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Über die abendliche Heide, da der letzte Rubinfunken der sinkenden Sonne erloschen war, wehte und wogte es vom Dämmertanz der Farben. Glutrote, blaugrüne, purpurviolette, perlmutterschimmernde Schleier flogen. Bis in die Dünenkämme ging der Reigen. Dann stutzte er zurück vor dem blauschwarzen Ernst des Meeres, das schon auf die Sternennacht sich stimmte.
Am Dünenrand, der See abgewendet, die Augen und Gedanken der dunklen Waldhöhe ergeben, die eben als Edelstein im Haar den letzten glutenden Blick der Abendsonne getragen, stand ein schlankes, hohes Mädchen mit weizblondem Flechtenkranz. Noch war sie ganz in das Schauen entrückt, erst langsam fand sie aus der fast angstvollen Verzücktheit des Auges sich wieder.
Jetzt lösten sich die Glieder, und sie summte still vor sich hin. Das Halbbewußte ballte und formte sich, eine Melodie wurde, und Worte ergriffen die Macht. Und nun strömte es in den Abend, voll, hell und stark, eines Liedes Erfüllung.
Die keusche, tauklare Mädchenstimme sang das traumstillste der Gurre-Lieder: 6
»Nun dämpft die Dämm'rung jeden Ton
Von Meer und Land,
Die fliegenden Wolken lagern sich
Wohlig am Himmelsrand.
Lautloser Friede schließt dem Forst
Die luftigen Pforten zu,
Und des Meeres klare Wogen
Wiegen sich selber zur Ruh'.
Im Westen wirft die Sonne
Von sich die Purpurtracht
Und träumt, in den Fluten gebettet,
Des nächsten Tages Pracht.
Nun rührt sich nicht das kleinste Laub
In des Waldes prangendem Haus,
Nun tönt auch nicht der leiseste Klang,
Ruh' aus, mein Sinn, ruh' aus.
Und jede Macht ist versunken
In der eigenen Träume Schoß,
Und es treibt mich zu mir selbst zurück,
Stillfriedlich sorgenlos.«
Am Strand entlang kommt ein Wanderer geschritten. Ruck- und sprungweise geht er, wie einer, der einen Gedankenkampf ausficht. Der feine, kluge Kopf auf der langen, hageren Gestalt hebt sich, die Glieder regen sich wie in Abwehr und Angriff, federnd zu Hieb und Stoß.
Jetzt treffen ihn die Töne, erst noch verweht und verloren – er steht, von dem Stimmklang gebannt und verzaubert – dann strafft er sich 7 weidmannshaft und mit lang ausholendem Beinwerk pirscht er heimlich an die Sängerin sich hinan.
Noch kann er sich ganz einbetten in den vollen Hall der letzten Worte, der wie eine stille Lichtbahn hinflutet durch die abendliche Welt:
»Und jede Macht ist versunken
In der eigenen Träume Schoß,
Und es treibt mich zu mir selbst zurück,
Stillfriedlich sorgenlos.«
Ausruhen von allem, was mich quält und reizt und peinigt und jagt durch dieses vertrackte Dasein – ausruhen in dem Klang und Wesen dieser Frau!
Er steht jetzt nahe hinter ihr, die immer noch wie unbeweglich den Blick nach Westen gerichtet hat, in das Meer der rosaumsäumten Wolken, in die grünen Himmelstiefen und den verhauchenden Märchenflimmer des Opals. Die langen, jungen Glieder sieht er, die schmalen Hüften, den Schwung der Nackenlinie, wie stolz sie zu der Haarkrone aufstrebt.
Ihr Gesicht muß ich haben, ihre Augen –! Und mit einer hastend eigenwilligen Entschlossenheit schlägt er einen Bogen um sie und tritt vor sie hin.
Unmutig erschreckte und verweisende Blicke empfangen ihn. Ein jähes Rot schießt über die Züge, die Brauen zucken. Die Nüstern der 8 reichlich breit geformten Nase graben sich tiefer. Was unschön ist in dem Gesicht, wird edel geprägt durch den Zorn über das Belauschtsein, durch den Schmerz des verwundeten Schamgefühls.
Der Mann hat seine Fassung gleich zurück. Mit einer Art ästhetischer Freude vertieft er sich in die echte Ursprünglichkeit, das reine Ungestüm dieses Mienenspiels. Bewegt bleibt er durch die Zartheit solchen Empfindens, und der Gedanke, sie hat dir etwas enthüllt, worüber ihre Schamhaftigkeit wacht, zieht ihn nun, reizend und rührend zugleich, nahe in ihre Bahn.
Er verbeugte sich. »Verzeihen Sie gütigst, wenn ich – wie soll ich sagen – Ihnen zu nahe getreten bin. Aber ich konnte an Ihrem Lied nicht einfach so vorübergehen.« Dabei sah er frank und unbefangen, doch ohne alle Dreistigkeit, in die großen grauen Augen und freute sich unverhohlen ihrer sonderlichen Tiefe.
Eine gewisse Enttäuschung zog um ihren kräftigen Mund. Als wäre es ihr beinahe lieber gewesen, sie hätte noch weiter an Aufdringlichkeit und Ungezogenheit sich entflammen können. Wohl hielt sie sich kühl und fremd, aber aus dem Unwillen war sie schon in Nachdenklichkeit verfallen.
»Schade, daß Gesang nun einmal laut ist,« sagte sie. »Das Laute ruft und lockt herbei. Das Laute fordert auf und ermuntert. Aus den bloßen Eindrücken des Auges kann kein Mensch ohne weiteres das Recht zu einer Annäherung ableiten. Das Ohr 9 aber gibt ihm auf der Stelle diesen Freibrief. So brauchen Sie sich eigentlich nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte ich mit meinem Singsang in meinen vier Wänden bleiben müssen.«
»Ehe wir dem Problem an sich nähertreten« – er sah gleich zu seinem Entzücken, daß mit Redensarten und Oberflächlichkeiten hier nichts anzufangen war – »möchte ich Sie bitten mir zu sagen, ob diese vier Wände sich hier in der Nähe befinden. Ich selbst bin nämlich hier zu Hause. Da oben gehöre ich hin.« Er zeigte nach dem gedrungenen, wuchtigen, burgartigen Gebäude, das von der Spitze der Landzunge über das Meer hintrotzt.
