Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Neuntes Kapitel

1

Ich eilte nach Hause und war sonderbarerweise sehr zufrieden mit mir. So spricht man natürlich nicht mit Damen, und noch dazu mit solchen Damen, – richtiger gesagt, mit solch einer Dame, weil ich Tatjana Pawlowna nicht mitrechnete. Es mag ja sein, daß man einer Frau von dieser Art unter keinen Umständen ins Gesicht sagen darf: »Ich spei' auf Ihre Intrigen«, aber ich hatte es ihr gesagt und war eben damit zufrieden. Um von allem anderen zu schweigen, – ich war wenigstens überzeugt, daß ich durch diesen Ton alles Lächerliche beseitigt hatte, das in meiner Situation lag. Aber ich hatte keine Zeit, sehr lange darüber nachzudenken; in meinem Kopf saß der Gedanke an Kraft. Nicht daß er mich gerade sehr quälte, aber immerhin war ich bis ins tiefste erschüttert, sogar so stark, daß das allgemein menschliche Gefühl einer gewissen Befriedigung über fremdes Unglück – das heißt, wenn sich einer das Bein bricht, oder seine Ehre verliert, oder eines geliebten Wesens beraubt wird – daß selbst dieses übliche Gefühl einer häßlichen Befriedigung in mir einem anderen außerordentlich ungeteilten Gefühl Platz gemacht hatte, nämlich dem Kummer: dem Mitleid mit Kraft; das heißt, ich weiß nicht, ob es Mitleid war, aber jedenfalls war es ein sehr starkes und gutes Gefühl. Und damit war ich gleichfalls zufrieden. Erstaunlich, wieviel ganz verschiedenartige Gedanken einem gerade dann in den Sinn kommen können, wenn man ganz erschüttert ist von einer furchtbaren Nachricht, die, sollte man eigentlich glauben, doch alle anderen Gefühle ersticken, alle abseits liegenden Gedanken verjagen müßte, besonders Gedanken an Kleinigkeiten; aber gerade das Gegenteil ist der Fall, eben die Kleinigkeiten drängen sich vor. Ich weiß noch, daß allmählich ein ziemlich heftiges nervöses Zittern meinen ganzen Körper erfaßte, das einige Minuten anhielt, ja sogar die ganze Zeit, solange ich zu Hause war und bis ich mich mit Wersilow auseinandergesetzt hatte.

Diese Auseinandersetzung fand unter sonderbaren und außergewöhnlichen Umständen statt. Ich habe schon erwähnt, daß wir in einem besonderen Häuschen auf dem Hofe wohnten; die Wohnung war Wohnung Nummer dreizehn. Noch bevor ich in das Tor getreten war, hörte ich schon eine weibliche Stimme, die sich laut, ungeduldig und erregt bei jemand erkundigte: »Wo ist hier Wohnung Nummer dreizehn?« Eine Dame war es, die gleich an der Pforte fragte, sie hatte die Tür eines kleinen Ladens geöffnet; sie schien aber doch keine Antwort zu bekommen oder sogar hinausgewiesen zu werden und ging die Ladentreppe hinunter, hastig und böse.

»Wo ist denn hier der Hausmeister?« schrie sie, mit dem Fuß aufstampfend. Ich hatte die Stimme längst erkannt.

»Ich muß auch in die Wohnung Nummer dreizehn,« mit diesen Worten trat ich auf sie zu, »wen suchen Sie?«

»Ich suche schon seit einer Stunde den Hausmeister, überall hab' ich gefragt, alle Treppen bin ich hinaufgelaufen.«

»Er ist auf dem Hofe. Kennen Sie mich nicht wieder?«

Aber sie hatte mich schon erkannt.

»Sie suchen Wersilow; Sie haben etwas mit ihm abzumachen, und ich auch,« fuhr ich fort, »ich bin gekommen, um von ihm für ewig Abschied zu nehmen. Kommen Sie.«

»Sie sind sein Sohn?«

»Das hat nichts zu sagen. Übrigens, nehmen wir an, ich wäre sein Sohn, wenn ich auch Dolgorukij heiße, ich bin ein uneheliches Kind. Dieser Herr hat eine Unzahl von unehelichen Kindern. Und wenn Gewissen und Ehre es verlangen, geht auch ein leiblicher Sohn aus dem Hause. Das steht schon in der Bibel. Und außerdem hat er jetzt eine Erbschaft gemacht, und ich will keinen Teil an ihr haben, ich gehe, um von meiner Hände Arbeit zu leben. Wenn es nötig ist, opfert ein edler Mensch sogar sein Leben; Kraft hat sich erschossen, Kraft, um der Idee willen, stellen Sie sich das vor, ein junger Mensch, der zu großen Hoffnungen berechtigte . . . Dort, bitte, dort! Wir bewohnen ein besonderes Häuschen. Das steht schon in der Bibel, daß die Kinder die Eltern verlassen und ihr eigenes Nest bauen . . . Wenn einen die Idee ruft . . . wenn man eine Idee hat! Die Idee ist die Hauptsache, in der Idee liegt alles . . .«

In der Art schwatzte ich die ganze Zeit auf sie ein, während wir uns nach unserer Wohnung begaben. Der Leser wird wahrscheinlich merken, daß ich mich nicht gerade schone und mir ein gerechtes Zeugnis gebe, wo es not tut: ich will es lernen, die Wahrheit zu sagen. Wersilow war zu Hause. Ich trat ein, ohne den Mantel abzulegen, sie gleichfalls. Gekleidet war sie äußerst dürftig; über ihrem Kleidchen baumelte oben irgendein Lappen, der einen Mantel oder eine Mantille vorstellen sollte, auf dem Kopf hatte sie ein altes ruppiges Matrosenhütchen, das sie durchaus nicht kleidete. Als wir in das Zimmer kamen, saß meine Mutter mit ihrer Arbeit auf dem gewohnten Platz; meine Schwester war aus ihrem Zimmer getreten, um zu sehen, was los wäre, und in der Tür stehengeblieben. Wersilow tat wie gewöhnlich gar nichts und erhob sich, als wir eintraten; er heftete einen strengen, fragenden Blick auf mich.

»Ich habe mit der Sache nichts zu tun,« beeilte ich mich ihm zu sagen und trat dann beiseite, »ich habe die Dame hier an der Pforte getroffen; sie suchte Sie, und niemand konnte ihr Auskunft geben. Ich komme in einer eigenen Angelegenheit, die ich Ihnen zu erklären das Vergnügen haben werde, wenn die Dame fertig ist . . .«

Wersilow fuhr dennoch fort, mich neugierig zu mustern.

»Erlauben Sie mal«, begann das junge Mädchen ungeduldig. Wersilow wendete sich an sie.

»Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sie wohl darauf gekommen sein mögen, mir gestern das Geld da zu lassen . . . Ich . . . kurz und gut . . . da haben Sie Ihr Geld!« kreischte sie beinahe, wie vorher in ihrem Zimmer, und warf ein Päckchen Rubelscheine auf den Tisch. »Ich mußte Ihre Adresse erst auf dem Adreßbureau erfragen, sonst hätte ich es schon früher gebracht. Hören Sie, Sie!« wendete sie sich auf einmal an meine Mutter, die ganz bleich wurde, »ich will Sie nicht kränken, Sie sehen ehrenhaft aus, und das da ist am Ende sogar Ihre Tochter. Ich weiß nicht, ob Sie seine Frau sind, aber Sie sollen wissen, daß dieser Herr Inserate aus den Zeitungen ausschneidet, die Gouvernanten und Lehrerinnen für ihr letztes Geld einrücken, und dann zu diesen Unglücklichen hinläuft, um dort ehrlose Beute zu machen und sie mit seinem Geld ins Unglück zu ziehen. Ich begreife nicht, wie ich gestern das Geld von ihm annehmen konnte: er sah so ehrlich aus! . . . Fort, kein Wort! Sie sind ein Taugenichts, geehrter Herr! Und selbst wenn Sie mit ehrlichen Absichten gekommen wären, ich will Ihre Almosen nicht. Kein Wort, kein Wort. Oh, wie ich mich freue, daß ich Sie jetzt einmal vor Ihren weiblichen Angehörigen entlarvt habe! Verflucht sollen Sie sein!«

Sie lief schnell hinaus, aber auf der Schwelle wendete sie sich noch einmal für einen Moment um, nur um zu schreien:

»Sie sollen ja eine Erbschaft gemacht haben!«

Und dann verschwand sie wie ein Schatten. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam: das Weib war ganz außer sich. Wersilow war tief bestürzt: er stand wie in Gedanken und überlegte etwas; endlich wendete er sich mit einem Ruck zu mir:

»Du kennst sie überhaupt nicht?«

»Ich hab' sie heute früh ganz zufällig gesehen, wie sie auf dem Gange bei Wasin tobte und kreischte und Sie verfluchte; aber auf ein Gespräch hab' ich mich mit ihr nicht eingelassen und weiß von nichts; jetzt hab' ich sie hier an der Pforte getroffen. Es ist wohl jene selbe Lehrerin von gestern, die ›Unterricht in der Arithmetik‹ erteilt?«

»Ja, das ist die. Einmal im Leben tut man ein gutes Werk, und . . . Übrigens, was wolltest du denn?«

»Hier ist ein Brief«, erwiderte ich. »Nähere Erklärungen erscheinen mir überflüssig; er kommt von Kraft, der hatte ihn von dem verstorbenen Andronikow. Aus dem, was drinsteht, werden Sie alles ersehen. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß in diesem Moment kein Mensch auf Erden, außer mir, etwas von diesem Briefe weiß, weil Kraft, der mir diesen Brief gestern übergab, sich gleich, nachdem ich ihn verlassen hatte, erschossen hat . . .«

