Fjodor M. Dostojewski
Die Brüder Karamasow
Fjodor M. Dostojewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Epilog

1. Pläne zu Mitjas Rettung

»Am fünften Tag nach der Gerichtsverhandlung, morgens, noch vor neun Uhr, kam Aljoscha zu Katerina Iwanowna, um mit ihr endgültig eine für sie beide wichtige Angelegenheit zu besprechen; außerdem hatte er noch einen Auftrag an sie. Sie saß und sprach mit ihm in demselben Zimmer, wo sie einstmals Gruschenka empfangen hatte; nebenan, in einem anderen Zimmer, lag Iwan Fjodorowitsch krank an Nervenfieber und besinnungslos. Daß Iwan Fjodorowitsch, der das Bewußtsein verloren hatte, zu ihr nach Hause gebracht werden sollte, hatte Katerina Iwanowna gleich nach der Szene vor Gericht angeordnet, ohne sich um das mit Sicherheit zu erwartende abfällige Gerede der Gesellschaft zu kümmern. Eine der beiden Verwandten, die bei ihr wohnten, war gleich nach der Szene vor Gericht nach Moskau gefahren; die andere war dageblieben. Aber auch wenn sie beide weggefahren wären, hätte Katerina Iwanowna ihren Entschluß nicht geändert und nicht aufgehört, den Kranken zu pflegen und Tag und Nacht bei ihm zu sitzen. Warwinski und Herzenstube behandelten ihn; der Moskauer Arzt war zurückgefahren, nachdem er abgelehnt hatte, eine Prognose über den möglichen Ausgang der Krankheit zu stellen. Die beiden Ärzte versuchten zwar, Katerina Iwanowna und Aljoscha Mut zu machen, doch es war klar, daß sie ihnen noch keine bestimmte Hoffnung geben konnten. Aljoscha besuchte seinen kranken Bruder zweimal am Tag. Diesmal aber hatte er eine besondere, unangenehme Sache vorzubringen, und er spürte im voraus, wie peinlich es ihm sein würde, davon zu reden. Außerdem war er sehr in Eile, denn er hatte diesen Morgen noch eine andere unaufschiebbare Sache an anderer Stelle vor sich. Sie hatten schon ungefähr eine Viertelstunde miteinander gesprochen. Katerina Iwanowna war blaß und sehr ermüdet, befand sich gleichzeitig jedoch in einer ungewöhnlichen, krankhaften Erregung; sie ahnte, warum Aljoscha, von allem übrigen abgesehen, jetzt zu ihr gekommen war.

»Daß er sich dazu entschließen wird, darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen«, sagte sie in festem, energischem Ton zu Aljoscha. »So oder so, er wird doch zu diesem Hilfsmittel greifen müssen! Er muß fliehen! Dieser Unglückliche, dieser Held der Ehre und des Gewissens, nicht Dmitri Fjodorowitsch, sondern der hinter dieser Tür, der sich für seinen Bruder aufgeopfert hat, hat mir diesen ganzen Fluchtplan schon längst mitgeteilt. Wissen Sie, er hat sogar schon die erforderlichen Verbindungen angeknüpft ... Ich habe Ihnen bereits einiges darüber gesagt ... Sehen Sie, es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf der dritten Etappe von hier vor sich gehen, wenn der betreffende Sträflingstrupp nach Sibirien geführt wird. Oh, bis dahin wird noch viel Zeit vergehen. Iwan Fjodorowitsch ist schon bei dem Kommandanten der dritten Etappe gewesen. Wir wissen nur noch nicht, welcher Offizier den Trupp führen wird, und es ist auch nicht möglich, das im voraus zu erfahren. Morgen werde ich Ihnen vielleicht den ganzen Plan mit allen Einzelheiten zeigen, den mir Iwan Fjodorowitsch einen Tag vor der Gerichtsverhandlung für alle Fälle hiergelassen hat. Es war damals, als Sie uns am Abend im Streit antrafen. Er stieg schon die Treppe hinab, und als ich Sie sah, veranlaßte ich ihn, wieder umzukehren, erinnern Sie sich? Wissen Sie, weswegen wir uns damals gestritten haben?«

»Nein, ich weiß es nicht,« erwiderte Aljoscha.

»Er hat es vor Ihnen natürlich geheimgehalten. Es ging um eben diesen Fluchtplan. Er hatte ihn mir schon drei Tage vorher in den Hauptzügen enthüllt – und gleich da begannen wir uns zu streiten, und wir stritten uns dann die ganzen drei Tage. Die Ursache unseres Streites war folgende: Als er mir eröffnete, daß im Falle einer Verurteilung Dmitri Fjodorowitsch mit jener Kreatur zusammen ins Ausland fliehen sollte, da wurde ich plötzlich zornig – ich kann Ihnen nicht sagen, warum, ich weiß es selbst nicht ... Oh, natürlich wurde ich ihretwegen so zornig, und weil sie mit Dmitri Fjodorowitsch zusammen ins Ausland fliehen sollte!« rief Katerina Iwanowna plötzlich, und ihre Lippen zitterten vor Wut. »Als Iwan Fjodorowitsch sah, daß ich ihretwegen so zornig wurde, dachte er sofort, ich wäre auf sie eifersüchtig, weil ich Dmitri noch immer liebte. Daraus entstand damals unser erster Streit. Erklärungen mochte ich ihm nicht geben, ihn um Verzeihung bitten konnte ich nicht; es tat mir zu weh, daß ein Mann wie er den Verdacht haben konnte, meine frühere Liebe zu dem anderen wäre noch nicht erloschen. Und daß er das noch glauben konnte, obwohl ich ihm schon längst selber gesagt hatte, meine Liebe gehöre nicht Dmitri, sondern einzig und allein ihm! Drei Tage danach, an jenem Abend, als Sie kamen, brachte er mir ein versiegeltes Kuvert, das ich öffnen sollte, falls ihm etwas zustieße. Oh, er ahnte seine Krankheit voraus! Er sagte mir, das Kuvert enthalte die näheren Einzelheiten über die Flucht; falls er stürbe oder gefährlich erkrankte, sollte ich allein Mitja retten. Gleichzeitig ließ er mir Geld hier, fast zehntausend Rubel – dieselbe Summe, die der Staatsanwalt in seiner Rede erwähnte, als er sagte, er hätte erfahren, daß Iwan Fjodorowitsch Wertpapiere zum Umwechseln weggeschickt hat. Es machte auf mich einen gewaltigen Eindruck, daß Iwan Fjodorowitsch den Gedanken, seinen Bruder zu retten, nicht aufgab und mir, mir selbst dieses Rettungswerk anvertraute, obwohl er noch immer meinetwegen eifersüchtig und davon überzeugt war, daß ich Mitja liebte! Oh, das war ein Opfer! Nein, Sie werden diese Selbstverleugnung in ihrem ganzen Umfang gar nicht verstehen, Alexej Fjodorowitsch! Ich wollte ihm schon zu Füßen fallen; doch da fiel mir auf einmal ein, er könnte ein solches Benehmen nur für den Ausdruck meiner Freude über die beabsichtigte Rettung Mitjas halten, und die Möglichkeit einer so ungerechten Deutung von seiner Seite brachte mich dermaßen auf, daß ich wieder ganz zornig wurde und ihm, statt ihm die Füße zu küssen, wieder eine Szene machte! Oh, ich bin zu unglücklich! Mein Charakter ist nun einmal so – es ist ein furchtbarer, unglücklicher Charakter! Sie werden es erleben: Ich bringe es noch dahin, daß auch er sich von mir abwendet um einer anderen willen, mit der sich leichter leben läßt, so wie Dmitri, aber dann ... Nein, das werde ich dann nicht ertragen, dann werde ich mir das Leben nehmen! Als Sie damals hier erschienen und ich ihn aufforderte zurückzukommen und er dann mit Ihnen eintrat, da packte mich ein solcher Zorn über den haßerfüllten, verächtlichen Blick, mit dem er mich plötzlich ansah, daß ich Ihnen zurief, er, er allein habe mich zu der Überzeugung gebracht, daß sein Bruder Dmitri der Mörder sei! Ich log absichtlich, um ihn noch einmal zu verletzen; denn niemals, niemals hat er mich zu überzeugen gesucht, daß sein Bruder der Mörder sei – vielmehr habe ich selbst ihn davon überzeugt! Oh, an allem ist meine Tollheit schuld! Ich, ich habe diese entsetzliche Szene vor Gericht veranstaltet! Er wollte mir beweisen, daß er edel dachte, daß er trotz meiner Liebe zu seinem Bruder ihn nicht aus Rachsucht und Eifersucht zugrunde richten wollte. Deshalb trat er vor Gericht auf ... Ich bin an allem schuld, ich allein bin schuld!«

Noch niemals hatte Katja Aljoscha solche Geständnisse gemacht, und er fühlte, daß sie sich jetzt auf jener Stufe unerträglichen Leidens befand, wo auch das stolzeste Herz schmerzerfüllt seinen Stolz fahrenläßt und von Kummer überwältigt zu Boden sinkt. Aljoscha kannte noch eine furchtbare Ursache ihrer jetzigen Qualen, sosehr sie diese vor ihm auch seit Mitjas Verurteilung verborgen hatte. Es wäre ihm jedoch zu schmerzlich gewesen, wenn sie sich entschlossen hätte, so tief zu sinken, daß sie zu ihm auch von dieser Ursache selbst sprach. Sie litt wegen ihres »Verrats« vor Gericht, und Aljoscha fühlte, daß ihr Gewissen sie trieb, sich gerade vor ihm, Aljoscha, anzuklagen, weinend, krampfhaft kreischend, auf dem Boden liegend und um sich schlagend. Aber er fürchtete sich vor diesem Augenblick und wünschte die Leidende zu schonen. Um so schwieriger wurde der Auftrag, mit dem er gekommen war. Er begann wieder von Mitja zu reden.

