Max Dreyer
König Kandaules
Max Dreyer

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Todwund, als sei das Kreuz ihm gebrochen unter dem wuchtenden Willen des andern, verließ Hilmar das Auto, tastete am Geländer sich die Hoteltreppe hinauf und kroch in sein Bett. Und er lag den Tag über und die folgende Nacht hindurch in schwerstem Schlaf.

Matilde war, von Klaus aufgerichtet, gehalten, bezwungen gleichwohl nur schwer und langsam zur Isolde geworden. Er hatte dem Direktor und Regisseur in ihrem Namen mitgeteilt, daß sie sich nicht wohlfühle. Man war besorgt, hörte sie mit Nachsicht, dachte ein paarmal schon an ein Verschieben der Aufführung – mit dem zweiten Akt aber fand sie sich wieder, und dann blieb sie bis zum Schluß auf der Höhe.

»Nu packen Sie se mir bis morgen in Watte,« sagte der Erzengel zu Klaus. »Ich mache Sie verantwortlich.«

Matilde verließ mit Klaus das Theater. Draußen 284 sah sie sich nach allen Seiten um. Er deutete sich ihre Blicke.

»Wissen Sie, was das beste wäre?«

»Nun?«

»Sie kämen mit zu uns.«

»Heißt also, ich soll hinter Wall und Mauer gesetzt werden – vor meinem eigenen Mann.«

»Solange, bis er sich beruhigt hat.«

»Und glauben Sie, dies könnte ihn beruhigen? Und mich selbst? Alles würde so nur schlimmer. Es ist für mich doch eine innere Notwendigkeit, sobald wie möglich mit ihm ins reine zu kommen. Gerade unter diesem Ungewissen leide ich – und leidet meine Arbeit.«

Und nun teilte sie Klaus mit, was er längst geahnt hatte: daß Hilmar hinter die Heimlichkeit ihrer Geldsendungen gekommen war.

»Wer ihn versteht, versteht ja seine Erregtheit!« rief Klaus. »Und nichts gegen ihn! Aber – alles jetzt für Sie! Und ich kann mir nicht helfen –«

»Aber vielleicht kann ich mir helfen« – sie war fertig – »mir und ihm auch. Natürlich gehe ich heute nachmittag noch zu ihm ins Hotel.«

Klaus fühlte, hier ließ sich nichts biegen, nichts brechen. Mit tausend Sorgen nahm er Abschied von ihr.

Matilde suchte Hilmar auf. Hörte vom Pförtner, daß er vermutlich in seinem Zimmer sei. Ließ sich die Nummer sagen, ging hinauf, klopfte und bekam keine Antwort. Besorgt faßte sie die Klinke, 285 die Tür war nicht abgeschlossen. Sie trat ein und fand Hilmar in tiefstem Schlaf. Das war das denkbar Beste, so würde er am ersten wieder zu sich kommen, wieder Kraft und Klarheit gewinnen. Sie dachte nicht daran, ihn zu stören. Leise verließ sie das Zimmer.

Unten schrieb sie ein paar Zeilen für ihn nieder: »Du lieber Junge, ich war eben bei Dir – Du schliefst so ruhig und fest, und Dein Gesicht hatte den alten lieben Ausdruck. Morgen wirst Du die Welt wieder aus anderen Augen ansehen. Komm bald zu mir. Hab' mich lieb, sei mir nicht böse – ich hab' es gut gemeint. Deine Matilde.«

Als Hilmar am nächsten Morgen aufwachte, wußte er nicht, wo er war und was mit ihm war. Ein Reifen lag um seinen Kopf, eine Weile starrte er gedankenlos vor sich hin.

Dann machte die lange Ruhe sich geltend. Gestärkt gegen gestern und geklärt stand er auf, nahm ein Bad, zog sich sorgfältig an, frühstückte, alles noch halb mechanisch. Aber ein besonnener Wille fing schon wieder an, in ihm zu wirken.

Schlimm war nur, daß Zorn und Scham ihm immer wieder in siedenden Wellen zu Kopfe stieg. Der andere – hinausgebracht hat er mich – hinausgeworfen darf man ruhig behaupten – hinausgeworfen.

Und wie hab' ich mich verhalten, daß solcher Schimpf mich treffen mußte! Ein lästiger Eindringling war ich, der die Leute bei ihrer 286 Berufsarbeit stört – Hansfriedensbruch beging ich – dem, der mich so unauffällig hinausbefördert hat, muß ich noch dankbar sein.

Ein bitteres Lachen verzerrte seinen Mund.

Nun brachte ihm der Kellner den Brief von Matilde. Er las ihre Worte, bewegt, und dann wieder in Trotz ob seiner Rührung. Darf die weiche Weise ihn einlullen?

Du hast es gut gemeint – mit deiner geschäftlichen Fürsorge – wenn ich das gelten lassen will – aber ist dies das Einzige – das Schlimmste? Und – wer einmal lügt, dem glaubt man nicht –

Immerhin – Gewißheit ist not. Überrumpelt hab' ich Matilde. Wohl möglich, daß sie gar nicht recht klug aus mir geworden ist.

Noch einmal will ich von vorn anfangen, will alle Form wahren und will mich zurückhalten.

Darum bleibt doch Festigkeit Festigkeit, Forderung Forderung und Abrechnung Abrechnung.

Er machte sich auf den Weg zu Matildes Wohnung. Der Weg war mit allen guten Vorsätzen, so weit es in seinen Kräften stand, gepflastert. Er war entschlossen, auf alle Beweggründe zu hören, ruhig zu wägen, der eigenen Empfindsamkeit zu wehren. Gefestigt und geläutert erschien er sich selbst – und jetzt strömte auch eine Kraft ihm zu – kam sie nicht von dem Unverlierbaren, Unauslöschlichen, das unter dem Eingestürzten lebendig geblieben, das wieder blühend ans Licht wollte und sollte – das, was in seines Wesens Gründe 287 für Matilde eingesenkt war, für Matilde, sein Weib – –

Er fand Matilde nicht zu Hause. Ihr war die Zeit zu lang geworden, so hatte sie sich in aller Eile auf den Weg zu seinem Hotel gemacht. Der neugierig geschwätzigen Wirtin hatte sie nichts davon verraten. Hilmar hörte von dieser Dame nur, daß Frau Menander fortgegangen sei. »Vielleicht zu Ohlendieks,« fügte sie hinzu.

Wie ein Schlag traf ihn das Wort. Welk ward sein Mund in breitem, bitterem Lachen. Nun ja – da ist sie zu Hause – alle sagen sie es – alle wissen sie es – darf ich, der ich der Nächste bin, darüber verwundert sein? Und er geht dorthin, selbstverständlich, maschinenmäßig.