Während ich atemlos und hastig sprach, entfaltete er den Brief und hörte mir dabei aufmerksam zu. Als ich von Krafts Selbstmord erzählte, heftete ich meinen Blick mit besonderer Aufmerksamkeit auf sein Gesicht, um die Wirkung zu beobachten. Und wird man's glauben? – diese Mitteilung machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn; er zuckte nicht einmal mit einer Wimper! Im Gegenteil, als er merkte, daß ich verstummt war, zog er seine Lorgnette hervor, die ihn nie verließ und an einem schwarzen Bande hing, hielt den Brief ans Licht, sah nach der Unterschrift und begann ihn aufmerksam zu lesen. Ich kann es nicht beschreiben, wie mich diese hochmütige Gefühllosigkeit beleidigte. Er mußte Kraft doch sehr gut kennen; außerdem war das doch immerhin eine nicht ganz alltägliche Nachricht! Schließlich hatte ich mir natürlich auch gewünscht, daß sie Eindruck machen sollte. Ich stand noch vielleicht eine halbe Minute da, aber ich wußte, daß der Brief lang war; so drehte ich mich denn um und ging hinaus. Mein Handkoffer war längst gepackt, ich brauchte nur noch ein paar Sachen in ein Bündel zu schnüren. Ich dachte an meine Mutter, und daß ich auf diese Weise nicht mehr dazu gekommen war, mich ihr noch einmal zu nähern. Nach zehn Minuten, als ich schon fertig war und mir gerade eine Droschke holen wollte, kam meine Schwester in meine Kammer herauf.

»Da schickt dir Mama deine sechzig Rubel und bittet dich nochmals um Entschuldigung, weil sie Andrej Petrowitsch davon erzählt hat, und dann noch zwanzig Rubel. Du hast ihr gestern für Kost und Logis fünfzig gegeben; Mama sagt, mehr als dreißig könnte sie von dir keinesfalls annehmen, weil sie für dich keine fünfzig Rubel ausgegeben hat: zwanzig schickt sie dir zurück.«

»Na, dann dank' ich auch schön. Wenn es nur wahr ist, was sie sagt! Leb' wohl, Lisa, ich gehe jetzt fort!«

»Wohin willst du denn jetzt?«

»Fürs erste in ein Gasthaus, um nur nicht in diesem Hause übernachten zu müssen. Sag' Mama, daß ich sie liebhabe.«

»Das weiß sie. Sie weiß, daß du auch Andrej Petrowitsch liebhast. Schämst du dich denn nicht, daß du dies unglückliche Wesen hergebracht hast!«

»Ich schwöre dir, ich war's nicht; ich habe sie an der Pforte getroffen.«

»Nein, du hast sie hergebracht.«

»Ich versichere dir . . .«

»Denk' mal nach, frage dich, und du wirst sehen, daß du die Veranlassung warst.«

»Ich habe mich nur sehr gefreut, daß sie Wersilow beschämt hat. Stell' dir vor, er hat ein kleines Kind von Lydia Achmakowa . . . Übrigens, was soll das alles, ich sag' dir . . .«

»Er? Ein kleines Kind? Aber das ist ja nicht sein Kind! Wo hast du diesen Schwindel gehört?«

»Ja, woher solltest du es wissen?«

»Ich soll's nicht wissen? Ja, ich hab' dieses Kind doch in Luga gewartet. Hör' mal, mein lieber Bruder: ich seh' es schon lange, daß du überhaupt nicht die geringste Ahnung hast, und dabei beleidigst du Andrej Petrowitsch – na, und Mama auch.«

»Wenn er im Recht ist, will ich meine Schuld bekennen, das ist das Ganze, und euch liebe ich drum nicht weniger. Warum bist du so rot geworden, Schwester? Na, und jetzt noch mehr! Na, schön, aber nichtsdestoweniger werd' ich diesen kleinen Fürsten zum Duell fordern für die Ohrfeige, die er Wersilow in Ems gegeben hat. Wenn Wersilow in der Sache mit der Achmakowa im Rechte war, um so schlimmer.«

»Bruder, sei doch vernünftig, was hast du!«

»Die Sache vor dem Gericht ist jetzt glücklich erledigt . . . Na, jetzt wirst du auf einmal bleich.«

»Ach, der Fürst schlägt sich ja doch nicht mit dir«, lächelte Lisa durch ihren Schrecken hindurch mit einem bleichen Lächeln.

»Dann beschimpfe ich ihn öffentlich. Was hast du, Lisa?«

Sie war so bleich geworden, daß sie sich nicht mehr auf den Füßen hielt und auf den Diwan sank.

»Lisa!« hörten wir unten meine Mutter rufen.

Sie sammelte sich und stand auf; sie lächelte mir freundlich zu.

»Bruder, laß diese Dummheiten oder warte so lange, bis du alles erfährst! Schrecklich, wie wenig du weißt.«

»Ich werde daran denken, Lisa, daß du bleich geworden bist, als du hörtest, ich wollte mich duellieren.«

»Ja, ja, denk' auch daran!« lächelte sie noch einmal zum Abschied, und ging.

Ich holte eine Droschke und trug mit Hilfe des Kutschers meine Sachen hinunter. Keiner von den Hausgenossen widersprach mir oder hielt mich auf. Ich ging nicht hinein um meiner Mutter Lebewohl zu sagen, weil ich Wersilow nicht begegnen wollte. Als ich schon in der Droschke saß, kam mir auf einmal ein Gedanke:

»Fontanka, bei der Semionowbrücke«, befahl ich plötzlich und fuhr wieder zu Wasin.

 

2

Mir war auf einmal in den Sinn gekommen, Wasin müsse schon das von Kraft wissen, und vielleicht hundertmal mehr als ich; und so war es denn auch. Wasin erzählte mir gleich und bereitwillig alle Einzelheiten, übrigens ohne große Hitze; ich schloß daraus, daß er sehr ermüdet war, und das war auch sicherlich der Fall. Er war am Morgen selbst bei Kraft gewesen. Kraft hatte sich mit dem Revolver (mit demselben) erschossen, gestern, als es schon tief dämmerte, was aus seinem Tagebuch hervorging. Die letzte Notiz im Tagebuch war direkt vor dem Schuß gemacht und er hatte darin bemerkt, daß er schon in fast vollkommener Finsternis schriebe und kaum noch die Buchstaben unterscheiden könnte; eine Kerze wollte er nicht anzünden, damit nach seinem Tode kein Feuer entstände. »Und sie anzünden, um sie vor dem Schusse wieder auszulöschen, wie ich mein Leben auslösche, das will ich nicht«, hatte er – wie seltsam! – in der letzten Zeile hinzugefügt. Dieses Tagebuch vor dem Tode hatte er vorgestern angefangen, gleich nach seiner Rückkehr nach Petersburg, noch vor dem Besuche bei Dergatschow. Nachdem ich ihn verlassen hatte, hatte er jede Viertelstunde Eintragungen gemacht; die letzten drei, vier Notizen hatte er mit Pausen von je fünf Minuten niedergeschrieben. Ich brach in ein lautes Staunen darüber aus, daß Wasin, der dieses Tagebuch solange vor Augen gehabt hatte (man hatte es ihm zu lesen gegeben), keine Abschrift genommen hatte, um so mehr, als es nur einen Bogen Umfang hatte und alle Notizen ganz kurz waren, – »wenigstens doch die letzte Zeile!« Wasin bemerkte mir lächelnd, er würde es auch so behalten, außerdem wären die Notizen ohne jedes System und handelten von allem, was ihm gerade in den Kopf gekommen war. Ich begann ihm klarzumachen, daß auch das im gegebenen Falle sehr wertvoll sei, ließ das dann aber und begann in ihn zu dringen, er möchte sich doch auf einiges besinnen, und er besann sich auf ein paar Zeilen, so zum Beispiel hatte er eine Stunde vor dem Schusse geschrieben, »ihn fröre,« er hätte schon daran gedacht, einen Schnaps zu trinken, um sich zu erwärmen, aber der Gedanke, daß das den Bluterguß vergrößern könnte, hätte ihn davon abgehalten«. Und in der Art wäre alles gewesen, schloß Wasin.

»Und das nennen Sie kleinliches Zeug!« rief ich.