»Das hat nichts zu sagen, seien Sie seinetwegen ganz unbesorgt!« begann Katja wieder hartnäckig und in scharfem Ton. »Das dauert bei ihm alles immer nur einen Augenblick, ich kenne ihn, ich kenne dieses Herz nur zu gut. Seien Sie überzeugt, daß er einwilligen wird, zu fliehen. Und die Hauptsache ist, daß es nicht in allernächster Zukunft geschehen soll; er wird noch genug Zeit haben, seinen Entschluß zu fassen. Iwan Fjodorowitsch wird dann wieder gesund sein und alles selber leiten, so daß ich dabei nichts zu tun haben werde. Seien Sie unbesorgt, er wird einwilligen. Und er ist auch jetzt schon damit einverstanden: Kann er sich etwa von dieser Kreatur trennen? An seinen Strafort wird man sie nicht lassen – wie sollte er also unter diesen Umständen nicht fliehen wollen? Die Hauptsache ist nur, er hat Angst vor Ihnen. Er fürchtet, Sie könnten vom moralischen Standpunkt aus die Flucht nicht billigen. Aber Sie müssen sie ihm großmütig erlauben, wenn Ihr Ja nun einmal unumgänglich ist«, fügte Katja giftig hinzu.

Sie schwieg ein Weilchen und lächelte.

»Er redet da von irgendwelchen Hymnen, von einem Kreuz, das er tragen muß, von einer Schuld. Ich erinnere mich, daß mir Iwan Fjodorowitsch seinerzeit viel davon erzählt hat – wenn Sie wüßten, wie er das erzählte!« rief Katja plötzlich in einem unaufhaltsamen Gefühlsausbruch. »Wenn Sie wüßten, wie er diesen Unglücklichen liebte, als er mir das von ihm erzählte, und wie er ihn vielleicht im gleichen Moment haßte! Ich aber, ich lächelte damals stolz, als ich seine Erzählung hörte und seine Tränen sah! Oh, so eine Kreatur! Die Kreatur bin ich! Ich bin daran schuld, daß er Nervenfieber bekommen hat! Und der andere, der Verurteilte, ist der etwa bereit zu leiden?« schloß Katja gereizt. »Kann so ein Mensch denn überhaupt leiden? Solche Menschen wie er leiden niemals!«

Ein Gefühl wie Haß, Verachtung, ja Ekel war aus dem Klang dieser Worte herauszuhören. Und dabei war sie es doch gewesen, die ihn verraten hatte. ›Vielleicht haßt sie ihn in manchen Augenblicken gerade deshalb, weil sie sich ihm gegenüber schuldig fühlt?‹ dachte Aljoscha im stillen. Er wünschte sehr, daß das nur »in manchen Augenblicken« der Fall sein möchte. Aus Katjas letzten Worten hörte er eine Herausforderung heraus, doch er nahm sie nicht an.

»Ich habe Sie heute zu mir bitten lassen, damit Sie mir versprechen, ihn selbst zu überreden. Oder wäre es Ihrer Ansicht nach unehrenhaft zu fliehen, nicht heldenmütig – oder wie drückt man sich da aus? Nicht christlich, wie?« fügte Katja noch herausfordernder hinzu.

»Nein, das ist nicht der Fall. Ich werde ihm alles sagen ...«, murmelte Aljoscha. »Er läßt Sie bitten, heute zu ihm zu kommen«, fügte er plötzlich unvermittelt hinzu, wobei er ihr fest in die Augen sah. Sie zuckte zusammen und wich auf dem Sofa jäh vor ihm zurück.

»Mich ... Ist denn das möglich?« stammelte sie und wurde blaß.

»Das ist möglich, und das ist Ihre Pflicht!« sagte Aljoscha energisch und plötzlich ganz lebhaft. »Er braucht Sie sehr, gerade jetzt. Ich würde nicht davon anfangen und Sie nicht vor der Zeit quälen, wenn es nicht notwendig wäre. Er ist krank, er ist wie geistesgestört, er verlangt immerzu nach Ihnen. Er bittet Sie nicht zur Versöhnung zu sich. Es genügt, wenn Sie nur hinkommen und sich auf der Schwelle zeigen. Mit ihm ist seit jenem Tag vieles vorgegangen. Er sieht ein, wie sehr er sich gegen Sie vergangen hat. Nicht Ihre Verzeihung ist das, was er möchte. ›Mir kann nicht verziehen werden‹, sagt er selbst. Er bittet Sie nur, sich auf der Schwelle zu zeigen.

»Sie haben mich so plötzlich ...«, stammelte Katja. »Ich habe alle diese Tage geahnt, daß Sie mit diesem Wunsch kommen würden ... Ich habe es geradezu gewußt, daß er mich würde rufen lassen! Doch es ist unmöglich!«

»Mag es unmöglich sein – aber tun Sie es! Bedenken Sie, daß er sich zum erstenmal tief ergriffen fühlt durch die Erkenntnis, wie sehr er Sie gekränkt hat, zum erstenmal in seinem Leben! Früher hat er das nie in diesem Umfang gesehen. Er sagt: ›Wenn sie sich weigert zu kommen, werde ich mein Leben lang unglücklich sein!‹ Hören Sie, einer, der zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt ist, möchte noch glücklich sein – ist das nicht bemitleidenswert? Bedenken Sie, Sie werden einen unschuldig Leidenden besuchen!« sagte Aljoscha heftig und herausfordernd. »Seine Hände sind rein, es klebt kein Blut daran! Besuchen Sie ihn um seines unermeßlichen künftigen Leidens willen! Kommen Sie zu ihm, geben Sie ihm das Geleit in die Finsternis, treten Sie auf die Schwelle, weiter nichts ... Es ist Ihre Pflicht, Ihre Pflicht, das zu tun!« schloß Aljoscha, das Wort »Pflicht« besonders stark betonend.

»Meine Pflicht schon ... Aber ... Ich kann nicht«, stöhnte Katja. »Er wird mich ansehen ... Ich kann nicht.«

»Ihre Augen müssen seinen begegnen. Wie wollen Sie Ihr ganzes Leben über leben, wenn Sie sich jetzt nicht dazu entschließen?«

»Lieber will ich mein Leben lang leiden.«

»Es ist Ihre Pflicht hinzugehen!« wiederholte Aljoscha mit unerbittlichem Nachdruck.

»Aber warum heute, warum jetzt gleich ... Ich kann doch den Kranken nicht allein lassen ...«

»Für einen Moment können Sie es, und es handelt sich ja nur um einen Moment. Wenn Sie nicht kommen, wird sich bei ihm heftiges Fieber zur Nacht einstellen. Ich sage doch nicht die Unwahrheit. Haben Sie Mitleid!«

»Haben Sie mit mir Mitleid!« erwiderte Katja mit bitterem Vorwurf und fing an zu weinen.

»Also Sie werden kommen!« sagte Aljoscha in festem Ton, als er ihre Tränen sah. »Ich werde hingehen und ihm sagen, daß Sie gleich kommen werden.«

»Nein, sagen Sie ihm das um keinen Preis!« rief Katja erschrocken. »Ich werde kommen, aber sagen Sie es ihm nicht vorher! Ich werde kommen, vielleicht aber nicht hineingehen ... Ich weiß es noch nicht ...«

Die Stimme versagte ihr, sie atmete nur mit Mühe. Aljoscha stand auf, um zu gehen.

»Und wenn ich dort jemandem begegne?« sagte sie auf einmal leise; sie war wieder ganz blaß geworden.

»Eben deshalb müssen Sie jetzt gleich gehen, damit Sie dort niemandem begegnen. Es wird niemand dasein, das sage ich Ihnen zuverlässig. Wir werden Sie erwarten« schloß er nachdrücklich und verließ das Zimmer.

2. Für einen Augenblick wird die Lüge zur Wahrheit

Er eilte in das Krankenhaus, wo Mitja jetzt lag. Am zweiten Tag nach der Verurteilung war er an einem Nervenfieber erkrankt, und man hatte ihn in die Gefangenenabteilung unseres städtischen Krankenhauses gebracht. Der Arzt Warwinski hatte dem kranken Mitja auf Bitten Aljoschas und vieler anderer (Frau Chochlakowa, Lisa u. a.) seinen Platz nicht bei den Gefangenen, sondern gesondert angewiesen, in demselben Kämmerchen, wo einstmals Smerdjakow gelegen hatte. Allerdings stand am Ende des Korridors eine Wache, und das Fenster war vergittert; Warwinski konnte also wegen seiner nicht ganz gesetzlichen Nachsicht beruhigt sein. Er war ein guter, mitfühlender junger Mann, der Verständnis dafür hatte, wie peinlich es einem Menschen wie Mitja sein mußte, so unvermittelt in die Gesellschaft von Mördern und Gaunern zu kommen; er sah ein, daß man sich daran erst allmählich gewöhnen mußte. Besuche von Verwandten und Bekannten waren erlaubt worden, sowohl vom Arzt als auch vom Gefängnisinspektor, sogar vom Bezirkshauptmann – alles natürlich unterderhand. Aber in diesen Tagen hatten Mitja immer nur Aljoscha und Gruschenka besucht. Zweimal hatte auch Rakitin den Versuch gemacht, doch Mitja hatte den Arzt Warwinski dringend gebeten, ihn nicht hereinzulassen.

