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Es war Anfang November. Wir hatten elf Grad Kälte und damit auch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war in der Nacht etwas trockener Schnee gefallen, und der trockene, scharfe Wind hob ihn auf und fegte ihn durch die langweiligen Straßen unseres Städtchens und besonders über den Marktplatz. Der Morgen war trüb, aber der Schneefall hatte aufgehört. Nicht weit vom Marktplatz, nahe bei Plotnikows Laden, stand das kleine, außen wie innen sehr saubere Häuschen der Beamtenwitwe Krassotkina. Der Gouvernementssekretär Krassotkin selbst war schon vor langer Zeit gestorben, vor fast vierzehn Jahren; seine Witwe, eine zweiunddreißigjährige, immer noch recht hübsche Frau, lebte in dem sauberen Häuschen von ihren Renten. Sie lebte ehrbar und zurückgezogen und besaß einen sanften, ziemlich heiteren Charakter. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, nachdem sie mit ihm nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm eben erst einen Sohn geboren hatte. Seitdem widmete sie sich ganz der Erziehung ihres Sohnes Kolja, ihres größten Schatzes, und die ganzen vierzehn Jahre hatte sie in ihrer maßlosen Liebe zu ihm unvergleichlich mehr Leid als Freude erlebt, da sie fast täglich vor Angst zitterte, er könnte sich erkälten, krank werden, Dummheiten machen, auf einen Stuhl steigen und herunterfallen, und so weiter und so fort. Als Kolja die Vorschule und dann unser Progymnasium besuchte, begann die Mutter mit ihm zusammen eifrig zu lernen, um ihm bei seinen Aufgaben helfen und sie ihm abfragen zu können. Sie bemühte sich, mit den Lehrern und ihren Frauen bekannt zu werden, und suchte sogar durch Freundlichkeit und Schmeicheleien die Gunst von Koljas Schulkameraden zu gewinnen, damit ihr Kolja nicht verspottet und nicht geschlagen wurde. Sie brachte es dahin, daß sich die Jungen ihretwegen wirklich über ihn lustig machten und ihn neckten, er sei ein Muttersöhnchen. Doch Kolja verstand sich zu wehren. Er war ein mutiger Junge, »furchtbar stark«, wie es von ihm in der Klasse hieß und bald bestätigt wurde; er war gewandt, frech, dreist und unternehmungslustig und besaß einen energischen Charakter. Er lernte gut, und es hieß sogar, daß er im Rechnen und in Weltgeschichte mehr leistete als der Lehrer Dardanelow selbst. Obgleich er auf alle herabsah und das Näschen hoch trug, war er doch ein guter Kamerad und nicht überheblich. Den Respekt seiner Mitschüler nahm er als etwas Gebührendes hin, verkehrte mit ihnen jedoch freundschaftlich. Die Hauptsache war, er wußte maßzuhalten, verstand sich zur rechten Zeit zu beherrschen und überschritt in seinen Beziehungen zu den Lehrern niemals jene äußerste, gerade noch erkennbare Grenze, hinter der das Benehmen ungehörig und ungesetzlich wird und nicht geduldet werden kann.
Dennoch war er ganz und gar nicht abgeneigt, bei jeder geeigneten Gelegenheit Streiche zu verüben, und zwar nicht bloß dabei mitzutun, sondern selbst etwas zu erfinden und auszuklügeln, etwas besonders »Feines«, Großartiges einzufädeln, womit er paradieren konnte. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Er hatte es sogar verstanden, sich seine Mama untertan zu machen, er behandelte sie beinahe despotisch. Sie ordnete sich ihm auch wirklich unter, schon seit langer Zeit, und konnte nur einen Gedanken absolut nicht ertragen: daß der Knabe sie »zuwenig lieben« könnte. Es schien ihr immer, Kolja sei ihr gegenüber »gefühllos«, und manchmal machte sie ihm, krampfhaft schluchzend, Vorwürfe wegen seiner Kälte. Der Junge konnte das nicht leiden, und je mehr Herzensergüsse die Mutter von ihm verlangte, desto zurückhaltender wurde er, anscheinend absichtlich. Und doch geschah das von seiner Seite nicht absichtlich, sondern unwillkürlich; das lag nun einmal in seinem Charakter. Die Mutter irrte sich: er liebte sie sehr; was er nur nicht liebte, waren diese »kalbrigen Zärtlichkeiten«, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Der Vater hatte einen Schrank mit einer Anzahl von Büchern hinterlassen; Kolja liebte diese Bücher und hatte schon mehrere von ihnen still für sich gelesen. Die Mutter beunruhigte sich darüber nicht, wunderte