»Sie sind Herr König – Herr Doktor Hilmar König?«
Da er nickte, gab ihr Gesicht seine Abwehr auf, und zutunlich sprach sie weiter: »Ihren Onkel, den Herrn Oberst, kennen wir gut.«
»So sind auch Sie hier ansässig?« fragte er froh.
»Ja. Mein Vater ist der Fischmeister.«
»Fräulein Matilde Menander!« rief er. »So fest hat Ihr Name sich mir eingeprägt. Ich las ihn in einem Brief des Ohms, den ich in Athen bekam. Müde war ich 'rumgeschlichen durch den staubschwülen Abend, halb gedankenlos hatte ich auf der Straße unter der neugriechischen Bevölkerung, die für mich in jeder Beziehung so unergiebig geblieben ist, nach Typen der attischen Komödie gesucht. Menander – da fand ich zu Hause den Brief mit Ihrem Namen. Bei dem 10 nun wohl schwerlich der alte griechische Komödiendichter Gevatter gestanden hat.«
»Schwerlich. Der Name ist gutdeutsch. Verkürzt aus Miteinander.«
»Miteinander« – durch sein Auge ging es wie ein zärtlicher Schauer. »Und so also statt des höchst entbehrlichen und anfechtbaren attischen Salzes das Salz und Brot in heimatlichem Gruß!«
Zusammen gingen sie. Er hatte denselben Weg wie sie, die nach Hause wollte. Auch sonst hätte er gebeten, sie begleiten zu dürfen. Der Wagen mit seinem Gepäck, den er für die abkürzende Strandwanderung verlassen hatte, erschien erst jetzt am Rande der Heide.
Und nun aus vollem Herzen quoll es bei ihm hervor: »Was können Sie singen!«
Durch ihr Gesicht zog schon wieder die Scheu ihren Flammenstreif – da tat er einen rettenden Sprung in kritische Betrachtung. Über das Lied selbst und seine Vertonung.
»Das Gurre-Lied, das Sie sangen – ich kenne die Komposition nicht – hat der Komponist nur dieses eine Lied vertont? Oder den ganzen Zyklus?«
»Er ist dabei.«
»Dann hat er mit diesem ersten Lied nicht das Rechte anzufangen gewußt. Valdemar, der König, ist es doch, der es singt. Derselbe, der zum Schluß als wilder Jäger durch die Luft tost. Diese Wildheit wettert schon hinter diesen Versen, die nach 11 Frieden sich sehnen, die um den Frieden die Hände ringen. ›Ruh' aus, mein Sinn, ruh' aus!‹ Darin ist ein flehendes Ankämpfen gegen dämonischen Überschwang. ›Und es treibt mich zu mir selbst zurück‹ – ein schmerzlich inbrünstiges Sichretten in die eigenen stillsten Gründe. Hier die erschütternd tiefen Keime für die weitere Entwicklung in das gesteigert Überirdische – was wissen die Töne dieser Komposition von ihr? Hier ist nur die sachte Abendsehnsucht eines gewöhnlichen Mitteleuropäers.«
Sie horchte hell zu ihm hin. Dann wehrte sie sich oder kämpfte vielmehr für das Werk. »Sie haben die Begleitung nicht gehört. Und dann – ich hab' es eben nicht richtig gesungen! Der gewöhnliche Mitteleuropäer bin ich.«
»Wen decken Sie da mit Ihrem Schild?« fragte er feinspürenden Sinnes. »Wer ist der Komponist?«
»Mein Lehrer, Kantor Löteisen.«
»So, so, Kantor Löteisen.« In der Stimme schwang ein Widerstreben. »Nun – so hat er das Lied – sein Lied doch mit Ihnen geübt. Und die Verantwortung trägt er. Auch dafür, daß er das, was ehrlich nur der Bariton ausdrücken könnte – eines Mannes, eines gequälten Königs Ringen und Sehnen, einem Sopran zumutet. Freilich einem –«
Er brach ab, nicht wieder an das Verschämte zu rühren. Und schlug sich mit dem Unbehagen 12 herum, das in ihm das Kantorhaus wachrief. Wo diese Sprödigkeit ihre Schleier fallen ließ!
Sie aber blickte auf sein feines, scharfes Profil und sagte leise, fast mehr für sich selber: »Sie verlangen viel, sehr viel! Aber das ist gut – gut ist das –«
Wie eine Wohltat überfloß es ihn. Und er nahm sie warm in seine Blicke. Aber zu Worten brachte er es nicht mehr. Denn eben kam in stoßendem Stechtrab ein Reiter ihnen entgegen – der Ohm Oberst Ekbert König auf seinem alten, hohen, vorne überbauten Schweißfuchs »Sturmbock«, den man meilenweit an seiner Aktion erkannte.
»Junge – und in solchem Geleit! Besser konnten wir dich nicht empfangen.«
Der alte Kavalier gab erst Matilde die Hand, dann packte er fest des Neffen Rechte.
Der Oberst hatte die lässige Haltung des alten Reiters, außerdem hatte ein schwerer Sturz mit Wirbelverletzung den Rücken krumm gezogen. Sonst aber war alles Gradheit bei ihm, in Wort und Wesen und Blick.
Hell sahen die Augen aus der braunen, wettergegerbten Haut, die Hakennase, sehr scharf angesetzt, machte eine leichte, versöhnliche Wendung zur Seite, als wollte sie der liebenswürdigen, schalkhaften Weichheit des Mundes nichts zuleide tun.
»Fräulein Matilde,« sagte er, da sie jetzt an 13 dem Seitenweg zu des Oberfischmeisters Wohnhaus sich befanden und sie sich verabschieden wollte, »Sie wissen, morgen ist unser Abend – da machen Sie mit Ihrem alten Herrn uns doch die Freude! Auch er ist ja in Griechenland gewesen. So werden wir drei Ihnen hellenisch kommen. Und Sie können sich dann – als umgekehrter Paris – einen von uns dreien aussuchen.«
Freudig nickte sie zu seiner Einladung. Dann trennten sie sich.