Aljoscha fand ihn auf dem Bett sitzend, im Krankenschlafrock; er fieberte ein wenig und hatte um den Kopf ein Handtuch, das mit verdünntem Essig angefeuchtet war. Er sah Aljoscha mit einem unbestimmten Blick an; dennoch schien in diesem Blick ein leiser Schimmer von Angst zu liegen.

Überhaupt war er seit der Gerichtsverhandlung sehr nachdenklich geworden. Manchmal saß er stundenlang da, schien angestrengt über etwas nachzudenken und anwesende Besucher ganz zu vergessen. Wenn er aber aus seiner Versonnenheit erwachte und zu reden begann, so immer ganz plötzlich, und zwar stets von etwas anderem, als zu erwarten gewesen wäre. Manchmal sah er seinen Bruder mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes an. Bei Gruschenkas Besuchen schien ihm leichter ums Herz zu sein. Zwar redete er mit ihr fast gar nicht; doch sowie sie eintrat, strahlte sein ganzes Gesicht vor Freude. Aljoscha setzte sich schweigend neben ihn aufs Bett. Diesmal hatte Mitja ihn voller Unruhe erwartet, wagte aber nicht, ihn nach etwas zu fragen. Er hielt es für undenkbar, daß Katja einwilligen würde, zu ihm

zu kommen, und fühlte gleichzeitig, daß etwas Besonderes, Schreckliches geschehen würde, falls sie nicht käme. Aljoscha verstand seine Gefühle.

»Trifon Borissowitsch«, begann Mitja hastig, »hat sein ganzes Gasthaus ruiniert, heißt es. Dielen und Bretter soll er herausgerissen und die ganze Galerie in kleine Späne zerschlagen haben. Er sucht immerzu nach einem Schatz, nach dem Geld, den fünfzehnhundert Rubeln, von denen der Staatsanwalt sagte, ich hätte sie dort versteckt. Sowie er nach Hause gekommen ist, soll er gleich damit begonnen haben. Das geschieht dem Gauner ganz recht! Der Wächter hat es mir gestern erzählt, er stammt von dort.«

»Hör mal«, sagte Aljoscha, »sie wird kommen! Aber ich weiß nicht wann. Vielleicht heute, vielleicht in den nächsten Tagen, das weiß ich nicht. Aber sie wird kommen, das ist sicher.«

Mitja fuhr zusammen; er schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. Diese Nachricht hatte auf ihn eine furchtbare Wirkung. Es war ihm anzusehen, daß er dringend Näheres über Aljoschas Gespräch mit Katja zu erfahren wünschte, daß er sich gleichzeitig aber fürchtete, sofort danach zu fragen: Von irgendeiner hartherzigen oder verächtlichen Äußerung Katjas zu hören, das wäre für ihn in diesem Augenblick wie ein Messerstich gewesen.

»Unter anderem sagte sie, ich soll dein Gewissen wegen der Flucht beruhigen. Sollte Iwan bis zu der Zeit nicht wieder gesund sein, wird sie die Sache selber in die Hand nehmen.«

»Das hast du mir schon gesagt«, bemerkte Mitja nachdenklich.

»Und du hast es sicher Gruscha wiedererzählt«, erwiderte Aljoscha.

»Ja«, gestand Mitja. »Sie wird heute vormittag nicht kommen«, fuhr er fort, seinen Bruder schüchtern anblickend. »Sie wird erst am Abend kommen. Als ich ihr gestern sagte, Katja würde sich der Sache annehmen, da schwieg sie und zog ihre Lippen schief. Sie flüsterte nur: ›Meinetwegen!‹ Sie begriff, daß es wichtig ist. Ich wagte nicht, weiter nach ihren Gefühlen zu forschen. Sie scheint ja jetzt einzusehen, daß jene nicht mich, sondern Iwan liebt.«

»Wirklich?« rief Aljoscha unwillkürlich.

»Vielleicht auch nicht. Jedenfalls wird sie jetzt am Vormittag nicht herkommen«, beeilte sich Mitja noch einmal mitzuteilen. »Ich habe ihr einen Auftrag gegeben ... Hör mal, Bruder, Iwan ist uns allen überlegen. Ihm ist beschieden zu leben, uns nicht. Er wird wieder gesund.«

»Stell dir vor, Katja zittert zwar um ihn, zweifelt aber eigentlich gar nicht daran, daß er wieder gesund wird«, sagte Aljoscha.

»Das heißt, sie ist davon überzeugt, daß er stirbt. Nur aus Angst versucht sie sich einzureden, daß er gesund wird.«

»Der Bruder hat eine kräftige Konstitution. Auch ich hoffe ganz bestimmt, daß er wieder gesund wird«, bemerkte Aljoscha beunruhigt.

»Ja, er wird wieder gesund. Aber Katja glaubt, daß er stirbt. Sie hat viel Kummer ...«

Es trat Stillschweigen ein. Mitja quälte sich mit etwas sehr Wichtigem.

»Aljoscha, ich liebe Gruscha furchtbar«, sagte er auf einmal mit zitternder Stimme, der die verhaltenen Tränen anzuhören waren.

»Man wird sie nicht zu dir lassen, ›dorthin‹«, fiel Aljoscha sogleich ein.

»Und da ist noch etwas, was ich dir sagen wollte«, fuhr Mitja fort, und seine Stimme klang auf einmal wieder kräftig. »Wenn mich jemand unterwegs oder dort schlagen sollte, werde ich mir das nicht gefallen lassen, sondern ihn totschlagen, und man wird mich erschießen. Und das zwanzig Jahre lang! Hier fängt man schon an, mich zu duzen. Die Wächter duzen mich. Ich habe heute die ganze Nacht wach gelegen und mich geprüft: Ich bin nicht bereit! Ich bin nicht imstande, es auf mich zu nehmen! Ich wollte eine Hymne anstimmen ... Aber von den Wächtern geduzt zu werden, darüber komme ich nicht hinweg. Für Gruscha würde ich alles ertragen, alles ... Nur keine Schläge ... Aber man wird sie ›dorthin‹ nicht lassen.« Aljoscha lächelte leise.

»Hör zu, Bruder, ein für allemal«, sagte er. »Ich will dir meine Gedanken über dieses Thema sagen. Und du weißt, daß ich dich nicht belüge. Also hör zu. Du bist nicht bereit, und ein solches Kreuz taugt nicht für dich. Ja noch mehr, ein solches Märtyrerkreuz ist für dich, der du nicht dazu bereit bist, auch gar nicht nötig. Wenn du den Vater getötet hättest, würde ich es bedauern, daß du dein Kreuz ablehnst. Aber du bist unschuldig, und ein solches Kreuz ist zuviel für dich. Du wolltest durch die Qual einen anderen Menschen in dir entstehen lassen. Meiner Ansicht nach solltest du nur dein Leben lang, wohin du auch fliehen magst, immer an diesen anderen, neuen Menschen denken – auch das wird genug für dich sein. Der Umstand, daß du die große Kreuzesqual nicht auf dich genommen hast, wird nur dazu dienen, daß du in dir eine noch größere Verpflichtung empfindest und durch dieses stete Gefühl künftig deine Wiedergeburt beförderst – vielleicht mehr, als wenn du ›dorthin‹ gehen würdest. Denn dort wirst du das Leben nicht ertragen können und wirst murren und vielleicht schließlich geradeheraus sagen: ›Ich bin mit allem quitt.‹ Hierin hat der Rechtsanwalt die Wahrheit gesagt. Solche Lasten sind nicht für alle Menschen, für manche sind sie zu schwer ... Das sind meine Gedanken – falls du sie brauchen kannst. Wenn für deine Flucht andere zur Verantwortung gezogen würden, Offiziere oder Soldaten, so würde ich dir ›nicht erlauben‹ zu fliehen«, sagte Aljoscha lächelnd. »Aber es wird gesagt und versichert, und dieser Etappenkommandant hat es selbst zu Iwan gesagt, daß die Sache wohl ohne schärfere Strafe abgehen wird und die Betreffenden mit einem leichten Verweis davonkommen, sofern man es geschickt anstellt. Zwar ist es unehrenhaft, jemand zu bestechen, sogar in diesem Fall; aber mir steht es nicht zu, dies zu verurteilen. Denn sollten mich zum Beispiel Iwan und Katja beauftragen, in dieser Angelegenheit für dich tätig zu sein, so würde ich es selbst ohne weiteres mit Bestechung versuchen – das muß ich dir wahrheitsgemäß sagen. Und deshalb kann ich nicht Richter über deine eigene Handlungsweise sein. Du sollst jedoch wissen, daß ich dich niemals verurteilen werde. Es wäre ja auch seltsam: Wie könnte ich in dieser Sache dein Richter sein? Nun, jetzt habe ich alles dargelegt, glaube ich.«

»Aber dafür verurteile ich mich selbst!« rief Mitja aus. »Ich werde fliehen – dazu war ich auch schon ohne deinen Rat entschlossen! Kann ein Mitja Karamasow etwa anders handeln? Aber dafür verurteile ich mich selbst und werde lebenslänglich Gott bitten, mir meine Sünde zu vergeben! So reden ja wohl die Juristen, nicht wahr? So wie du und ich jetzt, ja?«

»So ist es«, erwiderte Aljoscha, leise lächelnd.