sich nur manchmal, daß er, statt spielen zu gehen, stundenlang mit einem Buch am Schrank stand. Auf diese Weise las Kolja manches, was man ihm in seinem Alter noch nicht hätte zum Lesen geben dürfen. Obgleich er es vermied, mit seinen Streichen eine gewisse Grenze zu überschreiten, hatte er in letzter Zeit doch einzelne Streiche verübt, die die Mutter nicht wenig erschreckten, freilich keine unmoralischen, wohl aber tollkühne, halsbrecherische. Es hatte sich in diesem Sommer in den Ferien, im Juli, ergeben, daß die Mama mit ihrem Sohn für eine Woche siebzig Werst weit in einen anderen Kreis gefahren war auf Besuch zu einer entfernten Verwandten, deren Mann auf einer Eisenbahnstation angestellt war; es war dies von unserer Stadt aus die nächste Station, dieselbe, von der Iwan Fjodorowitsch Karamasow einen Monat später nach Moskau reiste. Dort besah sich Kolja gleich von vornherein die Eisenbahn aufs genaueste und studierte alle ihre Einrichtungen; denn er sagte sich, daß er zu Hause vor seinen Kameraden auf dem Progymnasium mit seinen neuen Kenntnissen würde glänzen können. Es traf sich, daß er dort einige andere Jungen kennenlernte, manche von ihnen wohnten auf der Station, andere in der Nachbarschaft: lauter junges Volk von zwölf bis fünfzehn Jahren, sechs oder sieben an der Zahl, darunter zufällig auch zwei aus unserem Städtchen. Die Jungen spielten zusammen und trieben allerhand Unfug, bis es dann nach vier oder fünf Tagen unter ihnen zu einer unerhörten Wette um zwei Rubel kam, nämlich: Kolja, der beinahe der jüngste von allen war und darum von den älteren ein bißchen verachtet wurde, vermaß sich aus Ehrgeiz oder unverzeihlicher Tollkühnheit, er wolle sich nachts, wenn der Elfuhrzug komme, mit dem Gesicht nach unten zwischen die Schienen legen und regungslos liegenbleiben, bis der Zug mit Volldampf über ihn hinweggefahren war. Allerdings waren vorher Versuche angestellt worden, aus denen sich ergeben hatte, daß es tatsächlich möglich war, sich zwischen den Schienen so platt hinzulegen, daß der Zug über den Liegenden hinwegfuhr, ohne ihn zu streifen – trotzdem, welche Leistung, so dazuliegen! Kolja behauptete mit aller Bestimmtheit, er werde liegenbleiben. Zuerst lachten die anderen über ihn und nannten ihn einen Aufschneider und Prahlhans, doch dadurch wurde er nur noch mehr angereizt; diese Fünfzehnjährigen waren ihm gegenüber gar zu hochmütig und wollten ihn, den »Kleinen«, zuerst nicht einmal als ihren Kameraden gelten lassen, was denn doch in unerträglichem Grad beleidigend war. So wurde also beschlossen, sich am Abend eine Werst weit von der Station wegzubegeben, damit der Zug nach dem Verlassen der Station schon seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte. Die Jungen versammelten sich. Es war eine mondlose, dunkle, fast schwarze Nacht. Zur richtigen Zeit legte sich Kolja zwischen die Schienen. Die fünf übrigen Jungen, die mit ihm gewettet hatten, warteten mit Herzklopfen und zuletzt mit Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich war von fern der Zug zu hören, der die Station verlassen hatte. In der Dunkelheit blitzten zwei rote Laternen auf; das Ungeheuer nahte lärmend. »Schnell weg von den Schienen!« schrien die Jungen aus dem Gebüsch, halbtot vor Furcht, aber es war schon zu spät. Der Zug jagte heran und sauste vorüber. Die Knaben stürzten zu Kolja: Er lag da und rührte sich nicht. Sie schüttelten ihn und bemühten sich, ihn aufzuheben. Da stand er plötzlich auf und ging schweigend den Bahndamm hinunter. Unten erklärte er, er habe absichtlich wie besinnungslos dagelegen, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Die Wahrheit war jedoch, daß er wirklich das Bewußtsein verloren hatte, wie er später, erst lange danach, seiner Mutter auch gestand. Auf diese Weise hatte er den Ruhm der Tollkühnheit als festen Besitz für immer erworben. Leichenblaß kehrte er zur Station zurück. Am anderen Tag erkrankte er an einem leichten Nervenfieber, war aber seelisch sehr heiter, froh und zufrieden. Die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich nicht sogleich, sondern erst nach der Rückkehr in unsere Stadt, wo sie auch dem Direktor zu Ohren kam. Koljas Mama