»Ich wußte, daß ich in deinem Sinn handeln würde,« sagte Ekbert. »Im übrigen – ich bin nun mal noch so im Schuß und mache die Honneurs weiter. Jetzt, wo du wieder in deinem Hause sein wirst, lädst du dir natürlich selber deine Gäste ein.« Er rührte hier an eine empfindliche Stelle, bei sich selbst wie bei ihm, dem Neffen.
»Besser konnte es doch gar nicht gemacht werden! Ich selbst bin hier doch außer Zusammenhang – ich weiß nichts von deinem offenbar erfreulich ungezwungenen Verkehr mit der Fischmeisterei. Hätte vielleicht durch eigene Förmlichkeiten, etwa einen vorherigen Besuch in dem Hause, einen fremden Ton hier hineingebracht und störend gewirkt.«
Und nun kam die eigene Empfindlichkeit zu Wort. »Was du aber von meinem Hause sagst – du weißt recht gut, ich hätte es nicht, wenn ich dich nicht hätte. Und darum ist es deins so gut wie meins.« Eine Reizbarkeit knisterte wie ein 14 leiser Funke. Dann aber war die starke, ungetrübte Herzlichkeit obenauf.
Ohm Ekbert kam vom Felde. Sie waren in der Heuernte, eben hatten sie vor dem Abendtau das letzte Fuder geborgen. Dann hatte er von der Höhe Ausschau nach dem erwarteten Ankömmling gehalten, um ihm fröhlich entgegenzutraben.
Die Königs waren seit Jahrhunderten in diesem Küstenstrich ansässig. Der Gutshof des alten Besitzes lag landeinwärts. Ein besonders großer Romantiker des Geschlechtes hatte zu der Zeit, da des Knaben Wunderhorn erscholl, hoch oben auf der Uferhöhe sich ein ›Schloß am Meer‹ gebaut. Die Trümmer eines alten Wartturmes hatten hier gestanden. An ihn wurde eine kleine, burgartige Feste angelehnt, in gemäßigter Frühgotik, mit sehr geschickter Ausnutzung der Räume, so daß ein behagliches, sehr wohnliches Haus zustande kam. Als dann das alte Gutsgebäude abbrannte, wurde es nicht im alten, großen Maßstabe erneuert. Die Familie bezog jetzt als Wohnsitz das Turmhaus, wie die kleine Burg mit angemessener Bescheidenheit genannt wurde.
Eine gewisse romantische Ader war von je Königsches Erbgut gewesen. Immer hatten die Herren landesgeschichtlichen, namentlich prähistorischen Studien ihre Teilnahme zugewandt, auch selbst auf eigener Flur sowohl wie in der Nachbarschaft, mit Genehmigung des Staates und der Besitzer, mancherlei Ausgrabungen vorgenommen. Als 15 reiches Museum füllten die Funde die unbewohnten Zimmer der Burg.
Der erste des Geschlechtes allerdings, der sich der Archäologie als wissenschaftlichem Studium beruflich zugewandt hatte, war Hilmar gewesen. Der germanischen Urbevölkerung dieses Küstengebietes hatte seine Doktorarbeit nachgespürt, die Anerkennung und Beachtung fand. Nicht lückenlos war ihm der Beweis gelungen, daß außer den Semnonen und Langobarden auch Goten hier gehaust hätten. Dafür das erschöpfende Material beizubringen, hatte ihn der Ehrgeiz gepackt und nicht losgelassen.
Da traf es sich, daß ein älterer Studienfreund ihn zur Mitarbeiterschaft warb an einem großgedachten Werk: »Germanische Spuren in Griechenland«. Seit Jahren forschte der Mann an Ort und Stelle. Jetzt rief er frohlockend den Genossen herbei: gotische Gräber – Funde, die für deine Hypothese von größter Wichtigkeit sind! Da gab es für Hilmar, der gerade in Berlin auf der Bibliothek arbeitete, kein Halten mehr.
Von kurzer Dauer war sein Eroberungszug gewesen. Als Sieger kam er nicht zurück.
An dem eichenen Rundtisch im Erker sitzen die Königs, Ohm und Neffe. Frei blicken sie über die See. Der Jupiter zieht seine Lichtbahn durch die leise atmende Flut. Hilmar ist wieder einmal abwesend – des Ohms letzte Frage hat er überhört. Der läßt ihn in seiner Versunkenheit. 16
Und jetzt taucht der Vertiefte glücklich von selbst wieder auf. »Entschuldige – wovon sprachen wir doch –?«
»Es war nichts von Bedeutung. Aber jetzt –« Ekbert nimmt ihn fest, und wenn er einmal zugreift, läßt er nicht los – »jetzt möchte ich endlich von dir hören, was bei deiner Reise herausgesprungen ist. Meine Briefe suchten durch immer heftigere Sachlichkeit dich zu ähnlichem Tun anzustiften. Du bist statt dessen nur immer poetischer geworden. Großartige Schilderungen. Aber was ich wissen wollte –«
»Lieber Ohm, damit weißt du's ja. Poetisch werden, heißt den Tatbestand verschleiern. Und wenn der Tatbestand verschleiert wird – nun, dann muß er es wohl nötig haben.«
»Herrgott – mir konntest du's nicht sagen! –«
»Nicht recht. Weil ich es selbst immer noch nicht glauben wollte. Bis ich endlich mir klar darüber wurde, daß ich einem heillosen Phantasten auf den Leim gekrochen war. Was der gute Roderich Ollhusen da aus seinen Funden herausliest –«
»Fundfieber! Das kennt man doch!«
»Wenn es noch ein anderer gewesen wäre! Aber ich schätzte gerade immer an ihm die Sorgfalt und Besonnenheit.«
»Dann ist dem nordischen Schädel die Sonne Griechenlands nicht bekommen. Der bewußte Mittelmeerkoller. Gerade vorgestern noch sprach ich mit dem Fischmeister Menander über solche Fälle.« 17
Mit dem Fischmeister kam ein anderer, ein heller Farbenton in Hilmars Gedankenkreis. »Du bist öfter mit ihm zusammen – mit ihm und der Tochter? Erzähl' mir von ihnen.«
»Er ist alter Seemann – Kapitän gewesen, dann Lotsenkommandeur. Beim Rettungswerk auf einem Wrack ist er schwer verunglückt – von der herabbrechenden Takelage halbtot geschlagen. Seither hat er diesen Ruheposten. Oberfischmeister – er hat sich hier ein Forschungsgebiet geschaffen. Ein Schonrevier haben sie eingerichtet. Fischzüchtereien – Fischkunde – alles in wissenschaftlichem Geist. Nun, und seine Tochter kennst du.«
Hilmar verlor sich ganz in sein Stranderlebnis. »Hast du je so etwas von Stimme gehört? Nur an der See kann so etwas werden –«
»Du hast sie singen hören? Sie singt doch nicht vor! Und gleich bei der ersten Begegnung –?«
»Ich hab' sie heimtückisch beschlichen – in den Dünen. Sie ist auch nicht schlecht zornig geworden, kann ich dir sagen. Und so verschämt« – das Entzücken lief über ihn hin – »was wurde sie rot! Und nun zu denken, wie oft im Kantorhaus dieses Heiligtum sich enthüllt!« Er war aufgesprungen und reckte die langen Glieder zum Fenster hinaus, see- und himmelwärts, um sich zu befreien.