»Ich liebe dich, weil du immer die volle Wahrheit sagst und nichts verheimlichst!« rief Mitja, fröhlich lachend. »Also da habe ich meinen Aljoscha als Jesuiten ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, abküssen! Na, dann höre jetzt auch das übrige, ich will auch die andere Hälfte meiner Seele vor dir aufdecken. Was ich mir ausgedacht und beschlossen habe, ist dies: Wenn ich nun fliehe, sogar mit Geld und mit einem Paß, und sogar nach Amerika, so ermutigt mich dazu noch der Gedanke, daß ich nicht in ein frohes, glückliches Leben fliehe, sondern in Wirklichkeit zu einer anderen Strafe, die vielleicht nicht geringer ist als die vorgesehene! Nicht geringer, Alexej, ich rede im Ernst, nicht geringer! Ich hasse dieses Amerika schon jetzt, hol's der Teufel! Und wenn auch Gruscha bei mir ist – schau sie doch an: Na, ist sie etwa eine Amerikanerin? Sie ist eine Russin, Russin mit Leib und Seele! Sie wird sich nach der heimatlichen Erde zurücksehnen, und ich werde in jeder Stunde sehen, daß sie meinetwegen leidet, meinetwegen dieses Kreuz auf sich genommen hat, denn sie selbst trägt ja keine Schuld. Und ich, werde ich die Kerle dort ertragen können, wenn sie auch vielleicht alle besser sind als ich? Ich hasse dieses Amerika schon jetzt! Und mögen sie da auch vorzügliche Techniker oder sonst etwas sein – hol' sie der Teufel, sie sind keine Menschen von meiner Art, sie haben andere Seelen! Ich liebe Rußland, Alexej, ich liebe den russischen Gott, wenn ich auch selbst ein Schuft bin! Ich werde da krepieren!« rief er, und seine Augen funkelten und seine Stimme zitterte von unterdrückten Tränen.

»Also dann höre, was ich beschlossen habe, Alexej!« begann er von neuem, nachdem er seiner Erregung Herr geworden war. »Sobald ich mit Gruscha dort angekommen bin, fangen wir gleich an zu pflügen und zu arbeiten, bei den wilden Bären, in der Einsamkeit, irgendwo ganz weit weg. Es wird sich ja auch dort ein ganz entlegener Ort finden lassen! Dort gibt es, wie man sagt, noch Rothäute, irgendwo am Rand des Horizonts. Na, also an diesen Rand werden wir ziehen, zu den letzten Mohikanern. Na, und dann machen wir uns sofort an die Grammatik, ich und Gruscha. Arbeit und Grammatik, und das drei Jahre lang! In diesen drei Jahren lernen wir die englische Sprache so, daß wir sie ebensogut können wie jeder beliebige Engländer. Und sobald wir sie gelernt haben – Schluß mit Amerika! Wir kommen schleunigst wieder hierher nach Rußland – aber als amerikanische Bürger. Sei unbesorgt, hier in diesem Städtchen werden wir uns nicht blicken lassen. Wir werden uns irgendwo weit weg von hier verbergen, im Norden oder im Süden. Ich werde mich bis dahin äußerlich verändert haben und sie ebenfalls. Dort in Amerika wird mir ein Arzt eine falsche Warze machen, auf so etwas müssen sie sich als Mechaniker ja verstehen. Oder ich steche mit ein Auge aus und lasse mir den Bart eine Elle lang wachsen, er wird ganz grau aussehen, denn vor Sehnsucht nach Rußland werde ich ergrauen – und dann wird mich wohl niemand erkennen. Wenn sie mich aber doch erkennen, dann sollen sie mich nach Sibirien schicken, ganz egal, dann ist das eben mein Schicksal! Hier werden wir ebenfalls irgendwo in einer abgelegenen Gegend die Erde pflügen, und ich werde mein ganzes Leben lang als Amerikaner auftreten. So werden wir wenigstens auf heimischer Erde sterben. Das ist mein Plan, und der ist unabänderlich. Billigst du ihn?«

»Ja, ich billige ihn«, antwortete Aljoscha, der ihm nicht widersprechen wollte.

Mitja schwieg einen Augenblick und sagte dann plötzlich: »Aber wie kunstvoll sie das alles bei der Gerichtsverhandlung arrangiert hatten ! Ganz erstaunlich!«

»Auch wenn sie das nicht getan hätten, wärst du doch verurteilt worden«, sagte Aljoscha mit einem Seufzer.

»Ja, ich war dem hiesigen Publikum zuwider geworden! Gott verzeihe es ihnen – aber es ist schwer zu ertragen«, sagte Mitja gequält.

Sie schwiegen wieder eine Weile.

»Aljoscha, töte mich lieber gleich!« rief Mitja plötzlich. »Wird sie kommen oder nicht? Sprich! Was hat sie gesagt? Wie hat sie es gesagt?«

»Sie sagte, sie würde kommen. Ich weiß aber nicht, ob heute. Es fällt ihr schwer!« antwortete Aljoscha und blickte den Bruder schüchtern an.

»Na, wie sollte es ihr auch nicht schwerfallen! Aljoscha, ich werde darüber den Verstand verlieren ... Gruscha sieht mich immer so an. Sie begreift etwas. Du mein Gott und Herr, gib mir Ruhe! Wonach verlangt es mich? Nach Katja verlangt es mich! Verstehe ich auch, wonach mich verlangt? Das ist das verfluchte Karamasowsche Ungestüm! Nein, zum Leiden bin ich nicht fähig! Ein Schuft bin ich: Damit ist alles gesagt!«

»Da ist sie!« rief Aljoscha.

Katja war auf der Schwelle erschienen. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah Mitja fassungslos an. Mitja sprang eilig auf, sein Gesicht drückte Schrecken aus, er wurde blaß. Doch sogleich trat ein schüchternes, flehendes Lächeln auf seine Lippen, und er streckte plötzlich Katja beide Hände entgegen. Als Katja das sah, stürzte sie schnell zu ihm. Sie ergriff seine Hände, zwang ihn fast, sich auf das Bett zu setzen, setzte sich selbst neben ihn und drückte ihm fest und krampfhaft die Hände, die sie noch immer festhielt. Mehrere Male versuchten beide, etwas zu sagen, aber jedesmal hielten sie inne und blickten sich wieder schweigend und regungslos mit einem seltsamen Lächeln an. So vergingen mehrere Minuten.

»Hast du mir verziehen?« stammelte Mitja endlich, wandte sich im gleichen Moment an Aljoscha und rief ihm mit vor Freude ganz entstelltem Gesicht zu: »Hörst du, was ich frage? Hörst du?«

»Deswegen habe ich dich ja auch geliebt, weil du ein großmütiges Herz hast!« sagte Katja; diese Worte entfuhren ihr offenbar unwillkürlich. »Du brauchst aber nicht meine Verzeihung, sondern ich deine. Magst du mir nun verzeihen oder nicht – du wirst für das ganze Leben eine schmerzende Wunde in meiner Seele bleiben und ich in deiner. Anders kann es nicht sein ...«

Sie schwieg, um Atem zu schöpfen.

»Wozu bin ich hergekommen?« begann sie von neuem, jetzt hastig und hingerissen. »Um deine Füße zu umarmen, um dir die Hände zu drücken, siehst du, so, bis es weh tut, erinnerst du dich, wie ich sie dir in Moskau gedrückt habe? Um dir wieder zu sagen, daß du mein Gott bist, meine Freude, um dir zu sagen, daß ich dich sinnlos liebe!« stöhnte sie qualvoll und preßte auf einmal leidenschaftlich ihre Lippen auf seine Hand. Tränen traten ihr in die Augen.

Aljoscha stand schweigend und verwirrt da; was er jetzt sah, hatte er in keiner Weise erwartet.

»Die Liebe ist vergangen, Mitja«, begann Katja wieder. »Aber teuer, schmerzlich teuer ist mir das Vergangene! Das sollst du wissen fürs ganze Leben! Aber jetzt, für einen kurzen Augenblick, mag das sein, was hätte sein können«, stammelte sie mit schmerzerfülltem Lächeln und sah ihm wieder froh in die Augen. »Du liebst jetzt eine andere, und ich liebe einen anderen. Trotzdem werde ich dich mein Leben lang lieben – und du mich, hast du das gewußt? Hörst du, liebe mich, liebe mich dein ganzes Leben lang!« rief sie, und ihre Stimme zitterte dabei fast drohend.