eilte schleunigst zu ihm, um für ihren Sohn zu bitten, und erreichte schließlich, daß der allgemein geachtete, einflußreiche Lehrer Dardanelow für ihn eintrat und Fürbitte einlegte; so ließ man denn die Sache auf sich beruhen, als ob nichts geschehen wäre. Dieser Dardanelow übrigens, ein noch nicht alter Junggeselle, war schon seit vielen Jahren leidenschaftlich in Frau Krassotkina verliebt und hatte schon einmal, vor einem Jahr, in der respektvollsten Weise und fast vergehend vor Angst und Zartgefühl gewagt, ihr seine Hand anzubieten; doch sie hatte seinen Antrag rundweg abgelehnt, obwohl Dardanelow, nach einigen geheimen Anzeichen zu schließen, vielleicht sogar ein gewisses Recht hatte zu glauben, daß er der reizenden, aber infolge ihrer Mutterzärtlichkeit allzu ehescheuen Witwe durchaus nicht zuwider sei. Koljas Streich schien nun das Eis gebrochen zu haben, und Dardanelow wurde zum Dank für sein Eintreten mit einem Hoffnungsschimmer belohnt, allerdings nur mit einem sehr entfernten; doch auch Dardanelow war ein Muster an Reinheit und Zartgefühl, und daher genügte dieser Schimmer vorläufig, um ihn vollkommen glücklich zu machen. Den Jungen mochte er sehr gern, jedoch hätte er es für unwürdig gehalten, sich um seine Gunst zu bemühen. Er behandelte ihn in der Klasse streng und stellte an ihn hohe Anforderungen. Kolja selbst hielt sich auch in respektvoller Entfernung, lernte seine Aufgaben vorzüglich, war in der Klasse der zweitbeste Schüler und verkehrte mit Dardanelow in einem trockenen Ton. Und die ganze Klasse glaubte fest, in Weltgeschichte könne Kolja sogar Dardanelow »schlagen«. Und in der Tat hatte Kolja ihm einmal die Frage vorgelegt, wer Troja gegründet habe. In seiner Antwort hatte Dardanelow nur allgemein von den Bewegungen und Wanderungen der Völker gesprochen; das liege im Dunkel der Vorzeit und gehöre ins Reich der Sage. Wer aber nun eigentlich Troja gegründet hatte, das heißt, welche Personen, das hatte er nicht sagen können; daher hatte er die Frage als müßig und gegenstandslos bezeichnet. Und die Jungen blieben bei der Überzeugung, Dardanelow wüßte nicht, wer Troja gegründet hatte. Kolja aber hatte von den Gründern Trojas in Smaragdows Weltgeschichte gelesen, die sich im Schrank unter den von seinem Vater hinterlassenen Büchern befand. Die Sache endete damit, daß sich schließlich alle Schüler dafür zu interessieren begannen, wer eigentlich Troja gegründet habe; Krassotkin enthüllte sein Geheimnis jedoch nicht, und der Ruhm seines Wissens blieb unerschüttert.
Nach dem Vorfall mit der Eisenbahn trat in Koljas Verhältnis zu seiner Mutter eine gewisse Veränderung ein. Als Frau Anna Fjodorowna von der Tat ihres Sohnes hörte, verlor sie vor Schreck beinahe den Verstand. Sie bekam so furchtbare hysterische Anfälle, die mit Unterbrechungen mehrere Tage dauerten, daß der ernstlich erschrockene Kolja ihr sein Ehrenwort gab, solche Streiche nie wieder zu begehen. Er schwor es auf den Knien vor dem Heiligenbild und beim Andenken an seinen Vater, so wie es Frau Krassotkina selbst verlangt hatte, wobei der »mannhafte« Kolja selbst wie ein sechsjähriger Knabe vor Rührung in Tränen zerfloß; diesen ganzen Tag über umarmten sich Mutter und Sohn immer wieder und weinten erschüttert. Als Kolja am anderen Tag erwachte, war er wieder wie früher »gefühllos«, nur wurde er von nun an schweigsamer, bescheidener, ernster, nachdenklicher. Allerdings wurde er anderthalb Monate später wieder bei einem Streich erwischt, und sein Name wurde sogar unserem Friedensrichter bekannt. Aber dieser Streich war doch schon von ganz anderer Art, sogar lächerlich und ein bißchen dumm; auch hatte er ihn, wie sich herausstellte, nicht selbst ausgeführt, sondern war nur beteiligt gewesen. Aber davon später einmal. Die Mutter ängstigte und quälte sich weiter, und Dardanelow schöpfte immer mehr Hoffnung, je mehr sie sich beunruhigte. Es muß vermerkt werden, daß Kolja Dardanelows diesbezügliche Absichten erriet und ihn selbstverständlich wegen seiner »Gefühle« tief verachtete. Früher war er sogar so unzart gewesen, diese Verachtung seiner Mutter gegenüber zum Ausdruck zu bringen, indem er andeutete, er wisse sehr wohl, was Dardanelow