Dann fragte er stoßweise: »Ist – Robert Löteisen – hier gewesen?«
Robert, der Kantorsohn, war sein Alters- und 18 Studiengenosse und strebte in derselben Laufbahn wie er zum Ziel.
»Mehrfach, ja,« antwortete der Ohm mit Betonung. »Zuletzt wochenlang.« Die hellen Augen forschten in Hilmar hinein. Und nun, er kannte des Jungen schnelle, phantasievolle und eigensinnige Leidenschaftlichkeit, hielt er es für gut, allen Illusionen gleich kräftiglich den Riegel vorzuschieben. »Er geht hier auf Freiersfüßen. Er ist mit Matilde Menander so gut wie verlobt.«
Hilmar fuhr herum, so heftig und stoßend, als wollte er dem Alten an die Kehle. Aber ebenso schnell begriff er sich, und brüsk schalt er sich selbst: ›Du bist und bleibst doch der Junge!‹ Dann sprach er ruhig und blaß: »Nun ja – warum nicht. Robert Löteisen hält schon seinen Kurs. Im übrigen – was geht's mich an.«
Aber Gesellschaft verträgt er nicht weiter. »Ich will noch einmal ans Wasser!« ruft er. Und rennt die Höhe hinab zum Strand. Seinen Sprungschritt geleitet es im Takt: verlobt – Matilde – Matilde Menander – Menander – Miteinander – verlobt – miteinander – Matilde – Matilde –
Da reißt es ab mit zornigem Knirschen. Was kümmert mich dies! Und was all gibt es sonst auf der Welt! Was all –!
Er steht vor der See. Sternenschein tropft in die schwarze Unergründlichkeit. Licht sucht die 19 Nacht, das Schicksal funkt, die Zukunft flimmt und wirkt, es fallen die Lose.
Und da oben steht Jupiter, der Optimus maximus unter den Sternen. Göttervater, du guter – du Wissender und durch Weissagung Helfender – hat dein Himmelsauge mir nicht geleuchtet, als ich durch die heilige Talschlucht von Dodona wanderte?
Du weißt von mir. Und jetzt, durch die ewige Nacht, über die ewige Meerflut sendest du deine Lichtbahn zu meinen Füßen. Winkst du mir? Was willst du mir weisen? Soll ich dir näher kommen auf die Brücke dieser deiner goldenen Bahn?
Soll ich hinein in dein Licht? Mich durchleuchten, mich mir selbst erhalten in deinem Schein? Daß die Schatten weichen aus all den dunklen Klüften meines Wesens! Daß ich mich selber sehe und von mir selber weiß!
Aber bald genug, über alles visionäre Hinsterben und Erblassen, hob ihn sein junges Blut. Übermütig knabenhaft warf er die Kleider von sich. Den Kopf von allem, was in ihm braute, sich kühl und hell baden in den heimatlichen Wassern!
»Ich komme, alter Herr!« rief er fröhlich. Und mit singendem Pfeifen schwamm er hinein in den Lichtstreif, dem Stern entgegen.
* * *
20 Die Fischmeisterei war ein altes, nahe am Strande gelegenes Bauerngehöft. Neuerdings war hier eine Oberfischmeisterei mit einer kleinen Versuchsstation und einer Brutanstalt errichtet worden. Hier wirkte jetzt also der Lotsenkommandeur a. D Rochus Menander. Er war ein Seemannsblut gewesen von geradezu jauchzendem Frohsinn, bis in sein Alter hinein. Dann nach dem schweren Unfall, der ihn fast gleichzeitig mit dem Tode seiner abgöttisch geliebten Frau getroffen hatte, war er ganz verwandelt. Schneeweiß mit seinen achtundfünfzig Jahren, langsam und schwer, ein Mann ohne Lachen.
Ein stiller, versonnener Forscher waltete er zwischen seinen Aquarien, den Brutapparaten, den Fischkästen und Bassins.
Immer schon hatte die Meeresfauna ihn lebhaft beschäftigt. Das erste Schiff, das er in jungen Jahren führte, war ein Walfischfänger gewesen. Er hatte, zoologisch vorgebildet, eine ganze Reihe eigener anatomischer Beobachtungen zur Gattungskunde der Wale, der pflanzen- und fleischfressenden, der bezahnten und bebarteten aufgezeichnet. Später waren sie dann veröffentlicht worden – in einem Fachblatt der Universität, die seinem jetzigen Wirkungskreis benachbart war. Die Türme der Stadt sah man bei klarer Luft über die westliche Landzunge aufragen.