»Wann hätte ich es so genannt? Ich habe nur keine Abschrift genommen. Aber mag es auch kein kleinliches Zeug sein, immerhin ist dieses Tagebuch ziemlich gewöhnlich, oder besser, natürlich, das heißt, eben geradeso, wie ein Tagebuch in solchem Fall sein muß . . .«

»Aber es sind doch seine letzten Gedanken, die letzten Gedanken!«

»Solche letzten Gedanken sind manchmal höchst unbedeutend. Ein Selbstmörder, von dem ich hörte, beklagt sich eben in so einem Tagebuch darüber, wie traurig es wäre, daß in einer so wichtigen Stunde auch nicht ein einziger ›höherer Gedanke‹ ihn besuchte, sondern im Gegenteil lauter kleinliche, leere.«

»Und daß ihn friert, ist das auch ein leerer Gedanke?«

»Das heißt, meinen Sie eigentlich das Frösteln oder den Bluterguß? Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß viele Leute, die die Kraft haben, über ihren bevorstehenden Tod nachzudenken, mag er nun freiwillig sein oder nicht, sehr oft geneigt sind, sich Sorgen darüber zu machen, in welch häßlichem Zustand ihr Leichnam zurückbleiben wird. In eben diesem Sinne hat sich auch Kraft davor gefürchtet, einen gar zu starken Bluterguß zu veranlassen.«

»Ich weiß nicht, ob das eine bekannte Tatsache ist . . . und ob das hier der Fall war,« murmelte ich, »aber ich wundere mich, daß Sie das alles für so natürlich halten. Und ist es denn schon so lange her, daß Kraft sprach, sich erregte, unter uns saß? Ist es Ihnen denn gar nicht leid um ihn?«

»Aber natürlich, und das steht auf einem ganz anderen Plan; aber jedenfalls hat sich Kraft selbst seinen Tod in Gestalt eines logischen Schlusses vorgestellt. Es zeigt sich, daß alles richtig war, was gestern bei Dergatschow von ihm gesagt wurde: er hat ein Heft voll gelehrter Schlüsse darüber hinterlassen, daß die Russen eine Menschenrasse zweiter Klasse sind, Schlüsse auf Grund der Phrenologie, der Kraniologie und sogar der Mathematik, und daß es sich folglich für einen Russen gar nicht lohnt zu leben. Wenn Sie wollen, ist das Charakteristischste daran, daß man jeden logischen Schluß ziehen kann, den man will; aber hingehen und sich in Konsequenz solch eines Schlusses erschießen – das kommt natürlich nicht jeden Tag vor.«

»Wenigstens muß man doch seinem Charakter Ehre widerfahren lassen.«

»Vielleicht nicht einmal dem allein,« bemerkte Wasin nachgiebig, »aber klar ist, daß damit eine gewisse Dummheit oder Schwachheit verbunden ist. Mich hat das alles erbost.«

»Sie haben gestern selbst von Gefühlen gesprochen, Wasin.«

»Ich leugne sie auch jetzt nicht: aber angesichts der vollendeten Tatsache erscheint mir etwas in ihr so grob fehlerhaft, daß ein fester und harter Blick auf die Sache selbst das Mitleid ganz unwillkürlich, sagen wir, verdrängt.«

»Wissen Sie was: ich hatte es Ihnen schon gleich an den Augen angesehen, daß Sie Kraft tadeln würden, und um Ihre tadelnden Bemerkungen nicht hören zu müssen, beschloß ich, Sie nicht nach Ihrer Meinung zu fragen; aber Sie haben sie von selbst gesagt, und ich bin gezwungen, Ihnen recht zu geben; aber dabei bin ich gleichzeitig unzufrieden mit Ihnen! Mir ist es leid um Kraft.«

»Wissen Sie, wir sind weit abgekommen . . .«

»Ja, ja,« fiel ich ihm ins Wort, »aber tröstlich ist wenigstens das eine, daß in solchen Fällen immer die Überlebenden, die Richter über den Toten, so für sich sagen können: wenn sich da auch ein Mensch erschossen hat, der jedes Mitleids und aller Anerkennung wert war, aber immerhin sind wir übriggeblieben, und also hat's keinen Zweck, groß zu trauern.«

»Ja, natürlich, wenn man's von dem Gesichtspunkt . . . Ach, aber Sie haben, glaub' ich, nur einen Scherz gemacht! Sehr fein sogar. Ich pflege um diese Zeit Tee zu trinken und werde ihn gleich bestellen; Sie leisten mir wohl Gesellschaft?«

Und er ging hinaus und maß dabei meinen Koffer und mein Bündel mit einem Blick.

Ich hatte in der Tat etwas recht Boshaftes sagen wollen, um Kraft zu rächen, und hatte es gesagt, so gut ich's verstand; interessant nur, daß er anfangs meinen Gedanken: »es sind Leute wie wir übrig geblieben«, für Ernst nahm. Aber mochte das nun so sein oder nicht, jedenfalls hatte er in allen Punkten mehr recht als ich, sogar in seinen Gefühlen. Ich gestand mir das ohne jegliches Mißvergnügen ein, hatte aber das bestimmte Gefühl, daß ich ihn nicht mochte.

Als der Tee kam, erklärte ich ihm, ich bäte ihn um seine Gastfreundschaft, nur für diese eine Nacht; wenn es nicht ginge, sollte er es ruhig sagen, ich würde dann in ein Gasthaus gehen. Dann legte ich ihm in Kürze meine Gründe dar: ich sagte ihm gerade und einfach heraus, daß ich mich mit Wersilow endgültig entzweit hatte, ohne dabei auf Einzelheiten einzugehen. Wasin hörte mir aufmerksam zu, aber ohne sich im geringsten darüber zu erregen. Überhaupt antwortete er nur auf meine Fragen, obgleich er gern und hinreichend ausführlich antwortete. Den Brief übrigens, wegen dessen ich ihn vorher hatte um Rat fragen wollen, verschwieg ich gänzlich, und meinen ersten Besuch erklärte ich als eine einfache Visite. Da ich einmal Wersilow mein Wort gegeben hatte, daß niemand außer mir von diesem Brief erfahren sollte, fühlte ich mich jetzt nicht mehr berechtigt, mit jemand davon zu sprechen. Und mir war es, weiß Gott warum, besonders zuwider, Wasin von manchen Dingen Mitteilung zu machen. Von manchen, – von anderen wieder nicht; so gelang es mir, ihn durch meine Wiedergabe der vorhin stattgefundenen Szenen auf dem Gange und im Zimmer seiner Nachbarinnen, die in Wersilows Wohnung ihren Abschluß gefunden hatten, lebhaft zu interessieren. Er hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, besonders dem, was ich von Stebelkow erzählte. Wie Stebelkow mich über den Besuch bei Dergatschow ausgefragt hatte, mußte ich ihm zweimal erzählen, er wurde sogar ganz nachdenklich darüber. Übrigens, trotz alledem brach er schließlich in Lachen aus. Mich dünkte in diesem Moment plötzlich, nichts und niemand könnte Wasin in Verlegenheit bringen; übrigens tauchte der erste Gedanke hierüber, weiß ich noch, in einer für Wasin durchaus schmeichelhaften Form bei mir auf.

»Überhaupt, ich konnte nicht viel aus dem entnehmen, was Herr Stebelkow sagte,« schloß ich meinen Bericht über Stebelkow, »er spricht doch recht unklar, möchte ich sagen . . . es ist, als ob in ihm etwas Leichtfertiges wäre . . .«

Wasin machte sogleich ein ernsthaftes Gesicht.

»Er beherrscht die Gabe des Wortes tatsächlich nicht, aber es ist ihm doch oft gelungen, gleich auf den ersten Blick sehr treffende Bemerkungen zu machen, und überhaupt – das sind alles mehr Männer der Tat, des Geschäftes, als des Gedankenaustausches; von diesem Standpunkt muß man sie beurteilen . . .«

Punkt für Punkt, wie ich mir es vorher gedacht hatte.

»Aber er hat bei Ihren Nachbarinnen einen schrecklichen Aufstand gemacht, und Gott weiß, was dabei hätte herauskommen können.«

Von den Nachbarinnen erzählte mir Wasin, sie lebten seit etwa drei Wochen hier und wären von irgendwo aus der Provinz gekommen; ihr Zimmerchen wäre sehr klein, sie wären allem Anschein nach sehr arm und säßen und warteten auf irgend etwas. Er wußte nicht, daß die jüngere sich in der Zeitung als Lehrerin angeboten hatte, hatte aber gehört, daß Wersilow bei ihnen gewesen war; das war in seiner Abwesenheit geschehen, aber die Wirtin hatte es ihm mitgeteilt. Ganz im Gegenteil hielten sich die Nachbarinnen ängstlich vor jedermann zurück, selbst vor der Wirtin. In den letzten Tagen hätte auch er angefangen zu bemerken, daß bei ihnen wirklich etwas nicht recht in Ordnung sein müßte, aber solche Szenen wie heute hätte es sonst noch nicht gegeben. Das ganze Gespräch zwischen uns über die Nachbarinnen ist mir infolge der späteren Ereignisse im Gedächtnis geblieben; bei den Nachbarinnen selbst, im Nebenzimmer, herrschte derweil eine Totenstille. Mit besonderem Interesse vernahm Wasin, daß Stebelkow es für notwendig erklärt hatte, mit der Wirtin über die Nachbarinnen zu sprechen, daß er zweimal wiederholt hatte: »Sie werden's ja sehen, Sie werden's ja sehen!«

»Und Sie werden auch sehen,« fügte Wasin hinzu, »daß ihm das nicht so um nichts und wieder nichts in den Kopf gekommen ist; er hat in der Hinsicht einen sehr scharfen Blick.«

»Also meinen Sie, man solle der Wirtin raten, sie hinauszusetzen.«

»Nein, ich meine nicht, man sollte sie hinaussetzen, aber irgendeine Geschichte wird dabei herauskommen . . . Übrigens, alle solche Geschichten enden immer, so oder so . . . Lassen wir das.«

Was nun Wersilows Besuch bei den Nachbarinnen anging, so weigerte er sich entschieden, irgendeine Ansicht darüber zu äußern.

»Alles ist möglich; ein Mensch fühlt Geld in seiner Tasche . . . Es ist übrigens ebenso wahrscheinlich, daß er einfach ein Almosen gegeben hat; das liegt in seinen Gewohnheiten und entspricht vielleicht auch seinen Neigungen.«

Ich erzählte, daß Stebelkow vorhin von einem »Säugling« geschwatzt hatte.