Vor dem Ohlendiekschen Hause. Das Mädchen öffnet. Frau Menander sei nicht da. Ob sie Herrn Doktor bei Frau oder Herrn Ohlendiek melden solle. »Bitte bei Herrn Ohlendiek.« Sie kommt gleich zurück. »Herr Ohlendiek läßt bitten.«

Durch einen Zeitraum der Leere muß Hilmar sich tasten, bis er sich Klaus gegenübersitzend in dessen Zimmer findet. Ihm ist entschwunden, was bisher gesprochen ist. Aus Ohlendieks Worten, den er jetzt reden hört, reimt er sich das wieder zusammen.

»– und nicht wahr – über das eine sind Sie sich doch selbst klar – heute mehr noch als gestern muß Ihre Frau vor jeder Erregung bewahrt werden. Nachdem sie sich mühsam wiedergefunden 288 hat. Ihre Stimme zu schützen und zu hüten bin ich da.«

»Sie sind nicht wahrhaftig, Herr Ohlendiek!«

In diesem Angriff, scharf, rücksichtslos, ehrenrührig, atmet Hilmar auf, spürt sein Herz stärker schlagen, in Rachsucht, in Kampfeslust, in gesundem Mannesgefühl, und freut sich, daß die Kraft ihm wiederkehrt.

Er hat geschlagen, hat verletzt, da drüben hebt sich der Stolz.

»Darf ich Sie bitten, sich darüber auszusprechen?« Klaus bleibt in der ernsten Güte. Gerade so aber gießt er Öl ins Feuer.

Und Hilmar spricht, heftig, stoßend, ungehemmt: »Die Stimme ist doch bloß Vorwand. Oder Mittel zum Zweck. Es ist Ihnen um meine Frau selbst zu tun!«

Kein Nerv zuckt in Klaus Ohlendieks Gesicht. Nur die Augen vertiefen sich schmerzvoll ins Unergründliche. Seine Worte bleiben in klarer Stille.

»Wollen Sie mir nicht freundlichst sagen, worauf diese Behauptung sich stützt?«

»Ist alles, was ich hier erlebe, noch nicht beredt genug! Aber hier –!« Er holt das Lichtbild aus der Tasche und schiebt es auf den Tisch. Unzufrieden schon und zornig über sich selbst. Wie kommt er dazu, sich verhören zu lassen! Er, der hier zu verhören hat! Und zu fordern!

Ein lächelnder Gram zieht über Klaus 289 Ohlendieks Mienen. Dann ein Aufwettern. »Das hat man Ihnen geschickt? Ohne Begleitbrief?«

Bei Hilmar ein kurzes, unwilliges Nicken.

»Haben Sie den Briefumschlag noch?«

»Nein. Und was soll das?«

»Allerdings für die Sache selbst ist es belanglos.«

Klaus hebt den Kopf. »Sie haben mir Unwahrheit vorgeworfen, Herr Doktor König. Ich hab' vor verletztem Stolz mich zu hüten, der nun einfach schweigen würde. Und ich will gerade reden, will Ihnen ganz gelassen meine Erklärung geben. Die Situation auf diesem Bilde, das Ihnen zu schaffen macht – wir beide gehen zur Probe – Frau Menander hatte ein paarmal den Übergang nicht getroffen in der Totenklage: ›Freunde! Seht! Fühlt und seht ihr's nicht?‹ – nun hatte sie ihn sicher – und sie sang ihn strahlend zu mir auf –«

Er sagt es gütigen Tones, in milder Nachgiebigkeit und sehr ernst zugleich. Dann aber wird dieser Ernst noch schwerer. Seine Stimme bekommt etwas Unnahbares, aber die Ruhe freundschaftlicher Güte verliert er nicht. »Die eine große Bitte habe ich jetzt an Sie. Daß Sie nicht an das rühren, was Sie nichts angeht.«

Hilmar fuhr zurück. »Und was ist das?«

Klaus sah ihm groß und klar ins Gesicht. »Das ist das, was ich für Ihre Frau empfinde.«

»Das – geht mich nichts an –?«

»Nein! Niemand geht das was an. Auch Ihre 290 Frau nicht. Meine Empfindungen für mich! Erst wenn ich sie preisgebe, hätten andere da hineinzureden. Was Ihre Frau mir ist – ganz und allein meine Sache! Damit haben Sie sich zufrieden zu geben. Und wenn ich jetzt ein Weiteres tue – und noch mehr mich offenbare: ich bin ein ganz unmoderner Mensch. Und habe noch über die Ehe die alten, unmodernen Anschauungen. Hätte sie vielleicht nicht, wenn ich selbst nicht – mit allzu großer Hypermodernität in allzu enge Berührung gekommen wäre. Aber so ist es nun. Und das ist es, was ich über unsere Sache zu sagen habe.«

Hilmar fühlt ein Zwingendes, eine Macht, aber dann widerstrebt er gerade dieser Macht und lehnt sich auf wie gegen eine Drohung, eine Fesselung und eine Machenschaft.

Und fragt sich: ›Ist das große Zugeständnis nicht gefallen?‹ ›Was ich für Ihre Frau empfinde – was Ihre Frau mir ist‹ – heißt das nicht mit nackten Worten: ich liebe Ihre Frau? Ob nicht solche Ehrlichkeit ihn, den Gatten, wehrlos und sorglos machen soll –?

›Jetzt muß ich Matilde sehen! Matilde sprechen! Nur im Zusammensein mit ihr kann alles sich lösen –!‹

»Um so mehr« – seine Worte schrillen –»hab' ich mich jetzt mit dem Empfindungsleben meiner Frau zu beschäftigen.«

»Und wieder bitte ich Sie, nicht jetzt. Ich sagte Ihnen schon, Frau Menander ist heute Isolde. 291 Sie werden das respektieren. Denn schließlich ist doch keiner mehr daran beteiligt als Sie.«

Hilmar fährt zusammen, starrt und keucht, seine Glieder fliegen. Da wird es Klaus bewußt – nach dem, was Matilde ihm gebeichtet hat – daß diese letzte Wendung unglücklich und mißverständlich war.

»Be–teiligt?« stotterte Hilmar mit wirren Augen – »Be–teiligt –«

Treuherzig tappt Klaus zu, ihm zu helfen: »Ich meine natürlich innerlich, seelisch –« Und macht es nur schlimmer, ganz schlimm –

Hilmar springt auf – er schwankt – Klaus will ihn stützen – ein wilder Stoß wirft ihn zurück – zur Tür hinaus stürmt Hilmar –

In seinem Hotelzimmer findet er sich wieder. Wie er dahingekommen ist, weiß er nicht.

Er fühlt nichts mehr als das große furchtbare Alleinsein.

Nun hab' ich nichts mehr auf der Welt. Nichts mehr als mein Brandmal. Das sie, sie selbst auch ihm, dem andern, aufgedeckt hat! Gebrandmarkt vor dem andern – er – als ein Ausgehaltener! Verraten, geschmäht, herausgeschleudert aus der Welt – allein – in der grausamsten, der schandbarsten aller Einsamkeiten –

Nichts mehr denken – nichts mehr –

Die Gedanken – langsam, kalt und klar fallen sie – wie gefrorene Wassertropfen. Und jeder 292 Tropfenfall erschüttert ihn mit bohrendem Schmerz bis ins Mark.