Er liebte es, daß in seinem Laboratorium Matilde ihm an die Hand ging. Gern hätte er zu 21 seiner Assistentin sie sich erzogen. Aber sie half ihm mit Widerstreben. Sie hatte auf die Meeresbewohner geradezu eine Feindschaft geworfen. Dem selbst schon so schweigsamen und ausgekühlten Vater – so klagte sie – hätte der Umgang mit dieser stummen, kaltblütigen Gesellschaft gerade noch gefehlt! Wenn er in seiner geruhsamen, jeder Erregung entrückten Art einmal ihren »Vorurteilen« begegnete, wenn er ihre Schmähungen auf das »blöde, seelenlose Viehzeug« leise abwehrte, wenn er ihr Proben von dem Geistesleben seiner Pflegebefohlenen gab, Beweise von ihren Sinneseindrücken nicht nur, von ihren Überlegungen, ihrem planmäßigen Bauen, Ordnen, Gestalten, von ihren gesellschaftlichen Trieben, ihrem Liebes- und Familienleben, ihren Empfindungen und Empfindlichkeiten, ihren Leidenschaften, ihrem Glück und ihrem Leiden, wenn er seine Lieblinge an die Glaswand rief, die ihn kannten, mit ihm verkehrten und sich unterhielten, wenn er die beispiellose Pracht ihres Farbenspiels rühmte, das ihm nur ein Abbild inneren Reichtums war – wenn sie so mit ihm wanderte, dann nahm sie wohl bewegt seine Hand, gerührt von der Güte seiner Weisheit und beglückt, daß sein zerstörtes Leben noch solchen Inhalt sich schaffen konnte.
Aber bei solchen Wallungen blieb es, ihre Neigung folgte ihm nicht in sein Reich, die gehörte nun einmal dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, den das Haus sich vorbehalten hatte. Und 22 in dieser mit einem Knecht und einer Magd versorgten Tätigkeit war Oberst König ihr freudig getreuer Berater.
Sie waren Flurnachbarn. Heute in aller Morgenfrühe stand Matilde mit dem Mädchen auf der Wiese, das Heu auszubreiten. Sie war in hellem Kattunkleid, barhäuptig – Minna, die Magd, trug fürsorglich den schirmenden Leinenhut – über das lachende Blond sprühten und rannen die Sonnentropfen.
So leuchtete sie über die Felder. Ohm Ekbert, dessen Leute beim Rübenhacken waren, kam herübergeritten. »Wer kann dem Lichtrausch widerstehen!« rief er zum Gruße. Seinem Alter wurde dreister Lobspruch nachgesehen.
»Solch einen Hutfetzen um die Ohren bei der Arbeit« – erklärte sie – »mir fürchterlich.«
»Der Sonne, was der Sonne gehört!«
»Aber sie lohnt es mir schlecht. Minna ist die Klügere. Meine arme Nase, auch sonst mein Malheur, jetzt wird sie zur Katastrophe. Die Spitze – wenn man bei ihr von einer Spitze reden darf – will ein Karfunkel werden. Und was sich der Rücken da wieder für einen Sattel von Sommersprossen auflädt –«
»Sprechen Sie nicht von Nasen!« sagte er munter und drehte seine nach links entgleisten Nüstern noch weiter abseits. Fröhlich lachten die beiden sich an. Von je verstanden sie sich gut. 23
Nun aber wurde er sachlich. Er deutete mit der Reitpeitsche nach dem Lehmacker, der sich hügelan zog. »Schade um Ihren Klee. Aber es bleibt uns nichts anderes, bei dem feuchten, kalten Boden. Wir müssen dränieren.« Sie sprachen eingehend darüber.
»Und heute abend sehen wir uns also,« sagte er zum Abschied. »Hilmar hockt im Museum. Er wollte nicht mit aufs Feld. Ich werde ihm sagen, was er versäumt hat.«
Hilmar König – da sie wieder an die Arbeit ging, waren ihre Gedanken bei ihm. Weil nun einmal auf die Nasen die Rede gekommen war: sein erlesen feines Profil stellte sich vor sie hin. Sie hätte die Linie nachzeichnen können.
Was er von dem Gurre-Lied sagte – o, zunächst mal war es eine glatte Frechheit gewesen, sie derartig zu belauern, daß sie so ahnungslos vor ihm sich aussingen mußte – sie zuckte schauernd die Schultern und zog unwillkürlich an ihrem Kleid – und dann sein absprechendes Urteil über die Komposition –
Vater Löteisen, sie nahm den Lehrer in Schutz, der mehr als Lehrer ihr war. Sie wußte, daß keine Zärtlichkeit zwischen den Königs und dem Kantorhaus bestand. Daß Robert Löteisen und Hilmar König von je schon auf der Schule miteinander feindlich gewetteifert hatten. Hilmar, der beweglichere, farbigere, und Robert, der in sich gegrabene, verbissene, lodernde Willensmensch. 24
Klug hatte dieser neue Mann über die Vertonung geredet. Aber doch wohl reichlich von oben. Und schwang nicht eine Gereiztheit auf, als er den Namen des Komponisten erfuhr? Voreingenommenheit – spricht das nun zu deinem Gunsten, Hilmar König? Du Mann mit dem feinen Gesicht und der schönen, leichtgebogenen Nase, du?
Ihrer Hände Werk geriet ins Stocken. Sie mußte sich Mühe geben, Minna, der unerbittlichen, auf den Fersen zu bleiben. Aber nach dem Takt der rüstigen Arme ließ sie jetzt ihre Gedanken zu Ende spazieren.
Es wäre besser, wenn hier keine Gegensätze sich fänden. Besser, wenn nicht ein Feindseliges hier seine Feuer verspritzte. Wenn Hilmar König sich sacht und sanft, ungereizt und ohne zu reizen einfügen würde in die freundnachbarliche Gewogenheit seines Ohms. Das wäre besser.
So ließ Matilde Menander beim Heuen ihre achtzehnjährigen Gedanken ausgehen. Aber war dies ein Ausgang, ein Abschluß? War es nicht eher ein Beginn?
* * *
Am Nachmittag eilte Matilde ins Kantorhaus. Es war ihr, als müßte sie Versäumtes nachholen. Als hätte sie selbst einer Treulosigkeit sich schuldig gemacht. 25
Sie traf die Kantorsfrau Alwine Löteisen im Vorgarten auf den Knien, Unkraut jätend. Alles tat die Frau allein, Hilfe duldete sie nicht. Niemand machte es ihr zu Dank. Hart, trocken und vierkantig war sie, voll Schwielen Leibes und der Seele. Bis an ihr Inneres drang nicht leicht jemand vor. Höchstens daß ihr Junge einmal aus dem versteinerten Herzen Funken schlug.