»Stebelkow irrt sich in diesem Falle gründlich«, sagte Wasin mit besonderem Ernst und besonderer Betonung (und ich sollte das nur zu gut im Gedächtnis behalten). »Stebelkow«, fuhr er fort, »verläßt sich gar zu sehr auf seinen praktischen Menschenverstand und ist deshalb schnell geneigt, Schlüsse zu ziehen, die seiner Logik entsprechen, die häufig sehr durchdringend ist; dabei kann aber der Vorgang in Wahrheit ein viel phantastischeres und unerwarteteres Kolorit haben, wenn man die handelnden Personen in Rechnung zieht. So war es auch hierbei; Stebelkow kannte die Sache teilweise und zog den Schluß, das Kind gehöre Wersilow; aber das Kind ist nicht von Wersilow.«

Ich drang weiter in ihn und erfuhr zu meinem größten Erstaunen: das Kind stamme von Fürst Sergej Sokolskij. Lydia Achmakowa hatte, infolge ihrer Krankheit, oder auch einfach ihrer phantastischen Charakteranlage, manchmal wie eine Geistesgestörte gehandelt. Sie war, noch bevor Wersilow an die Reihe kam, in den Fürsten verliebt gewesen, und der Fürst »hatte kein Bedenken getragen, ihre Liebe anzunehmen«, wie Wasin sich ausdrückte. Das Verhältnis dauerte nur ganz kurze Zeit: sie entzweiten sich, wie schon bekannt, und Lydia gab dem Fürsten den Laufpaß, »worüber dieser anscheinend ganz froh war«. – »Sie war ein sehr sonderbares Mädchen,« fügte Wasin hinzu, »es ist sogar sehr leicht möglich, daß sie nicht immer ganz bei Vernunft war.« – Aber als er nach Paris abreiste, hatte der Fürst keine Ahnung davon, in welchem Zustande er sein Opfer zurückließ, er wußte es bis ganz zum Schluß nicht, bis er wieder zurückkam. Wersilow, der der Freund der jungen Dame geworden war, bot ihr die Ehe mit ihm an, eben im Hinblick auf den erwähnten Zustand (von dem vermutlich auch ihre Eltern fast bis zum Schluß keine Ahnung hatten). Das verliebte junge Ding war begeistert und sah in Wersilows Antrag »nicht nur seine Selbstaufopferung allein«, die sie übrigens auch zu würdigen wußte. – »Übrigens, natürlich, er verstand die Sache schon anzufassen«, fügte Wasin hinzu. Das Kind (ein Mädchen) wurde einen Monat oder sechs Wochen vor der Zeit geboren, es wurde zuerst irgendwo in Deutschland untergebracht, dann aber hätte es Wersilow wiedergeholt, und jetzt wäre es irgendwo in Rußland, vielleicht auch in Petersburg.

»Und die Phosphorzündhölzer?«

»Darüber weiß ich nichts,« schloß Wasin, »Lydia Achmakowa starb vierzehn Tage nach ihrer Niederkunft: was da eigentlich geschehen ist, das weiß ich nicht. Der Fürst, der gerade aus Paris zurückgekommen war, erfuhr, daß sie ein Kind gehabt hatte und glaubte scheinbar zuerst nicht, daß es von ihm sei . . . Überhaupt wird diese Geschichte allerseits geheimgehalten, auch heute noch.«

»Aber was ist der Fürst für ein Mensch!« rief ich unwillig, »was für ein Benehmen gegen ein krankes Mädchen!«

»Sie war damals noch nicht so krank . . . Außerdem hatte sie ihm selbst den Laufpaß gegeben. Es ist ja richtig, er hat vielleicht ein bißchen gar zu eilig von seiner Verabschiedung Gebrauch gemacht.«

»Sie wollen einen solchen Schurken noch rechtfertigen?«

»Nein, ich nenne ihn nur nicht einen Schurken. Dahinter steckt noch vieles andere, außer der einfachen Schurkenhaftigkeit. Überhaupt ist das eine ziemlich außergewöhnliche Sache.«

»Sagen Sie, Wasin, Sie haben ihn näher gekannt? Ich hätte eine ganz besonders große Lust, Ihre Meinung über ihn zu erfahren im Hinblick auf einen Umstand, der mich sehr nahe angeht.«

Aber hierauf antwortete Wasin schon in gewissem Sinne gar zu zurückhaltend. Den Fürsten kannte er, aber unter welchen Umständen er seine Bekanntschaft gemacht hatte – das verschwieg er mit offenbarer Absichtlichkeit. Weiterhin teilte er mir mit, jener verdiente im Hinblick auf seinen Charakter eine gewisse Nachsicht. »Er ist von anständigem Streben erfüllt und eindrucksfähig, besitzt aber nicht eben viel Urteil und Willenskraft und kann daher seine Begierden nicht ausreichend zügeln. Er ist ein ungebildeter Mensch; eine ganze Menge von Ideen und Erscheinungen gehen über seine Kraft, aber dabei stürzt er sich auf sie. Er wird Ihnen zum Beispiel aufdringlich etwa so etwas vorerzählen: ›Ich bin Fürst und stamme von Riurik ab; aber warum soll ich nicht Schustergeselle werden, wenn ich mir mein Brot verdienen muß und zu nichts anderem fähig bin? Auf meinem Schild wird stehen; Fürst Soundso, Schuster – das ist sogar vornehm.‹ Er wird das sagen und wird es auch tun, – und das ist die Hauptsache,« fügte Wasin hinzu, »aber dabei steckt nicht die geringste starke Überzeugung dahinter, sondern nur die leichtsinnigste Eindrucksfähigkeit, ein Hingeben an die augenblickliche Stimmung. Deshalb tut es ihm nachher sicherlich sehr bald wieder leid, und dann ist er immer bereit, in irgendein ganz entgegengesetztes Extrem zu verfallen; darin ist sein ganzes Leben beschlossen. In unserer Zeit sind schon viele Leute auf die Art in die Klemme geraten,« schloß Wasin, »eben, weil sie in unserer Zeit geboren sind.«

Ich verfiel unwillkürlich in Gedanken.

»Ist es wahr, daß er aus seinem Regiment mit schlichtem Abschied entlassen wurde?« erkundigte ich mich.

»Ich weiß nicht, ob er entlassen wurde, aber er verließ das Regiment tatsächlich wegen Unannehmlichkeiten. Ist es Ihnen bekannt, daß er im vorigen Herbst, eben als er schon verabschiedet war, zwei oder drei Monate in Luga verbracht hat?«

»Ich . . . ich weiß, daß Sie damals in Luga lebten.«

»Ja, eine Zeitlang auch ich. Der Fürst war auch mit Lisaweta Makarowna bekannt.«

»So? Das hab' ich nicht gewußt. Ich muß gestehen, ich habe mich noch so wenig mit meiner Schwester unterhalten . . . Aber er ist doch wohl nicht, bei meiner Mutter im Hause empfangen worden?« rief ich.

»O nein, dazu war er ein zu entfernter Bekannter, vom dritten Ort her.«

»Ja, mir ist, als hätte meine Schwester mir auch von diesem Kinde gesprochen? War dies Kind am Ende auch in Luga?«

»Eine Zeitlang.«

»Und wo ist es jetzt?«

»Sicherlich in Petersburg.«

»Nie im Leben glaub' ich das,« rief ich außerordentlich erregt, »daß meine Mutter irgendeinen Teil an der Geschichte gehabt haben sollte, mit dieser Lydia!«

»In dieser Geschichte hat, abgesehen von allen diesen Intrigen, die zu entwirren ich nicht unternehmen möchte, Wersilows Rolle eigentlich an sich nichts besonderes Anstößiges«, bemerkte Wasin, nachsichtig lächelnd. Ich glaube, es wurde ihm schwer, mit mir zu sprechen, aber er wollte sich nichts davon merken lassen.

»Nie, nie werd' ich's glauben,« schrie ich wieder, »daß eine Frau ihren Mann einer anderen Frau abtreten könnte, das glaub' ich einfach nicht! . . . Ich kann schwören, daß meine Mutter daran keinen Teil gehabt hat!«

»Es scheint aber doch, daß sie keinen Einspruch erhoben hat.«

»Ich hätte an ihrer Stelle schon aus Stolz allein keinen Einspruch erhoben!«

»Ich für mein Teil enthalte mich völlig jedes Urteils in einer solchen Sache«, schloß Wasin.

Wirklich hatte Wasin vielleicht, bei allem seinem Verstand, gar keinen Begriff von den Frauen, so daß ein ganzer Kreis von Ideen und Erscheinungen ihm unbekannt geblieben war. Ich verstummte. Wasin war zu der Zeit bei einer Aktiengesellschaft angestellt, und ich wußte, daß er Arbeit nach Hause mitzunehmen pflegte. Auf meine dringliche Frage gestand er, daß er auch heute eine Arbeit vorhätte – irgendwelche Berechnungen, und ich bat ihn aufs dringendste, meinetwegen keine Umstände zu machen. Das freute ihn, glaub' ich, sehr; aber bevor er sich an seine Papiere setzte, machte er sich dran, mir ein Bett auf dem Diwan zu richten. Erst bot er mir sein Bett an, als ich das aber nicht annahm, schien ihn das auch recht zu freuen. Die Wirtin mußte ein Kissen und eine Decke hergeben; Wasin war überaus liebenswürdig und freundlich, aber mir war es, möcht' ich sagen, schwer, zuzusehen, wie er sich so um mich bemühte. Ich hatte es viel netter gefunden, als ich einmal, drei Wochen vorher, ganz unerwartet bei Jefim auf der Petersburger Seite übernachtete. Ich dachte daran, wie er mir damals ein Bett gemacht hatte, auch auf dem Diwan, ganz leise und heimlich, damit es seine Tante nicht hörte; denn er glaubte, ich weiß nicht warum, sie könnte böse werden, wenn sie erführe, daß Freunde bei ihm übernachteten. Wir hatten sehr viel gelacht, statt eines Lakens hatte ein Hemd gedient, statt des Kopfkissens ein zusammengelegter Paletot. Sweriow hatte, als wir mit dieser Arbeit fertig waren, liebevoll auf den Diwan geklopft und zu mir gesagt:

»Vous dormirez comme un petit roi.«

Und seine alberne Lustigkeit und die französische Phrase, die zu ihm paßte wie der Sattel auf die Kuh, hatten bewirkt, daß ich mich damals mit dem größten Genuß bei diesem Hanswurst ausgeschlafen hatte. Was Wasin betrifft, so war ich außerordentlich froh, als er sich endlich mit dem Rücken zu mir an seine Arbeit gesetzt hatte. Ich streckte mich auf dem Diwan aus, betrachtete seinen Rücken und dachte lange und über so mancherlei nach.