Er fragt sich, wie lange hält ein Mensch sowas aus? Und wenn nun der Tropfen den nur noch kümmerlich glimmenden Verstandesfunken trifft – wenn der zischend erlischt – wenn ich verrückt werde –?

Was liegt im Grunde daran? Es ist ja alles so gleichgültig – egal – alles egal – und schon besser blödsinnig sein, als von diesem immer wiederkehrenden, tropfenden, fallenden Schmerz sich zu Tode bohren lassen.

Er kann sich nicht aufrecht halten. Dieser Kopf, in dem das Gehirn vereist, der wie ein Eisklumpen wird, sinkt vorn über. So sterbensmüde – wie eine Schlafkrankheit ist es – nicht mehr erwachen –

Und wieder liegt er stundenlang wie tot.

Als er wieder zu sich kommt, ist es Abend geworden. Langsam kehrt die Besinnung zurück. Er blickt in die Wirklichkeit – sind ihre Schrecken nicht abgeblaßt? Der Schlaf ist nun doch mein Freund, sagt er sich, mein bester, mein einziger.

Er sieht nach der Uhr, es ist acht vorbei. ›Jetzt singt sie schon die Isolde,‹ denkt er. Aber der Gedanke ist nur ein huschender Schatten.

Nun verspürt er Hunger und Durst. Das erstemal, seit er in der Stadt ist. O, jetzt werden wir gut essen und gut trinken und uns gut anziehen dazu. Er bringt es fast zu einem spitzbübischen 293 Schmunzeln, als schlüge er aller Welt und dem Schicksal und sich selber ein Schnippchen.

Ja, ja, der Magen! Ohne Herz und Hirn kann man ganz gut leben. Der Bauch ist des Daseins Inbegriff. Und damit durchschwirrt seinen ausgemergelten Leib ein Grinsen müden und stumpfen Hohnes.

* * *

Aus den Toren und Türen des Opernhauses strömten die Menschenmassen, noch zusammengeballt von gleicher Bewegung, bis sie in einzelne Wünsche, Triebe, Richtungen sich zerteilten.

Manch einer, der beglückt zu dem Sternenhimmel aufatmete. Großes, Machtvolles war ihm widerfahren.

Einer, der nicht zu dieser Menschenflut gehörte und noch fremd und fern und wie abwesend in ihr herumirrte. Der in sie hineingeraten war, von einem dunklen, ihm kaum bewußten Zug hierhergezwungen. Hilmar König.

Laute Begeisterung drängte sich ihm ins Ohr. »Ja, die Menander« – »solche Isolde und solche Brangäne zusammen« – »kein Theater in Deutschland macht uns das nach, nicht Berlin, Dresden, München« – »Ohlendiek phänomenal« –»großartige Auffassung« – »ganz eigene« – »Klasse für sich« – »Menander« – »Valina« – »Menander« – 294

In Hilmars verwüstetem Hirn, durch das von Rotweins Gnaden die Funken des Eigenlebens sprühten, hob sich die lässige Abwehr: Menander – was geht mich das an – mein Name ist König –

Aber eine Springflut der Enthusiasmierten riß ihn mit fort, die nach dem Bühnenausgang hinstrebten, die Künstler mit lauten Huldigungen zu feiern. Und nun stand er wie festgemauert in dem Wall der Wartenden.

Ein paar von den niederen Göttern erschienen zuerst. Mit Wohlwollen wurden sie zur Kenntnis genommen, ihre Namen wurden beiläufig genannt, hier und da grüßte sie ein Bravo. Dann kam eine Weile nichts. Und die Spannung stieg.

Hilmars Augen schweiften über die Gesichter hin. Plötzlich machten sie schreckhaft halt.

Robert Löteisen – und wieder bist du zur Stelle – bist du ein Gespenst – mein Gespenst – dem ich nicht entrinne –?

Er wollte sich ducken – wollte es, um sich tatsächlich nur desto steiler in die Höhe zu richten. Aber der andere gewahrte ihn nicht – dessen Blicke lagen unverwandt auf dem Bühnenausgang –

Wie kommst du hierher? Ich denk', du bist in Holland. Bist du der fliegende Holländer? Mit krampfhaften Witzen versuchte Hilmar sich aufzupolstern.

Guck' doch einmal hierher. Wirst dich wundern. Deine Freude wirst du haben. Daß ich hier so 295 unter der Menge vor der Tür herumlungere. Ich darf da nämlich nicht hinein. Gestern haben sie mich da hinausgeschmissen. Und nicht bloß da – o, ich kann dir sagen, was Hinausgeschmisseneres gibt es auf der ganzen Welt nicht.

Er betonte sich selbst als den Depossedierten und Deklassierten – nach ausgelassenem Desperadotum langte er – ein Galgenlachen durchschütterte ihn.

Nun pfiff der Portier – zweimal nacheinander – das Signal war ihm bekannt. Zwei Autos wurden verlangt. Ein Wagen fuhr auf den Hof. Dann noch einer.

Und jetzt – auf die Stufen des Ausgangs tritt eine Dame – ein Herr folgt ihr – Matilde – und Klaus Ohlendiek.

Die Menge wogt auf – brüllt Hoch! und Hurra! Tücher wehen – die beiden steigen ein – Hingerissene stürzen an den Wagen, einen Händedruck zu gewinnen –

Hilmar ist auf die freie Straße getaumelt – durch sein Gehirn zieht es sich wie dunkle, blutige Streifen – von Verderben, Vernichtung, Tod – vor das Auto sich werfen – oder dem andern an die Kehle gehen – ja, ja – ihn würgen, würgen –

Das Auto, jetzt losgelöst von der Menge, kommt in schnelle Fahrt – es hupt wie wahnsinnig – entschlossene Arme packen den Schwankenden und ziehen ihn aus der Bahn –

Wie ein Irrer blickt Hilmar um sich – da steht 296 Robert Löteisen vor ihm – begrüßt ihn – spricht ihn an –

Er hört die ersten Worte nicht – durch den Ton, der freundlich unbefangen ist, klingt eine leise Verwunderung – da hat er sich ganz beisammen – und spricht gewandt, durchaus Herr der Lage, glaubhafte Lügen.

»Ja – ich sollte mitfahren – in dem Tumult haben sie mich nicht gefunden – nun, das ist erklärlich, nicht so? Es war doch eine Sache!«

Das Gedränge verläuft sich hinter dem ersten Wagen her, in dem die Hauptpersonen sitzen. Jetzt kommt das zweite Auto, Ausweichende trennen die beiden. Zwei bekannte Augen springen aus dem Wagen Hilmar an. Maja Valina.

Er starrt gebannt. Sie läßt halten. Steigt aus, nimmt grüßend seine Hand. »Wollen Sie mit mir fahren?«

Da steht Robert Löteisen. Gut, daß der dich sieht, deine Zusammengehörigkeit mit den Künstlern! Nun kann der nichts ahnen von dem Ausgestoßensein.