Sie nickte kurz zu Matildens Gruß, blickte kaum auf und arbeitete, arbeitete weiter. Wußte auch, daß der Besuch ihr nicht galt, und schob ihn unbesehens weiter mit den gequetschten Worten: »Er ist bei seinen Bienen.«
Das »Bienen« kam fast wie ein Schimpfwort heraus. Und zu ihrer Abneigung war sie wohl berechtigt. Denn die Tierchen hatten schlechthin eine Pike auf sie, während sie ihren Mann, den Kantor, streichelten und kosten. Der freilich behauptete, sie selber hätte die Schuld, denn nichts könnten seine »Sonnensummer« weniger vertragen als Mißtrauen und Lieblosigkeit.
Er hinwiederum hatte eine stille, boshafte Freude an solcher Anfechtbarkeit der herben, wehrhaften, gepanzerten Alwine. »Eine Niedertracht muß der Mensch haben!« Er wußte sich sonst frei von hämischen Regungen, er brauchte keine giftigen Mittelchen gegen den großen Schmerz, den sein Leben trug.
Manuel Löteisen war ein Theaterkind. Sein Vater war ein talentvoller Sänger gewesen, bald 26 aber, da die Stimme früh versagte, beim Chor gestrandet, und die ganze Verbitterung des Gescheiterten hatte an ihm gefressen bis zu seinem Lebensende, so daß er immer mehr Trost bei der Flasche suchte, mit der er auch sonst und früher niemals in Feindschaft gelebt hatte. Manuels große musikalische Begabung und künstlerischer Ehrgeiz waren ihm ein Dorn im Auge. »Künstler – Künstler ist kein Beruf, Künstler ist ein Verhängnis. Such' dir eine richtige Tätigkeit – so kannst du abwarten, was über dich verhängt ist!« Zwei gewalttätige Fäuste drängten den Jungen von dem Wege ab, den seine Sehnsucht wanderte.
»Lehrer wirst du! Organist! Ordentlicher Staatsangestellter, mit Musik als Beilage! Dann sei in Gottes Namen talentvoll!«
Ein paarmal versuchte Manuel auszubrechen, doch sein Wagemut zerschellte dann wieder an dem väterlichen Willen, der unverrückbar auf ihm lag, bis er seine Lehrerprüfung abgelegt hatte.
Dann starb der Alte, und nun gab es für Manuel kein Halten mehr. Zum Theater! Alles, was in ihn hineingepreßt, gestoßen, gewürgt war, brach nun reißend und rauschend hervor. Er hatte das Glück, in einem alten, erblindeten Sänger einen vorzüglichen Lehrer zu finden, der umsonst seiner Stimme sich annahm. »Dich hab' ich bald so weit, und dann zahlst du mir das Stundengeld.« Manuel zahlte es auch, seine Kunst, um die er soviel in blutender Sehnsucht gelitten, um die er dann 27 gedarbt, gehungert, um die er zum Sterben auf dem Krankenbette gelegen hatte, sie trug ihn empor. Die Bühne, das Land seiner Träume, wurde erobert. Die Erfolge schmückten ihn mit dem Kranz. Dann aber riß ihm das Schicksal die Blumen aus dem Haar und drückte die Dornenkrone ihm auf.
Ganz plötzlich ließ seine Stimme ihn im Stich – wie es dem Vater ergangen war – sie wurde brüchig und rissig, ihr Schmelz fiel ab, sie erlosch farblos und grau. Rächten sich so die fieberhaften Anstrengungen, der übertriebene Fleiß, die schweren Entbehrungen?
Dumpf brütete er hin über seinem Los. Es war ihm selbst ein Wunder, daß er noch atmete. Daß ihm das Leben nicht zerrann. Aber dann –
Die Gewohnheit des Daseins behielt und hegte ihn weiter.
Er suchte die Stille und fand sofort hier in dem Kirchdorf an der See als Lehrer und Kantor einen auskömmlichen Posten. Die neue Kirchenorgel, eben von dem Gutsherrn, Hilmars Großvater, gestiftet, übertraf wohltuend seine Erwartung und kam ihm freundschaftlich nahe. Das Werk, winzig und nicht sehr klangstark, hatte drei erlesen schöne Stimmen, erfreulich saubere Zungenpfeifen, und die warme Gemütstiefe seines Basses wuchs dem Spieler ans Herz. In den Quartsextakkord des Orgelpunktes war er geradezu zärtlich verliebt.
Allmählich schlang dann der Alltag auch von 28 seinem Fühlen immer mehr hinab. Er heiratete eine ansehnliche Bauerntochter; ihre wirtschaftliche Nüchternheit betrachtete er dankbar als festes Eiland, von ihm brauchte er nicht zu befürchten, daß es ihn verzaubern würde in die Flut der Träume.
Aber still für sich behielt er das eine, dies »ich besaß es doch einmal«, mit allen seinen grausamen, unseligen und doch glückhaften Schauern. Er wachte über den Schatz seines Unglücks wie ein Geizhals. Und auch die Stunden, wo die Musik als Trösterin, als Freundin und als begnadende Göttin zu ihm kam, gehörten ihm allein.
Auch als begnadende Göttin. Denn sie gab ihm in Tönen zu sagen, was er litt. Kaum aber, daß er je etwas davon niederschrieb. Vor der Öffentlichkeit, die ihn einmal so wild berauscht hatte, verschloß ihn jetzt eine überaus wehe Scheu.
So war er alt geworden, ein treuer, ehrlicher Lehrer, ein verträglicher, rücksichtsvoller Ehemann, ein fürsorglicher Vater und ein Orgelspieler, desgleichen die Lande hier niemals gehört und gesehen.
Aber Kunst ist Verhängnis. Und der Dämon, unter dem der Vater gelitten hatte, bekam auch Macht über ihn. Nicht umsonst bezeichnet der Volksmund als Teufelswerk die krankhafte Sucht, nach Zeiträumen strengster Nüchternheit jählings im Trunk sich zu betäuben, sich selbst zu entfliehen. Doch es warf ihn nur selten. Und nie gab er ein Ärgernis. Zu Hause geschah es, und seine Frau 29 hielt sorgsam Wacht. Schwerlich wußte es einer noch außer dem altmilden Pastor und Vorgesetzten. Der für seinen Teil wacker half, den Strauchelnden zu stützen und zu hüten.