 

3

Und ich hatte wahrhaftig Stoff zum Nachdenken. In meinem Innern war eine große Unruhe, doch war es nichts Ganzes; aber einige Empfindungen traten sehr bestimmt hervor, obschon mich nicht eine ganz mit sich fortriß, weil sie so zahlreich waren. Alles tauchte wie ohne Zusammenhang und Reihenfolge auf, und ich selber, weiß ich noch, hatte durchaus keine Lust, bei irgend etwas haltzumachen oder die Sachen in eine Reihenfolge zu bringen. Sogar die Idee von Kraft trat unmerklich in die zweite Reihe zurück. Mehr als alles andere erregte mich meine eigene Situation, daß ich jetzt ja schon »mit allem gebrochen« hatte, daß ich meinen Koffer bei mir hatte, daß ich nicht zu Hause war, daß etwas ganz Neues anfing. Ganz als wären meine Absichten und Vorbereitungen bisher nur Spaß gewesen, und, »erst jetzt auf einmal, und, was die Hauptsache war, ganz plötzlich, hätte alles erst in Wirklichkeit begonnen«. Diese Idee ermunterte mich, und so unruhig es auch aus vielerlei Gründen in meiner Seele aussah, sie machte mich sogar fröhlich. Aber . . . aber ich hatte auch noch andere Empfindungen; eine von ihnen wollte sich ganz besonders unter den anderen hervordrängen und sich meiner Seele bemächtigen, und sonderbar, auch diese Idee ermunterte mich, rief mich wie zu einer schrecklichen Fröhlichkeit auf. Und doch ging sie von einer Angst aus: ich fürchtete schon längst, von vorhin schon, ich könnte in meiner Hitze und Unbesonnenheit gegen die Achmakowa wegen des Dokumentes etwas zu deutlich geworden sein. Ja, ich habe zuviel gesagt, dachte ich, und sie werden vielleicht irgend etwas vermuten . . . Schlimm! Sie werden mir natürlich keine Ruhe lassen, wenn sie erst Verdacht schöpfen, aber . . . meinetwegen! Vielleicht werden sie mich auch gar nicht finden – ich werde mich verbergen! Und was macht's, wenn sie auch wirklich hinter mir herzujagen beginnen . . . Und da erinnerte ich mich bis zum kleinsten Zuge und mit wachsendem Vergnügen daran, wie ich vorhin vor Katerina Nikolajewna gestanden hatte und wie ihre dreisten, aber schrecklich erstaunten Augen mich so recht trotzig gemustert hatten. Und als ich hinausgegangen war, hatte ich sie in diesem Erstaunen zurückgelassen, auch daran dachte ich; ihre Augen sind übrigens nicht ganz schwarz . . . nur die Wimpern sind sehr schwarz, deshalb erscheinen auch die Augen so dunkel . . .

Und dann auf einmal, weiß ich noch, empfand ich einen Ekel bei dieser Erinnerung . . . ich spürte Übelkeit und Zorn, gegen sie und gegen mich. Ich warf mir etwas vor und gab mir Mühe, an etwas anderes zu denken. Warum fühle ich nicht den geringsten Unwillen gegen Wersilow wegen der Geschichte mit der Nachbarin? ging's mir auf einmal durch den Kopf. Ich für meinen Teil war fest überzeugt, daß er dort eine Liebhaberrolle gespielt hatte und hingekommen war, um sich zu amüsieren, aber eigentlich erregte mich das nicht. Mir schien sogar, anders könnte man ihn sich überhaupt nicht vorstellen, und ich war ja in der Tat froh, daß er blamiert worden war, aber ich klagte ihn nicht an. Nicht das war mir das Wichtige dabei, das Wichtige war mir, daß er mich so böse angesehen hatte, als ich mit der Nachbarin eingetreten war, mich so angesehen hatte, wie noch nie. Endlich einmal hat auch er mich ernst angesehen! dachte ich mit stockendem Pulsschlag. Oh, wenn ich ihn nicht geliebt hätte, ich hätte mich wohl nicht so über seinen Haß gefreut!

Endlich entschlummerte ich und schlief schließlich fest ein. Ich erinnere mich nur noch, halb im Schlafe gesehen zu haben, wie Wasin nach Beendung seiner Arbeit alles ordentlich zusammenräumte und, nachdem er scharf nach meinem Diwan herübergeschaut, sich auszog und das Licht löschte. Das war um ein Uhr nachts.

 

4

Fast auf die Minute zwei Stunden später fuhr ich wie ein Halbverwirrter aus dem Schlaf und setzte mich auf meinem Diwan auf. Hinter der Tür zu den Nachbarinnen erscholl schreckliches Schreien, Weinen und Heulen. Unsere Tür stand angelweit offen, und auf dem Gange, der schon erleuchtet war, schrien und liefen Leute. Ich wollte Wasin anrufen, erriet aber, daß er nicht mehr im Bette sein würde. Ich wußte nicht, wo ich Zündhölzer finden sollte, ich tastete mich also zu meinen Kleidern hin und begann mich hastig im Dunkeln anzuziehen. Augenscheinlich eilte alles zu den Nachbarinnen, die Wirtin und wohl auch die anderen Mitbewohner. Übrigens heulte nur eine Stimme, eben die der bejahrten Nachbarin, – die junge Stimme von gestern, die ich nur zu gut im Gedächtnis hatte, blieb gänzlich stumm; ich weiß noch, daß dies der erste Gedanke war, der mir damals durch den Kopf ging. Ich hatte noch nicht Zeit gehabt, mich anzuziehen, als Wasin eilig eintrat; in einem Moment hatte er mit seiner gewohnten Hand die Zündhölzer gefunden und machte Licht im Zimmer. Er war in Unterwäsche und Schlafrock mit Pantoffeln und begann sich sogleich anzuziehen.

»Was ist passiert?« schrie ich.

»Eine sehr unangenehme Sache, die auch ungeheure Weitläufigkeiten mit sich bringt!« erwiderte er fast wütend. »Meine junge Nachbarin, von der Sie mir erzählten, hat sich in ihrem Zimmer erhenkt.«

Ich schrie nur so auf. Ich kann nicht beschreiben, wie mein Inneres aufschluchzte! Wir liefen auf den Gang hinaus. Ich muß gestehen, ich traute mich nicht, zu den Nachbarinnen hineinzugehen und sah die Unglückliche erst nachher, als sie schon heruntergenommen war, und auch da, aufrichtig gestanden, nur aus einiger Entfernung. Sie war mit einem Laken bedeckt, aus dem die zwei schmalen Sohlen ihrer Schuhe hervorsahen. So habe ich ihr auch, ich weiß nicht warum, nicht ins Gesicht gesehen. Ihre Mutter war in schrecklicher Verfassung, bei ihr war unsere Wirtin, die übrigens sehr wenig erschrocken war. Alle Zimmermieter drängten sich gleichfalls um sie herum. Es waren ihrer nicht viele, nur ein alter Seemann, der immer sehr brummig und anspruchsvoll war, jetzt aber doch ganz still geworden war, und ein paar Fremde aus dem Gouvernement Twer, ein altes Ehepaar, sehr achtbare Leute, er war Beamter oder so was. Ich will den Rest dieser Nacht nicht beschreiben, die Laufereien und nachher die offiziellen Besuche; bis es hell wurde zitterte ich buchstäblich wie im kalten Fieber und hielt es für meine Pflicht, mich nicht wieder hinzulegen, obgleich ich im übrigen gar nichts tat. Und alle Leute sahen so besonders munter und mutig aus, ja sogar, als fühlten sie sich förmlich angeregt. Wasin fuhr sogar irgendwohin. Die Wirtin erwies sich als eine recht achtungswerte Frau, viel besser als ich erwartet hätte. Ich machte ihr klar (und das rechne ich mir zur Ehre), daß man die Mutter nicht so dalassen könnte, allein mit der Leiche der Tochter, und daß sie sie wenigstens bis morgen in ihr Zimmer hinübernehmen müßte. Sie war sofort einverstanden, und soviel sich die Mutter auch wehrte und weinte und sich weigerte, die Leiche zu verlassen, endlich ging sie doch zur Wirtin hinüber, die sogleich den Samowar aufstellen ließ. Dann gingen auch die Mitbewohner in ihre Zimmer hinein, aber ich wollte mich trotzdem um keinen Preis hinlegen und saß lange bei der Wirtin, die sogar froh war, daß noch ein Dritter da war, der von seiner Seite sogar manches auf die Sache Bezügliche mitteilen konnte. Der Samowar kam uns sehr zustatten, und überhaupt ist der Samowar für einen Russen das unentbehrlichste Ding auf der Welt, eben gerade bei allen Katastrophen und Unglücksfällen, besonders bei schrecklichen, plötzlichen und exzentrischen; selbst die Mutter trank zwei Täßchen, natürlich erst, nachdem wir sie lange gebeten und fast mit Gewalt dazu gezwungen hatten. Und dabei habe ich, ganz aufrichtig gesprochen, niemals einen härteren und direkteren Kummer gesehen, als da ich diese Unglückliche ansah. Nach den ersten Ausbrüchen von Schluchzen und hysterischen Weinkrämpfen begann sie geradezu mit einer Art von Lust davon zu erzählen, und ich hörte ihre Erzählung gierig an. Es gibt Unglückliche, besonders unter den Frauen, die man in solchen Fällen sogar möglichst viel reden lassen muß. Außerdem gibt es Charaktere, die vom Kummer sozusagen schon ganz zertreten sind, die lange, ihr ganzes Leben gelitten haben, die ungeheuer viel und großen Kummer erlitten haben, und immer um kleinliche Dinge; Charaktere, die man schon durch nichts mehr in Erstaunen setzen kann, durch keinerlei plötzliche Katastrophen, und was die Hauptsache ist, Charaktere, die selbst am Sarge des geliebtesten Wesens nicht eine der so teuer erworbenen Regeln für den überdienstfertigen Umgang mit Menschen vergessen. Und ich verurteile sie nicht; das ist nicht häßlicher Egoismus, nicht Mangel an innerem Feingefühl; in solchen Herzen kann man vielleicht mehr Gold finden als bei den scheinbar edelsten Heroinen, aber die Gewohnheit der jahrelangen Erniedrigung, der Selbsterhaltungstrieb, die jahrelange Einschüchterung und Niedergedrücktheit fordern schließlich ihr Recht. Die arme Selbstmörderin hatte darin ihrer Mutter nicht geglichen. Von Angesicht sahen sich, glaub' ich übrigens, beide ähnlich, obschon die Verstorbene entschieden ganz hübsch war. Ihre Mutter war eine durchaus noch nicht alte Frau, höchstens etwa fünfzig, ebenso hellblond, aber mit eingesunkenen Augen und Wangen und gelben, großen, unregelmäßigen Zähnen. Überhaupt hatte alles an ihr einen gelben Schein, die Haut ihres Gesichts und ihrer Hände sah aus wie Pergament; ihr dunkles Kleid war vor Alter auch schon ganz vergilbt, und der Nagel am Zeigefinger der rechten Hand war, ich weiß nicht warum, sorgfältig und akkurat mit gelbem Wachs beklebt.