im Schilde führe. Aber nach dem Vorfall mit der Eisenbahn änderte er auch in dieser Hinsicht sein Benehmen; solche Andeutungen erlaubte er sich nicht mehr, auch nicht die entferntesten. Von Dardanelow sprach er in Gegenwart der Mutter jetzt respektvoller, was die feinfühlige Anna Fjodorowna sofort mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen empfand. Dafür wurde sie bei der unbedeutendsten, zufälligsten Bemerkung über Dardanelow, sogar von seiten irgendeines fernen Besuchers, vor Scham plötzlich rot wie eine Rose, wenn Kolja dabei war. Und Kolja sah in solchen Augenblicken entweder mit finsterer Miene aus dem Fenster oder betrachtete angelegentlich seine Stiefelspitzen oder rief zornig Pereswon, einen struppigen, ziemlich großen, räudigen Hund, den er vor einem Monat irgendwie erworben und mit nach Hause gebracht hatte und nun aus irgendeinem Grund in der Wohnung verborgen hielt und keinem seiner Kameraden zeigte. Er tyrannisierte den Hund furchtbar, indem er ihm alle möglichen Späße und Kunststücke beibrachte; doch der arme Köter liebte seinen Herrn unsäglich: Er heulte, wenn Kolja nicht zu Hause, sondern in der Schule war, er winselte vor Freude, wenn Kolja wiederkam, sprang wie toll umher, machte Männchen, wälzte sich auf der Erde, stellte sich tot und so weiter – kurz, er produzierte alle Kunststücke, die ihm beigebracht worden waren, und zwar nicht auf Verlangen, sondern einzig und allein aus Freude und aus dankbarem Herzen.
Apropos, ich habe vergessen, daran zu erinnern, daß Kolja Krassotkin jener Junge war, den der dem Leser bereits bekannte Iljuscha, der Sohn des Stabskapitäns a. D. Snegirjow, mit dem Messer in die Hüfte gestochen hatte, weil die Schüler seinen Vater mit dem Spitznamen »Bastwisch« verspottet hatten.
Also an jenem kalten, windigen Novembermorgen saß Kolja Krassotkin zu Hause. Es war Sonntag und somit keine Schule. Aber es hatte schon elf geschlagen, und er mußte »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« dringend von zu Hause weggehen. Nun war er jedoch ganz allein zu Hause, und zwar ausdrücklich, um es zu hüten, da alle älteren Hausgenossen das Haus infolge eines ungewöhnlichen Vorfalls verlassen hatten. Im Haus der Witwe Krassotkina befand sich außer der Wohnung der Hausbesitzerin nur noch eine aus zwei kleinen Zimmern bestehende Wohnung, die an eine Arztfrau mit zwei kleinen Kindern vermietet war. Diese Arztfrau war gleichaltrig mit Anna Fjodorowna und ihre beste Freundin. Der Doktor selbst war seit etwa einem Jahr abwesend; zuerst war er nach Orenburg gefahren und dann nach Taschkent, und schon ein halbes Jahr war von ihm keinerlei Nachricht gekommen. Und wäre nicht durch die Freundschaft mit Frau Krassotkina der Kummer der verlassenen Frau einigermaßen gelindert worden, wäre diese wohl in Tränen zerflossen. Um die Schicksalsschläge vollzählig zu machen, mußte Katerina, die einzige Dienerin der Arztfrau, ausgerechnet in dieser Nacht vom Sonnabend zum Sonntag plötzlich und ganz unerwartet ihrer Herrin erklären, sie werde am Morgen ein Kind gebären. Wie es zugegangen war, daß davon vorher niemand etwas gemerkt hatte, war für alle beinahe ein Wunder. Die überraschte Frau beschloß, Katerina, solange es noch Zeit war, in eine Anstalt zu bringen, die eine Hebamme in unserer Stadt für solche Fälle unterhielt. Da sie der Dienerin sehr zugetan war, führte sie ihre Absicht unverzüglich aus, brachte sie dorthin und blieb außerdem bei ihr. Dann wurde am Morgen noch die freundschaftliche Beihilfe von Frau Krassotkina erforderlich, die in diesem Fall irgend jemand um irgend etwas bitten und so die Magd irgendwie unterstützen konnte. Auf diese Weise waren die beiden Damen abwesend; Frau Krassotkinas eigene Dienerin, die alte Agafja, war währenddessen auf den Markt gegangen, und Kolja war somit für eine gewisse Zeit der Hüter und Wächter der »Knirpse«, des Knaben und des Töchterchens der Arztfrau, die sonst mutterseelenallein geblieben wären. Das Haus zu bewachen, davor fürchtete sich Kolja nicht; außerdem war ja noch Pereswon bei ihm, dem er befohlen hatte, im Vorzimmer unter einer Bank »ohne Bewegung« auf dem Bauch zu liegen und der gerade deswegen jedesmal, wenn