Er winkt ihm zu. »Ich fahre jetzt also nach! Auf Wiedersehen!« Folgt Maja in den Wagen, sinkt in die Polster, stammelt vergessen und verloren vor sich hin: »Er braucht es nicht zu wissen –«

Maja sieht ihn an, behutsam, schweigend. Sie weiß. Nach einer Weile sagt sie mit ihrer weichen Stimme: »Darf ich Sie bitten, mein Gast zu sein, Herr Doktor?« Und leise fügte sie hinzu: »Mir 297 ist es, als hätte uns – dieser Abend an einen Tisch gesetzt.«

Ein Unbehagen kriecht ihn an. Vor einem Ungewollten, Ungefragten, Ungebetenen, Aufdringlichen. Dann aber streckt seine Bedürftigkeit die Arme aus. Sein Elend zwingt ihn, seine Verlassenheit.

Hier bin ich ja nicht verlassen. Jemand ist bei mir. Eine Menschenseele fühlt mit mir. Hier ist Mitleid – und Mitleiden. Ja, Mitleiden! Und nur so darf man ein Mitleid sich gefallen lassen. So aber ist es gut.

Er weiß von ihrem Schicksal. Nicht nur dieser Abend, das Leben hat sie beide an einen Tisch gesetzt.

Und es hebt ihn, daß er nicht der einzig Geschlagene, Verstoßene, Unglückliche ist. Daß nicht an ihn allein der Trost sich heranmacht, daß er auch Trost zu geben hat. Er hat zu geben! Er ist noch nicht ganz verarmt. Er ist noch etwas. Noch lebt eine Kraft in ihm. Die stützen, halten, schenken kann. Und an der er selber immer mehr sich aufrichtet. Nun atme ich wieder in anderer freier Luft. Ich kriech' nicht mehr im Staube!

Er ist der Mann, der Herr, der Kavalier. Tut all dies Schwere, Dumpfe, Lästige des Schicksalhaften von sich ab. Bewegt sich leicht, unterhält seine Dame, plaudert.

Sie steigen aus, treten in Majas Wohnung. Der öffnenden Haushälterin gibt sie den Auftrag: 298 »Decken Sie bitte für zwei und machen Sie es festlich.«

Hilmar nimmt im Wohnzimmer Platz. Maja geht sich umzukleiden, auch sie will sich festlich machen. Er mustert den Raum. Da in der Ecke ein Madonnenbild mit ewiger Lampe, ein Betpult davor. Um das Bild ein Kranz von Reliquien, Andenken, Erinnerungszeichen.

Schnell ist Maja wieder da. In schmucklos einfarbigem schwarzen Abendkleid – gegen das Dunkel des Gewandes, des Haares, der Augen leuchtet das wunderbare Weiß ihres Leibes auf, blendend und betörend.

Sie kniet vor ihrer Madonna nieder und liegt im Gebet. Hilmar, ratlos, entsetzt, zornig, verstört – wie stößt dies Gehabe ihn ab – aber ist dies bloß Gehabe, ist es nicht mehr – das Fremdartige zaubert und lockt – und was ihn abstößt, reißt ihn dann nur um so heftiger selbst in eine schwüle, düstere, mystische Verzückung –

Seine Blicke schlingen sich um ihre kauernden und schauernden Glieder –

Nun erhebt sie sich – die Augen noch verschleiert und feucht – aber dann flammen sie, die Tränen verbrennen – seine Sinne brausen –

Die Hausdame öffnet die Tür zum Eßzimmer. Das Kristall der Sektgläser funkelt. Er küßt der Herrin die Hand und reicht ihr den Arm –

* * *

299 Ohm Ekbert tat seine Arbeit. Von dem, was zwischen Hilmar und Matilde geschah, hörte er nichts. Er hatte auf ein Wort wenigstens von ihr gehofft. Keine Silbe.

Heute endlich ein Lebenszeichen. Von ihm. Eine Depesche. »Oberst König Koninghof. Bitte heut zum Abendzug den Wagen an die Bahn. Hilmar.«

Nun würde er ja erfahren, wie es mit den beiden abgelaufen war.

Hilmar erschien, begrüßte den Ohm sehr ruhig, aber trocken und kurz. Das Gefühlsrege, das Beredte, geistig Bewegte seines Gesichts war wie erstarrt, die Anmut seines Mundes durch zwei tiefe Furchen wie abgegraben.

Von Matilde sprach er nicht, und Ohm Ekbert fragte nicht. Allgemeines wurde geredet. Dann, ohne Vorbereitung und Einleitung, wie ein Blitzschlag prasselte es vor dem alten Herrn nieder: »Ich hab' mich jetzt entschlossen, Koninghof zu verkaufen. Geld will ich in der Hand haben. Und nicht mehr an der Scholle festgeleimt sein. Selbstverständlich bekommst du ein Ruhegehalt. Und zunächst einmal werden – die Schulden beglichen.«

Das ging auf Matilde. Ihr Name wurde nicht genannt.

Darauf konnte Ekbert immerhin seinen Vers sich machen. Eine geschäftliche Verständigung zwischen den beiden war nicht erfolgt. Es schien, als sei er im Zwist von ihr gegangen. Bedeutete das ernstlichen und dauernden Unfrieden? Was war 300 dauernd bei Hilmar? Seine Plötzlichkeiten waren ihm jedenfalls treu geblieben. Die auffällige Veränderung in seinem Äußeren deutete freilich auf tiefe und heftige Erlebnisse. Seinem jähen Entschluß aber legten schon die Zeitverhältnisse den Hemmschuh an.

Unter allen Umständen würde er, der Ohm, mit größter Sachlichkeit an diesen abenteuerlich neuen Plan herantreten. Alle ethischen Einwände hielt er wohlweislich zurück. Pflichtgemäß gab er in größter Ruhe seine wirtschaftliche Aufklärung.

»Die Zeit für den Verkauf ist so schlecht wie nur möglich gewählt.«

»Ich wähle ja nicht die Zeit. Die Zeit ist einfach da.«

»Du sagst, du willst Geld in der Hand haben.«

»Das will ich.«

»Du müßtest es also bekommen. Aber du bekommst es nicht. Denn keiner hat jetzt was.«

»Lächerlich! Wenn wir uns mit einer Anzahlung begnügen! Das übrige bleibt eben stehen. Ich kriege die Zinsen.«

»Und wenn du sie nicht kriegst? Zinsen und Zahlen ist heute mehr als je zweierlei.«

»Möglich, daß man was riskiert – wo tut man das nicht – aber das kann doch an meinem Willen nichts ändern. Ich hock' hier nicht länger herum. Hier werd' ich verrückt. Da draußen – hab' ich, was ich brauche.« Und ein wilder, 301 unbesonnener Trotz stieß hervor: »Ich bin entwurzelt, so will ich es auch ganz sein!«

Er schrak nun doch zusammen, daß er sich so rückhaltlos offenbarte, und warf sich wieder in die Geldgeschäfte. »Wir werden uns also an einen Gütermakler wenden. Weißt du einen?«

»Nein.«

»Dann hab' doch die Güte und erkundige dich gleich. Wir packen die Sache sofort energisch an. Und nun entschuldige mich, ich bin sehr müde.«

* * *

Spät kam er am anderen Vormittag zum Vorschein, mit dumpfem Schädel. Der Ohm war längst bei der Arbeit. Auf dem Frühstückstisch fand er einen Brief – von Matilde.