Die Erzählung der armen Frau war stellenweise zusammenhanglos. Ich will sie wiedergeben, wie ich sie selbst verstanden habe, und was mir davon im Gedächtnis geblieben ist.

 

5

Sie waren aus Moskau gekommen. Sie war schon lange verwitwet, »aber doch immerhin Hofrätin«, ihr Mann war Beamter gewesen und hatte fast nichts hinterlassen, »außer, allerdings, einer Pension von zweihundert Rubeln«. Na, was sind zweihundert Rubel? Sie hatte aber Olla doch gut erzogen und sie aufs Gymnasium geschickt . . . »Und was sie für eine gute Schülerin war, was für eine gute Schülerin; die silberne Medaille hat sie bei der Entlassung bekommen . . .« (Hier gab es natürlich viele Tränen.) »Mein seliger Mann hatte an einen hiesigen Petersburger Kaufmann ein Kapital von beinahe viertausend Rubel verloren. Auf einmal wurde dieser Kaufmann wieder reich; ich habe Dokumente, ich erkundigte mich, man sagte mir, ich sollte ihn nur belangen, ich würde sicherlich alles bekommen . . . Ich wandte mich auch an ihn, und er schien einverstanden zu sein; ich sollte selber hinfahren, riet man mir. Ich machte mich also mit Olla auf die Reise, seit einem Monat schon sind wir hier. Was haben wir groß für Mittel? Wir nahmen dies Zimmerchen, weil es das kleinste von allen war, und dann war es in einem anständigen Hause, das sahen wir ja selber, und das war uns ja die Hauptsache: wir sind ja unerfahrene Frauen, uns kann jeder beleidigen. Na, wir bezahlten Ihnen für einen Monat voraus, na und anderes, Petersburg ist ja so furchtbar teuer. Aber unser Kaufmann sagte einfach, es fiele ihm nicht ein. ›Kennen kenn' ich Sie nicht, wissen weiß ich von nichts‹, und mein Dokument ist nicht richtig in Ordnung, das sehe ich ja selber ein. Na, und da gibt man mir den Rat, ich soll zu einem bekannten Anwalt gehen; er war ein Professor, nicht so ein einfacher Anwalt, sondern ein Jurist, damit er mir ganz sicher sagen könnte, was ich tun sollte. Ich trug also meine letzten fünfzehn Rubel zu ihm hin. Der Anwalt kam heraus, ließ mich drei Minuten reden und hörte nicht zu: ›Ich seh' schon,‹ sagte er, ›ich weiß schon,‹ sagt er, ›wenn Ihr Kaufmann will, zahlt er, wenn er nicht will, zahlt er nicht, und wenn Sie prozessieren, müssen Sie am Ende auch noch die Kosten zahlen; das gescheiteste ist, Sie vergleichen sich.‹ Und damit komplimentiert er mich hinaus und lacht noch. Meine fünfzehn Rubel waren hin! Ich komme zu Olla, wir sitzen zusammen, ich fing zu weinen an. Sie weint nicht; sie sitzt so . . . so stolz da, unwillig. Und immer ist sie so zu mir gewesen, ihr Leben lang, auch als sie noch klein war, nie hat sie gejammert, nie hat sie geweint, sie sitzt nur da und schaut so streng; es tat mir direkt weh, sie anzusehen. Und werden Sie's mir glauben: ich hatte Angst vor ihr, richtige Angst, schon lange hatte ich Angst vor ihr, und manchmal hätte ich schon losweinen mögen, aber ich traute mich nicht in ihrer Gegenwart. Ich ging zum letztenmal zu dem Kaufmann und weinte herzbrechend bei ihm. ›Schön‹, sagt er und hört mir nicht einmal zu. Und dabei, muß ich Ihnen gestehen, hatten wir nicht gerechnet, lange hierbleiben zu müssen, und so saßen wir schon lange ohne Geld. Ich fing allmählich an, von unseren Kleidern fortzutragen: was wir versetzten, davon lebten wir. Alle unsere Sachen hatten wir versetzt; schließlich gab sie mir ihre letzte Wäsche, und da fing ich bitterlich zu weinen an. Sie stampfte mit dem Fuß, sprang auf und lief selber zu dem Kaufmann. Er ist Witwer und sagte zu ihr: ›Kommen Sie übermorgen um fünf, vielleicht kann ich Ihnen dann was sagen.‹ Sie kam wieder, ganz froh: ›Na,‹ sagt sie, ›vielleicht sagt er mir was Gutes.‹ Na, ich bin denn auch froh, nur ein bißchen Herzklopfen hatte ich dabei: irgend etwas dacht' ich, wird doch geschehen; aber sie auszufragen traute ich mich nicht. Und den zweiten Tag darauf kommt sie von dem Kaufmann zurück, bleich, am ganzen Leibe zitternd, sie wirft sich auf das Bett – ich verstand alles und traute mich nicht zu fragen. Was glauben Sie wohl? Er hatte ihr fünfzehn Rubel angeboten, der Räuber, und ihr gesagt: ›Wenn ich merke,‹ sagte er, ›daß Sie ganz ehrliche Absichten haben, dann kriegen Sie noch vierzig Rubel.‹ Das sagte er ihr gerade ins Gesicht, er schämte sich nicht. Sie stürzte sich gleich auf ihn, hat sie mir erzählt, aber er stieß sie zurück und schloß sich im Nebenzimmer sogar vor ihr ein. Und dabei hatten wir, ich schwör's Ihnen auf Ehre und Gewissen, beinah nichts zu essen. Wir trugen eine Jacke fort, sie war mit Hasenfell gefüttert, und verkauften sie, dann ging sie zur Zeitung und inserierte: sie gäbe Unterricht in allen Wissenschaften und der Arithmetik. ›Wenigstens dreißig Kopeken‹, sagte sie, ›wird man doch für die Stunde bekommen.‹ Und zuletzt, Liebste, hatte ich schon ordentlich ein Grausen vor ihr: sie redet kein Wort mit mir, sie sitzt stundenlang am Fenster, schaut das Dach des Hauses drüben an und schreit auf einmal: ›Wenn ich doch Wäsche waschen könnte, wenn ich doch Sand karren könnte!‹ Und nur so ein paar Worte schreit sie und stampft mit dem Fuße. Und keinen einzigen Bekannten haben wir hier, niemand, an den wir uns wenden könnten. Was sollen wir anfangen? denk' ich. Aber mit ihr zu reden hab' ich immer Angst. Einmal am Tage schläft sie, erwacht, macht die Augen auf und schaut mich an; ich sitze auf dem Koffer und schaue sie an; sie stand schweigend auf, kam zu mir hin, umarmte mich fest, fest, und da konnten wir uns beide nicht mehr halten und fingen an zu weinen, wir sitzen und weinen und lassen uns nicht aus den Armen. Zum erstenmal war sie so in ihrem ganzen Leben. Und so sitzen wir miteinander, und Ihre Nastasia kommt herein und sagt: ›Eine Dame fragt da nach Ihnen und erkundigt sich nach Ihnen.‹ Das ist jetzt vier Tage her. Die Dame kommt herein: wir sehen, sie ist sehr fein angezogen, sie spricht ja Russisch, hat aber so eine deutsche Aussprache: ›Sie‹, sagt sie, ›haben in der Zeitung inseriert, daß Sie Stunden geben?‹ – Ach hatten wir da eine Freude, wir nötigten sie zum Sitzen, und sie lacht so freundlich: ›Nicht zu mir,‹ sagt sie, ›aber meine Nichte hat kleine Kinder, wenn Sie wollen, bemühen Sie sich zu mir, dort können wir das Nähere besprechen.‹ Sie gab uns ihre Adresse, bei der Wosnesenskij-Brücke, Nummer soundso, Wohnung Nummer soundso. Dann ging sie. Oletschka machte sich auf, am selben Tag noch lief sie hin, und was denken Sie – sie kommt nach zwei Stunden wieder und hat einen Weinkrampf, es schüttelte sie nur so. Nachher erzählte sie mir's: ›Ich frage‹, sagt sie, ›beim Hausmeister: wo ist die Wohnung Nummer soundso?‹ Der Hausmeister, sagt sie, schaute mich so an: ›Und was‹, sagt er, ›haben Sie denn in der Wohnung verloren?‹ So sonderbar sagte er das, daß man eigentlich schon hätte stutzig werden müssen. Und sie war schon bei mir zu Hause immer so stolz, so ungeduldig, solches Ausfragen und solche Grobheit waren ihr unerträglich. ›Da, marsch‹, sagt er und stößt sie mit dem Finger nach der Treppe zu und dreht sich um und geht in sein Zimmer. Und was denken Sie wohl? Sie kommt hinein, erkundigt sich, und auf einmal kommen von allen Seiten Frauenspersonen gelaufen: ›Bitt' schön, bitt' schön!‹ – Lauter Frauenspersonen, sie lachen, sie stürzen auf sie zu, angemalte schlechte Frauenzimmer, sie spielen Klavier, schleppen sie hinein. ›Ich‹, sagt sie, ›will hinaus, aber sie lassen mich nicht.‹ Da bekam sie furchtbare Angst, die Knie knickten ihr ein, sie ließen sie einfach nicht fort, sie reden freundlich auf sie ein, machen Porter auf, geben ihr, nötigen sie zu trinken. Da springt sie auf und schreit in äußerster Angst, zitternd: ›Lassen Sie mich, lassen Sie mich!‹ Sie stürzt sich zur Tür, die Tür gibt nicht nach, sie schreit; da kommt die, die bei uns gewesen, schlägt meine Olla zweimal ins Gesicht und stößt sie zur Tür hinaus: ›Du verdienst nicht, in einem feinen Hause zu sein, du altes Bockfell!‹ Und eine andere schreit ihr auf die Treppe hinaus nach: ›Du bist selber zu uns gekommen und hast uns gebeten, weil du nichts zu fressen hast, wir hätten uns wohl um so eine grausliche Fratze nicht gerissen!‹ – Die ganze Nacht darauf lag sie im Fieber, sie phantasierte, und am Morgen funkeln ihre Augen, sie steht auf, geht umher: ›Ich bring sie vor Gericht,‹ sagt sie, ›vor Gericht!‹ Ich sage nichts: na, denk' ich, was willst du auf dem Gericht erreichen, was kannst du da beweisen? Sie geht hin und her, ringt die Hände, ihre Tränen fließen, aber die Lippen hat sie zusammengepreßt, unbeweglich. Und ihr Gesicht war von der Minute an finster und blieb es bis zum Ende. Am dritten Tag wurde ihr leichter, sie schweigt, als hätte sie sich beruhigt. Und eben an dem Tag, um vier Uhr nachmittags, suchte uns auch Herr Wersilow auf.«

