Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Erster Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Drittes Kapitel

1

Es war wirklich ganz überflüssig: denn eine höhere Erwägung verschlang alle Kleinigkeiten, und ein mächtiges Gefühl entschädigte mich für alles andere. Ich verließ das Zimmer in einer Art von Verzückung. Als ich auf die Straße trat, hätte ich am liebsten laut zu singen angefangen. Und der Morgen war herrlich, recht wie zu meiner Stimmung gemacht, Sonne, viele Menschen, Lärm, Bewegung, Fröhlichkeit, Gedränge. – Ja, hatte mich denn diese Frau nicht beleidigt? Von wem hätte ich mir solch einen Blick und so ein dreistes Lächeln gefallen lassen, ohne sofort zu protestieren, und wäre es auch auf die dümmste Weise gewesen, – das ist ja ganz egal? Ich bitte zu beachten, daß sie schon mit der Absicht gekommen war, mich, den sie noch nie gesehen hatte, möglichst schnell zu beleidigen: in ihren Augen war ich nur der »heimliche Abgesandte Wersilows«, und sie war damals wie noch lange nachher überzeugt davon, daß Wersilow ihr ganzes Schicksal in Händen hielte und ein Mittel hätte, sie sofort zu ruinieren, sobald er nur wollte, durch ein Dokument; wenigstens vermutete sie das. Hier galt es einen Zweikampf auf Leben und Tod. Und siehe da – ich war nicht beleidigt! Die Beleidigung war geschehen, ich hatte sie aber nicht empfunden! Im Gegenteil! Ich war sogar froh; ich war hergekommen, um sie zu hassen, jetzt fühlte ich sogar, daß ich sie zu lieben anfing. »Ich weiß nicht, ob eine Spinne die Fliege hassen kann, auf die sie zielt, und die sie zu fangen sucht? Liebe kleine Fliege! Ich glaube, man liebt sein Opfer: wenigstens kann man es lieben. Ich wenigstens liebe meinen Feind: ich freue mich zum Beispiel sehr, daß sie so schön ist. Ich freue mich riesig, daß Sie so hochnäsig und majestätisch sind, gnädige Frau: wenn Sie friedfertiger wären, hätte ich nicht solchen Genuß davon. Sie haben mich angespuckt, aber ich triumphiere; und wenn Sie mir tatsächlich, mit wirklichem Speichel, ins Gesicht gespuckt hätten, so wäre ich sicherlich auch nicht wütend geworden; denn Sie sind – mein Opfer, meins, und nicht seins. Wie wohlig ist dieser Gedanke! Nein, geheimes Machtbewußtsein ist unendlich viel reizvoller, als offene Herrschaft! Wenn ich ein Krösus mit hundert Millionen wäre, ich glaube, ich würde meinen höchsten Genuß darin finden, in recht schäbigen Kleidern herumzulaufen und mich für einen ganz armen und elenden Menschen halten zu lassen, dem man beinahe ein Almosen geben möchte, mich puffen und verachten zu lassen: ich hätte an dem Bewußtsein ganz allein genug.«

So ungefähr könnte ich meine damaligen Gedanken in Worte kleiden, und meine Freude, und viel von dem, was ich fühlte. Ich möchte nur noch erwähnen, daß das hier, in den Worten, die ich soeben geschrieben habe, leichtfertiger herausgekommen ist: in Wahrheit war ich tiefer und keuscher. Mag sein, daß ich auch jetzt vor mir selber keuscher bin, als es in meinen Worten und Taten an den Tag tritt; Gott gebe es!

Vielleicht war es gar nicht gut, daß ich mich zum Schreiben hingesetzt habe: in mir bleibt unermeßlich viel mehr zurück, als in meinen Worten herauskommt. Dein Gedanke, und mag er auch töricht sein, ist immer tiefer, solange er in deinem Innern bleibt, und wird lächerlicher und ehrloser, sobald du ihn in Worte faßt. Wersilow hat mir gesagt, daß das genaue Gegenteil nur bei schlechten Menschen stattfindet. Die lügen nur, sie haben es leicht; ich aber mühe mich, die ganze Wahrheit niederzuschreiben – das ist furchtbar schwer!

 

2

An diesem neunzehnten September unternahm ich noch einen »Schritt«.

Zum erstenmal, seit ich hier war, hatte ich Geld in der Tasche, denn meine während zweier Jahre zusammengesparten sechzig Rubel hatte ich meiner Mutter gegeben, wie ich früher schon erwähnt; aber schon vor einigen Tagen hatte ich beschlossen, an dem Tage, da ich mein Gehalt empfinge, eine »Probe« zu machen, von der ich schon lange träumte. Tags zuvor hatte ich mir schon eine Adresse aus der Zeitung ausgeschnitten – die »Bekanntmachung des Gerichtsvollziehers beim St. Petersburger Bezirksgericht« usw. usw., daß, am 19. September a. c. mittags zwölf Uhr, im Kasaner Viertel, in dem und dem Bezirk usw. usw., im Hause Nummer so und so, die Versteigerung der beweglichen Habe der Frau Lebrecht stattfinde, und daß »das Verzeichnis und die Schätzungsziffern der unter den Hammer kommenden Gegenstände, sowie diese selbst am Versteigerungstage eingesehen werden könnten« usw. usw.

Es war kurz nach zwei. Ich eilte zu Fuß nach der bezeichneten Gegend. Seit drei Jahren schon benutze ich nie eine Droschke, – ich habe mir das Wort darauf gegeben (sonst hätte ich mir jene sechzig Rubel nicht ersparen können). Ich war noch nie zu einer Auktion gegangen, ich hatte mir das noch nicht erlaubt; und wenn der »Schritt«, den ich heute tun wollte, auch nur ein Versuch sein sollte, so hatte ich mich doch seit langem entschlossen, ihn erst dann zu machen, wenn ich mit dem Gymnasium fertig wäre, wenn ich mit allem gebrochen und mich in meiner Schale verschanzt hätte und vollkommen frei wäre. Es ist ja richtig, ich war noch nicht im entferntesten in meiner »Schale«, und ich war bei weitem noch nicht frei, aber ich hatte ja beschlossen, den Schritt nur zu tun, um einmal eine Probe zu machen, – nur so, um einmal zu sehen, wie es war, fast nur, um gleichsam davon zu träumen, und nachher wollte ich, vielleicht auf lange, nichts dergleichen mehr unternehmen, bis die Zeit gekommen wäre, wo es ernsthaft anfinge. Für jedermann war dies nur eine kleine dumme Auktion, für mich aber der erste Balken von dem Schiffe, auf dem Kolumbus ausfuhr, um Amerika zu entdecken. Das etwa waren die Gefühle, die ich damals hatte.

Als ich angelangt war, ging ich in die Tiefe des Hofes vor dem Hause, das in der Bekanntmachung bezeichnet war, und betrat die Wohnung der Frau Lebrecht. Die Wohnung bestand aus einem Entree und vier kleinen und niedrigen Zimmern. Im ersten Zimmer standen viele Leute, es können leicht dreißig gewesen sein; davon bot etwa die Hälfte mit, die andern waren, soviel ich nach ihrem Aussehen beurteilen konnte, nur neugierige Zuschauer, oder Liebhaber, oder Beauftragte der Lebrecht; es waren da Trödler und Juden, die sich auf die Goldsachen spitzten, und auch einige Leute aus der »saubergekleideten« Bevölkerungsklasse. Sogar die Gesichter einiger von diesen Herrschaften haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt. In dem Zimmer zur Rechten, dessen Flügeltür offenstand, war direkt an die Tür ein Tisch geschoben, so daß man in dies Zimmer nicht hineinkonnte: dort befanden sich die vorher näher beschriebenen, »zum Verkauf gestellten« Sachen. Links lag ein anderes Zimmer, aber die Tür war geschlossen, öffnete sich aber jeden Augenblick ein klein wenig, und man sah, daß jemand herausschaute – wahrscheinlich eins von den zahlreichen Familienmitgliedern der Frau Lebrecht, der die ganze Geschichte natürlich äußerst peinlich war. Hinter dem Tisch an der Tür, das Gesicht zum Publikum gewandt, saß der Herr Gerichtsvollzieher und versteigerte die Sachen. Als ich kam, war die Versteigerung schon zur Hälfte vorbei – ich drängte mich gleich bis an den Tisch durch. Es waren gerade ein paar Bronzeleuchter an der Reihe. Ich schaute mich um.