»Ich werde dich lieben und ... Weißt du, Katja«, sagte Mitja, mußte jedoch nach jedem Wort Atem holen. »Weißt du, ich habe dich auch vor fünf Tagen, an jenem Abend geliebt ... Als du hingefallen warst und hinausgetragen wurdest ... Mein ganzes Leben lang ! Und so wird es bleiben, so wird es immer bleiben ...«

Sie stammelten einander Worte zu, fast sinnlose, verzückte Worte, die vielleicht nicht einmal wahr waren. In diesem Augenblick aber war alles Wahrheit, und jeder von ihnen glaubte fest an die Wahrheit dessen, was er sagte.

»Katja«, rief Mitja plötzlich, »glaubst du, daß ich den Mord begangen habe? Ich weiß, daß du es jetzt nicht glaubst, aber damals, als du deine Aussage machtest ... Hast du es wirklich, wirklich geglaubt?«

»Auch damals habe ich es nicht geglaubt! Niemals habe ich es geglaubt! Ich haßte dich und redete es mir ein, nur für den einen Augenblick ... Als ich die Aussage machte, da redete ich es mir ein und glaubte es ... Doch als ich mit der Aussage fertig war, hörte ich sogleich wieder auf, es zu glauben. Das sollst du alles wissen. Ich vergaß, daß ich hingekommen war, um mich selbst zu demütigen!« sagte sie plötzlich in völlig verändertem Ton, der mit dem vorhergehenden Liebesgestammel keinerlei Ähnlichkeit hatte.

»Du hast schwer zu leiden, Katja!« sagte Mitja. Die Worte kamen ihm von selbst auf die Lippen, ohne daß er sie hätte zurückhalten können.

»Laß mich jetzt gehen!« flüsterte sie. »Ich werde noch einmal wiederkommen, aber jetzt ist mir zu schwer ums Herz ...«

Sie erhob sich von ihrem Platz, doch auf einmal schrie sie laut auf und taumelte zurück. Gruschenka war ganz leise ins Zimmer getreten. Niemand hatte sie erwartet. Katja schritt hastig zur Tür; als sie sich Gruschenka genähert hatte, blieb sie plötzlich stehen, wurde kreideweiß und flüsterte ihr leise, fast stöhnend, zu: »Verzeihen Sie mir!«

Gruschenka starrte ihr ins Gesicht und antwortete, nachdem sie eine Weile gewartet hatte, boshaft und giftig: »Wir sind beide schlecht, du und ich! Wir sind beide schlecht! Wie könnten wir verzeihen? Du kannst es nicht, und ich kann es nicht. Aber rette ihn, und ich werde mein Leben lang für dich beten.«

»Aber verzeihen willst du ihr nicht!« rief Mitja ihr mit zornigem Vorwurf zu.

»Du kannst beruhigt sein, ich werde ihn dir retten!« flüsterte Katja schnell und verließ eilig das Zimmer.

»Und du konntest ihr deine Verzeihung verweigern, nachdem sie selbst zu dir gesagt hatte: ›Verzeih‹?« rief Mitja wieder in bitterem Ton.

»Mitja, wag es nicht, ihr einen Vorwurf zu machen! Dazu hast du kein Recht!« rief Aljoscha seinem Bruder heftig zu.

»Ihre stolzen Lippen haben es gesagt, nicht ihr Herz«, sagte Gruschenka beinahe angeekelt. »Wenn sie dich rettet, will ich ihr alles verzeihen ...«

Sie brach ab, als ob sie etwas in ihrem Herzen unterdrückte. Sie konnte noch immer ihre Fassung nicht wiedergewinnen. Gekommen war sie, wie sich nachher herausstellte, ganz zufällig, ohne etwas zu argwöhnen.

»Aljoscha, lauf ihr nach!« wandte sich Mitja hastig an seinen Bruder. »Sag ihr ... Ich weiß nicht was ... Laß sie nicht so weggehen!«

»Ich werde noch vor Abend wieder zu dir kommen!« rief Aljoscha und lief Katja nach.

Er holte sie erst außerhalb der Krankenhausmauer ein. Sie ging schnell und hastig, und als Aljoscha sie eingeholt hatte, sagte sie zu ihm: »Nein, vor ihr kann ich mich nicht demütigen! Ich habe zu ihr gesagt: ›Verzeih mir!‹, weil ich in der Selbstdemütigung bis an die äußerste Grenze gehen wollte. Sie hat mir nicht verziehen ... Ich liebe sie dafür !« fügte Katja mit unnatürlich klingender Stimme hinzu, und ihre Augen funkelten vor Zorn.

»Mein Bruder hatte sie überhaupt nicht erwartet«, murmelte Aljoscha. »Er glaubte bestimmt, daß sie nicht kommen würde ...«

»Ohne Zweifel. Lassen wir das!« erwiderte sie kurz. »Hören Sie, ich kann jetzt nicht mit zu dem Begräbnis kommen. Ich habe ihnen Blumen für den kleinen Sarg geschickt. Geld haben sie wohl noch. Wenn sie welches brauchen, sagen Sie ihnen bitte, daß ich sie auch in Zukunft nicht verlassen werde ... Jetzt aber verlassen Sie mich, bitte, verlassen Sie mich! Sie werden ohnehin zu spät kommen, es wird schon zur Spätmesse geläutet ... Verlassen Sie mich, bitte!«

3. Iljuschetschkas Begräbnis und die Rede am Stein

Er kam in der Tat zu spät. Man hatte auf ihn gewartet und sich bereits entschlossen, auch ohne seine Anwesenheit den hübschen, mit Blumen geschmückten kleinen Sarg in die Kirche zu tragen. Es war der Sarg des armen Iljuschetschka. Er war zwei Tage nach Mitjas Verurteilung gestorben. Aljoscha wurde schon am Tor des Hauses von Iljuschas Kameraden mit lauten Rufen empfangen. Sie hatten ungeduldig auf ihn gewartet und freuten sich, daß er endlich gekommen war. Es hatten sich im ganzen zwölf Jungen versammelt; alle waren mit ihren Ranzen auf dem Rücken und mit ihren Büchertaschen über der Schulter gekommen. »Papa wird weinen, kommt her und tröstet ihn!« hatte Iljuscha sie auf dem Sterbebett gebeten, und die Jungen hatten diesen Wunsch befolgt. An ihrer Spitze befand sich Kolja Krassotkin.

»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind, Karamasow!« rief er und streckte Aljoscha die Hand entgegen. »Hier ist es schrecklich. Wirklich, es wird einem schwer, das mitanzusehen. Snegirjow ist nicht betrunken, wir wissen bestimmt, daß er heute noch nichts getrunken hat, aber er ist wie betrunken ... Ich bin sonst ziemlich hart, doch das hier ist schrecklich ... Karamasow, wenn ich Sie nicht aufhalte, darf ich Sie noch etwas fragen, bevor Sie hineingehen?«

»Was ist es denn, Kolja?« erwiderte Aljoscha und blieb stehen.

»Ist Ihr Bruder unschuldig oder schuldig? Hat er seinen Vater ermordet, oder hat es der Diener getan? Was Sie sagen, ist für mich Tatsache. Ich habe vier Nächte wegen dieser Frage nicht geschlafen.«

»Der Diener hat den Mord begangen. Mein Bruder ist unschuldig«, antwortete Aljoscha.

»Das sage ich auch!« schrie plötzlich der kleine Smurow.

»Dann geht er also als unschuldiges Opfer für die Wahrheit zugrunde?« rief Kolja. »Aber wenn er auch zugrunde geht, er ist doch glücklich! Ich könnte ihn beneiden!«

»Was reden Sie da? Wie ist das möglich und warum?« rief Aljoscha verwundert.

»Oh, wenn ich mich doch auch einmal für die Wahrheit opfern könnte!« sagte Kolja enthusiastisch.

»Aber nicht in so einer Sache, nicht mit solcher Schande, nicht in so entsetzlicher Weise!« entgegnete Aljoscha.

»Gewiß ... Ich möchte gern für die ganze Menschheit sterben! Und was die Schande betrifft, so ist das einerlei – mögen unsere Namen untergehen! Ich habe alle Hochachtung vor Ihrem Bruder!«

»Ich auch!« rief ganz unerwartet aus dem Haufen jener andere Junge, der früher einmal erklärt hatte, er wisse, wer Troja gegründet hat. Nachdem er das gerufen hatte, errötete er wie damals über das ganze Gesicht bis an die Ohren.