»Und ich sag' es ganz grade heraus: ich verstehe bis heute nicht, daß Olla, die doch so mißtrauisch war, damals fast vom ersten Worte an auf ihn hörte. Mehr als alles andere machte es damals einen guten Eindruck auf uns, daß er so ernst aussah, streng sogar: er spricht ruhig, geht ausführlich auf alles ein und ist die ganze Zeit so höflich, – was sag' ich, höflich, direkt ehrerbietig, und dabei sieht man gleich, daß er nicht das mindeste sucht: man sieht auf den ersten Blick, dieser Mensch ist aus reinem und gutem Herzen gekommen. ›Ich habe‹, sagt er, ›Ihr Inserat in der Zeitung gelesen, Sie‹, sagt er, ›haben es nicht ganz richtig abgefaßt, mein Fräulein, so daß Sie sich direkt dadurch schaden können.‹ Und dann fing er ihr das zu erklären an; aufrichtig gestanden, ich hab' es nicht so recht begriffen, er sagte irgend was von Arithmetik oder so, ich sah nur, Olla wurde rot und belebte sich förmlich, sie hörte ihm zu und fing so lebhaft mit ihm zu sprechen an (und er muß ja auch wohl ein kluger Mensch sein!), und ich hörte sogar, wie sie sein Erscheinen segnete. Er fragte sie so umständlich nach allem aus, es erwies sich, daß er lange in Moskau gelebt haben mußte, und auch die Direktorin von dem Gymnasium kannte er persönlich. ›Stunden‹, sagte er, ›kann ich Ihnen sicherlich verschaffen, denn ich habe hier sehr viele Bekannte, und kann sogar sehr viele einflußreiche Persönlichkeiten darum bitten; wenn Sie also eine Stellung wünschen, würde sich selbst dafür etwas tun lassen . . . aber fürs erste,‹ sagte er, ›entschuldigen Sie, wenn ich eine ganz offene Frage an Sie richte: kann ich Ihnen in diesem Augenblick nicht mit irgend etwas dienen? Nicht ich erweise Ihnen,‹ sagte er, ›sondern Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie mir erlauben, Ihnen in irgendeiner Beziehung nützlich zu sein. Sehen Sie das‹, sagt er, ›meinetwegen als eine Schuld an, und sobald sie eine Stelle haben, können wir ja in kürzester Frist miteinander abrechnen. Wenn ich selber, glauben Sie das meiner Ehre, jemals in so eine Notlage geriete, und Sie wären, im Gegenteil, in guten Verhältnissen, – so würde ich einfach um so eine kleine Hilfe zu Ihnen kommen, und auch meine Frau und meine Tochter würde ich zu Ihnen schicken‹ . . . Das heißt, ich weiß nicht mehr alle seine Worte, ich weiß nur, mir kamen die Tränen in die Augen, und dann sah ich, auch Olla zittern die Lippen vor Dankbarkeit: ›Wenn ich es annehme,‹ antwortete sie ihm, ›so tu' ich es, weil ich Vertrauen zu einem ehrlichen und humanen Menschen habe, der mein Vater sein könnte‹ . . . Sehr schön sagte sie es ihm da, kurz und edel: ›einem humanen Menschen‹, sagte sie. Er stand dann gleich auf: ›unbedingt,‹ sagte er, ›unbedingt verschaffe ich Ihnen Stunden und eine Stelle; heute am Tage noch tu' ich Schritte, denn Sie haben ja ein vollkommen ausreichendes Befähigungszeugnis dafür‹ . . . Ach, ich habe zu erzählen vergessen, daß er gleich ganz im Anfang, als er eben gekommen war, alle ihre Zeugnisse vom Gymnasium angesehen hatte, sie hatte sie ihm gezeigt, und er selbst hatte sie in verschiedenen Fächern examiniert . . . ›Siehst du, Mamachen,‹ sagte Olla nachher zu mir, ›er hat mich in allen Fächern examiniert, und was für ein kluger Mensch er ist,‹ sagte sie, ›man trifft nicht oft so einen hochgebildeten Menschen.‹ Und dabei strahlte sie nur so. Die sechzig Rubel liegen auf dem Tische: ›nimm sie, Mamachen,‹ sagte sie, ›ich krieg' eine Stelle, das soll das erste sein, was wir so schnell wie möglich zurückzahlen, wir wollen beweisen, daß wir ehrliche Menschen sind, und daß wir Zartgefühl besitzen, das hat er schon gesehen.‹ Dann schwieg sie eine Zeitlang, ich sehe, sie denkt nach und atmet so tief: ›Weißt du, Mamachen,‹ sagt sie auf einmal zu mir, ›wenn wir plump und unfein wären, – dann hätten wir es vielleicht, stolz wie wir sind, von ihm nicht angenommen, und eben dadurch, daß wir es jetzt angenommen haben, eben dadurch haben wir ihm unser Feingefühl bewiesen, daß wir ihm in allen Stücken vertrauen als einem ehrenhaften Manne in höheren Jahren, nicht wahr?‹ Ich verstand sie zuerst nicht so recht: ›Warum,‹ sag' ich, ›Olla, sollte man von einem edeln und reichen Manne keine Wohltat annehmen, wenn er außerdem ein gutherziger Mensch ist?‹ – Sie machte mir ein finsteres Gesicht: ›Nein, Mamachen,‹ sagt sie, ›das ist es nicht, daß wir eine Wohltat nötig haben, aber seine Humanität‹, sagt sie, ›ist das Wertvolle daran. Und das Geld hätten wir lieber gar nicht annehmen sollen, Mamachen: wenn er versprochen hat, mir eine Stelle zu verschaffen, so ist das auch schon genug . . . mögen wir auch in Not sein.‹ – ›Na,‹ sag' ich, ›Olla, unsere Not ist wirklich so groß, daß wir gar nicht nein sagen konnten‹, ich lachte sogar, als ich das sagte. Na, ich freute mich so still für mich, aber nach einer Stunde machte sie mir ein bißchen Angst: ›Mamachen,‹ sagt sie, ›warte noch, bevor du was von dem Geld ausgibst.‹ Ganz bestimmt sagte sie das. ›Wieso?‹ sag' ich. ›So,‹ sagt sie, – bricht ab und verstummt. Den ganzen Abend war sie stumm; erst in der Nacht, um zwei Uhr, wie ich aufwache, hör' ich, Olla wälzt sich in ihrem Bett: ›Bist du wach, Mamachen?‹ – ›Ja,‹ sag' ich, ›ich bin wach.‹ – ›Weißt du was,‹ sagt sie, ›er wollte mich doch nur beleidigen.‹ – ›Was hast du nur, was hast du nur?‹ sag' ich. – ›Selbstverständlich ist es so,‹ sagt sie, ›das ist ein schlechter Mensch,‹ sagt sie, ›daß du mir keine Kopeke von seinem Geld ausgibst.‹ Ich wollte ihr zureden, ich fing sogar da im Bett zu weinen an, – sie drehte sich zur Wand: ›Schweig,‹ sagt sie, ›laß mich schlafen!‹ Am Morgen seh' ich sie an, sie geht umher und sieht sich selbst nicht gleich; und mögen Sie's glauben oder nicht, vor Gottes Gericht will ich's bezeugen: da war sie nicht mehr ganz bei Verstand! Seit man sie in jenem schlechten Hause beleidigt hatte, hatte sich ihr Herz verdunkelt . . . und ihr Verstand. Ich schaute sie an dem Morgen an und wußte nicht, was ich aus ihr machen sollte; mir war ganz grauslich zumute; ich will ihr mit keinem Wort widersprechen, dacht' ich. ›Mamachen‹, sagt sie, ›seine Adresse hat er also richtig nicht dagelassen.‹ – ›Das ist wirklich sündhaft, Olla,‹ sag' ich, ›du hast ihn doch selber gestern angehört, du hast selbst so gut von ihm gesprochen, du bist selbst bereit gewesen, in Tränen der Dankbarkeit auszubrechen.