Ich schaute mich um und fing gleich an zu überlegen, was ich hier kaufen könnte? Und was ich wohl jetzt mit ein paar Bronzeleuchtern anfangen würde, und ob ich mein Ziel erreichen würde, und ob man es wohl so machen müßte, und ob meine Spekulation wohl glücken würde? Und ob meine Spekulation nicht kindisch wäre? Das alles überlegte ich mir und wartete. Es war das Gefühl, wie's einer vor dem Spieltisch in dem Augenblick hat, wo er seine Karte noch nicht gesetzt hat; aber er ist gekommen, um zusetzen: »Wenn ich mag, setz' ich, wenn ich mag, geh' ich, – es ist mein freier Wille.« Das Herz pocht einem dann noch nicht, aber sein Schlag stockt ein klein wenig, und es zittert, – ein Gefühl, das schon seinen Reiz hat. Aber sehr bald fängt die Unentschlossenheit an, einem unbehaglich zu werden, man wird gleichsam blind: man streckt die Hand aus, ergreift eine Karte, aber ganz mechanisch, als führte einem ein anderer die Hand; endlich hat man sich entschlossen und setzt, – dann ist das Gefühl auf einmal ganz verändert, ein ungeheures Gefühl. Ich spreche hier nicht von Auktionen im allgemeinen, ich spreche nur von mir selber: wer sonst könnte denn auf einer Auktion Herzklopfen bekommen?

Es waren da Leute, die sich erhitzten, Leute, die schwiegen und warteten, Leute, die etwas erstanden und es nachher bereuten. Ich muß sogar sagen, ich hatte nicht das geringste Mitgefühl mit einem Herrn, der aus Versehen, weil er sich verhört hatte, eine Sahnenkanne aus Alfenide für eine silberne kaufte und statt zwei Rubel fünf bezahlen mußte, es machte mir im Gegenteil Spaß. Der Gerichtsvollzieher wechselte mit den Sachen ab: nach den Leuchtern kamen ein Paar Ohrringe an die Reihe, nach den Ohrringen ein gesticktes Saffiankissen, danach eine Schatulle, – wahrscheinlich, um etwas Abwechslung hineinzubringen, oder auf Wünsche hin, die von einzelnen Bietern geäußert worden waren. Ich stand so etwa zehn Minuten da, dachte erst an das Kissen, dann an die Schatulle, aber im entscheidenden Moment schnappte ich jedesmal ab: diese Gegenstände schienen mir gänzlich unmöglich. Endlich hatte der Gerichtsvollzieher ein Album in der Hand.

»Ein Stammbuch, Einband aus rotem Saffian, gebraucht, mit Aquarell- und Tuschzeichnungen, in einem geschnitzten Elfenbeinfutteral mit silbernen Beschlägen – zwei Rubel!«

Ich trat näher heran: das Ding sah ja fein aus, aber die Elfenbeinschnitzerei war an einer Stelle beschädigt. Ich war der einzige, der es besah, alles schwieg; ich hatte keine Konkurrenten. Ich hätte die Schließen öffnen und das Stammbuch aus dem Futteral nehmen können, um den Gegenstand genau zu besichtigen, aber ich übte dieses Recht nicht aus, ich machte nur eine gleichgültige Handbewegung, aber meine Hand zitterte dabei: »das ist ja ganz gleich.«

»Zwei Rubel fünf Kopeken«, sagte ich, ich glaube, mit klappernden Zähnen.

Es wurde mir zugeschlagen. Ich holte sofort mein Geld heraus, zahlte, nahm das Album und zog mich in eine Ecke des Zimmers zurück; dort nahm ich es aus dem Futteral und begann es fieberhaft und flüchtig zu durchblättern: wenn man vom Futteral absah, war es der größte Schund von der Welt, – ein Büchlein im Format eines kleinen Bogens Briefpapier, nur dünn, mit verschlissenem Goldschnitt, – genau der Typus, wie er in früheren Zeiten bei den jungen Mädchen üblich war, die gerade das Institut verlassen hatten. Bildchen in Tusche und bunten Farben, ein Tempel auf einem kleinen Berg, Amoretten, ein Teich, auf dem Schwäne schwammen, und Vers:

»Lebt wohl auf lange, meine Lieben,
Ich muß nun in die Ferne gehn,
Ein einziger Trost ist mir geblieben,
Das kleine Wort: auf Wiedersehn!«

(Ich weiß nicht, warum das so in meinem Gedächtnis haften geblieben ist.) Ich kam zu dem Schlusse, daß ich »hereingefallen« wäre; wenn es etwas gab, das kein Mensch brauchen konnte, war es dies Ding.

»Macht nichts,« dachte ich kurz entschlossen, »auf die erste Karte muß man unbedingt verlieren; das ist sogar eine gute Vorbedeutung.«

Ich war entschieden vergnügt.

»Ach, ich bin zu spät gekommen; Sie haben es? Sie haben es gekauft?« klang plötzlich neben mir die Stimme eines Herrn in blauem Paletot, der stattlich aussah und gut gekleidet war. Er war zu spät gekommen.

»Ich bin zu spät gekommen. Ach, wie schade! Für wieviel?«

»Zwei Rubel fünf Kopeken.«

»Ach, wie schade! Würden Sie es mir nicht abtreten?«

»Kommen Sie mit«, flüsterte ich ihm zu, und mein Herzschlag stockte.

Wir gingen auf die Treppe hinaus.

»Ich gebe es Ihnen für zehn Rubel«, sagte ich und fühlte, wie es mir kalt im Rücken wurde.

»Zehn Rubel! Lieber Gott, was denken Sie!«

»Wenn Sie nicht wollen –«

Er verschlang mich förmlich mit den Augen: ich war gut gekleidet: ich sah nicht entfernt einem Juden oder einem Trödler ähnlich.

»Um Gottes willen, das ist aber doch nur ein schäbiges altes Album, wer kann das brauchen? Das Futteral ist doch, bei Licht besehen, nichts wert, Sie glauben doch nicht, daß Sie einen Käufer dafür finden?«

»Sie wollen es ja kaufen.«

»Ja, aber doch aus einem ganz besonderen Grund, ich habe erst gestern davon erfahren: es gibt doch sonst niemanden, der es kaufen würde! Was denken Sie denn?«

»Ich hätte eigentlich fünfundzwanzig Rubel verlangen sollen, aber da ich dabei immerhin riskierte, Sie könnten von dem Handel zurücktreten, so habe ich der Sicherheit halber nur zehn verlangt. Ich lasse keine Kopeke herunter.«

Ich drehte mich um und ging.

»Ich geb' Ihnen vier Rubel,« mit diesen Worten holte er mich schon auf dem Hofe ein, »also, fünf.«

Ich sagte nichts und ging weiter.

»Na, dann also!« Er zog zehn Rubel aus der Tasche, ich gab ihm das Album.

»Aber Sie werden mir zugeben, daß das nicht ehrlich ist! Zwei Rubel und zehn – nicht wahr?«

»Wieso nicht ehrlich? Das ist eben der Markt!«

»Was heißt Markt?« (Er wurde wütend.)

»Wo eine Nachfrage ist, da ist auch ein Markt; – wenn Sie nicht gekommen wären, ich hätte nicht einmal vierzig Kopeken dafür gekriegt.

Ich hätte beinah laut herausgelacht und war doch ganz ernst, aber innerlich lachte ich, – nicht, daß ich vor Entzücken gelacht hätte, ich weiß selbst nicht weshalb, ich kam dabei etwas außer Atem.