Kolja bei seinen Rundgängen ins Vorzimmer kam, mit dem Kopf zuckte und zwei kräftige, bittende Schläge mit dem Schwanz vollführte – doch leider ertönte der rufende Pfiff nicht. Kolja warf dem unglücklichen Hund einen drohenden Blick zu, und dieser erstarrte wieder zu gehorsamem Scheintod. Wenn etwas Kolja in Verlegenheit brachte, so waren es einzig und allein die »Knirpse«. Für das unerwartete Ereignis mit Katerina hatte er selbstverständlich nur tiefste Verachtung, aber die verwaisten »Knirps« mochte er sehr gern, er hatte ihnen bereits ein Kinderbuch gebracht. Nastja, die ältere, die schon acht Jahre alt war, konnte lesen; und der jüngere »Knirps«, der siebenjährige Kostja, hörte gern zu, wenn Nastja ihm etwas vorlas. Selbstverständlich hätte Kolja sie auf interessantere Weise beschäftigen können, er hätte sie zum Beispiel beide nebeneinanderstellen und mit ihnen Soldaten spielen oder mit ihnen im ganzen Haus Versteck spielen können. Das hatte er früher schon wiederholt getan, und das war durchaus nicht unter seiner Würde, so daß sich in seiner Klasse sogar einmal das Gerücht verbreitet hatte, Krassotkin spiele bei sich zu Hause mit seinen kleinen Hausgenossen Pferdchen. Kolja hatte diese Beschuldigung jedoch stolz widerlegt, indem er darlegte, mit Gleichaltrigen, Dreizehnjährigen Pferdchen zu spielen, das wäre »in unserem Jahrhundert« allerdings wirklich eine Schande; er aber tue das für die »Knirpse«, weil er sie gern habe, und im übrigen habe niemand das Recht, ihn über seine Gefühle zur Rechenschaft zu ziehen! Dafür vergötterten ihn denn auch die beiden »Knirpse«. Diesmal stand sein Sinn nicht nach solchen Spielen. Er hatte eine sehr wichtige eigene Angelegenheit vor sich, an der sogar etwas Geheimnisvolles zu sein schien; inzwischen aber verstrich die Zeit, und Agafja, der er die Kinder hätte übergeben können, wollte noch immer nicht vom Markt zurückkehren. Er war schon mehrere Male über den Flur gegangen, hatte die Tür zur Wohnung der Arztfrau geöffnet und sorgenvoll nach den »Knirpsen« gesehen, die nach seiner Weisung über einem Buch saßen und ihn jedesmal, wenn er die Tür aufmachte, schweigend anlächelten, in der Erwartung, daß er nun hereinkäme und etwas Hübsches und Amüsantes mit ihnen unternähme. Doch Kolja war innerlich unruhig und ging nicht hinein. Da schlug es elf, und er beschloß fest und endgültig, das Haus zu verlassen, wenn die »verfluchte« Agafja nicht in zehn Minuten zurück sein würde, und nicht länger auf sie zu warten; selbstverständlich wollte er sich vorher von den »Knirpsen« versprechen lassen, daß sie in seiner Abwesenheit keine Dummheiten machen und nicht aus Angst weinen würden. Mit diesem Gedanken zog er seinen wattierten Winterüberzieher mit dem Kragen aus Seehundsfell an und hängte sich seine Büchertasche über die Schulter. Seine Mutter hatte ihn zwar früher oft gebeten, er möchte immer die Überschuhe anziehen, wenn er »bei solcher Kälte« von Hause wegging; doch als er durchs Vorzimmer kam, warf er nur einen verächtlichen Blick auf sie und ging in bloßen Stiefeln hinaus. Als Pereswon ihn ausgehbereit sah, begann er angestrengt mit dem Schwanz auf den Fußboden zu schlagen, zuckte nervös mit dem ganzen Körper und schickte sich sogar an, ein klägliches Geheul auszustoßen; aber Kolja war der Ansicht, daß ein sofortiges Nachgeben der Disziplin schaden würde, und ließ ihn wenigstens noch ein Weilchen unter der Bank liegen. Erst als er die Tür zum Flur öffnete, pfiff er ihm plötzlich. Der Hund sprang wie verrückt auf und sprang wild vor Freude umher. Kolja durchschritt den Flur und öffnete die Tür zu den »Knirpsen«. Beide saßen wie vorher an ihrem Tischchen; sie lasen jedoch nicht mehr, sondern stritten hitzig über irgend etwas. Sie stritten sich oft über verschiedene sich aufdrängende Lebensfragen, wobei Nastja als die ältere immer die Oberhand behielt; Kostja hingegen wandte sich, wenn er ihr nicht zustimmen mochte, fast immer hilfesuchend an Kolja, und wie dieser entschied, dabei blieb es dann auch: Das war für beide Teile ein unanfechtbarer Urteilsspruch. Diesmal erweckte der Streit der »Knirpse« bei Kolja ein gewisses Interesse, und er blieb in der Tür stehen, um zuzuhören.
