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Das Leben hatte Peter Brandt gehörig umhergeworfen, ehe er fünfundvierzigjährig auf Mönchgut Boden faßte und sich hier aus den Trümmern eines großen Vermögens ein kleines Anwesen schuf.
Er war als unruhiger Geist umgefahren und hatte es bunt genug getrieben, nachdem die Eltern allzufrüh von ihm gegangen waren, nachdem er in langen düstern und leeren Zeiten den Tod der Mutter überwunden.
An ihr hatte sein ganzes Herz gehangen mit einer Innigkeit, daß er alles mitempfand, was an sie rührte, daß ihre Freuden und Schmerzen ihn durchdrangen, daß er mit ihr ihre Krankheit litt, daß ihr Tod ihn nur wie aus Versehen nicht mit sich nahm.
Sie war eine unscheinbare, in sich gekehrte Frau gewesen, mit glattem Scheitel und schmalen blassen 19 Lippen, ohne weiche Hand, ohne zärtliche Augen und an Worten karg, aber ihre Seele war mit Musik gefüllt, so tief und überströmend reich, daß es in ihrer Stimme wie in ihren Händen gleichermaßen Leben gewann.
Und Peter, der wie keiner auf sie lauschte, so versunken, so glücklich, mit so großen, unkörperlichen Augen – er war der einzige, der ihr jederzeit zuhören durfte, ihrem Singen wie ihrer Geige.
Sie fühlte sich dem Kinde verschuldet, es war ein Spätling, und sie hatte sich seiner geschämt, als sie mit ihm ging. Jetzt gab sie ihm größere Zärtlichkeit als sonst einem Menschen. Ihre Zärtlichkeit aber war Musik.
Als sie starb, war der Klang, der Wohllaut aus der Welt gegangen. Ein wirrer, rauher, heiserer Lärm durchtobte sie. Davor versteckte sich Peter. Und als er dann wieder herauskam, lärmte er mit, lauter noch als die andern, um von ihnen nichts zu hören.
Wilde Studentenjahre durchbrauste er, maßlos im Saufen und Raufen, langsam überwand er den Wust, und es dauerte Jahre, bis er stille Stunden wiederfand.
Dann packte ihn der Ehrgeiz, er wollte sein 20 Referendarexamen machen, zog sich zum Arbeiten auf eine Hallig zurück, fiel trotzdem mit Pauken und Trompeten durch, machte sich den schlechten Spaß, seine Examinatoren zu fordern, und wurde dafür auf die Festung geschickt.
Hier war sein Cello der Tröster seiner Unfreiheit, und er ging von da aufs Konservatorium, Musik zu studieren. Aber das behielt ihn nur kurze Zeit. Eines Tages reiste er plötzlich auf und davon, er fuhr ins schottische Hochland und ward lange nicht gesehen.
Danach ging er von neuem auf die Universität, diesmal als Medizinbeflissener, erfand eine neue ungeahnte Kinderbrutmaschine, die ihn, ohne weiteres Unheil anzurichten, die Hälfte seines Vermögens kostete, packte dann wieder ganz plötzlich seine Koffer und tröstete sich über die Verständnislosigkeit der Frühgeborenen wie der Erwachsenen, der »zu spät Gestorbenen«, auf einer Reise um die Welt.
Dann kamen endlich Jahre der Seßhaftigkeit und heißen inneren Ringens, Jahre künstlerischen Schauens und schöpferischer Arbeit.
Es war doch immer mächtiger in ihm geworden, allem inneren Widerstand, aller seelischen Scheu, 21 allem höhnischen Unglauben, aller Flucht vor sich selbst zum Trotze, etwas was in heimlichen Zeiten heranwuchs, immer mehr auf sein Dasein pochte und immer dringender Gestalt verlangte.
Von jeher hatten alle Schwingungen, alle Bewegungen, alle Erschütterungen, mit denen das Leben ihn traf, Klänge, Akkorde und Melodien in ihm ausgelöst, so sehr war er selber ein Instrument, auf dem sein Leben spielte. Und nun gewann es Form, fast über Nacht, und die Form ward mächtiger und ließ sich aus der Welt der Sinne nicht mehr verstoßen.
So schrieb er seine Musik nieder, so festigte er sie in Gestalten und hob sie über die Empfindung und den Augenblick in das Körperliche.
Das schreckte ihn erst, aber dieser Schreck war nicht der einzige Schauder des Schaffens.
Und dann stand es vor ihm, was er geschaffen hatte, selbständig, ein Eignes und ein Fremdes. Mit einer Art Haß stieß er es von sich, um es wieder voll Inbrunst an seine Seele zu reißen.
Jetzt begannen die Kämpfe um das Leben und das Glück des neuen Geschöpfes. Mit einer Tatkraft, die er für seine eigne Person nur selten in die Wagschale warf, mit einer Unempfindlichkeit gegen Mühsal, Enttäuschungen, ja Demütigungen, die ihm 22 bisher ganz ferngelegen hatte, bahnte er ihm den Weg zum Licht.
Er fand einen Verleger, der in ihm ein Geschäft witterte und nicht erlahmte, ihn der Welt als das neue Genie anzukündigen. Das peinigte Peter Brandt bis aufs Blut, aber er duldete es.