‹ Und kaum hatte ich das gesagt, da kreischte sie auf und stampfte mit dem Fuße: ›Du bist eine Frau von schlechten Gefühlen,‹ sagt sie, ›du bist noch in der alten Zeit erzogen,‹ sagt sie, ›in der Zeit der Leibeigenschaft!‹ . . . und was ich da auch sagen mochte, sie nahm ihren Hut und lief hinaus, und ich schrie hinter ihr her. Was hat sie nur, dacht' ich, wo will sie hin? Aber sie war ins Adreßbureau gelaufen, dort erfuhr sie, wo Herr Wersilow wohnt, und kam zurück: ›Heute,‹ sagt sie, ›gleich bring' ich ihm sein Geld wieder und schleudere es ihm ins Gesicht; er‹, sagt sie, ›wollte mich beleidigen, wie Safronow (so heißt unser Kaufmann); nur hat mich Safronow beleidigt wie ein grober Bauer, und dieser da wie ein listiger Jesuit.‹ Und da wollte es das Unglück, daß gerade dieser Herr von gestern an die Tür klopfte: ›Ich höre, es ist von Wersilow die Rede, da kann ich Auskunft geben.‹ Als sie Wersilows Namen hörte, da stürzt sie sich auch schon auf ihn, ganz außer sich, und sie redet – redet, ich schau' sie nur an und wundere mich: sie ist ja so schweigsam und redet mit niemand so, und jetzt auf einmal gar mit einem ganz unbekannten Menschen? Ihre Wangen brennen, die Augen funkeln . . . Und er sagt nur noch: ›Sie sind vollkommen im Recht, mein Fräulein. Wersilow‹, sagt er, ›ist genau so wie die hiesigen Generale, von denen man in den Zeitungen liest; so ein General legt alle seine Orden an und läuft bei allen Gouvernanten herum, die durch die Zeitung Stellen suchen, läuft herum und findet, was er braucht; und wenn er nicht findet, was er braucht, sitzt er eine Zeitlang, redet, verspricht das Blaue vom Himmel herunter und geht wieder, – wenigstens sein Amüsement hat er doch dabei gehabt.‹ Und Olla fing sogar an zu lachen, nur sehr böse klang es, und dieser Herr, seh' ich, faßt sie an der Hand und zieht ihre Hand an sein Herz: ›Liebes Fräulein,‹ sagt er, ›ich bin selber auch ein vermögender Mann und könnte jederzeit so einem schönen Mädchen einen Antrag machen,‹ sagt er, ›aber ich will zunächst nur ihr niedliches Händchen küssen . . .‹ und ich sehe, er zieht ihre Hand an die Lippen, um sie zu küssen. Wie sie da aufsprang, und ich natürlich auch, und wir wiesen ihn beide hinaus. Und dann gegen Abend nahm Olla mir das Geld fort, lief weg und kam wieder: ›Mamachen,‹ sagt sie, ›ich habe mich an dem unanständigen Menschen gerächt!‹ – ›Ach, Olla, Olla,‹ sag' ich, ›am Ende haben wir unser Glück vernichtet, und du hast einen edeln, wohltätigen Menschen beleidigt!‹ Ich mußte aus Ärger über sie weinen, ich konnte mich nicht halten. Und sie schreit mich an: ›Ich will nicht,‹ schreit sie, ›ich will nicht! Und möge er der anständigste Mensch sein, auch dann will ich kein Almosen von ihm! Mich soll kein Mensch bemitleiden, nicht einmal das will ich!‹ Ich legte mich schlafen, und mir kam nicht der geringste Gedanke. Wie oft hab' ich diesen Nagel da in der Wand angeschaut, an dem früher der Spiegel hing, – und ich bin nicht im entferntesten darauf verfallen, nicht gestern, nicht früher, nie hab' ich das gedacht oder auch nur geahnt, und auch von Olla hatte ich das wahrhaftig nicht erwartet. Ich schlafe für gewöhnlich sehr fest, ich schnarche, ich habe so einen Blutandrang zum Kopf, manchmal auch zum Herzen, dann schrei' ich im Schlafe auf, so daß Olla mich schon oft in der Nacht geweckt hat: ›Mamachen,‹ sagt sie, ›Sie schlafen aber wirklich so fest, daß man Sie kaum aufwecken kann, wenn es nötig ist.‹ – ›Ach ja,‹ sag' ich, ›Olla, sehr fest, ach ja, sehr fest.‹ Und so muß ich also wohl gestern geschnarcht haben, und das hat sie wohl abgewartet und ist dann unbesorgt aufgestanden. Und dieser Riemen vom Handkoffer, der lange Riemen hing schon den ganzen Monat immer so herum, noch gestern früh hab' ich gedacht: man müßte ihn endlich mal wegtun, daß er sich nicht so herumtreibt. Und den Stuhl hat sie nachher wohl mit dem Fuße weggestoßen, und damit er keinen Spektakel machte, hat sie ihre Jacke seitwärts druntergelegt. Und ich bin wahrscheinlich erst lange, lange nachher, eine ganze Stunde oder länger nachher, aufgewacht, ›Olla!‹ ruf ich, ›Olla!‹ – Gleich im ersten Augenblick dämmerte mir irgend was, ich rufe sie. War's, daß ich kein Atmen von ihrem Bett her hörte, oder hatte ich vielleicht in der Dunkelheit doch gesehen, daß ihr Bett anscheinend leer war, – jedenfalls stand ich plötzlich auf und tastete mit der Hand: im Bette war niemand, das Kissen ist kalt. Da krampfte sich mein Herz zusammen, ich steh' auf einem Fleck, wie ohnmächtig, mein Kopf ist mir ganz wirr: sie ist wohl hinaus, denk' ich, – und so machte ich ein paar Schritte, aber immer noch beim Bette, da seh' ich, in der Ecke, bei der Tür, es ist, als stände sie selber dort. Ich stehe, sage nichts, schau' sie an, und es ist mir, als ob sie mich aus der Dunkelheit auch anschaute, ohne sich zu rühren . . . Wozu ist sie aber nur auf den Stuhl gestiegen? denk' ich. – ›Olla,‹ flüsterte ich ganz ängstlich, ›Olla, hörst du?‹ – Und da auf einmal war's, als würde alles in mir hell, ich ging auf sie zu, streckte beide Arme vor nach ihr, ich umfasse sie, sie schaukelt sich in meinen Armen, ich greife nach ihr, aber sie schaukelt, ich begreife alles und will es nicht begreifen. Ich will schreien, aber die Stimme versagt mir . . . Ach, denk' ich! dann fiel ich längelang zu Boden, und da fing ich an zu schreien.« – – – – – – – –


»Wasin,« sagte ich am Morgen, es war schon sechs, »wenn Ihr Stebelkow nicht wäre, vielleicht wäre das dann nicht passiert.«

»Wer kann's wissen, wahrscheinlich wäre es doch passiert. Das läßt sich nicht so sagen, hier war die Sache auch ohnedies fertig . . . Allerdings kann dieser Stebelkow manchmal . . .«

Er beendete den Satz nicht und zog die Stirn in wenig sympathischer Weise in Falten. Um sieben fuhr er wieder fort; er hatte die ganze Zeit allerlei zu besorgen. Ich blieb endlich mutterseelenallein. Es war schon hell. Mein Kopf drehte sich mir ein bißchen. Wersilow stand mir vor Augen: die Erzählung dieser Dame hatte ihn mir in ein ganz anderes Licht gerückt. Um bequemer darüber nachzudenken, legte ich mich ein bißchen auf Wasins Bett, so wie ich war, angekleidet und in Stiefeln, nur für eine Minute, ganz ohne die Absicht zu schlafen – und auf einmal war ich eingeschlafen, ich weiß mich nicht einmal zu erinnern, wie das gekommen ist. Ich schlief fast vier Stunden; niemand weckte mich.

 


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