Arthur Conan Doyle
Ein Duett
Arthur Conan Doyle

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Eine Musterhausfrau

Frank Crosse war erst wenige Monate verheiratet, als er auf die Vermutung kam, seine Frau müsse irgendeinen geheimen Kummer haben. Er bemerkte zuweilen eine Traurigkeit und Niedergeschlagenheit an ihr, für die er keine Erklärung wußte. Eines Samstag nachmittags kam er früher als erwartet nach Hause, und als er plötzlich ins Schlafzimmer trat, fand er sie im Korbsessel am Fenster sitzen, ein großes Buch auf dem Schoße. Als sie mit einer Mischung von Freude und Verwirrung aufblickte, sah er frische Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie legte das Buch hastig auf den Toilettetisch.

»Maude, du hast geweint!«

»Aber nein, Frank!«

»Kleine Schwindlerin! Gleich wischest du die Tränen fort!« Er kniete an ihrer Seite nieder und half.

»Geht's jetzt besser?«

»Ja, Liebster, mir ist ganz wohl.«

»Tränen alle weg?«

»Ganz weg!«

»Also erkläre!«

»Ich wollte es dir nicht sagen, Frank.« Sie drehte und wand sich in der entzückendsten Weise, als sie ihr Geheimnis preisgeben mußte. »Ich wollte dich damit überraschen. Aber ich muß einsehen, daß ich mir zuviel zugetraut habe. Ich bin nicht gescheit genug dazu. Aber es ist doch eine Enttäuschung.«

Frank nahm das dicke Buch vom Tische. Es war das »Buch der Haushaltungskunde, von Euphemia Beeton«. Auf der aufgeschlagenen Seite las er oben den Titel »Das Hausschwein«, und unten lag der Tropfen einer großen Träne. Sie war gerade auf die Abbildung des Hausschweines gefallen, aber Frank küßte sie trotzdem weg, und verwandelte damit Maudes Betrübnis in Lachen.

»Nun bist du wieder du selbst. Ich kann dich nicht weinen sehen, obgleich du nie hübscher aussiehst. Aber sag mir, Herzchen, worin hast du dir zuviel zugetraut?«

»Ich wollte soviel von Haushaltung wissen wie irgendeine Frau in England. Soviel wie Frau Beeton. Ich wollte das ganze Buch inne haben, jede Seite, von der ersten bis zur letzten.«

»Es hat 1641 Seiten«, sagte Frank, die letzte aufschlagend.

»Ich weiß. Ich fühlte wohl, daß ich ganz alt sein würde, bis ich durch wäre. Aber der letzte Teil handelt nur von Testamenten und Homöopathie und dergleichen, weißt du. Das hätte für später bleiben können. Ich wollte vorläufig nur den ersten Teil lernen – aber es ist so schwer!«

»Und wozu wolltest du das, Maude?«

»Weil ich wollte, daß du so glücklich seist wie der Mann der Frau Beeton.«

»Ich wette, daß ich es bin.«

»Nein, Frank, du kannst es nicht sein. In dem Buch steht, das Glück und die Behaglichkeit des Mannes hängt von der Haushaltungskunst der Frau ab. Frau Beeton muß die wunderbarste Hausfrau der Welt sein. Folglich ist Herr Beeton der glücklichste und behaglichste aller Männer. Aber warum soll Beeton glücklicher und behaglicher sein als mein Frank? Von der Stunde, da ich das gelesen hatte, beschloß ich, daß er es nicht sein soll – und er wird es nicht sein.«

»Und er ist es nicht.«

»Ja, das glaubst du nur, weil du nicht vergleichen kannst. Dir gefällt, was ich tue, weil ich es tue. Aber wenn du einen Besuch bei Frau Beeton machen würdest, würdest du erst den Unterschied sehen.«

»Was du für eine merkwürdige Gewohnheit hast, immer am Fenster zu sitzen!« sagte Frank nach einer Zwischenpause. »Ich möchte darauf schwören, daß die weise Frau Beeton das nirgends empfiehlt – besonders wenn ein Dutzend anderer Fenster in Blickweite liegen.«

»Dann solltest du es eben nicht tun.«

»Dann solltest du eben nicht so reizend sein.«

»Findest du mich wirklich noch immer hübsch?«

»Ah, du willst Komplimente!«

»Nach all dieser Zeit?«

»Du wirst mit jedem Tag hübscher.«

»Nicht ein bißchen überdrüssig?«

»Du Süßes! Wenn ich deiner überdrüssig bin, werde ich des Lebens überdrüssig sein.«