Als die Kinder sahen, daß er zuhörte, fuhren sie um so eifriger in ihrem Streitgespräch fort.
»Niemals werde ich glauben«, sagte Nastja hitzig, »daß die Hebammen die kleinen Kinder in den Gemüsegärten auf den Kohlbeeten finden. Jetzt ist es Winter, und es gibt gar keine Kohlbeete, und die Hebamme konnte unserer Katerina das Töchterchen nicht von da bringen!«
Kolja stieß einen Pfiff aus.
»Oder es ist so. Sie holen die Kinder irgendwo, bringen sie aber nur zu solchen Frauen, die verheiratet sind.«
Kostja blickte seine Schwester unverwandt an, hörte tiefsinnig zu und dachte nach.
»Nastja, wie dumm du doch bist«, sagte er endlich ruhig und entschieden. »Dann könnte doch Katerina gar kein Kindchen haben. Sie ist ja nicht verheiratet.«
Nastja geriet furchtbar in Eifer.
»Du verstehst aber auch gar nichts«, fiel sie gereizt ein. »Vielleicht hat sie einen Mann gehabt, und er sitzt bloß im Gefängnis, und sie hat nun ein Kindchen bekommen.«
»Hat sie wirklich einen Mann, der im Gefängnis sitzt?« erkundigte sich der gründliche Kostja mit wichtiger Miene.
»Oder es ist so«, unterbrach ihn Nastja eifrig, wobei sie ihre erste Hypothese völlig fallenließ und vergaß. »Sie hat keinen Mann, darin hast du recht. Aber sie will heiraten, und da hat sie nun nachgedacht, wie sie das machen soll, und hat immer nachgedacht und nachgedacht, und so lange nachgedacht, daß sie nun keinen Mann, sondern ein Kindchen bekommen hat.«
»Ja, das könnte sein«, stimmte Kostja völlig überzeugt zu. »Aber das hast du vorhin nicht gesagt, daher konnte ich es auch nicht wissen.«
»Na, Kinder«, sagte Kolja und trat zu ihnen ins Zimmer. »Ich sehe, ihr seid ein gefährliches Völkchen!«
»Dafür haben Sie ja auch Pereswon«, sagte Kostja lächelnd und begann mit den Fingern zu schnipsen und Pereswon zu rufen.
»Ihr Knirpse, ich bin in Verlegenheit«, begann Kolja würdevoll. »Und ihr müßt mir helfen. Agafja hat sich wohl ein Bein gebrochen, weil sie noch immer nicht zurück ist, das steht bombenfest. Ich muß aber dringend weg. Werdet ihr mich weglassen?«
Die Kinder sahen sich ängstlich an, ihre Gesichter drückten nun Unruhe aus. Sie begriffen allerdings noch nicht recht, was Kolja von ihnen verlangte.
»Werdet ihr auch keine Dummheiten machen, wenn ich weg hin? Nicht auf die Kommode steigen, euch nicht die Beine brechen? Werdet ihr auch nicht aus Angst weinen, wenn ihr allein seid?«
Auf den Gesichtern der Kinder malte sich eine schreckliche Angst.
»Ich könnte euch zum Lohn dafür ein hübsches Spielzeug zeigen, eine kleine Bronzekanone, aus der man mit richtigem Pulver schießen kann.«
Die Gesichter der Kinder wurden im Nu wieder hell.
»Zeigen Sie doch mal die kleine Kanone!« sagte Kostja, der übers ganze Gesicht strahlte.
Krassotkin holte aus seiner Büchertasche eine kleine Bronzekanone heraus und stellte sie auf den Tisch.
»Na schön, zeigen wir doch mal! Sieh nur, sie hat Räder ... «Er rollte das Spielzeug über den Tisch. »Und schießen kann man damit. Man kann sie mit Schrot laden und damit schießen.«
»Kann man damit auch einen totschießen?«
»Alle kann man damit totschießen, man braucht bloß ordentlich zu zielen.«
Und er erklärte ihnen, wohin man das Pulver tun und wie man das Schrotkorn hineinstecken muß, zeigte ihnen ein kleines Loch in Gestalt eines Zündloches und erzählte ihnen, daß die Kanone nach dem Schuß zurückläuft. Die Kinder hörten mit gewaltigem Interesse zu. Besonders beeindruckte sie, daß die Kanone zurückläuft.
»Haben Sie auch Pulver?« erkundigte sich Nastja.
»Ja.«
»Zeigen Sie uns doch auch das Pulver!« sagte sie mit einem bittenden Lächeln.