»Hören Sie,« fuhr es mir unaufhaltsam heraus, aber ich sprach in freundschaftlichem Ton und hatte ihn dabei furchtbar lieb: »hören Sie mal: der verstorbene James Rothschild, der Pariser, wissen Sie, der tausendsiebenhundert Millionen Franken hinterlassen hat (er nickte mit dem Kopf), also dieser Rothschild erfuhr, er war damals noch jung, zufällig ein paar Stunden früher als alle anderen von der Ermordung des Herzogs von Berry; er machte gewissen Leuten Mitteilung davon und verdiente durch diesen einen Schlag in einem Augenblick ein paar Millionen – so machen es solche Leute!«

»Sie sind wohl der Rothschild, was?« schrie er mich unwillig an, als hielte er mich für einen Narren.

Ich entfernte mich schnell. Der eine Schritt – und ich hatte sieben Rubel fünfundneunzig verdient! Dieser Schritt war ganz sinnlos gewesen, das reinste Kinderspiel, das geb' ich gern zu, aber ganz einerlei, er war doch mit meinem Gedanken zusammengefallen und mußte mich ungeheuer tief erregen . . . Es hat übrigens keinen Zweck, Gefühle schildern zu wollen. Der Zehnrubelschein steckte in meiner Westentasche, ich steckte zwei Finger hinein, um ihn zu fühlen – und so ging ich weiter, ohne die Hand herauszuziehen. Als ich etwa hundert Schritte auf der Straße gegangen war, zog ich den Schein heraus, um ihn anzusehen, ich sah ihn an und wollte ihn küssen. Vor die Tür eines Hauses rasselte auf einmal eine Equipage: der Portier öffnete die Tür, und aus dem Hause trat eine Dame, um in den Wagen zu steigen, sie war hochgewachsen, jung, hübsch, reich, in Seide und Samt, mit einer zwei Ellen langen Schleppe. Plötzlich glitt ihr ein hübsches, kleines Portefeuille aus der Hand und fiel auf die Erde; sie stieg ein; der Diener bückte sich, um das kleine Ding aufzuheben, aber ich sprang schnell hinzu, hob es auf und überreichte es der Dame, dabei zog ich meinen Hut. (Einen Zylinderhut, ich war gut gekleidet, wie ein feiner junger Mann!) Die Dame sagte gehalten, aber mit dem freundlichsten Lächeln: »Merci, m'sieu.« Die Equipage rasselte davon. Ich küßte meinen Zehnrubelschein.

 

3

Ich mußte an jenem Tage auch noch Jefim Sweriow aufsuchen, einen früheren Schulkameraden von mir, der seinerzeit das Gymnasium verlassen und nach Petersburg gegangen war, um dort eine höhere Fachschule zu besuchen. Ihn persönlich näher zu beschreiben, ist der Mühe nicht wert, und eigentlich freundschaftlich hatte ich mich nie mit ihm gestanden; aber in Petersburg hatte ich ihn aufgesucht; er konnte mir (infolge verschiedener Umstände, die auch nicht erwähnenswert sind) die Adresse eines gewissen Herrn Kraft mitteilen, sobald dieser aus Wilna zurückgekehrt sein würde, und dies war ein Mensch, den ich sehr nötig hatte. Und jetzt erwartete Sweriow ihn heute oder morgen zurück, das hatte er mich vor zwei Tagen wissen lassen. Mein Weg führte mich nach der Petersburger Seite, aber ich fühlte keine Müdigkeit.

Sweriow (er zählte auch neunzehn Jahre) traf ich im Hofe des Hauses seiner Tante, bei der er zur Zeit wohnte. Er hatte gerade Mittag gegessen und ging auf Stelzen im Hof herum. Er sagte mir gleich, daß Kraft schon gestern angekommen und in seiner früheren Wohnung abgestiegen sei, ganz in der Nähe, auch auf der Petersburger Seite, und daß er auch den Wunsch hegte, mich möglichst bald zu sehen, da er mir eine dringliche und wichtige Mitteilung zu machen hätte.

»Er muß wieder irgendwohin reisen«, fügte Jefim hinzu.

Da es, wie die Umstände lagen, für mich von der allerhöchsten Wichtigkeit war, Kraft zu treffen, so bat ich Jefim, mich sofort in seine Wohnung zu führen, die übrigens nur zwei Schritte von dort in irgendeiner Seitenstraße lag. Aber Sweriow erklärte mir, er hätte Kraft schon vor einer Stunde getroffen und dieser wäre zu Dergatschow gegangen.

»Gehen wir also zu Dergatschow, was sträubst du dich immer; hast du Angst?«

Es war richtig, Kraft konnte am Ende lange bei Dergatschow sitzen bleiben und wo sollte ich dann auf ihn warten? Ich hatte keine Angst zu Dergatschow zu gehen, aber ich hatte keine Lust, obgleich es schon das dritte Mal war, daß mich Jefim hinschleppen wollte. Und dies »hast du Angst?« brachte er noch dazu immer mit einem Lächeln vor, das wenig Schmeichelhaftes für mich hatte. Von Feigheit war da gar keine Rede, das möchte ich gleich sagen, und wenn ich mich fürchtete, war es aus einem ganz anderen Grunde. Diesmal entschloß ich mich, hinzugehen; es war auch nur ein Weg von zwei Schritten. Unterwegs fragte ich Jefim, ob er noch immer die Absicht hätte, nach Amerika auszuwandern.

»Vielleicht warte ich auch noch«, erwiderte er mit einem leichten Auflachen.

Ich liebte ihn nicht besonders, ich liebte ihn sogar überhaupt nicht. Er war sehr weißblond und hatte ein volles, gar zu weißes Gesicht, unästhetisch weiß sogar, bis zur Kindlichkeit; von Wuchs war er sogar größer als ich, aber man konnte ihn kaum für älter als siebzehn halten. Mit ihm ein Gespräch zu führen war unmöglich.

»Was ist denn da los? Am Ende immer ein Haufen Leute?« erkundigte ich mich genau.

»Warum hast du denn immer Angst?« grinste er wieder.

»Scher dich zum Teufel«, sagte ich wütend.

»Absolut kein Haufen Leute. Es kommen nur Bekannte hin, lauter Gesinnungsgenossen, sei ganz ruhig.«

»Das kümmert mich den Teufel, ob es Gesinnungsgenossen sind oder nicht! Ich komme doch nicht als Gesinnungsgenosse hin? Woher wissen diese Leute, daß sie mir vertrauen können?«

»Ich bringe dich mit, und das genügt. Sie haben auch schon von dir gehört. Kraft kann ja auch Auskunft über dich geben.«

»Sag mal, wird Wasin da sein?«

»Ich weiß nicht.«

»Wenn er da ist, so stoß mich beim Eintreten an, und zeig' mir Wasin; verstehst du, gleich beim Eintreten.«

Von Wasin hatte ich schon ziemlich viel gehört und ich interessierte mich schon lange für ihn.

Dergatschow wohnte in einem kleinen Hintergebäude, auf dem Hofe hinter einem Holzhause, das einer Kaufmannsfrau gehörte, aber dafür hatte er das Häuschen für sich allein. Es enthielt im ganzen drei reinliche Zimmer. An sämtlichen vier Fenstern waren die Vorhänge heruntergelassen. Er war Techniker und hatte eine Anstellung in Petersburg; ich hatte beiläufig gehört, ihm wäre eine sehr günstige Privatstellung in der Provinz angeboten, er wolle demnächst dahin übersiedeln.

Kaum waren wir in das winzige Vorzimmer getreten, da hörten wir schon Stimmen: es schien heftig gestritten zu werden, und jemand schrie: »Quae medicamenta non sanant – ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat!«

Ich war tatsächlich etwas unruhig. Es ist ja klar, ich war an Gesellschaft nicht gewöhnt, nicht einmal an irgendeine beliebige. Auf dem Gymnasium hatte ich mit den Kameraden auf du und du gestanden, aber so eigentlich ein Kamerad war mir keiner gewesen; ich hatte mir meinen Winkel geschaffen und lebte in diesem Winkel. Aber das war es nicht, was mich verwirrt machte. Für jeden Fall hatte ich mir das Wort gegeben, mich auf keine Diskussionen einzulassen und nur das Allernotwendigste zu sprechen, so daß niemand daraus Schlüsse auf mich ziehen konnte; die Hauptsache war – keine Diskussionen!