So stand es um Manuel Löteisen, als Matilde Menander vor zwei Jahren in sein Haus trat.
* * *
Rochus Menander hatte damals soeben die Stelle als Oberfischmeister angetreten, Matilde kam zu den Ferien aus der Universitätsstadt, wo sie das Lyzeum besuchte, nach Hause. Der junge Archäologe, Doktor Löteisen, der die Eltern zu besuchen das gleiche Ziel hatte, war ihr Fahrtgenosse.
Die Unzugänglichkeit ihrer sechzehn Jahre hatte er nur langsam gelöst, er war alles andere eher als ein weltgewandter Causeur. Die Gestalt gedrungen und athletisch festgefügt, die Züge hatten etwas Hartes, Holzgeschnittenes, ganz seltsam aber waren die Augen. Dunkel und schwer ruhten sie meist in ihrer Tiefe sich aus, dann aber, wenn ihn etwas bewegte, konnten sie in einer wachsamen Schärfe aufflammen und zu einem seltsam leidenschaftlichen, hellseherischen Starren sich sammeln.
Ein paarmal verwunderte sie dieser Ausdruck. Doch hing sie ihm nicht nach. Und da seine Blicke nicht daran dachten, irgendwie zudringlich oder eindrucksvoll zu werden, da in seiner Art zu sprechen 30 eine gewisse herbe Innigkeit sie gewann, ließ sie seine Gesellschaft sich gern gefallen.
Sie erzählte ihm, daß sie Unterricht im Orgelspiel gehabt hätte. Ob es wohl für sie die Möglichkeit gäbe, die Orgel in der Dorfkirche zu benutzen.
»Kommen Sie nur zu meinem Vater. Der wird Ihnen sicherlich die Erlaubnis auswirken.«
Am anderen Tage fand sie mit ihrem Anliegen bei Manuel Löteisen sich ein.
Etwas Bezwingendes hatte dieser Mann für sie auf den ersten Blick. Das graue, wirre, stürmende Haar über einer ungestümen Stirn, und der Mund wieder so zart und das Kinn so weich, und in den dunklen Augen Träumendes und Trotzendes durcheinander.
Er ging gleich mit ihr in die Kirche, führte sie ans Instrument und trat ihr selbst die Bälge. Sie spielte ohne sich zu zieren einen Satz aus dem ältesten der beiden Requiems von Cherubini, den ihr Lehrer in der Stadt schülermäßig eingerichtet hatte, spielte es unverzagt aus dem Kopf – kindlich unreif, doch mit leidlicher Fertigkeit. Aber – und darauf kam es an – im Registrieren zeigte sie einen unverkennbar eigenen Farbensinn, daß der Hörer die Ohren spitzte.
»Sie stümpern nicht. Sie haben was. Sie können hier üben. Ja, ja. So oft Sie wollen!« erklärte ihr Manuel in seiner abgehackten Art zu sprechen. 31
Und sie wurden gut Freund miteinander. Dann aber gab es eine Offenbarung.
Sie hatte sich eines Tages den Kirchenschlüssel aus dem Kantorhause geholt und den Büdnersohn von nebenan als Balgentreter mitgenommen. Da zog es Manuel ihr nach.
Eine Kantate von dem alten Dietrich Buxtehude spielte sie, der eine Liebhaberei ihres Lehrers war. Und es geschah, daß sie die Akkorde zum pianissimo dämpfte und zu singen begann.
Leise erwachten die Töne, dann wurden sie hell und frei und stark. Und himmelan strebte es, hoch und in der Verklärung herrlicher Gläubigkeit:
»Laß aus dem Meer der Sünden
Zu dir zurück uns finden,
Du, unserer Seelen Port.«
Manuel starrte empor und taumelte, daß er an einen Pfeiler sich halten mußte. Nicht was sie sang, nicht die Worte flehender Andacht, nicht die innig und rein ertönende Kunst des alten Meisters war es, was ihn so in der Tiefe traf. Die Stimme – ein Unsagbares in ihrem Klang – das, was man ihre Seele nennen darf – er hätte gar nichts Besonderes über die Leuchtkraft dieser Stimme, über ihr Farbenspiel, ihren Schmelz, ihren Blütenhauch auszusagen gewußt – von dem allen fühlte er kaum etwas – es war wie eine Stimme in dieser Stimme, was an sein Leben rührte. 32
Was für Zusammenhänge waren hier? Er hatte, nachdem die Quelle in ihm selbst getrübt und versiegt war, noch oft genug Gesang gehört, meisterhaften und begnadeten. Aber niemals waren diese Klänge bis in das Heiligtum seines Unglücks gedrungen. Hier aber wühlte ein Unerklärliches seines Lebens Tiefen auf, seine Schmerzen bluteten aufs neue, aber in dem Blut war Leben, war des Schaffens Kraft und Wonne.
Was war in dieser Stimme? Ein Verschwistertes dem Klang seines eigenen Wesens? Waren es die Wellenlinien desselben Lichtes, das einmal in ihm geleuchtet hatte? Waren ihre beiden Seelen ein Akkord des vorzeitigen Lebens? Den ein unerhörtes Glück jetzt in diesem Dasein aufs neue zum Einklang brachte?
So rannen alle Schauer des Weltgeheimnisses durch ihn hin. Und dann im Ansturm nahm er die Treppe zum Chor, furchtgejagt, als könnten jähe Abgründe ein Wunder verschlingen. Und polterte an ihre Seite und keuchte an ihrem Ohr, er, der ihre Nähe, ihre Leibhaftigkeit brauchte.
Entsetzt fuhr sie zurück vor der schreckenden Erscheinung, dem mächtigen Haupt mit dem gespenstisch gesträubten Haarwust, vor dem glückseligen Grauen der großen Augen. Ihre Hände erstarrten wie gelähmt.
Manuel fuhr sich glättend über die graue Mähne. »Ich hab' Sie verstört. Hab' Ihnen gar 33 was zuleide getan. Und dabei weiß ich nicht, wie ich Ihnen –«
Er nahm ihre Hand, dann ließ er sie fallen und fuhr mit dem Rücken der eigenen sich über die Augen.