Kolja griff noch einmal in die Büchertasche und holte ein kleines Fläschchen heraus, in dem tatsächlich noch etwas Pulver war, in einem zusammengewickelten Stück Papier fanden sich außerdem mehrere Schrotkörner. Er öffnete sogar das Fläschchen und schüttete sich ein bißchen Pulver auf die flache Hand.
»Da! Es darf nur kein Feuer daran kommen, sonst explodiert das Pulver, und wir sind alle tot«, sagte er warnend; er übertrieb um des Effektes willen.
Die Kinder betrachteten das Pulver mit einer andächtigen Furcht, durch die der Genuß noch gesteigert wurde. Dem kleinen Kostja gefiel am meisten das Schrot.
»Und das Schrot brennt nicht?« fragte er.
»Nein, das Schrot brennt nicht.«
»Schenken Sie mir ein paar Schrotkörner!« bettelte er.
»Ein bißchen Schrot werde ich dir schenken. Da, nimm. Aber zeig es deiner Mama nicht, bevor ich wieder hier bin. Sonst denkt sie, es ist Pulver, und stirbt vor Angst und haut euch mit der Rute.«
»Mama haut uns nie mit der Rute!« bemerkte Nastja sofort.
»Das weiß ich. Ich habe es auch nur gesagt, weil es gut klingt. Und eurer Mama dürft ihr nie etwas verheimlichen – bloß diesmal, bis ich wieder da bin ... Also, ihr Knirpse, darf ich weggehen? Werdet ihr auch nicht vor Angst weinen, wenn ich weg bin?«
»Doch, wir wer-den wei-nen«, sagte Kostja gedehnt und wollte schon in Tränen ausbrechen.
»Wir werden weinen, wir werden bestimmt weinen!« fiel Nastja ängstlich ein.
»Ach, Kinder, Kinder, ihr seid ja in einem gefährlichen Alter. Na, dann ist nichts zu machen, ihr Würmer, dann muß ich eben
Gott weiß wie lange bei euch sitzen. Aber wie sollen wir uns bloß die Zeit vertreiben?«
»Lassen Sie doch Pereswon sich tot stellen«, bat Kostja.
»Ja, da ist nichts zu machen, da müssen wir wohl unsere Zuflucht zu Pereswon nehmen. Ici, Pereswon!«
Kolja kommandierte, und der Hund machte alles vor, was er konnte. Er war ein struppiger Hund, von der Größe eines gewöhnlichen Hofhundes, mit grau-lila Fell. Das rechte Auge war ihm ausgelaufen, und das linke Ohr wies einen tiefen Riß auf. Er winselte und sprang, machte Männchen, ging auf den Hinterbeinen, warf sich auf den Rücken mit allen vier Pfoten nach oben und lag wie tot da. Während des letzten Kunststückes öffnete sich die Tür, und Agafja, die dicke Dienerin von Frau Krassotkina, eine pockennarbige Frau von ungefähr vierzig Jahren, erschien auf der Schwelle; sie kehrte mit einem Beutel voll Lebensmittel vom Markt zurück. Sie blieb stehen und sah dem Hund zu, ohne den Beutel aus der Hand zu legen. So sehnsüchtig Kolja auch auf Agafja gewartet hatte – er brach die Vorstellung dennoch nicht ab; er ließ Pereswon sich noch eine bestimmte Zeitlang tot stellen und pfiff ihm dann endlich. Der Hund sprang auf und tollte vor Freude, daß er seine Pflicht erfüllt hatte, ausgelassen umher.
»Nun sieh mal einer den Hund an!« sagte Agafja anerkennend.
»Warum bist du denn so spät zurückgekommen, du Weibsbild?« fragte Krassotkin ärgerlich.
»Weibsbild! Nun hör sich das einer an! Dieser Stift!«
»Stift?«
»Jawohl, Stift. Was geht es dich an, daß ich so spät zurückgekommen bin? Wenn ich erst so spät gekommen bin, wird es wohl nötig gewesen sein«, brummte Agafja und machte sich daran, den Ofen zu besorgen. Sie sagte das alles keineswegs unzufrieden oder ärgerlich, sondern vielmehr in sehr zufriedenem Ton, als ob sie sich über die Gelegenheit freute, sich mit dem lustigen jungen Herrn ein bißchen herumzubeißen.