In dem Zimmer, das wirklich gar zu klein war, waren sieben Leute und wenn man die Damen mitrechnet, zehn. Dergatschow war fünfundzwanzig Jahre alt und er war verheiratet. Seine Frau hatte eine Schwester und noch eine Verwandte; die beiden lebten auch bei Dergatschow. Das Zimmer war ziemlich gleichgültig möbliert, übrigens ausreichend, und es war sogar alles recht sauber. An der Wand hing ein Porträt in Lithographie, es sah aber recht billig aus, und in der Ecke ein Heiligenbild ohne Fassung, aber eine ewige Lampe brannte davor. Dergatschow kam mir entgegen, drückte mir die Hand und bat mich, Platz zu nehmen.

»Setzen Sie sich, hier sind wir ganz unter uns.«

»Ja, bitte schön, –« fügte sogleich eine recht nett aussehende junge Frau hinzu, die sehr bescheiden gekleidet war, dann verbeugte sie sich flüchtig vor mir und ging hinaus. Das war seine Frau. Sie sah so aus, als ob sie mit diskutiert hätte, jetzt ging sie, ihr Kind zu stillen. Aber es blieben noch zwei Damen im Zimmer: – die eine war sehr klein von Wuchs, etwa zwanzig Jahre alt, trug ein schwarzes Kleid und gehörte auch durchaus nicht zu den Häßlichen, und die andere zählte wohl dreißig, sie war dürr und hatte stechende Augen. Beide saßen sie da und spitzten die Ohren, beteiligten sich aber nicht am Gespräch.

Die Herren standen alle, es saßen, außer mir, nur Kraft und Wasin; Jefim zeigte sie mir gleich, denn auch Kraft sah ich zum erstenmal im Leben. Ich stand auf und ging, mich ihnen vorzustellen. Krafts Gesicht werde ich niemals vergessen: es war durchaus nicht von besonderer Schönheit, aber es lag so ungeheuer viel Arglosigkeit und Feinfühligkeit darin, obgleich das Bewußtsein des eigenen Wertes sich auch deutlich genug abspiegelte. Er war sechsundzwanzig, ziemlich mager, übermittelgroß, blond, das Gesicht ernst, aber weich; etwas Stilles war über den ganzen Menschen ausgegossen. Aber trotzdem, wenn man mich gefragt hätte, ob ich mein, ich kann wohl sagen, ziemlich triviales Gesicht gegen seins vertauschen wollte, das mir so anziehend erschien, ich hätte nein gesagt. Es lag etwas in seinem Gesicht, was ich mir in meins nicht hineingewünscht hätte, etwas schon gar zu ruhiges im moralischen Sinne, eine gewisse Art von heimlichem, unbewußtem Hochmut. Übrigens, genau genommen, konnte ich damals wahrscheinlich noch nicht so urteilen; es kommt mir nur jetzt so vor, als ob ich damals so geurteilt hätte, jetzt, da ich weiß, was ich weiß.

»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind,« sagte Kraft, »ich habe einen Brief, der Sie angeht. Wir bleiben noch ein bißchen hier, dann kommen Sie mit in meine Wohnung.«

Dergatschow war von mittlerer Größe, breitschulterig, kräftig und trug einen großen dunkeln Bart; aus seinem Blick sprach eine spähende Behutsamkeit, und aus seinem ganzen Wesen eine starke Zurückhaltung, eine gewisse unverbrüchliche Vorsicht; wenn er auch wenig mitredete, so leitete er die Unterhaltung doch sichtlich. Wasins Gesicht machte keinen so sehr großen Eindruck auf mich, obgleich ich schon viel von seiner kolossalen Klugheit gehört hatte: er war blond, hatte große hellgraue Augen, sein Gesicht war sehr offen, aber zugleich lag eine gewisse übertriebene Festigkeit darin; man konnte gleich darauf schließen, daß man hier einem wenig mitteilsamen Menschen gegenüber stände, aber seine Augen schauten klug, klüger, als die Dergatschows, tiefer, – die klügsten Augen im Zimmer; übrigens ist es wohl möglich, daß ich jetzt alles übertreibe. Was die übrigen betrifft, so erinnere ich mich überhaupt nur noch an zwei Gesichter unter allen diesen jungen Leuten: es war ein hochgewachsener, brünetter Mensch da mit schwarzem Backenbart, der viel sprach, er konnte siebenundzwanzig sein und war wohl Lehrer oder so was, und dann ein junger Bursche in meinem Alter, in russischer Tracht, – mit faltigem Gesicht, schweigsam, mehr zuhörend. Ich erfuhr nachher, daß er von bäuerlicher Abkunft war.

»Nein, so darf man das nicht formulieren«, begann der Lehrer mit dem schwarzen Backenbart, der sich mehr als alle anderen ereiferte, und offenbar knüpfte er damit dort an, wo unser Eintritt die Debatte unterbrochen hatte: »Von mathematischen Beweisen will ich gar nichts sagen, das ist doch eine Idee, die ich gerne auch ohne mathematische Beweise glauben will, aber . . .«

»Wart' mal, Tichomirow,« unterbrach ihn Dergatschow mit lauter Stimme, »die neuen Gäste verstehen ja kein Wort davon. Sehn Sie,« wandte er sich auf einmal direkt an mich ganz allein (und ich muß bekennen, wenn er mich als Neuling examinieren und mich zum Sprechen bringen wollte, so war das sehr geschickt von ihm angefangen; ich empfand das sogleich und war auf meiner Hut): »sehn Sie also, das hier ist also Herr Kraft, den wir alle sehr gut kennen, was seinen Charakter und die Solidität seiner Überzeugungen betrifft. Er ist infolge einer ganz gewöhnlichen Tatsache zu einem höchst ungewöhnlichen Schluß gelangt, durch den er unser aller größtes Erstaunen erregt hat. Sein Schluß lautete, das russische Volk wäre ein Volk zweiten Ranges . . .«

»Dritten Ranges«, schrie jemand dazwischen.

». . . zweiten Ranges, und seine ihm von der Vorsehung zugewiesene Aufgabe sei es, als Material für einen edleren Volksstamm zu dienen, nicht aber, eine selbständige Rolle in den Geschicken der Menschheit zu spielen. Aus der Voraussetzung dieses, vielleicht auch richtigen, Schlusses hat Herr Kraft die weitere Folgerung gezogen, daß diese Idee jeden ferneren Tatendrang von uns Russen paralysieren müsse, es müßten, sozusagen, alle die Hände in den Schoß legen und . . .«

»Erlaub' mal, Dergatschow, das darf man nicht so formulieren«, fiel ihm Tichomirow wieder ungeduldig ins Wort (und Dergatschow schwieg und ließ ihn reden). »Wenn man betrachtet, daß Kraft ernsthafte Studien gemacht und seine Schlüsse, die er als mathematisch anerkennt, auf physiologischer Grundlage erreicht hat, und daß er mit seiner Theorie (die ich mit der größten Ruhe a priori als bewiesen angenommen hätte) vielleicht zwei Jahre totgeschlagen hat, wenn man das betrachtet, was für einen Eindruck diese Sache auf Kraft macht und wie ernst er sie nimmt, so muß man sie als ein Phänomen ansehen. Aus allem diesen ergibt sich eine Frage, die Kraft nicht verstehen kann, und das ist ja eben, worauf es ankommt, nämlich, daß Kraft das nicht versteht, weil dies eben das Phänomen ist. Man muß entscheiden, ob dieses Phänomen, als einzig in seiner Art, vor das Forum des Psychiaters gehört, oder ob das eine Eigenschaft ist, die normalerweise auch bei anderen vorkommen kann; das ist eben das Interessante daran im Hinblick auf die allgemeine Sache. Was Kraft über Rußland sagt, glaub' ich ihm gern, ich möchte meinetwegen sogar sagen, ich freue mich darüber; wenn sich alle diese Idee zu eigen machten, so würde sie vielen die Fesseln von den Händen nehmen und sie von den patriotischen Vorurteilen befreien . . .«

»Ich habe nicht aus Patriotismus gesprochen«, sagte Kraft mit einer gewissen Anstrengung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.

