeuge ihrer Verständigung, der gute Hund, sehen können, wenn Hunde etwas von dergleichen Dingen verständen. So sah er nur, daß Beide nach einiger Zeit wirklich, anfingen, Kirschen zu essen, und da ein Hund von gutem Geschmack nie etwas gegen frische Kirschen hat, so bettelte das gescheidte Thier inständig winselnd um seinen Antheil, und Clotilde, großmüthig wie eine Glückliche, gab ihm mehr, als er begehrte.
Dann erinnerte sie sich, daß sie auch Eltern habe, und machte zwei große Sträuße von Kirschen. Einen, den für »Vaterchen,« gab sie Leo, den für die Mutter behielt sie. Die Rosen wollte Leo auch nehmen und holte sie aus dem Brunnen.
Der alte Gärtner war näher, als sie gedacht – er kam herbei, als sie ihn suchen wollten. Ueber alle Erwartung reich belohnt, blickte er gar freundlich auf das junge Paar und brach für Clotilde noch einen mächtigen blühenden Citronenzweig ab. Sie erglühte, als sie ihn empfing. War sie nicht Braut?
Am Thor küßte sie den Hund. Leo warf einen langen letzten Blick zurück und sagte aus tiefster Seele: »Segen über den grünen Garten von Roveredo!«
Am köstlich warmen Abend, der diesem Sonnentage folgte, saßen sie wieder neben einander, aber dieses Mal auf einer Steinbank an der Promenade. Die Eltern saßen bei ihnen, sie hatten eingewilligt und gesegnet, und Alle gemeinschaftlich redeten sie nun von der Zukunft. Ein Jahr bei Clotildens Eltern in Braunschweig, ein Jahr wieder bei Leo's Mutter, so sollte das junge Paar abwechselnd wohnen. Die neue Liebe ließ Alles möglich erscheinen, und während der Alpenkranz umher immer dunkelblauer und der Himmel oben immer lichtweißer wurde, zählten die glücklichen Eltern und die seligen Kinder die Tage, die da kommen sollten, und es waren lauter Tage der Freude. Selig sind, die da träumen!