Hilmar stierte die Schrift an. Jetzt fuhr er auf wie aus schwerem Schlaf. Hart, drohend, grausam stellte sich sein Leben vor ihn hin. Er schob das Schreiben beiseite. Mechanisch schenkte er den Kaffee sich ein. Er wollte trinken und brachte die Tasse nicht an den Mund.

Und nun ging er sich selbst zuleibe. Zu feige, den Brief aufzumachen! Er zerriß den Umschlag. Und las: »Hilmar, Lieber, nun weiß ich schon lange Tage lang nichts von Dir. Wie ist es möglich, daß Du nicht bei mir warst, als ich den Kopf wieder frei hatte! Die ›Isolde‹, kann ich Dir sagen, 302 verlangt ungezählte Pferdekräfte. So war ich kein Mensch mehr – und Du bist nicht klug aus mir geworden. So wenig wie ich aus Dir. War nicht etwas Fremdes zwischen uns gekommen – fast ein Bösartiges? Wie können wir das zwischen uns dulden – wie können wir soviel Zeit darüber vergehen lassen, es aus dem Wege zu räumen! Auge in Auge wir beide miteinander – alles klärt sich und löst sich, und alles ist, wie es war. Du bist doch jetzt in Koninghof! Kommst Du nicht zu mir, komme ich zu Dir. Immer Deine Matilde.«

»Immer deine Matilde« – er wiederholte es wie ein Echo. Immer – er wollte höhnen über die Ewigkeiten des Lebens. Dann aber schlug ihn sein Schmerz, daß er sich aufbäumte.

Immer – ich glaube es nicht. Glaubte es auch nicht, wenn ich jetzt nicht selbst gegen das ›immer‹ gesündigt hätte – mehr und anders als du –

Aber nicht ich – du warst es, du, die zuerst von mir sich löste. Mit der einen Heimlichkeit begann es – und aus Betrug wird Betrug –

Wieder las er den Brief, Wort für Wort. Nichts von einem Schuldbewußtsein war darin zu spüren, nicht das leiseste. Nichts von dem Gefühl, daß er damals vor sie getreten war, Abrechnung mit ihr zu halten. Ist es der Hochmut des guten Gewissens, ist es die List des schlechten –?

O, ich weiß jetzt auch ein Lied davon mitzusingen, welche Luft da bei euch am Theater weht. Wie ist sie mir zu Kopf gestiegen, wie hat sie mich 303 betäubt, überwältigt – und die Sehnsucht mir eingebrannt in die Sinne.

Und sind wir nicht alle von Fleisch und Blut?

Was sang der andere doch für eine getragene Weise von der Ehe und ihrer Heiligkeit. War es ihm ehrlich damit? War es eine der erlaubten Kriegslisten? A la guerre comme à la guerre - à l'amour comme à l'amour -

Wie hatte doch Maja von ihm, dem anderen, gesprochen, die ihn einigermaßen kennen mußte. Gar nicht um zu hetzen – was sie sagte, war vielleicht ebenso gut auf ihn, Hilmar, selbst gemünzt – »vor einer großen Leidenschaft bricht auch das steifbeinigste Philistertum in die Knie«.

Und ›die große Leidenschaft‹ – war sie zwischen den beiden nicht am Werk? Hatte das berühmte seelische Band sie nicht schon so stark umschlungen – so innig, daß der andere das Recht sich nahm und üben durfte, sie vor ihrem eigenen Manne in Verwahrung zu halten? Der ganz einfach auf die Straße gesetzt wurde?

Ein Sturm raste ihm durchs Hirn. Daß der andere noch lebte – was war aus ihm, Hilmar König, geworden!

Aber der größten Erniedrigung war er nun doch entgangen. Die Leidenschaft war bei den beiden am Werk – sie wuchs nach natürlichen Gesetzen, bis sie ihnen über den Kopf wuchs. Noch war das letzte nicht geschehen. Mit dem letzten aber war er ihnen zuvorgekommen! 304

›Wer nicht betrogen sein will, muß betrügen –‹ ist das nicht die Formel, auf die sich das ganze Kräftespiel dieses Lebens bringen läßt?

Dies alles will er Matilde schreiben. In einer Antwort, die nichts verhüllt. Die volle Wahrheit soll zwischen ihnen walten. Wie der Anfang, soll das Ende sein.

Denn es ist das Ende. Nichts sich vorgaukeln lassen – nichts von der Fata Morgana eines Sichwiederfindens! Nichts von den verlogenen Sentimentalitäten der Irrungen und Wirrnisse, aus denen erst der rechte Weg führt zum tränenbetauten und dann ungetrübten Glück. Sie beide haben den Mut und den Stolz der Wahrhaftigkeit. Sie, die sich nicht mehr ganz haben, wissen, daß sie sich nun auch ganz verlieren.

Nichts Empfindsames! Keine Rührseligkeiten! Keine Wollust der Tränen! Das Bild der sündenheißen Beterin steigt vor ihm auf –

Sein Herz verkrampft sich. In der Seele sitzt der tödliche Schmerz. Aber durch die Sinne flattert die Lockung –

All dies soll Matilde wissen. Er setzt die Feder an. Aber da er schreibt, ist es ihm, als rinne mit den Silben sein Blut dahin. Als müsse er sterben an diesen seinen Worten, die ihn für immer von ihr scheiden. Als seien sie seines Lebens Ausgang.

Nun, um so besser! Was liegt daran! Und doch – solange die Funken der Lust noch im Blut ihm knistern – 305

Und er zwingt sich die Feder in die Hand und schreibt. Schreibt es nieder, das brüske Bekenntnis, von dem, was mit ihm geschehen ist – mit ihm geschehen? Will er sich verstecken hinter der Begebenheit? Die seine Tat ist? Ja, er hat es getan, mit dem vollen Bewußtsein des Erlebens. Und unter seinen Freuden – ein Triumph war dabei, ein Hochgefühl der Rachsucht. Nicht der Betrogene, der Betrüger bin ich!

Wer nicht betrogen sein will, muß betrügen!

Er liest, was er geschrieben hat – und zerreißt es in tausend Fetzen.

Es tut ihr weh, es macht ihr Pein, es besudelt sie! Unsauberes soll nicht an sie rühren. Heilig will er sie halten. Heilig die Gemeinschaft, die ihn einst mit ihr verband. Heilig, heilig die Erinnerung an sie und ihre Liebe.

Aber er darf der Erinnerung nicht erliegen. Darf sich nicht in sie einsenken. Dann ist Wahnsinn sein Los – dann verdorrt er, verwelkt und stirbt hin.

Fort aus dem Bezirk dessen, was einmal war. Weiter hinein abenteuern in seine neue Welt, hineintaumeln in die Vergessenheit.