»Wie wunderbar ist das alles eigentlich!«

»Nicht wahr?«

»Wenn ich an den ersten Tag damals beim Tennis denke: ›Ich hoffe, Sie sind kein sehr starker Spieler, Herr Crosse.‹ – ›Nein, Fräulein, aber ich werde mit Vergnügen an einer Partie teilnehmen.‹ So fingen wir an. Und heute!«

»Ja, es ist wunderbar.«

»Und nachher beim Abendessen. ›Gefällt Ihnen Irving?‹ – ›Ja, ich halte ihn für einen großen Künstler.‹ Wie förmlich und sachlich wir waren! Und jetzt sitze ich hier mit dir am Fenster eines Schlafzimmers und wickle mir dein Haar um den Finger.«

»Es ist freilich sehr merkwürdig. Aber wenn man es genau überlegt, so dürfte wohl dasselbe schon einem oder dem andern passiert sein.«

»Aber noch nie so wie bei uns.«

»Nein, noch nie so wie bei uns. Aber mit einer Art Familienähnlichkeit, weißt du. Eheleute werden gewöhnlich später etwas besser miteinander bekannt als an dem Tage, da sie einander zum ersten Mal sahen.«

»Was hast du damals von mir gedacht, Frank?«

»Ich hab' dir's ja schon so oft gesagt.«

»Sag mir's noch einmal.«

»Wozu, da du's ja weißt?«

»Aber ich will es wieder hören.«

»Das heißt dich verziehen.«

»Ich lasse mich so gerne verziehen.«

»Nun, ich dachte mir, – wenn ich dieses Mädchen erringen kann, dann werde ich im Leben vielleicht noch etwas leisten. Und dann dachte ich – wenn ich dieses Mädchen nicht erringen kann, werde ich nie wieder derselbe Mensch sein.«

»Wirklich, Frank, gleich am ersten Tag?«

»Ja, gleich am ersten Tag.«

»Und dann?«

»Und dann wurde das Gefühl Tag um Tag und Woche um Woche stärker, bis es alle meine sonstigen Hoffnungen und Interessen und Bestrebungen verschlungen hatte. Ich wage kaum daran zu denken, Maude, was mit mir geschehen wäre, wenn du mich abgewiesen hättest.«

Sie lachte laut vor Freude.

»Wie wunderschön das klingt! Und das Erstaunliche ist dabei, daß du, wie es scheint, gar nicht enttäuscht bist. Ich habe immer gefürchtet, daß du eines Tages, wenn wir einmal verheiratet sind – nicht gleich, natürlich, aber vielleicht nach einer Woche oder so –, plötzlich auffahren wirst wie einer, der aus einem hypnotischen Schlafe geweckt wird, und sagen wirst: ›Mein Gott, ich habe sie für hübsch gehalten! Und ich habe sie für liebenswürdig gehalten! Wie konnte ich nur so verliebt sein in solch ein kleines, unbedeutendes, unwissendes, eigennütziges, uninteressantes – –‹ Frank, die Nachbarn werden dich sehen!«

»Dann solltest du mich nicht so herausfordern.«

»Was wird sich Frau Potter denken?«

»Du solltest die Vorhänge herablassen, ehe du solche Reden führst.«

»Nun sitz wieder ruhig und sei schön brav.«

»Jetzt sag mir einmal, was du gedacht hast.«

»Ich dachte, daß du sehr gut Tennis spielst.«

»Und was sonst?«

»Und daß du hübsch zu plaudern weißt.«

»Wirklich? Ich habe mich im Leben nicht so unbeholfen gefühlt. Ich war verlegen wie ein Schuljunge.«

»Das hat mir gerade so gefallen. Ich kann die kühlen, selbstgewissen Leute nicht ausstehen. Ich sah, daß du erregt warst, und ich dachte sogar –«

»Ja?«

»Nun, ich dachte, daß ich vielleicht die Ursache davon sei.«

»Und ich gefiel dir?«

»Du interessiertest mich sehr.«

»Das ist eben das Wunder, das ich nie begriffen habe, Du, mit deiner Schönheit und Anmut, Tochter eines reichen Vaters, ein Mädchen, dem alle jungen Leute zu Füßen lagen, und ich ein gewöhnlicher Mensch, weder hübsch, noch gebildet, noch vornehm, noch – –«