Aljoscha ging hinein. In einem himmelblauen, mit einer weißen Rüsche geschmückten Sarg lag mit zusammengelegten Händen und geschlossenen Augen Iljuscha. Die Züge seines abgemagerten Gesichts hatten sich kaum verändert, und seltsam, es ging von der Leiche fast gar kein Geruch aus. Der Ausdruck des Gesichts war ernst und gleichsam nachdenklich. Besonders schön waren die über der Brust verschränkten Hände, die wie aus Marmor gemeißelt aussahen. Man hatte ihm Blumen in die Hände gesteckt, und auch der Sarg war bereits außen und innen mit Blumen geschmückt, die Lisa Chochlakowa schon bei Tagesanbruch geschickt hatte. Es waren aber auch noch Blumen von Katerina Iwanowna gekommen, und als Aljoscha die Tür öffnete, hatte der Stabskapitän eine Menge Blumen in seinen zitternden Händen und bestreute mit ihnen erneut seinen lieben Jungen. Er blickte den eintretenden Aljoscha kaum an und mochte überhaupt niemanden ansehen, nicht einmal seine weinende Frau, sein »Mamachen«, die fortwährend Versuche machte, sich auf ihren kranken Beinen zu erheben, um ihren toten Sohn aus größerer Nähe betrachten zu können. Ninotschka hatten die Jungen mit ihrem Stuhl ganz dicht an den Sarg herangerückt. Sie saß da, den Kopf an den Sarg gedrückt, und weinte ebenfalls still vor sich hin. Snegirjows Gesicht hatte einen lebhaften, doch gewissermaßen verstörten und zugleich verbitterten Ausdruck. Seine Gebärden und die Worte, die ihm entfuhren, machten den Eindruck, als sei er nur halb bei Verstand. »Väterchen, liebes Väterchen!« rief er alle Augenblicke, indem er Iljuscha ansah. Er hatte, schon als Iljuscha noch lebte, die Gewohnheit gehabt, zu ihm liebkosend »Väterchen, liebes Väterchen!« zu sagen.

»Papachen, gib auch mir ein Blümchen! Nimm es ihm aus der Hand, dieses weiße da, und gib es mir!« bat das »Mamachen« schluchzend. Ob ihr nun die kleine weiße Rose, die Iljuscha in der Hand hielt, so gefiel oder ob sie gern eine Blume aus seinen Händen zur Erinnerung haben wollte, jedenfalls geriet sie mit dem ganzen Körper in unruhige Bewegung und streckte die Hände nach der Blume aus.

»Ich werde sie niemandem geben! Niemandem werde ich etwas geben!« rief Snegirjow schroff. »Es sind seine Blumen, und nicht deine. Alles gehört ihm, nichts gehört dir!«

»Papa, geben Sie doch Mama die Blume!« bat Ninotschka, die auf einmal ihr tränennasses Gesicht hob.

»Niemandem werde ich etwas geben, und ihr am wenigsten! Sie hat ihn nicht geliebt. Sie hat ihm damals die kleine Kanone weggenommen, und er hat sie ihr geschenkt!« rief der Stabskapitän und schluchzte plötzlich laut auf in Erinnerung daran, wie Iljuscha damals seine kleine Kanone der Mama überlassen hatte. Die arme Frau bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte stille Tränen.

Da die Jungen sahen, daß der Vater den Sarg nicht freigab, und es inzwischen Zeit geworden war, ihn hinauszutragen, umringten sie endlich in einem dichten Haufen den Sarg und wollten ihn hochheben.

»Ich will ihn nicht auf dem Kirchhof begraben!« schrie Snegirjow. »Er soll an dem Stein begraben werden, an unserem lieben Stein! So hat es Iljuscha gewollt. Ich lasse ihn nicht auf den Kirchhof tragen!«

Er hatte auch früher, die ganzen drei Tage, immerzu davon geredet, daß der Tote an dem Stein begraben werden sollte, doch hatten viele dagegen Einspruch erhoben: Aljoscha, Krassotkin, die Hauswirtin, deren Schwester und alle Kameraden.

»Was ist das für ein Einfall! An dem ungeweihten Stein soll er begraben werden wie ein Selbstmörder!« hatte die alte Wirtin in strengem Ton gescholten. »Dort auf dem Kirchhof ist die Erde geweiht. Dort wird man für ihn beten. Der Gesang aus der Kirche wird bis zu seinem Grab zu hören sein, und der Diakon liest so laut und deutlich, daß es immer bis zu dem Jungen dringen wird, als ob die Gebete über seinem Grabhügel gelesen würden.«

Der Stabskapitän machte schließlich eine resignierte Handbewegung, welche etwa besagte. ›Tragt ihn, wohin ihr wollt!‹ Die Jungen hoben den Sarg hoch. Als sie ihn an der Mutter vorbeitrugen, machten sie einen Augenblick halt und stellten ihn hin, damit sie von Iljuscha Abschied nehmen konnte. Als sie jedoch nun das teure Gesichtchen in der Nähe erblickte, das sie die ganzen drei Tage lang nur aus einer gewissen Entfernung hatte sehen können, ging eine Erschütterung durch ihren ganzen Körper, und sie begann ihren grauen Kopf krampfhaft über dem Sarg hin und her zu bewegen, nach vorn und nach hinten.

»Mama, segne ihn, küsse ihn!« rief ihr Ninotschka zu. Die Mama aber zuckte wie ein Automat immer nur mit dem Kopf und schlug sich plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, mit schmerzverzerrtem Gesicht mit der Faust gegen die Brust. Der Sarg wurde weitergetragen. Ninotschka berührte den Mund des toten Bruders zum letztenmal mit ihren Lippen, als er bei ihr vorbeigetragen wurde. Aljoscha wandte sich, als er das Haus verließ, mit der Bitte an die Hauswirtin, sie möchte nach den Zurückbleibenden sehen; sie ließ ihn jedoch nicht ausreden: »Selbstverständlich! Ich werde bei ihnen bleiben, wir sind ja doch auch Christen.« Bei diesen Worten fing die alte Frau an zu weinen. Die Träger des Sarges hatten es bis zur Kirche nicht weit, kaum mehr als dreihundert Schritte. Es war ein klarer, windstiller Tag; es fror, aber nur wenig. Die Glocke läutete immer noch. Snegirjow in seinem alten, kurzen Sommerüberzieher, mit bloßem Kopf, in der Hand seinen alten breitkrempigen, weichen Hut, lief geschäftig und fassungslos hinter dem Sarg her. Er war in ständiger Sorge: Bald streckte er die Hand aus, um das Kopfende des Sarges zu stützen, und störte dadurch nur die Träger, bald lief er nebenher und suchte eine Möglichkeit, wie er behilflich sein könnte. Wenn eine Blume in den Schnee fiel, stürzte er sofort hin, um sie aufzuheben, als ob vom Verlust dieser Blume Gott weiß was abhing.

»Die Brotrinde! Die Brotrinde haben wir vergessen!« rief er auf einmal erschrocken. Doch die Knaben erinnerten ihn sogleich, daß er schon vorhin eine Brotrinde in die Hand genommen hatte und daß sie in seiner Tasche steckte. Er holte sie heraus, und erst nachdem er sich von ihrem Vorhandensein überzeugt hatte, beruhigte er sich.

»Iljuschetschka hat es so befohlen!« sagte er erklärend zu Aljoscha. »Er lag einmal in der Nacht da, und ich saß neben ihm, da sagte er auf einmal: ›Papachen, wenn mein Grabhügel aufgeschüttet ist, dann zerkrümele bitte auf ihm eine Brotrinde, damit die Spatzen herbeifliegen. Ich werde hören, wie sie geflogen kommen, und es wird mir eine Freude sein, daß ich nicht so allein daliege.‹«

»Das ist sehr hübsch«, sagte Aljoscha. »Da muß man öfter Brot hinbringen.«

»Alle Tage, alle Tage!« erwiderte der Stabskapitän eifrig; dieser Gedanke schien ihn richtig zu beleben.