»Patriotismus oder nicht, das kann man ruhig beiseite lassen«, sagte Wasin, der bisher das strikteste Schweigen gewahrt hatte.

»Aber inwiefern kann denn Krafts Schluß den Eifer für die Sache der Menschheit lähmen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, der schrie, alle andern sprachen leise). »Mag also Rußland zur Zweitklassigkeit verurteilt sein; kann man denn nur arbeiten, wenn es für Rußland ganz allein geschieht? Und außerdem, wie kann Kraft ein Patriot sein, wenn er nicht einmal mehr an Rußland glaubt?«

»Dafür ist er eben ein Deutscher«, ertönte wieder die Stimme von vorhin.

»Ich bin Russe«, sagte Kraft.

»Das ist eine Frage, die durchaus in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Sache steht«, bemerkte Dergatschow, gegen den Zwischenrufer gewandt.

»Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, eiferte Tichomirow, der für alle Unterbrechungen taub war. »Wenn Rußland nur das Material für edlere Volksstämme ist, ja, warum soll es eigentlich nicht als solches Material dienen? Das ist immerhin noch eine recht ansehnliche Aufgabe. Warum soll man sich nicht bei dieser Idee beruhigen, da sie einem seine Grenzen weiter zieht. Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, und diese hat schon begonnen. Die Aufgabe leugnen, die vor uns liegt, kann nur ein Blinder. Laßt Rußland fahren, wenn ihr den Glauben daran verloren habt, und arbeitet für das zukünftige Volk, – das zukünftige, das heute noch keiner kennt, das sich aber aus der ganzen Menschheit bilden wird, ohne Unterschied der Stämme. So oder so wäre Rußland doch einmal gestorben; kein Volk, und wäre es das begabteste, lebt länger als anderthalb, wenn's hoch kommt zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob's zweitausend Jahre sind, oder zweihundert? Die Römer haben nicht einmal fünfzehnhundert Jahre gelebt, richtig gelebt, und haben sich auch in Material verwandelt. Sie sind schon lange dahin, aber sie haben eine Idee hinterlassen, und die ist als Element des Künftigen in die Geschicke der Menschheit übergegangen. Wie kann ein Mensch nur sagen, es hätte keinen Zweck, etwas zu tun? Ich kann mir überhaupt keine Situation vorstellen, in der es keinen Zweck hätte, etwas zu tun! Handelt für die Menschheit, und über alles andere macht euch keine Sorgen. Zu tun gibt es so viel, daß unsere Lebensdauer nicht ausreicht, wenn man sich nur ordentlich umschaut.«

»Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte hinter der Tür Frau Dergatschowa. Die Tür war ein ganz klein bißchen geöffnet, und man konnte sie draußen stehen sehen, das Kind an der Brust, die Brust zugedeckt und mit leidenschaftlichem Interesse lauschend.

Kraft hörte das mit einem leichten Lächeln an und sagte endlich mit einem etwas gequälten Ausdruck, übrigens aber im Ton starker Aufrichtigkeit:

»Ich begreife nicht, wie einer, der unter dem Einfluß irgendeines herrschenden Gedankens steht, dem sein Verstand und sein Gefühl sich völlig unterwerfen, wie so einer noch für irgend etwas leben könnte, was außerhalb dieses Gedankens liegt.«

»Aber wenn man Ihnen logisch, mathematisch nachweist, daß Ihr Schluß falsch ist, daß dieser Gedanke falsch ist, daß Sie nicht das geringste Recht haben, sich von der nützlichen Arbeit der Allgemeinheit auszuschließen, aus keinem anderen Grund, als weil Rußland von der Vorsehung bestimmt ist, zweitklassig zu bleiben, wenn man Ihnen nachweist, daß sich da vor Ihnen an Stelle des engen Horizontes die Unendlichkeit auftut, daß an Stelle der engen Idee des Patriotismus . . .«

»Ach!« sagte Kraft und wehrte leise mit der Hand ab, »ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Patriotismus hiermit gar nichts zu schaffen hat.«

»Hier liegt augenscheinlich ein Mißverständnis vor«, mischte sich auf einmal Wasin ein. »Der Fehler liegt darin, daß Krafts Schluß nicht nur ein logischer ist, sondern sozusagen ein Schluß, der sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle Naturen sind gleichgeartet; bei vielen Menschen verwandelt sich manchmal ein logischer Schluß in das allerstärkste Gefühl, das den ganzen Menschen ergreift und sehr schwer auszutreiben oder zu verwandeln ist. Um einen solchen Menschen zu heilen, muß man in solchen Fällen dieses Gefühl ändern, und das kann man nur, indem man es durch ein anderes gleich starkes ersetzt. Das ist stets schwer und in vielen Fällen unmöglich.«

»Falsch!« schrie der Streithammel wieder los, »der logische Schluß zerstreut die Vorurteile schon ganz von selbst. Eine vernünftige Überzeugung gebiert auch ein Gefühl. Der Gedanke geht aus dem Gefühl hervor und formuliert für sein Teil wieder ein neues Gefühl, wenn er im Menschen herrschend wird!«

»Die Menschen sind sehr verschieden: einer ändert seine Gefühle leicht, der andere schwer«, entgegnete Wasin. Es sah so aus, als hätte er genug von dem Streit; ich aber war begeistert von seiner Idee.

»So ist das, wie Sie gesagt haben!« wendete ich mich plötzlich an ihn. Das Eis war gebrochen, und ich fing auf einmal an zu sprechen. »Ganz richtig, man muß an die Stelle des einen Gefühls ein anderes setzen, um es zu überwinden. In Moskau lebte, das ist jetzt vier Jahre her, ein General . . . Sehn Sie, meine Herrschaften, ich hab' ihn nicht gekannt, aber . . . Vielleicht konnte er einem im Grunde persönlich auch keinen besonderen Respekt einflößen . . . Und außerdem könnte einem die Tatsache an sich unverständig scheinen, aber . . . Übrigens, sehn Sie, ihm starb ein Kind, das heißt, eigentlich zwei kleine Mädchen, beide kurz nacheinander, am Scharlach . . . Na, und er war mit einem Schlage so zerschmettert, er grämte sich so, daß man ihn nicht ansehen konnte, wenn er so daherkam – und das Ende war, daß er starb, kaum ein halbes Jahr darauf. Er starb daran, das ist eine Tatsache! Wodurch also, nehmen wir mal an, hätte man ihn aufrichten können? Antwort: Durch ein ebenso starkes Gefühl! Man hätte die zwei kleinen Mädchen aus dem Grabe holen und ihm wiedergeben müssen – das ist die Sache, das heißt, so was Ähnliches. Er ist also daran gestorben. Und da hätte man ihm viele wunderschöne Schlüsse vorlegen können; man hätte ihm erzählen können: alles Leben ist gebrechlich, wir alle sind sterblich, man hätte ihm im Kalender eine Statistik darüber zeigen können, wieviel Kinder am Scharlach sterben . . . Es war ein General außer Diensten . . .«

Ich stockte, außer Atem, und schaute mich um.

»Das hat doch gar nichts damit zu tun«, sagte jemand.

»Die Tatsache, die Sie angeführt haben, deckt sich zwar nicht mit dem vorliegenden Fall, aber sie hat doch Ähnlichkeit mit ihm und kann ihn erläutern«, wendete sich Wasin zu mir.