»Willst du wohl still sein? Still, sage ich!«

»Na also, da ist die alte Frau Potter richtig am Fenster! Diesmal ist es geschehen. Kehren wir zu ernstem Gespräch zurück.«

»Wieso sind wir davon abgekommen?«

»Durch das Schwein, glaube ich. Und dann durch den Gemahl der Frau Beeton. Aber was hat das Schwein damit zu tun? Und warum hast du darüber geweint? Welche Bemerkungen macht denn die Dame über das Hausschwein?«

»Lies einmal selbst.«

Frank las laut vor: »Das Schwein gehört zur Ordnung der Säugetiere, Gattung Sus scrofa, Gruppe der Pachydermata oder Dickhäuter. Seine Merkmale sind eine lange, biegsame Schnauze, zweiundvierzig Zähne, gespaltene Füße mit je vier Zehen und ein dünner, kurzer, geringelter Schwanz, der aber bei manchen Abarten ganz fehlt. – Ja, was in aller Welt hat das mit der Haushaltung zu tun?«

»Nicht wahr? Das habe ich auch nicht verstanden. Es ist so entmutigend, daß man sich das alles merken soll. Was kann es denn ausmachen, wenn das Schwein wirklich zweiundvierzig Zähne hat? Und doch, da Frau Beeton es weiß, so muß man es wohl auch wissen. Wenn man einmal anfängt auszulassen, dann weiß man nicht mehr, was man auslassen soll, und was nicht. Und es ist wirklich ein ausgezeichnetes Buch. Was immer man sucht, man findet es darin. Man braucht nur den Index aufzuschlagen. Zum Beispiel, Marmelade. Willst du Marmelade, hier findest du sie. Masern. Willst du – ich meine, willst du keine Masern, hier findest du, wie man sie vermeidet. Milchzähne – hier steht alles darüber. Morellen – ich bin überzeugt, du weißt nicht, was Morellen sind, Frank.«

»Nein, allerdings nicht.«

»Ich auch nicht. Aber ich schlage nach und weiß es sogleich. Hier, Paragraph 2847. Es ist eine Sorte Kirschen. Siehst du, so lernt man zu.«

Frank nahm das Buch und ließ es fallen. Es schlug mit einem mürrischen Plumps auf den Teppich.

»Nichts, was es dich lehren könnte, mein Lieb, kann mich dafür entschädigen, wenn du weinst oder dich härmst. – Du aufgeblasenes, pedantisches Ding!« rief er in plötzlich ausbrechender Wut und versetzte dem dicken Band einen Fußtritt. »Dir verdanke ich all die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, die ich in letzter Zeit bei meiner Frau bemerkt habe. Jetzt kenne ich meinen Feind. Du großmäuliger, bombastischer Humbug, ich werde dir deinen roten Einband heruntertreten!«

Aber Maude hob das Buch rasch auf und drückte es an die Brust. »Nein, nein, Frank, ich wüßte nicht, was ich täte, wenn ich es nicht hätte. Du hast keine Idee, was für ein weises Buch es ist. Setz dich hier auf den Schemel zu meinen Füßen, und ich werde dir daraus vorlesen.«

»Ja, Herzchen. Das wird reizend sein!«

»Also sitz still und sei brav. Hör einmal diese Perle der Weisheit: ›Was für den Befehlshaber einer Armee gilt, das gilt auch für die Hausfrau. Ihr Geist durchdringt alle Teile des Hauses, und in eben dem Maße, wie sie ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt, wird ihr Gesinde ihrem Beispiel folgen.‹«

»Woraus folgt,« warf Frank ein, »daß Jemima ein wahres Muster von einem Stubenmädchen sein muß.«

»Im Gegenteil, es erklärt alle ihre Unvollkommenheiten. Hör einmal das da: ›Zeitiges Aufstehen ist eine der wichtigsten Eigenschaften. Wenn eine Hausfrau zeitig auf ist, so ist es beinahe sicher, daß ihr Haus wohlgehalten und ordentlich sein wird.‹«

»Na also, du bist immer schon um neun Uhr unten – was kannst du mehr wollen?«

»Neun Uhr? Ich bin überzeugt, daß Frau Beeton täglich um sechs Uhr aufsteht.«

»Ich möchte das bezweifeln. Mir scheint, die Dame tut ein wenig zu großartig. Es würde mich nicht überraschen zu hören, daß sie täglich im Bett frühstückt.«