O, er ist nun doch nicht in Verlassenheit begraben. Es gibt eine Brust, die für ihn schlägt. Zwei Arme, in die er sich flüchten kann, vor aller Bedrängnis, allen Geistern der Vergangenheit. Es gibt einen Mund, auf dem alles Denken verbrennt. 306

Seine Sinne verzücken sich, sein Blut siedet. Morgen geb' ich hier noch die nötigen bestimmten Anordnungen für den Verkauf. Dann will ich wieder zu ihr.

* * *

Aber am nächsten Tage geschah es, daß ihm ein zweiter Brief gebracht wurde aus derselben Stadt, doch von anderer Hand. Und dies war sein Inhalt: »Du Lieber, warum bist Du nicht bei mir geblieben? Was Du sagtest, von dem Glück, daß sich erst einmal ganz für sich ausschwingen müßte und von der Bestellung deines Hauses – inzwischen ist mancherlei geschehen. Ich gehe nach Südamerika. Bin ganz plötzlich in den Vertrag einer erkrankten Kollegin eingetreten. Unerhört glänzende Bedingungen. Will da drüben auch Filmmöglichkeiten wahrnehmen. Setz' Dich gleich auf den Zug, mir Lebewohl zu sagen. Übermorgen geht der Dampfer. Oder noch besser – fahr' mit mir! Dein Zigeunermädel.«

Hilmar blickte wirr, konfus, geradezu ärgerlich blöde, wie jemand, der in eine Karnevalszeitung sieht und die Witze nicht versteht.

Allmählich erst schwand ihm der Boden unter den Füßen und er sank, versank in eisige Tiefen.

Es schien, als hätte er nicht die geringste Lust, aus dem Nichts wieder aufzutauchen. Als er dann wieder in die Bewußtheit emporstieg, war er vom 307 Untergang wie gezeichnet. Aus hohlen Augen blickte er in eine hohle Welt.

Es war, als wenn ein Toter wieder zum Leben erwachte, zu einem Leben, das ihm fremd geworden, in dem er sich nicht mehr zurechtfinden konnte, mit dem er nichts mehr zu schaffen hatte. Die Glieder noch in der Starrheit, mühselig und gebrechlich. Und in dem welken Kopf diese Stiche schmerzlichster Pein.

Was ist aus dem kochenden Blut geworden? Eisnadeln splittern ihm im Hirn.

Er umspannt den Schädel mit beiden Händen, möchte ihn zerquetschen und den Schmerz zermalmen.

Ich bin ja nichts, rein gar nichts mehr – was will denn nun der Schmerz noch von mir?

Nichts mehr bin ich – da nun auch der Abenteurer kläglich abgestürzt ist. Was hat er auf diese phantastische Liebschaft sich zugute getan! Was glaubte er für ein neues Talent in sich entdeckt zu haben.

Nun kriegt er auch hier seinen Laufpaß. ›Komm mir Lebewohl sagen‹ – diese freundliche Einladung zu einem letzten Amüsement erreicht ihn zu der Zeit, wo sie schon auf den Dampfer sich begibt. Und dieses letzte Anhängsel: »Oder noch besser, komm mit« – wozu noch dieser Hohn?

Allerdings – er selbst, er selbst ein Anhängsel, und ist nie etwas anderes gewesen. Ein Anhängsel in der Wissenschaft, ein Anhängsel in der Ehe, in 308 der Gutswirtschaft, in der Liebschaft – immer ein Anhängsel, und ein lästiges, das entfernt werden muß –

O, du liebes Bißchen! Allen, allen ist das Dasein so gelind – und ich wollte ja ohne Klage eingehen in meine Wesenlosigkeit – wenn nur diese alten bitterbösen Schmerzen mir nicht das Hirn zerfetzten –

* * *

Nebel und Nebel, tagelang. Für Hilmar wie ein Geschenk, wie eine Heimat für ihn. In diese grauen Schleier, die alle Farben und Formen, die alles Leben auslöschen, hüllt er sich ein, mit ihnen wandert er, in ihnen schwebt er – in sie löst und befreit er des Daseins Wucht und Zwang. In ihnen kühlt und feuchtet sich das brennende Gehirn. In sie verdampfen und verdunsten die stechenden, reißenden, kratzenden Schmerzen der armen Schädelhöhle.

So wird er selbst zu einem Nebelgespenst. Und gespenstische Launen wandeln ihn an.

Ein Licht lockt ihn, da er so herumgeistert. Aus dem Kantorhaus kommt der Schein, dem Spukhaus seines Schicksals. Dir will ich jetzt erscheinen, du alter Wahrsager und Zeichendeuter. Hast recht gehabt, es war zu schwer für meine schmalen Schultern. Aber zum Triumphieren langt es nicht bei dir, da du selber längst auf der Nase liegst – ja, 309 ja, nun ist Feindschaft das letzte, was ich habe, mein letztes Gut. Aber hat sie damit nicht aufgehört, Feindschaft zu sein?

Mir kann jetzt nichts mehr geschehen – dir auch nicht, Manuel Löteisen. Zwei Schatten, die sich begegnen, die sich finden. Auch Schatten lieben die Geselligkeit – die Gleichheit, die Verwandtschaft tröstet auch sie. Auf zum Schattenspiel!

Schatten schlagen nicht mehr aufeinander ein, verletzen sich nicht. Tun sich nichts zuleide –

Schatten höhnen sich nicht und fühlen keine Schadenfreude – Schatten haben Korpsgeist – Schatten halten zusammen.

Er tritt in Manuels Zimmer. Er findet den Alten im Lehnstuhl am Ofen, die Decke auf den Knien. Er reicht ihm die Hand und setzt sich bei ihm nieder, wie ein müder Wanderer, der heimgefunden hat. Und aus den Augen Manuels, da sie den Ankömmling umfangen, seine Erscheinung sich deuten, seiner Züge Runen verstehen, aus diesen Augen, durch die soviel Gluten hingetost sind, soviel an Schmerz, Verzweiflung, leidenschaftlichem Glück, an Haß und Verwünschung, grüßt es jetzt wie der matte Abendschein eines heimatlichen Willkommens.

So sitzen die beiden wie Weggenossen am Ausgang und Ende lebenslanger Wanderung, schweigend, in tiefer Andacht vor erfülltem Geschick.

Und Hilmar atmet ein unbekanntes Glück der Stille.

Bleibt auch ungestört, unbewegt und läßt sich 310 nicht aufscheuchen, als Robert bei ihnen sich einfindet, der gestern zu Besuch gekommen ist, sein Jugendfeind.

Auch in Roberts Augen, den begreifenden, ist längst nichts mehr von Haß und Kampf. Und Hilmar ist es, der unwillkürlich und wie von selbst das Gespräch auf Fachgenossenschaftliches bringt. Aber die eigene Stimme klingt ihm wie aus weiter Ferne, und es ist ihm, als spräche ein anderer.