Endlich waren sie in der Kirche angelangt, und der Sarg wurde in der Mitte niedergesetzt. Alle Jungen stellten sich um ihn herum und blieben so während des ganzen Gottesdienstes artig stehen. Es war eine alte, ziemlich arme Kirche, viele der Heiligenbilder hatten gar keine Einfassungen; aber gerade in solchen Kirchen betet es sich am besten. Während der Messe schien Snegirjow etwas stiller zu werden, obgleich von Zeit zu Zeit immer wieder die unbewußte und zwecklose Geschäftigkeit bei ihm durchbrach: Bald trat er an den Sarg, um die Leichendecke zurechtzuziehen oder das Stirnband des Toten in Ordnung zu bringen; wenn eine Kerze aus dem Leuchter gefallen war, stürzte er hin, um sie wieder aufzustellen, und machte sich damit sehr lange zu schaffen. Darauf beruhigte er sich wieder und stand demütig mit sorgenvollem und fast verständnislosem Gesicht am Kopfende des Sarges. Nach der Verlesung der Epistel flüstere er dem neben ihm stehenden Aljoscha zu, die Epistel sei nicht richtig vorgelesen worden, ohne allerdings zu erklären, was er eigentlich meinte. Bei dem Cherubimlied fing er an mitzusingen, aber nicht bis zu Ende; er ließ sich vielmehr auf die Knie nieder, drückte die Stirn auf den steinernen Fußboden der Kirche und lag so ziemlich lange. Endlich kam das Totenamt an die Reihe, und die Kerzen wurden verteilt. Der kaum noch zurechnungsfähige Vater wollte schon wieder in seine sinnlose Geschäftigkeit verfallen, doch das ergreifende Totenlied erweckte und erschütterte seine Seele. Er krümmte sich auf einmal mit dem ganzen Körper zusammen und begann in häufigen, kurzen Stößen zu schluchzen; anfangs suchte er dabei seine Stimme zu unterdrücken, zuletzt aber heulte er laut. Als dann die Teilnehmer der Beerdigung von dem Toten Abschied nehmen und der Sarg geschlossen werden sollte, umfaßte er diesen mit den Armen, als wollte er den Deckel nicht auf Iljuschetschka legen lassen, und bedeckte die Lippen seines toten Kindes mit heißen Küssen, er konnte sich nicht losreißen. Endlich ließ er sich überreden aufzuhören. Er wurde schon die Stufe hinabgeführt, wo der Sarg stand, als er plötzlich hastig die Hände ausstreckte und ein paar Blumen nahm, die im Sarg lagen. Er sah sie an, und eine neue Idee schien in ihm zu reifen, so daß er die Hauptsache offenbar für einen Moment vergaß. Allmählich versank er in Gedanken und widersetzte sich nicht mehr, als der Sarg hochgehoben und zur Grabstelle getragen wurde. Diese war nicht weit; sie lag innerhalb der Einfriedung, dicht an der Kirche. Sie war teuer, Katerina Iwanowna hatte sie bezahlt. Nach der üblichen Zeremonie ließen die Totengräber den Sarg in die Gruft hinab. Snegirjow beugte sich mit seinen Blumen in der Hand so weit über das offene Grab, daß die Jungen ihn erschrocken am Überzieher packten und zurückzuziehen versuchten. Er schien jedoch nicht mehr recht zu verstehen, was vorging. Als man den Hügel aufzuschütten begann, wies er mit sorgenvoller Miene auf die aufgeworfene Erde, sagte auch etwas, doch niemand konnte es verstehen, und er verstummte sofort wieder. Da erinnerte man ihn daran, die Brotrinde zu zerkrümeln. Er geriet in furchtbare Aufregung, holte die Rinde hervor, zerbrach sie und streute die Krümchen auf den Grabhügel. »Nun kommt herbeigeflogen, ihr Vögelchen, kommt herbei, ihr kleinen Spatzen!« murmelte er eifrig. Einer der Jungen machte ihn darauf aufmerksam, daß es ihm sicher recht unbequem sei, mit den Blumen in der Hand das Brot zu zerbrechen; er möchte sie doch solange jemand zum Halten geben. Aber er tat das nicht und wurde sogar ängstlich, als ob man ihm seine Blumen wegnehmen wollte. Nachdem er das Grab lange betrachtet und sich davon überzeugt hatte, daß nun alles getan und die Brotkrümel gestreut waren, drehte er sich auf einmal unerwartet und ganz ruhig um und machte sich auf den Weg nach Hause. Sein Schritt wurde immer schneller und eiliger; er lief beinahe. Aber die Jungen und Aljoscha wichen nicht von seiner Seite.

»Ich will Mamachen die Blumen bringen! Ich will Mamachen die Blumen bringen! Mamachen hat sich gekränkt gefühlt«, sagte er auf einmal. Jemand rief ihm zu, er möchte doch den Hut aufsetzen, da es jetzt kalt sei. Als er das hörte, schleuderte er seinen Hut wie im Zorn in den Schnee und sagte: »Ich will keinen Hut, ich will keinen Hut!« Der kleine Smurow hob den Hut auf und trug ihn ihm nach. Alle Jungen ohne Ausnahme weinten, am meisten Kolja und der, der Troja entdeckt hatte. Obgleich Smurow, den Hut des Stabskapitäns in der Hand, ebenfalls schrecklich weinte, fand er doch noch Zeit, nahezu im Laufen ein Stück Ziegelstein, das auf dem Weg im Schnee lag, aufzuheben und damit nach einem vorüberfliegenden Schwarm Spatzen zu werfen. Er traf allerdings keinen und lief weiter und weinte weiter. Auf halbem Weg machte Snegirjow plötzlich halt, blieb etwa eine halbe Minute lang stehen, als ob ihm etwas eingefallen wäre, drehte sich dann zur Kirche um und lief zu dem Grab zurück. Doch rasch hatten ihn die Jungen eingeholt und hängten sich von allen Seiten an ihn. Da ließ er sich kraftlos, wie vom Leid niedergedrückt, in den Schnee sinken und begann, um sich schlagend, weinend und schluchzend zu schreien: »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen!« Aljoscha und Kolja hoben ihn auf und versuchten, ihn durch Bitten und Zureden zu beruhigen.

»Hören Sie auf, Kapitän! Ein Mann hat die Pflicht, auch das zu ertragen«, murmelte Kolja.

»Sie zerdrücken ja die Blumen«, fügte Aljoscha hinzu. »Mamachen wartet darauf, sie sitzt da und weint, weil Sie ihr vorhin keine Blumen von Iljuschetschka gegeben haben. Da steht auch noch Iljuschas Bettchen ...«

»Ja, schnell zu Mamachen!« sagte Snegirjow, sich plötzlich wieder erinnernd. »Sie werden sonst das Bettchen wegräumen!« fügte er hinzu, als fürchte er wirklich, man könnte es wegräumen, sprang auf und lief wieder seiner Wohnung zu.

Es war nicht mehr weit, und alle kamen gleichzeitig dort an. Snegirjow machte hastig die Tür auf und rief seiner Frau, zu der er kurz vorher so grob gewesen war, laut zu: »Mamachen, liebes Mamachen, Iljuschetschka schickt dir Blumen, deine Füße sind doch krank!« Er hielt ihr seine Handvoll Blumen hin, die unter der Kälte gelitten hatten und arg zerdrückt worden waren, als er sich soeben im Schnee gewälzt hatte.

Doch im selben Augenblick erblickte er vor Iljuschas Bett in der Ecke Iljuschas Stiefelchen, die beide nebeneinanderstanden; die Hauswirtin hatte sie eben erst beim Aufräumen dorthin gestellt. Es waren alte, steif gewordene Stiefelchen mit zahlreichen Flicken. Bei ihrem Anblick warf er die Arme in die Höhe, stürzte in dieser Haltung auf sie zu, warf sich auf die Knie, nahm das eine Stiefelchen, preßte seine Lippen darauf, küßte es leidenschaftlich und rief – »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen, wo sind deine Füßchen?«

»Wo hast du ihn hingetragen? Wo hast du ihn hingetragen?« heulte das »Mamachen« mit herzzerreißender Stimme; dann schluchzte auch Ninotschka los. Kolja lief aus dem Zimmer, ihm folgten die anderen Jungen und schließlich auch Aljoscha.

»Sollen sie sich ausweinen!« sagte er zu Kolja. »Trösten kann man da natürlich nicht. Wir wollen ein Weilchen weggehen und dann wiederkommen.«

»Ja, trösten kann man da nicht, das ist furchtbar«, stimmte ihm Kolja zu. »Wissen Sie, Karamasow ...«, fügte er plötzlich leiser hinzu, damit es niemand hörte. »Mir ist sehr traurig zumute, und ich würde alles in der Welt darum geben, wenn man ihn wieder ins Leben zurückrufen könnte.«

»Oh, ich auch!« erwiderte Aljoscha.

»Wie denken Sie darüber, Karamasow: Sollen wir heute abend hingehen? Er wird sich betrinken.«

»Das wird er vielleicht tun. Wir beide wollen allein hingehen und ein Stündchen bei ihnen sitzen, bei der Mutter und Ninotschka, das genügt. Wenn wir alle zusammen hingehen, rufen wir ihnen alles wieder ins Gedächtnis zurück«, riet Aljoscha.

»Die Hauswirtin deckt jetzt den Tisch bei ihnen, es wird wohl ein Totenmahl geben, und der Pope wird kommen. Sollen wir gleich wieder umkehren, Karamasow?«

»Unbedingt«, antwortete Aljoscha.

»Sonderbar ist das alles, Karamasow! So ein Leid – und dann auf einmal Pfannkuchen! Wie unnatürlich ist das alles in unserer Religion!«

»Es wird auch Lachs geben«, bemerkte laut der Junge, der Troja entdeckt hatte.

»Ich möchte Sie ernstlich ersuchen, Kartaschow, sich nicht mehr mit Ihren Dummheiten einzumischen! Besonders wenn man gar nicht mit Ihnen spricht und überhaupt nicht wissen will, ob Sie auf der Welt sind«, erwiderte ihm Kolja schroff und gereizt.

Der Junge wurde dunkelrot, wagte jedoch nichts zu entgegnen. Inzwischen hatten sie alle leise den uns schon bekannten Fußweg eingeschlagen, da rief Smurow plötzlich: »Dort ist Iljuschas Stein, unter dem er begraben werden sollte!«

Alle blieben schweigend an dem großen Stein stehen. Aljoscha betrachtete ihn, und alles, was ihm Snegirjow über Iljuschetschka erzählt hatte, wie dieser, weinend und den Vater umarmend, gerufen hatte: »Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!« dieses ganze Bild wurde in ihm auf einmal wieder lebendig, und es war ihm, als ob in seinem Innern eine heftige Erschütterung vorginge. Mit ernster, nachdenklicher Miene ließ er seine Blicke über die lieben, hellen Gesichter dieser Jungen, der Schulkameraden des verstorbenen Iljuscha, wandern, dann sagte er plötzlich zu ihnen: »Meine Herren, ich möchte an dieser Stelle gern ein Wort zu Ihnen sagen.«

Die Jungen umringten ihn und richteten ihre erwartungsvollen und gespannten Blicke auf ihn.