»Aber Frank, du hast vor gar nichts Respekt!«

»Laß mich noch etwas Weisheit hören.«

»›Mäßigkeit und Sparsamkeit sind Eigenschaften, ohne die kein Haus gedeihen kann. Dr. Johnson sagt: Mäßigkeit kann mit Recht –‹ Ach, was geht uns Dr. Johnson an! Was versteht denn ein Mann davon! Wenn sie noch von Frau Johnson sprechen würde –«

»Johnson besorgte Jahre hindurch selbst seinen Haushalt – und es sah wunderlich genug bei ihm aus.«

»Das glaube ich.« Maude warf geringschätzig den Kopf auf. »Frau Beeton ist eine kluge Frau, aber von Dr. Johnson lasse ich mich nicht belehren. Wo hielt ich? Ja richtig – ›Man muß sich immer vor Augen halten, daß mit wenigem gut zu wirtschaften das größte Verdienst einer Hausfrau ist.‹«

»Hurra! Nieder mit dem zweiten Gemüse! Kein Pudding an Fischtagen! Vive la bière de Pilsen!«

»Was du für einen Lärm machst!«

»Das Buch ist so aufregend. Was noch?«

»›Freundschaften sollen nicht übereilt geschlossen werden, nicht jedem neuen Menschen soll man sein Herz entgegenbringen –‹«

»Ha, das will ich meinen! Wenn ich dich je dabei erwische! Du gestattest wohl, daß ich mir eine Zigarette anzünde? Sagt Frau Beeton etwas vom Rauchen in Schlafzimmern?«

»Eine solche Ungeheuerlichkeit ist ihr nicht einmal als entfernte Möglichkeit in den Sinn gekommen. Wenn sie dich gekannt hätte, Schatz, hätte sie einen eigenen Anhang über alle durch dich entstehenden Fragen schreiben müssen. Soll ich weiter lesen?«

»Bitte, ja!«

»Sie spricht hier von der Konversation. ›In der Konversation mit Freunden soll man alltägliche Ereignisse, kleine Unannehmlichkeiten, unbedeutende Ärgernisse nicht berühren. Eine Frau, die sich und ihren Mann achtet, soll nie ein Wort über seine Unvollkommenheiten über die Lippen bringen –‹«

»Bei Gott, dieses Buch enthält mehr Weisheit auf den Quadratzoll als irgendein Menschenwerk!« rief Frank begeistert aus.

»Ich wußte, daß dir das gefallen würde. ›Jede Frau soll bestrebt sein, sich stets sanft und heiter zu zeigen, denn man kann sagen, daß davon das Glück des Hauses abhängt.‹«

»Ausgezeichnet!«

»›Wenn man einen Haushalt gründet, so ist es immer am vorteilhaftesten, von jedem Ding das beste in seiner Art anzuschaffen.‹«

»Darum habe ich dich genommen, Maude.«

»Danke verbindlichst. Es folgt eine Abhandlung über Kleidung und Mode, eine über das Aufnehmen von Dienstboten, eine über tägliche Arbeiten, eine über Besuche, eine über körperliche Übungen im Freien –«

»Die wichtigste von allen!« rief Frank, aufspringend und seine Frau an den Armen aus dem niedrigen Korbsessel emporziehend. »Wir haben gerade noch Zeit für eine Partie Golf, ehe es finster wird, wenn du so kommst, wie du da bist. Aber hör einmal, Kleine: Wenn ich dich noch einmal dabei finde, daß du dich über Haushaltungssachen sorgst oder härmst –«

»Nein, Frank, ich werde nicht!«

»Sonst fliegt Frau Beeton ins Feuer. Merk dir das!«

»Du bist sicher, daß du Herrn Beeton nicht beneidest?«

»Ich beneide keinen Mann der Welt.«

»Warum sollte ich mich also bemühen, so wie Frau Beeton zu werden?«

»Selbstverständlich, warum solltest du!«

»Ach, Frank, mir ist eine Last vom Herzen! Diese sechzehnhundert Seiten sind seit Monaten darauf gelegen wie ein Stein. Komm, Herzensschatz!«

Und sie ratterten die Treppen hinunter, um ihre Golfschläger zu holen.

 


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