 

4

Hier muß ich bekennen, warum mich Wasins Argument von der »zum Gefühl gewordenen Idee« so begeisterte, aber zugleich muß ich etwas gestehen, dessen ich mich höllisch zu schämen habe. Jawohl, ich hatte Angst gehabt, zu Dergatschow zu gehen, aber nicht aus der Ursache, die Jefim voraussetzte. Ich hatte Angst, weil ich mich schon in Moskau vor solchen Leuten gefürchtet hatte. Ich wußte, daß sie (das heißt, alle Leute von dieser Art, mögen sie auch sonst noch so verschieden untereinander sein, – das ist ganz egal) – daß sie alle Dialektiker sind und daß sie also am Ende »meine Idee« würden zertrümmern können. Ich hegte das festeste Zutrauen zu mir selbst, daß ich ihnen meine Idee nicht ausliefern und mitteilen würde; aber sie (das heißt wieder, alle Leute von dieser Art) könnten mir am Ende aus sich selbst heraus irgend etwas sagen, was mir meine Idee verleiden könnte, selbst wenn ich auch nicht ein Wort von ihr fallen ließe. Ich kannte im Hinblick auf »meine Idee« noch viele ungelöste Fragen, aber ich wollte nicht, daß sie irgend jemand anders löste als ich selbst. In den zwei letzten Jahren hatte ich sogar aufgehört, Bücher zu lesen, aus Furcht, auf irgendeine Stelle zu stoßen, die der »Idee« schaden und mich wankend machen könnte. Und auf einmal kommt Wasin und löst das Exempel und beruhigt mich im höchsten Sinne. In der Tat, wovor hatte ich mich gefürchtet, und was konnten sie mir tun, soviel Dialektik sie auch auftischten? Ich war vielleicht auch der einzige von allen Anwesenden, der verstand, was Wasin da von der »zum Gefühl gewordenen Idee« gesagt hatte. Es ist nicht genug, daß man eine schöne Idee widerlegt, man muß einen Ersatz für sie schaffen durch eine gleich starke schöne Idee; bietet man mir das nicht, so will ich, da ich mich um keinen Preis von meinem Gefühl trennen möchte, jede Widerlegung in meinem Herzen widerlegen, und mag es mit Gewalt sein, und mögen sie sagen, was sie wollen. Und was könnten sie mir denn als Ersatz geben? Und deshalb hätte ich tapferer sein sollen, ich wäre verpflichtet gewesen, mannhafter zu sein. Und während ich von Wasins Worten begeistert war, fühlte ich zugleich Scham und fühlte mich wie ein unwürdiges kleines Kind.

Es kam noch die Scham über was anderes dazu. Der an sich nicht tadelnswerte Wunsch, wegen meines Verstandes gelobt zu werden, hatte mich veranlaßt, das Eis zwischen mir und ihnen zu brechen und mich in die Diskussion zu mischen, aber zugleich erwachte der Wunsch in mir, mich ihnen »an den Hals zu werfen«. Diesen Wunsch, mich den Leuten an den Hals zu werfen, damit sie mich für einen famosen Menschen hielten und mich umarmten oder so was (kurz und gut, diese Schweinerei), halte ich für die scheußlichste unter allen meinen Eigenschaften, deren ich mich zu schämen habe, und ich hatte schon seit langem den Verdacht gehabt, daß so was in mir lebte. Und das kam wohl von dem Winkel, in dem ich mich so viele Jahre gehalten habe, obgleich mir das nicht leid tut. Ich wußte, daß ich den Leuten gegenüber finsterer sein müßte. Mich tröstete nach jeder solchen Blamage nur das eine, daß meine »Idee« trotz allem noch bei mir war, tief geheim wie zuvor, und daß ich sie den andern nicht ausgeliefert hatte. Mit stockendem Herzschlag malte ich mir manchmal aus, wie es sein würde, wenn ich meine Idee irgend jemand gegenüber ausgesprochen hätte, daß ich dann nichts mehr für mich haben, daß ich ebenso sein würde wie alle anderen, und daß ich dann vielleicht überhaupt die Idee fahren lassen müßte; und deshalb hütete und bewachte ich sie und zitterte davor, ins Schwatzen zu kommen. Und nun, bei Dergatschow, beinahe im Augenblick der ersten Berührung mit diesen Menschen, konnte ich mich nicht halten: ich habe natürlich nichts verraten, aber ich habe ganz unerlaubt geschwatzt; ich mußte mich vor mir selbst schämen. Eine häßliche Erinnerung. Nein, ich kann nicht mit den Menschen leben; das denke ich noch heute; ich sage das für vierzig Jahre im voraus. Meine Idee ist mein Winkel.

 

5

Kaum hatte Wasin mich gelobt, da überfiel mich auf einmal ein unwiderstehlicher Drang, zu sprechen.

»Nach meiner Ansicht hat jeder Mensch das Recht, seine Gefühle zu haben . . . wenn sie seiner Überzeugung entsprechen . . . ohne daß jemand ihm Vorwürfe deswegen machen dürfte«, wendete ich mich an Wasin. Wenn ich auch fließend sprach, es war doch, als ob ich nicht selbst spräche, sondern ganz, als ob sich in meinem Munde eine fremde Zunge bewegte.

»Wirklich?« unterbrach mich in ironisch gedehntem Tonfall dieselbe Stimme, die Dergatschow ins Wort gefallen war und Kraft zugerufen hatte, er wäre ein Deutscher. Ich betrachtete diesen Menschen als eine Null und wandte mich an den Lehrer, als ob der Zwischenruf von dem gekommen wäre:

»Meine Überzeugung ist, daß ich nicht wagen darf, irgend jemand zu richten«, sagte ich zitternd und wußte schon, daß jetzt kein Halten mehr war.

»Warum denn so geheimnisvoll?« erklang wieder die Stimme der Null.

»Jeder hat seine Idee.« Ich sah so recht zum Trotz den Lehrer an, der für sein Teil schwieg und mich lächelnd musterte.

»Und Ihre?« schrie die Null.

»Daran hätte ich zu lange zu erzählen . . . Aber ein Teil meiner Idee ist, daß man mich in Ruhe lassen soll. Solange ich zwei Rubel habe, will ich mein freier Herr und von niemand abhängig sein (regen Sie sich nicht auf, ich weiß, was man darauf entgegnen kann) und will nichts tun, – nicht einmal für jene große künftige Menschheit, für die zu arbeiten Sie Herrn Kraft aufgefordert haben. Die persönliche Freiheit, das heißt, meine eigene steht für mich in erster Reihe und weiter will ich von gar nichts wissen.«

Mein Fehler war, daß ich in Hitze geriet.

»Also Sie predigen die Ruhe einer satten Kuh?«

»Meinetwegen. Der Vergleich hat nichts Beleidigendes, ich bin niemand was schuldig, ich zahle der Allgemeinheit Geld in der Form von Steuern dafür, daß sie mich vor Beraubung, Überfällen, Mordanfällen beschützt, aber weiter soll kein Mensch etwas von mir fordern. Mag ja sein, daß ich persönlich auch andere Ideen habe und der Menschheit dienen möchte und das auch wirklich tun werde und vielleicht zehnmal soviel, als alle Propheten zusammengenommen; aber ich verbitte mir ganz energisch, daß jemand das von mir fordert, mich dazu zwingen will, so wie Sie Herrn Kraft: ich habe die vollkommene Freiheit, auch nicht einen Finger zu rühren, wenn ich nicht will. Aber herumzulaufen und sich allen vor lauter allgemeiner Menschenliebe an den Hals zu werfen und heiße Rührungstränen zu vergießen, – das ist nur eine dumme Mode. Ja, warum muß ich denn unbedingt meinen Nächsten lieben oder Ihre künftige Menschheit, die ich nie sehen werde, die von mir nicht das geringste wissen wird, und die an ihrem Teil verfaulen wird, ohne eine Spur und eine Erinnerung zu hinterlassen (die Zeit spielt dabei gar keine Rolle)? Denn wird die Erde für ihr Teil sich nicht einst in einen gefrorenen Stein verwandeln und im luftleeren Raum unter der unendlichen Menge der anderen gefrorenen Steine dahinfliegen? Und kann man sich etwas Sinnloseres überhaupt vorstellen? Da haben Sie ihre Gelehrsamkeit! Sagen Sie mir doch: weshalb muß ich um jeden Preis edel sein, zumal nichts länger dauert als eine Minute?«