»Meine Freunde, wir werden uns bald trennen. Ich werde jetzt noch eine Zeitlang bei meinen beiden Brüdern bleiben, von denen der eine nach Sibirien verbannt wird und der andere auf den Tod krank liegt. Doch bald werde ich diese Stadt verlassen, vielleicht für sehr lange Zeit. Wir werden uns also trennen müssen, meine Freunde. Lassen Sie uns aber hier an Iljuschas Stein verabreden, daß wir zweierlei niemals vergessen wollen: erstens Iljuschetschka und zweitens uns nicht! Was uns auch später im Leben begegnen mag, und sollten wir uns auch zwanzig Jahre nicht wiedersehen – wir wollen doch für immer im Gedächtnis behalten, wie wir den armen Jungen begraben haben, den wir früher mit Steinen beworfen hatten – erinnern Sie sich, dort an der kleinen Brücke? – und den wir dann alle so liebgewannen. Er war ein prächtiger Kerl, ein lieber, tapferer Junge. Er hatte Gefühl für die Ehre seines Vaters und für dessen bittere Kränkung, gegen die er sich empörte. Und deshalb wollen wir erstens seiner gedenken, meine Herren, unser ganzes Leben lang. Und zweitens: Mögen wir auch mit den wichtigsten Dingen beschäftigt sein, mögen wir hohe Ehren erreicht haben oder in ein großes Unglück geraten sein – gleichviel, vergessen Sie niemals, wie wohl wir uns hier alle zusammen einmal gefühlt haben, vereint durch eine gute, edle Empfindung, die uns für die Zeit unserer Liebe zu dem armen Jungen vielleicht besser gemacht hat, als wir in Wirklichkeit sind. Meine Tauben – gestatten Sie, daß ich Sie Tauben nenne, denn Sie haben große Ähnlichkeit mit diesen hübschen, graublauen Tierchen, gerade jetzt in diesem Augenblick, wo ich Ihre guten, lieben Gesichter ansehe –, meine lieben Kinder, vielleicht verstehen Sie nicht, was ich Ihnen sage, denn ich rede oft sehr unverständlich; aber Sie werden es doch im Gedächtnis behalten und später einmal meinen Worten zustimmen. Wissen Sie also, daß es nichts gibt, was höher, stärker, gesünder und für das bevorstehende Leben nützlicher wäre als irgendeine gute Erinnerung, und besonders eine, die noch aus der Kindheit, aus dem Elternhaus herrührt. Man erzählt Ihnen viel von Ihrer Erziehung, aber eine schöne, heilige Erinnerung, die man sich aus der Kindheit bewahrt hat, ist vielleicht die allerbeste Erziehung. Wer viele solche Erinnerungen mit ins Leben nimmt, ist fürs ganze Leben gerettet. Und selbst wenn sich nur eine einzige gute Erinnerung in unserem Herzen erhält, so kann auch die uns einmal zur Rettung dienen. Leicht möglich, daß wir später einmal schlecht werden, daß wir nicht imstande sind, der Verlockung zu einer bösen Tat zu widerstehen, daß wir uns über Menschentränen boshaft lustig machen und über Menschen, die so denken, wie es Kolja vorhin ausdrückte: ›Ich möchte für alle Menschen leiden!‹ Doch wie schlecht wir auch vielleicht werden, was Gott verhüten möge – wir werden uns doch daran erinnern, wie wir Iljuscha begruben und wie wir ihn in den letzten Tagen liebten und wie wir jetzt an diesem Stein so freundschaftlich miteinander gesprochen haben, und bei dieser Erinnerung wird selbst der Hartherzigste und Spottlustigste von uns, falls wir solche Menschen werden sollten, nicht wagen, sich innerlich darüber lustig zu machen, wie edel und gut er in diesem Augenblick gewesen ist! Ja noch mehr: Vielleicht wird ihn gerade diese eine Erinnerung von einer großen Übeltat zurückhalten, und er wird anderen Sinnes werden und sich sagen: ›Ich war doch damals gut und mutig und ehrenhaft!‹ Mag er auch vor sich hin lächeln, das schadet nichts. Der Mensch lacht häufig über das Schöne und Gute, das geschieht nur aus Leichtsinn; aber ich versichere Ihnen, meine Freunde, sobald er lächelt, wird er sich sogleich in seinem Inneren sagen: ›Nein, es war unrecht von mir zu lächeln, darüber darf man sich nicht lustig machen!‹«

»So wird es ganz bestimmt sein, Karamasow! Ich verstehe Sie, Karamasow!« rief Kolja mit blitzenden Augen.

Die anderen waren in starker Erregung und wollten ebenfalls etwas sagen, beherrschten sich jedoch und sahen Aljoscha nur unverwandt und gerührt an.

»Das sage ich für den möglichen schlimmen Fall, daß wir schlechte Menschen werden«, fuhr Aljoscha fort. »Aber warum sollen wir denn schlechte Menschen werden, nicht wahr, meine Freunde? Wir werden erstens und vor allen Dingen gute Menschen sein, zweitens ehrenhafte Menschen, und drittens werden wir einander niemals vergessen. Das wiederhole ich immer wieder. Ich meinerseits gebe Ihnen mein Wort darauf, meine Freunde, daß ich keinen von Ihnen vergessen werde! An jedes Gesicht, das mich in diesem Moment ansieht, werde ich mich erinnern, selbst nach dreißig Jahren noch. Vorhin hat Kolja zu Kartaschow gesagt, uns liege nichts daran zu wissen, ob er auf der Welt sei oder nicht. Aber könnte ich etwa vergessen, daß Kartaschow auf der Welt ist, daß er auch jetzt noch so rot wird wie damals, als er Troja entdeckte, und daß er mich mit seinen prächtigen, guten, heiteren Augen ansieht? Meine Herren, meine lieben Freunde, lassen Sie uns alle hochherzig und mutig werden wie Iljuschetschka, klug, mutig und hochherzig wie Kolja, der mit zunehmendem Alter jedoch noch weit klüger werden wird, und ebenso verschämt, aber vernünftig und liebenswürdig wie Kartaschow. Doch weshalb rede ich nur von diesen beiden? Sie alle, meine Freunde, sind mir von nun an lieb, Sie alle schließe ich in mein Herz! Und ich bitte Sie, mich ebenfalls in Ihr Herz zu schließen! Wer aber hat uns in diesem guten, schönen Gefühl vereinigt, an das wir uns jetzt unser Leben lang erinnern wollen und erinnern werden? Wer anders als Iljuschetschka, dieser gute, liebe junge, der uns für alle Zeit teuer ist! Wir werden ihn nie vergessen, sondern ihm ein gutes, ein ewiges Andenken in unseren Herzen bewahren, von nun an bis in Ewigkeit!«

»Ja, ja, ein ewiges Andenken, ein ewiges Andenken!« riefen alle Jungen mit ihren hellen Stimmen, und man sah ihren Gesichtern die Rührung an.

»Wir wollen uns auch an sein Gesicht erinnern und an seinen Anzug und an seine ärmlichen Stiefelchen und an seinen kleinen Sarg und an seinen unglücklichen, sündigen Vater und daran, wie er gegen die ganze Klasse mutig für ihn eintrat!«

»Ja, daran wollen wir uns erinnern!« riefen die Jungen wieder. »Er war mutig und gut!«

»Ich habe ihn liebgehabt!« rief Kolja.

»Kinderchen, meine lieben Freunde, fürchten Sie sich nicht vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Gerechtes tut!«

»Ja, ja!« stimmten die anderen begeistert zu.

»Karamasow, wir lieben Sie!« rief spontan eine Stimme, offenbar die von Kartaschow.

»Wir lieben Sie, wir lieben Sie!« fielen die anderen ein. Vielen standen Tränen in den Augen.

»Ein Hurra für Karamasow!« rief Kolja begeistert.

»Und ewiges Andenken dem toten Iljuscha!« fügte wieder Aljoscha mit Wärme hinzu.

»Ewiges Andenken!« fielen erneut die Jungen ein.

»Karamasow!« rief Kolja. »Ist es wirklich wahr, was die Religion lehrt, daß wir alle von den Toten auferstehen und einander wiedersehen werden, auch unseren Iljuschetschka?«

»Sicherlich werden wir auferstehen, sicherlich werden wir uns wiedersehen und uns froh und heiter alles erzählen, was uns im Leben begegnet ist«, antwortete Aljoscha, halb lachend, halb begeistert.

»Ach, das wird schön!«rief Kolja unwillkürlich.

»So, und jetzt wollen wir unsere Reden beenden und zu seinem Totenmahl gehen. Lassen Sie sich nicht dadurch beirren, daß es Pfannkuchen zu essen gibt. Das ist ein althergebrachter Brauch, der auch sein Gutes hat«, sagte Aljoscha lachend. »Nun, dann kommen Sie! Wir wollen jetzt Arm in Arm gehen!«

»Ja, und das immer, das ganze Leben hindurch. Arm in Arm! Ein Hurra für Karamasow!« schrie Kolja noch einmal begeistert, und noch einmal stimmten alle Jungen in seinen Ruf ein.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn, in die Erde gefallen nicht erstirbt, so bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, trägt es viel Frucht.

Johannes 12,24



 << zurück weiter >>