Sie blickte ratlos, verwirrt –
Da sprach er ruhiger, aber immer noch betäubt und bewältigt: »Als ich Ihre Stimme hörte –«
»Sie sollten sie aber nicht hören!« Aufstampfte sie wie ein Schulkind und schämte sich gleich ihrer Ungezogenheit und sagte, den Kopf zur Seite geneigt, verschüchtert und herbe und in leichtem Trotz: »Denn die ist nur für mich.«
Nun rückte er ihr näher und forschte in sie hinein: »Warum darf ich denn Ihr Orgelspiel hören?«
»O, das sind doch die Finger,« gab sie, das Kind, wie aus belehrender Höhe. »Die sind doch nicht in mir, die sind doch bloß an mir, die sind doch weiter von mir ab.«
Er mußte lächeln, er ging auf ihre Gedanken ein, und da eben der Balgentreter seinen Strohwisch von Haarschopf sehen ließ, sagte er beinahe schadenfroh: »Aber der durfte Ihnen zuhören!«
Sie biß sich auf die Lippen im Unbehagen peinlicher Überraschung. Dann fand sie leicht ihren Trost: »Der – ach der ist doch bloß ein Teil des Instruments.«
Manuel aber begann das Werben um ihre Stimme, die wie eine Lebensmacht ihn überkommen 34 hatte, ihrer Kindlichkeit gemäß auf sachten, mehr scherzhaften Wegen, ohne sie mit der Wucht seines Schicksals zu bestürmen. Und mit der behutsamen List seines inbrünstigen Wollens gewöhnte er sie, wie er nun bald am Klavier saß, wirklich und wahrhaftig ihren Gesang zu begleiten, daß sie ihn selbst als Teil des Instruments betrachtete. Und wie er dann als trefflicher Lehrer der Technik ihres Singens sich annahm, und sie freudig das ungeahnte Wachstum ihres Könnens empfand, trat Dank an Stelle der Scheu.
Manuel aber wuchs selbst in ein neues Leben hinein.
* * *
Matilde, da sie ihn heute nach dem Beisammensein mit Hilmar aufsuchte, traute sich nicht recht in den engeren Bezirk der Bienenvölker. Sie winkte ihren Gruß hinüber, gleich kam Manuel zu ihr und setzte sich mit ihr in die Jasminlaube.
Sie fühlte sich gedrungen, ihm alles von ihrer Begegnung mit Hilmar König zu erzählen. Wie er sie belauscht habe –
Und schon flammte der Zorn des eifersüchtigen Hüters. »Was hat er dich zu belauschen!«
Sie möchte ihn nun doch entschuldigen. »Warum mußte ich auch da in den Dünen so aus Leibeskräften lossingen!«
Aber daß sie ihn gewissermaßen in Schutz nahm, 35 rief nun auch noch sein Mißtrauen wach. Und so zogen die Wirbel durch ihn hin.
Ihre Beichte ging weiter. Ganz offen teilte sie ihm die Kritik Doktor Königs über die Vertonung des Gurre-Liedes mit. Da schäumte er: »Was geht ihn meine Vertonung an! Was will dieser Mann! Was weiß er! Ob ich dieses Lied mir nicht allein herausgenommen habe. Ganz für sich. Denn für sich kann es sein. Und so, wie du es singst – dein Lied ist es. Was kümmert uns König Waldemar!«
War sie nicht wie mit dem andern im Bunde? Er wußte ja, daß er sie einmal hergeben mußte, sie, die Seele, die Blüte seines verwelkten und wieder aufgegrünten Daseins.
Die Leidenschaft seiner Sinne und seines alternden, aber um so reizbareren Blutes hatte er in dem künstlerischen Gestalten und dem gemeinsamen künstlerischen Erleben sich erst bändigen, sich gewissermaßen umformen und so sich wieder befreien lassen. Aber diese Gemeinschaft – wenn er die verlor –!
Mit wachsender Bedrängnis hatte er gewahrt, wie in Robert, seinem Jungen, dessen zugleich schwere und ungestüme Sinnesart der seinen so ähnlich war, die Leidenschaft für Matilde um sich griff. Eine Bindung der beiden hatte er bisher verhindert, wobei er eine leidlich gute Maske trug. Das hausbacken Philisterhafte warf er ein: daß sie noch viel zu jung sei, daß er sein festes Brot noch nicht habe –
Sein Sohn Robert wußte nun allerdings, daß 36 er kein Philister war. So gut wie es dem nicht verborgen blieb, daß in jenem künstlerischen Sichvermählen die Zärtlichkeit des Mannes mitschwang.
Aber war sie dafür dem Vater nicht auch schlechthin zum Schutzgeist geworden? Das, worunter der Junge mit seinem peinlichen Ordnungssinn, seinem Sauberkeitsbedürfnis und seinem Ehrgefühl von den Kindheitstagen her unsäglich gelitten hatte, die Trunksuchtsanfälle des Vaters hatten so gut wie ganz aufgehört. Jetzt kam es natürlich darauf an, ihm dieses Heilmittel nicht zu schnell zu entziehen.
Nun aber schlug es in Manuel, da er von Matildens Zusammensein mit Hilmar König hörte, wie der Blitz ein: ganz als Hausgenossen habe ich sie betrachtet, die Welt ringsum war versunken und vergessen – mit ihren Werbungen, ihren Lockungen und Gefahren. Warum packte und knebelte ihn so der Gedanke gerade an Hilmar König und dessen regsame, strebende Selbstverständlichkeit?
Und plötzlich widerstand Manuel nicht mehr der schnellen Verbindung zwischen ihr und seinem Jungen. Wurde damit nicht für ihn gerettet, was er überhaupt – er mußte dem grausamen Leben nun schon ins Auge sehen – von ihr behalten konnte?
Robert wollte heute abend von der Universitätsstadt herüberkommen, wo er für seine Habilitation als Privatdozent das letzte erledigt hatte. Die Stelle des ersten Assistenten am archäologischen 37 Institut war ihm zugefallen. Die außerordentliche Professur war ihm für die nächste Zeit verheißen. So wurde mit der Verlobung nicht mehr in die Luft gebaut. Und Manuel angesichts der drohenden Umwelt hielt für diese Wendung, schmerzlich gesammelt, sich bereit.
* * *