»Und du bist jetzt auf dem Wege nach Utrecht?«

»Ja.« Und nun schoß Robert etwas durch den Sinn. Es war nicht nur der Stolz, das Selbstgefühl, die Genugtuung eines großmütigen Gefühles – eine wirkliche Hilfsbereitschaft ließ alle hämischen Regungen hinter sich und bot dem die Hand, der einst so hoch zu Roß saß und nun am Boden lag. »Wie wäre es, wenn du mitkämst –?«

»Ich – soll mitkommen –?«

»Ja. In Holland wird für germanische Archäologie jetzt mehr als anderswo getan.«

»Das ist vielleicht ein Gedanke.« Er sagte tote Buchstaben her.

Dann fuhr es ihm durch den Kopf – ›Robert Löteisen protegiert dich – Robert Löteisen macht dich zu seinem Assistenten‹ – wie eine blanke Klinge stach es und schnitt – und schnitt sein Hirn mitten durch –

Er spielte mit den Fingern, wie es Irre tun. »Ja – wenn du eine Assistentenstelle für mich hast –« 311

Das Gesicht blieb milde und wie versonnen. Aber die Fieberglut raste über seine Stirn – dann flog er in Frostschauern und seine Zähne schlugen aufeinander –

»Was ist –?« fragte Robert.

»Mir war – schon die ganze Zeit nicht gut –« konnte er noch ruhig erklären. Dann aber brodelten die siedenden Fieberphantasien auf.

»Ja – aber ich muß noch mal nach Griechenland – da hab' ich doch was vergessen – meine wichtigsten Aufzeichnungen – am Fuße der Pnyx hab' ich sie liegen lassen – nein, nein, in Mykene – im Hofe – der – Königsburg –«

Stöhnend faßte er sich an den Kopf und sank zusammen.

Robert bettete ihn auf dem Sofa. Zum Arzt wurde geschickt. Er war schnell da und stellte eine schwere Gehirngrippe fest.

Ohm Ekbert kam mit Fuhrwerk und holte den Kranken nach Hause.

* * *

Hilmar schlief fast immerfort. Die kurzen Pausen des Wachseins waren qualvoll. Der arme Kopf wußte dann vor Schmerzen sich nicht zu lassen. Eiskompressen halfen nur wenig. Das Fieber war hoch.

Ekbert war drauf und dran, Matilde zu 312 depeschieren, da zeigte sich leise Besserung. Der Kranke blieb längere Zeit wach, der Zustand war nicht mehr so schmerzvoll, die Temperatur sank auf 38.

Der Doktor meinte, »Ich glaube, wir haben die Krisis hinter uns.«

Ein altes treues Hausmädchen versah die Pflege. Ekbert saß jetzt oft und lange am Krankenbett. Er wartete darauf, daß Hilmar nach Matilde fragen sollte. Es geschah nicht.

Er redete nur von Erlebnissen, die vor seiner Ehe lagen. Es war, als hätte seine Schmerzempfindlichkeit sich abgeriegelt und hütete sich, die Schwelle der neueren, verhängnisvollen Zeit zu übertreten.

Zeiten hatte er, wo er ohne Beschwerden und gerne sprach. Fast schien es, als ob er dadurch sich erleichterte. Er bevorzugte dafür die Dämmerstunde, die er möglichst ausdehnte.

Durch die Fenster schien der Jupiter auf sein Bett. Die blassen Hände suchten nach dem Lichtstreif. »Mit dem Stern hab' ich schon als Junge besondere Fühlung gehabt. Daß mit ihm gerade – woher mag das kommen? Es müßte schon unser königlicher Name sein. Und der Königsche Hochmut, mit dem wir alle uns tragen. Du auch, Ohm Ekbert.«

»Ich sehr.«

»Aber sonst hab' ich doch eigentlich nichts von dem Donnerer Zeus. Und Joviales besitze ich doch auch wohl nicht gerade. Ebensowenig, wie ich an 313 Liederlichkeit mit dem alten Göttervater mich richtig messen kann.«

Ekbert freute sich an den stillen Lichtern, die hier und auch sonst in seinen Worten spielten, und glaubte sicher, er wäre über den Berg.

Am nächsten Tage aber fand er einen anderen Ausdruck in den Zügen. Ein schärfer und trotziger zugespitztes Gedankentum wechselte mit müder Trauer.

Und er, der schon über der Erde schwebte, sprach: »Weißt du auch, daß das Sterben, daß jedes Sterben nichts anderes als Selbstmord ist? Der Tod kommt erst, wenn der Lebenswille nicht mehr da ist. Wenn Not, Schmerzen, Müdigkeit die Überbilanz haben. Wenn die Wage nach dem Aufhören sich senkt. Der Tod besucht uns nicht, bevor wir selbst ihn einladen. Und ist das nicht ein Großes, Schönes, Versöhnendes? Wir, die wir ungefragt in diese Lebensform gegossen werden – in unserer Macht und nur in unserer Macht steht es, diese Form zu verlassen. Nur mit unserem eigenen Einverständnis geschieht es. Ich sterbe nicht – freiwillig gebe ich dies Dasein auf. Auch ich hab' jetzt am Scheideweg gestanden. Ich will nicht mehr. Ich mag nicht mehr – in der alten Richtung weiterschreiten – ich mag nicht mehr – ich will – die neue – Flugbahn – will ich –«

Seine Rede verdämmerte, sein Blick trübte sich, die Lippen stammelten und zuckten. Ekberts Ohr 314 beugte sich hinab – es vernahm wie einen Hauch das Wort, den Wunsch: »Matilde« –

Zwei Telegramme. Ein dringendes an Matilde: »Hilmar schwer erkrankt.« Ein anderes an den Internisten der nahen Universitätsstadt.

Der Professor kam. »Für mich ist hier nichts mehr zu tun.«

Matilde fand Hilmar noch atmend. Aber er lag ohne Bewußtsein. Sie nahm die welken, abgezehrten, kalten Finger in ihre warmen, weichen, blühenden Hände – »Mein Junge, mein armer, lieber Junge« – sie zog sie an die Lippen, ihre Tränen fielen darauf.

Da zuckte es in seinen Lidern. »Hilmar – mein Hilmar –«

Der Liebesklang strömte ihm in das erlöschende Herz – das Letzte seines Lebens flutete noch einmal zurück in seine Pulse. Die Augen taten sich auf, sie sahen, sie erkannten, Licht war in ihnen und Glück. »Du – du –«

Auch das Wort ward lebendig. »Wie ich zuerst dich sah – und dich hörte – das Gurrelied –« Und wie eine Bitte hauchte es noch einmal – »das Gurrelied –«

Sie schluchzte – ein Singen wollte es nicht werden – »Nun dämpft die Dämmerung jeden Ton –« und dann brachte sie die Schlußzeilen über die Lippen, und jetzt kam doch die klingende Weise in die tränendurchschauerten Worte: 315

»Und es treibt mich zu mir selbst zurück
Stillfriedlich sorgenlos.«

So zitterten die letzten Schwingungen aus von Hilmar Königs feingespanntem, zu fein gesponnenem, schmerzlich zartem, eigengestimmtem Dasein.