»Bumm – bumm!« schrie die bekannte Stimme. Ich hatte das alles nervös und zornig hervorgestoßen, alle Bande hatte ich zerrissen. Ich wußte, daß ich in einen Graben fallen würde, aber ich hastete vorwärts, weil ich mich vor Entgegnungen fürchtete. Ich fühlte nur zu gut, daß ich das alles wie durch ein Sieb ausschüttete, ohne Zusammenhang und aus dem Hundertsten ins Tausendste kommend, aber ich hastete vorwärts, um sie zu überzeugen und von vornherein zu besiegen. Das war so ungeheuer wichtig für mich! Drei Jahre hatte ich mich darauf vorbereitet! Aber es war bemerkenswert, sie waren auf einmal alle verstummt, sie sagten kein Wort, und alle hörten mir zu. Ich fuhr fort, mich an den Lehrer zu wenden.

»Jawohl. Ein ungeheuer kluger Mensch hat unter anderem gesagt, es gäbe nichts Schwierigeres, als die Frage zu beantworten: ›Warum soll man unbedingt edel sein?‹ Sehn Sie, es gibt drei Sorten von Schuften in der Welt: die naiven Schufte, das heißt die, die überzeugt sind, ihre Schuftigkeit wäre der höchste Edelmut, die schamhaften Schufte, das heißt die, die sich ihrer Schuftigkeit schämen, aber doch unwandelbar entschlossen sind, ihr treu zu bleiben, und schließlich die Schufte an sich, die Schufte von echtem Schrot und Korn. Erlauben Sie, bitte: ich hatte einen Schulkameraden, namens Lambert, der sagte mir schon mit sechzehn Jahren, wenn er mal reich sein würde, so würde es sein höchster Genuß sein, Hunde mit Brot und Fleisch zu füttern, während die Kinder der Armen Hungers stürben, und wenn sie nichts hätten, um ihre Zimmer zu heizen, würde er einen ganzen Holzhof kaufen, ihn auf freiem Felde aufstapeln und das Feld heizen, den Armen aber würde er kein Scheit geben. Das waren seine Gefühle. Sagen Sie mal, was sollte ich diesem echten Schuft auf die Frage antworten, weshalb er durchaus edel sein müßte? Und besonders in unserer heutigen Zeit, die Sie so schön hergerichtet haben, – denn schlimmer, als es heute ist, ist es nie gewesen. In unserer heutigen Gesellschaft ist durchaus nicht alles klar, meine Herrschaften. Sehn Sie, Sie leugnen Gott, Sie leugnen den schönen Tatendrang. Kann mich eine taube, blinde, stumpfe Kraft der Trägheit zwingen, so zu handeln, wenn eine andere Handlungsweise vorteilhafter für mich ist? Sie sagen, ein vernünftiges Verhalten, das der Menschheit Nutzen bringe, sei auch mein eigener Vorteil; aber was, wenn ich nun alle diese Vernünftigkeit Unvernunft nenne, alle diese Kasernenideale, diese Gemeinsamkeitsträume? Den Teufel scheren sie mich, den Teufel schert mich die Zukunft, wenn ich nur einmal auf dieser Welt lebe! Gestatten Sie mir, selbst am besten zu wissen, was mein Vorteil ist: das ist vergnüglicher. Was kümmert es mich, was nach tausend Jahren mit dieser Ihrer Menschheit los sein wird, wenn ich für meine Taten, nach Ihrem Kodex, weder Liebe ernte noch ein künftiges Leben noch auch Anerkennung? O nein, wenn das so ist, so werde ich in aller Ruhe so unbescheiden sein, für mich selbst zu leben, und mögen drüber alle zum Teufel gehen!«

»Ein entzückender Wunsch!«

»Übrigens bin ich durchaus bereit, mit dabei zu sein.«

»Noch besser!« (Immer wieder dieselbe Stimme.)

Die andern blieben immer noch stumm, alle schauten mich an und musterten mich genau; jedoch es begann von verschiedenen Seiten des Zimmers her ein Kichern zu mir zu dringen, leise noch, aber sie kicherten mir alle direkt ins Gesicht. Nur Wasin und Kraft kicherten nicht. Der Mensch mit dem schwarzen Backenbart lächelte auch; er sah mich so recht frech an und horchte.

»Meine Herren,« sagte ich, am ganzen Körper zitternd, »meine Idee sage ich ihnen um keinen Preis, sondern ich frage Sie, ganz im Gegenteil, von Ihrem Gesichtspunkte aus, – glauben Sie nur nicht, ich fragte von meinem eigenen aus, denn ich liebe die Menschheit vielleicht tausendmal mehr, als Sie alle zusammengenommen! Sagen Sie doch – und Sie sind jetzt unbedingt verpflichtet, mir zu antworten, Sie sind dazu verpflichtet, weil Sie lachen –, sagen Sie doch: wodurch wollen Sie mich verlocken, mich Ihnen anzuschließen? Sagen Sie doch, wodurch Sie mir beweisen wollen, daß es in Ihrer Idealwelt besser sein wird? Was wird in Ihrer Kaserne mit dem Protest meiner Persönlichkeit geschehen. Meine Herren, ich hatte schon lange gewünscht, mal mit Ihnen zusammen zu kommen! Sie werden die Kaserne haben, gemeinsame Wohnungen, stricte nécessaire, Atheismus und gemeinsame Frauen ohne Kinder, das ist Ihr Finale, ich weiß es ja doch. Und für dies alles, für dies Quentchen mittelmäßigen Vorteils, das mir Ihre Vernünftigkeit garantieren will, dafür daß Sie mir satt zu essen und ein geheiztes Zimmer geben, soll ich Sie mit dem Preis meiner Persönlichkeit bezahlen! Erlauben Sie mal ein Beispiel: man nimmt mir meine Frau weg; wollen Sie mir dann auch meine Persönlichkeit nehmen, damit ich meinem Gegner nicht den Schädel einschlage? Sie werden sagen, unter solchen Bedingungen würde ich schon von selbst klüger werden; aber was wird die Frau zu einem so vernünftigen Manne sagen, wenn sie nur ein klein wenig Selbstachtung hat? Das ist ja doch unnatürlich; Sie sollten sich schämen!«

»Was die Frauen betrifft, sind Sie wohl Spezialist?« erklang schadenfroh die Stimme der Null.

Einen Augenblick hatte ich Lust, mich auf den Kerl zu stürzen und ihn mit meinen Fäusten durchzuwalken. Er war klein, rothaarig und sommersprossig . . . ach, übrigens der Teufel hole sein Äußeres!

»Sie können sich beruhigen, ich habe noch kein Weib gekannt«, sagte ich abschneidend und wendete mich zum erstenmal an ihn selbst.

»Ein kostbares Bekenntnis, nur hätte es der Damen wegen etwas verblümter sein dürfen!«

Aber alles geriet auf einmal in Bewegung, alle suchten sie ihre Hüte und begannen aufzubrechen, – selbstverständlich nicht meinetwegen, sondern weil ihre Zeit gekommen war; aber dies schweigsame Verhalten mir gegenüber fiel mir sehr schwer und beschämend auf die Seele. Ich erhob mich auch.

»Gestatten Sie mir, Sie nach Ihrem Namen zu fragen: Sie haben mich die ganze Zeit so angeschaut?« Mit diesen Worten trat plötzlich der Lehrer zu mir. Er lächelte dabei ganz infam.