Und dann führten sie ihm seine Des-dur-Symphonie in Berlin auf. Es war ein lauter Erfolg. Die vielen waren entzückt von der melodischen Kraft und Fülle; die wenigen fanden hier und da noch mehr: Klänge aus der Tiefe, Rufe vom Grunde der Menschenseele, die noch scheu und verhalten klagten, sangen und sich sehnten, aber doch von dem Lebendigen, dem Jenseitigen Kunde gaben.
Nun packte ihn ein Rausch, im Fieber arbeitete er weiter, und der Gedanke an die andern, denen er schon einmal gefallen hatte, bekam Gewalt über ihn.
Sein zweites Werk weckte noch lauteren Widerhall. Aber gerade dieser Schall und Schwall brachte ihn zur Besinnung. Die Gesellschaft wollte sich seiner bemächtigen, die Berühmtheit legte Hand an ihn, man wollte ihn sehen, wollte von seinem Leben wissen, man bettelte ihn um seine Handschrift an, die Zeitschriften wollten sein Bild. 23
Die Oeffentlichkeit reißt dich aus dir heraus! Du sollst dir nicht selber mehr gehören –
Und deine neue Arbeit ist schlechter als die erste. Nein, mehr als schlechter – sie ist schlecht!
– »Und so gedenken wir in der nächsten Nummer über Ihre bahnbrechenden Werke sowohl wie über Ihren Lebensgang einen ausführlichen Artikel aus der Feder unsers Mitarbeiters, des Herrn Professor Ballermann, zu bringen. Dazu ist eine Reproduktion Ihres Bildnisses, auf die unsre Leser den größten Wert legen, vonnöten, und würden Sie uns durch schnellste Einsendung Ihrer Photographie zu Dank verpflichten!«
Den Teufel werd' ich tun! Er schrieb ihnen zurück, daß seine Visage ihm gehöre und nicht den garantiert fünfundsiebzigtausend Abonnenten.
Nein, er wollte sich selbst behalten, sich selbst zusammenhalten. Die Berührung der Oeffentlichkeit – das war es, was die Kraft von ihm nahm.
Grundschlecht war seine neue Komposition. Wenn auch nicht ganz so schlimm, wie die Aufführung sie machte. Was hatte sich nur der Dirigent darunter vorgestellt! Und all die vielen hundert Hände und Mäuler, deren es zur Darstellung dieses einen Werkes, seines Werkes, bedurfte! 24
War das überhaupt sein Werk, dieses Gehirnfrikassee von hundert Köpfen!
Und das Publikum hatte gerast. Gott sei Dank, daß es wenigstens nicht seine Schöpfung war, was der Pöbel bejubelte!
Seine Arbeit war schlecht, aber sie war doch trotz alledem sein Werk, sein Werk allein!
Allein – konnte er denn seine Kunst allein besitzen? Konnte sie denn ohne Laut, ohne das Laute und Tönende, ohne Hall und Widerhall, ohne das Weite, das Offene und das Oeffentliche ein Dasein führen? Diese Frage erfüllte ihn mit Grauen über sie und sich selbst.
Alle, die Dichter, die Maler, die Bildhauer, sie haben das Stille und Heimliche – seine Kunst ist laut, ohne Einsamkeit; wer sie schafft, der hört sie, und wie er sie hört, hören sie auch andre, gehört sie auch den andern!
Seine Kunst hat nicht die Reinheit der einsamen Stille.
Er wütete immer gründlicher gegen sich selbst. Immer wilder wurde sein Zorn auf die Welt, in die er hinausgeschrien hatte, was er für sich hätte hegen müssen; der Zorn auf die hundert Fiedelbögen, die den Sang seiner Seele zuschanden 25 gedudelt hatten, auf die tausend Ohren, die aus ihm herausgehört, eigenmächtig, roh und schonungslos, was sie selber wollten, und die sein Eignes zerrissen und verzettelt.
Und sie, diese andern – die hatten ihn verdorben! Was an seiner Kunst vielleicht echt war, die Hände, die Ohren der Menge hatten es verhunzt!
So wetterte er gegen die Welt und gegen sich. Und dann gab es eine praktische Aufgabe für ihn, die all seine Kräfte forderte: es galt, seine Symphonien der Oeffentlichkeit zu entziehen. Er löste unter schweren Opfern seinen Vertrag mit dem Verleger, der keine Exemplare mehr drucken lassen durfte, kaufte alles an, was noch auf Lager war, und jagte nun hinter die Bücher her, die in fremden Händen sich befanden. Im Laufe der Zeit brachte er alle in Sicherheit bis auf siebenundzwanzig von Opus I und vierunddreißig von Opus II. Und diese siebenundzwanzig plus vierunddreißig verdüsterten ihm noch viele Stunden seines Daseins. Die Welt aber, der er solcher Weise den Krieg erklärt hatte, war bald mit ihm fertig und legte ihn als heillos übergeschnappten Musikanten ohne weitere Umstände zu den übrigen, was ihn mit grimmigem Frohlocken erfüllte. 26
Dieser Art waren die Kreuz- und Quersprünge seiner krausen Vergangenheit, nach welcher er also zu ruhigerem und gefaßterem Dasein auf Mönchgut seßhaft geworden. 27