Seine unsterbliche Seele aber zog in die Strahlenbahn seines Sternes.

* * *

Matilde wollte längeren Urlaub haben. Der Gedanke an das Komödienspiel vor dem Menschenvolk da draußen war ihr unerträglich. Und dann – mehr als je war jetzt Koninghof ihre Heimat.

Sie wurde sehr höflich und aufs dringendste gebeten, auf den Urlaub zu verzichten, da sie unentbehrlich sei.

Sie machte sich hart, dachte, was Klaus zu einer Pflichtverletzung sagen würde, fuhr zurück und übernahm wieder ihre Arbeit.

Die Isolde mußte sie singen, diese erinnerungsschwere Rolle. Ihre Stimme klang ihr selbst leer, hohl, leblos. Klaus sagte kein Wort darüber. Aber sie las dasselbe Urteil in seinen Augen.

Ohlendieks schlossen in ihre ganze Herzlichkeit sie ein. Im Schaffen aber war Klaus der Unerbittliche, Unbestechliche. Nur daß er ihr Zeit gab und sie schonte. 316

Das duldete sie nun selbst nicht länger. »Mit meinem Singen ist es aus,« erklärte sie eines Tages. »Ich werde jetzt den Mund halten und nach Hause gehen.«

Sein Gesicht war undurchdringlich. Nichts zeigte ihr, was das für ihn selbst bedeutete. Er suchte nach dem Wort. Dann sagte er kühl und wie über den Dingen, in dem unpersönlichen Ton der Sentenz: »Was ist das für eine Kunst – in die nicht unser ganzes Leben einströmt – mit all seinen Erschütterungen. Wir sind nur Künstler von Schmerzens Gnaden.«

Und das traf sie. Da er selbst als lebendiges Zeugnis vor ihr stand. Trug er vom Leben nicht eine viel tiefere Wunde? Er hatte sein Herzblut einströmen lassen in seine Kunst. Und welch ein Künstler war er geworden!

Das, was sie konnte – es war ihr alles so angeflogen, sie hatte niemals darum zu ringen gehabt. Und war es deshalb nicht an der Oberfläche geblieben? Sie dachte an das, was ein alter Kritiker von ihr gesagt hatte: »Frau Menander singt wie der Vogel singt. Das ist ihr Vorzug und ihre Schwäche. Wünschte man nicht manchmal, daß der unvergleichliche Schmelz dieser Naturstimme so etwas wie die Scharten tieferen menschlichen Erlebens trüge?«

Drück' deine Kunst dir an das wunde Herz! Gib deine Schmerzen an sie hin – erleb' all deine Schmerzen noch einmal in ihr und mit ihr 317 – ja, das tut doppelt weh – aber damit befreist und erlöst du dich auch selbst – und nur in dem Leiden bis zur Selbstvernichtung, in dem ›stirb und werde‹ erlöst sich deine Kunst.

Jetzt sprangen neue Quellen und tiefere Bronnen rauschten. Nun erst wurde ihr Gesang lebensecht und lebensstark, wurde wesentlich und von ihr ein lebendiger Teil.

Sie sang anders. Dies andere mußte neu gefaßt, neu geschult, neu geformt, neu gestaltet werden. Jetzt, da sie ihre Stimme durchlebte, fing sie erst an, sie von Grund aus durchzuarbeiten.

Arbeit, harte, unermüdliche, unerbittliche und glückliche Arbeit füllte das nächste Jahr. Klaus, der selbsterleuchtete, der kundigste und treueste Freund, stand ihr zur Seite.

Jetzt wurde die Künstlerin fertig. Und ihre Isolde, schmerzgeboren, nahm nach Jahresfrist denn doch noch etwas anders sich aus!

Sie bekam einen Antrag aus Berlin. Klaus, stark, innig, gefestigt, wünschte ihr Glück.

»Ja, glauben Sie, ich könnte von Ihnen gehen?«

»Sie brauchen mich nicht mehr.«

Groß sah sie ihn an. Nein, du – anders bist du nun doch als Vater Manuel, dem ich davongeflogen bin – anders auch als Hilmar, der liebe, unvergeßliche Junge, der mich nicht behalten konnte und nicht behielt.

»Immer brauche ich Sie,« sagte sie still.

Da ward mit einemmal der ganze, schwere, 318 versunkene, vergrabene Mann frei und leuchtend wie der Sonnengott.

So fanden sie sich zusammen. –

Ein Jahr später. Die übermütigen Sonnenfeuer des Vorfrühlings sprühten und spritzten über die schäumende See und wetzten tausend Lichtfunkenfarben aus den zerstäubenden Kronen. Der Lichtklang schwirrte seinen Lebensruf durch die zitternden Gräser, die schauernden Sträuche, die erwachenden Baumwipfel. Die Ackerschollen dampften sonnenwärts.

Da fuhr ein Wagen über die Heide, dem Turmhaus entgegen. Eine Dame hatte die Zügel. Neben ihr saß Ehrenfried, der alte Kutscher von Koninghof. Er hatte Matilde von der Bahn geholt. Den Ohm fesselte die Frühjahrsgicht im Zimmer.

Nun schwenkten sie ins Dorf ein. Vor dem Kirchhof hielt Matilde, gab Ehrenfried die Leine, stieg ab. Sie ging zu Hilmars Grab. Es lag ganz unter blühenden Schneeglöckchen. Sie war zufrieden mit dem Schmuck und stand vor der Ruhestätte, still und hingegeben.

Der Ohm vergaß über der Freude des Wiedersehens alle Schmerzen. »Ja, mein Liebes, der Altersspruch schwebt nun einmal über mir: ›Märzenwind und Herzenkind für dich nichts mehr zum Scherzen sind.‹« Aber er war guter Dinge, weil es gut um Koninghof stand.

»Weißt du, daß ich jetzt hierbleiben werde?«

»Matilde!« 319

»Ich kann es ja nicht verschwören, daß ich nicht dann und wann einen Ausflug in die Kunst mache – das Wort ist von dir, du Bösewicht! Aber da Klaus nun mal von uns beiden der größere und echtere Künstler ist – und so leicht wird das Miteinander in einer Künstlerehe zum Gegeneinander – darum stell' ich mich zur Seite. Und zieh' mir wieder die langen Stiefel an. Zunächst aber und vor allem – und in dieser Kunst bin ich Klaus nun doch über – habe ich jetzt ernstlich damit zu tun, Koninghof einen Erben zu schenken.«

»Matilde! Einen Jungen! Ja, ja, einen Jungen!«

»Ich werd' mir alle Mühe geben.«

Ihre Mühe wurde gekrönt. Ein herzhafter kleiner Kerl mit festen Fäusten schrie im Turmhaus zornig lebensmutig das Dasein an.

Als Matilde ihm das erste Wiegenlied sang, gingen dem kleinen Wesen die Augen auf in strahlender Größe, und jauchzende Hände griffen nach der leuchtenden Tonflut.

 


 


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