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij, ich bin der Sohn des ehemaligen Leibeigenen Makar Dolgorukij und das uneheliche Kind meines früheren Herrn, des Herrn Wersilow. – Haben Sie keine Angst, meine Herren: ich sage das absolut nicht, um Sie zu veranlassen, mir dafür um den Hals zu fallen und mit mir vor lauter Rührung zu heulen wie junge Kälber!«

Eine laute und sehr wenig förmliche Lachsalve knatterte los, so daß das schlafende Kind im Nebenzimmer erwachte und zu quäken anfing. Ich zitterte vor Wut. Dann drückten sie alle Dergatschow die Hand und gingen, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken.

»Kommen Sie«, sagte Kraft und stieß mich an.

Ich trat auf Dergatschow zu und drückte ihm aus allen Kräften die Hand und schüttelte sie ein paarmal, gleichfalls aus aller Kraft.

»Entschuldigen Sie bitte, daß Kudriumow (so hieß der Rote) Sie in einem fort beleidigt hat«, sagte Dergatschow zu mir.

Ich folgte Kraft hinaus. Ich fühlte mich nicht im geringsten beschämt.

 

6

Selbstverständlich, zwischen dem Menschen, der ich damals war und dem, der ich heute bin, ist ein gewaltiger Unterschied.

Wie ich also, »ohne mich im geringsten beschämt zu fühlen«, hinausging, holte ich noch auf der Treppe Wasin ein – Kraft ließ ich ruhig vorausgehen, wie einen Menschen, der für mich nur in zweiter Linie Interesse hat –, ich holte also Wasin ein und fragte ihn mit der unbefangensten Miene, als ob gar nichts passiert wäre:

»Ich glaube, Sie kennen meinen Vater, das heißt, ich meine Wersilow?«

»Eigentlich bekannt bin ich nicht mit ihm,« antwortete mir Wasin ohne Zögern (und ohne eine Spur von jener beleidigenden, besonders verfeinerten Höflichkeit, die taktvolle Leute anzunehmen pflegen, wenn sie mit jemand sprechen, der sich grade blamiert hat), »aber ich kenne ihn flüchtig: ich habe ihn gelegentlich getroffen und habe ihn sprechen hören.«

»Wenn Sie ihn sprechen gehört haben, dann kennen Sie ihn natürlich, weil Sie eben Sie sind! Was denken Sie von ihm? Entschuldigen Sie die plötzliche Frage, aber ich muß es wissen. Gerade, wie Sie darüber denken, gerade Ihre Meinung ist mir unentbehrlich.«

»Sie fragen viel auf einmal. Ich bin der Ansicht, daß er ein Mensch ist, der fähig ist, ungeheure Forderungen an sich zu stellen und sie vielleicht auch zu erfüllen, – nur mag er keinem Rechenschaft geben.«

»Das ist wahr, das ist sehr wahr, er ist ein sehr stolzer Mensch. Aber ist er ein reiner Mensch? Sagen Sie doch, wie denken Sie über seinen Katholizismus? Übrigens, ich habe gar nicht daran gedacht, Sie wissen am Ende überhaupt nicht, daß er . . .«

Wenn ich nicht so erregt gewesen wäre, hätte ich ihn wohl nicht mit solchen Fragen bombardiert, es war doch schließlich ein Mensch, mit dem ich noch nie gesprochen hatte, nur gehört hatte ich von ihm. Ich wunderte mich, daß Wasin die Verrücktheit meines Gebahrens überhaupt nicht zu bemerken schien.

»Ich habe davon gehört, aber ich weiß nicht, wieviel Wahres daran ist«, antwortete er ruhig und in demselben Ton wie zuvor.

»Kein Wort! Das dichtet man ihm an! Denken Sie denn wirklich, daß er an Gott glauben könnte?«

»Er ist ein sehr stolzer Mensch, wie Sie eben selbst bemerkt haben, und viele von diesen sehr stolzen Menschen lieben es, an Gott zu glauben, besonders die, die eine gewisse Verachtung für die Menschen besitzen. Viele starke Menschen haben, glaube ich, ein gewisses natürliches Bedürfnis, jemand oder etwas zu finden, vor dem sie sich beugen können. Für einen starken Menschen ist es oft schwer, seine Stärke zu ertragen.«

»Hören Sie, das ist sicher höchst wahr!« rief ich wieder, »aber ich verstehe nur nicht . . .«

»Die Ursache ist ganz klar: sie suchen sich Gott aus, weil Sie sich nicht vor Menschen beugen wollen; – natürlich haben sie selbst keine Ahnung davon, wie sich das alles in ihnen bildet; sich vor Gott zu beugen, das ist nicht so demütigend. Aus ihrem Kreise rekrutieren sich die feurigsten Gläubigen, – richtiger gesagt, die, die den feurigsten Wunsch hegen, zu glauben; aber ihren Wunsch halten sie schön für den richtigen Glauben. Und zu guter Letzt werden sie gar oft zu Enttäuschten. Was ich von Herrn Wersilow denke? Ich glaube, er besitzt ungewöhnlich aufrichtige Züge in seinem Charakter. Und überhaupt, er hat mich interessiert.«

»Herr Wasin!« rief ich, »Sie machen mir so eine Freude! Ich staune nicht über Ihren Geist, sondern ich staune, daß Sie, ein Mensch, der so rein ist und so hoch über mir steht, – daß Sie hier mit mir gehen und so einfach und freundlich mit mir sprechen, als ob gar nichts geschehen wäre!«

Wasin lächelte.

»Ihr Lob ist doch wohl etwas übertrieben; geschehen ist dort doch weiter nichts, als daß Sie eine etwas zu große Vorliebe für abstrakte Gespräche haben. Sie haben wahrscheinlich vor dem heutigen Tage sehr lange geschwiegen.«

»Ich habe drei Jahre geschwiegen, ich habe mich drei Jahre auf den Moment vorbereitet, wo ich sprechen wollte . . . Als Dummkopf konnte ich Ihnen natürlich nicht erscheinen, weil Sie selbst ungeheuer klug sind, mag ich mich auch so dumm aufgeführt haben wie nur möglich. Aber vielleicht haben Sie mich für einen Schuft gehalten!«

»Schuft?«

»Ja, natürlich! Sagen Sie, verachten Sie mich nicht im stillen, weil ich gesagt habe, daß ich ein unehelicher Sohn von Wersilow bin . . . und weil ich mich gerühmt habe, ich wäre der Sohn eines Leibeigenen?«

»Sie quälen sich selber zu viel. Wenn Sie finden, daß das nicht richtig war, so sagen Sie sich eben: ich tu es das nächste Mal nicht wieder: Sie haben noch fünfzig Jahre vor sich.«

»Oh, ich weiß, daß ich den Leuten gegenüber sehr schweigsam sein muß. Das niedrigste von allen Lastern ist: sich den Leuten an den Hals zu werfen; das habe ich denen da drinnen vorhin erst gesagt, und jetzt werfe ich mich Ihnen an den Hals! Aber da ist doch ein Unterschied, nicht wahr? Und wenn Sie diesen Unterschied verständen, wenn Sie imstande wären, ihn zu verstehen, ich würde diese Minute segnen.«

Wasin lächelte wieder.

»Kommen Sie zu mir, wenn Sie Lust haben«, sagte er. »Ich habe jetzt eine Arbeit vor und bin sehr beschäftigt, aber Sie würden mir eine Freude damit machen.«

»Ich hatte bisher geglaubt, nach Ihrem Gesicht, Sie wären härter als nötig und wenig umgänglich.«

»Das stimmt vielleicht. Ich habe voriges Jahr in Luga Ihre Schwester Lisaweta Makarowna kennengelernt . . . Kraft ist stehengeblieben und scheint auf Sie zu warten; er muß hier abbiegen.«

Ich drückte Wasin kräftig die Hand und lief Kraft nach, der die ganze Zeit, wo ich mich mit Wasin unterhalten hatte, vor uns hergegangen war. Schweigend gingen wir bis zu seiner Wohnung; ich konnte und wollte noch nicht mit ihm sprechen. Und in Krafts Charakter bildete einen der ausgeprägtesten Züge die Feinfühligkeit.

 


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