»Hör mal, du leichtfertiges altes Weib«, sagte Kolja und stand vom Sofa auf. »Kannst du mir bei allem, was dir auf dieser Welt heilig ist, und bei sonst noch etwas schwören, daß du in meiner Abwesenheit ständig auf die Knirpse aufpassen wirst? Ich will nämlich weggehen.«
»Wozu soll ich dir das erst noch schwören?« erwiderte Agafja lachend. »Ich werde auch so auf sie aufpassen.«
»Nein, du mußt mir bei deiner ewigen Seligkeit schwören. Sonst gehe ich nicht.«
»Na, dann geh nicht! Was stört es mich? Draußen ist es kalt, bleib zu Hause!«
»Ihr Knirpse«, wandte sich Kolja an die Kinder. »Diese Frau wird bei euch bleiben, bis ich wiederkomme oder bis eure Mama wiederkommt, denn auch die müßte eigentlich längst zurück sein. Sie wird euch ein Frühstück geben. Oder gibst du ihnen etwas, Agafja?«
»Das kann ich schon machen.«
»Auf Wiedersehen, ihr Kleinen! Nun kann ich beruhigt gehen ... Und du, Großmutter«, sagte er halblaut und würdevoll, als er an Agafja vorbeiging, »wirst ihnen hoffentlich nicht eure üblichen Weiberdummheiten über Katerina auftischen? Hab Respekt vor ihrem Alter! Ici, Pereswon!«
»Mach, daß du 'rauskommst«, knurrte Agafja, die sich jetzt wirklich ärgerte. »Lächerlicher Patron! Müßtest selber die Rute bekommen für solche Reden!«
Doch Kolja hörte schon nicht mehr. Endlich konnte er gehen. Als er aus dem Tor trat, blickte er sich um, schüttelte die Schultern und sagte: »Kalt!« Dann ging er die Straße hinunter und danach rechts durch eine Seitengasse auf den Marktplatz zu. Am Torweg des letzten Hauses blieb er vor dem Platz stehen, zog eine kleine Pfeife aus der Tasche und pfiff darauf aus Leibeskräften, als gäbe er ein verabredetes Signal. Er brauchte nicht länger als eine Minute zu warten; dann kam plötzlich ein rotbackiger Junge herausgerannt. Er mochte etwa elf Jahre alt sein und trug ebenfalls einen warmen, sauberen und sogar eleganten kleinen Überzieher. Es war der kleine Smurow, der die Vorbereitungsklasse besuchte (während Kolja Krassotkin schon zwei Klassen höher saß), der Sohn eines wohlhabenden Beamten. Seine Eltern hatten ihm offenbar den Umgang mit Krassotkin verboten, da der allgemein als verwegener Unfugtreiber bekannt war; Smurow hatte daher das Haus offenbar heimlich verlassen. Dieser Smurow war, vielleicht erinnert sich der Leser, einer von den Jungen, die vor zwei Monaten mit Steinen nach Iljuscha geworfen hatten; er war es gewesen, der Aljoscha Karamasow damals etwas über Iljuscha erzählt hatte.
»Ich warte schon eine ganze Stunde auf dich, Krassotkin«, sagte Smurow streng, dann gingen sie zum Marktplatz.
»Ja, ich habe mich verspätet«, antwortete Krassotkin. »Aber das hat seine Gründe. Kriegst du nicht Prügel, wenn du mit mir gehst?«
»Was redest du da? Als ob ich überhaupt Prügel bekomme! Du hast Pereswon bei dir?«
»Ja.«
»Willst du ihn auch mitnehmen?«
»Ja.«
»Ach, wenn es doch Shutschka wäre!«
»Das ist unmöglich. Shutschka existiert nicht mehr, Shutschka ist verschwunden. Wo er geblieben ist, das ist ein dunkles Rätsel.«
»Könnten wir es nicht so machen«, sagte Smurow und blieb plötzlich stehen. »Iljuscha sagt ja, Shutschka ist auch so struppig gewesen und so dunkelgrau wie Pereswon. Könnten wir da nicht sagen, daß es jener Shutschka ist? Vielleicht wird er es glauben.«
»Schüler, verabscheue die Lüge! Numero eins. Sogar zu einem guten Zweck; Numero zwei. Aber was die Hauptsache ist: ich hoffe, du hast dort nichts von meinem Besuch erwähnt?«
»Gott behüte, ich weiß doch, worum es sich handelt. Mit Pereswon wirst du ihn aber nicht trösten«, sagte Smurow seufzend. »Weißt du was? Sein Vater, der Bastwisch, hat gesagt, er will ihm heute einen jungen Hund bringen, einen echten Bullenbeißer mit schwarzer Nase. Er meint, daß er Iljuscha damit trösten wird, aber das wird ihm wohl kaum gelingen.«
»Wie geht es denn ihm selbst, ich meine Iljuscha?«
»Ach, schlecht! Ich glaube, er hat die Schwindsucht. Er ist bei vollem Bewußtsein, aber wie er atmet, wie er atmet! Neulich bat er, sie möchten ihn ein bißchen im Zimmer herumführen. Sie zogen ihm seine Stiefel an, und er versuchte zu gehen, aber er fiel hin. ›Ach, Papa‹, sagte er, ›ich habe dir ja gesagt, daß die Stiefel, die ich früher hatte, nichts taugen! In denen war es auch früher unbequem zu gehen.‹ Er dachte, die Stiefel seien daran schuld, daß er umgefallen war. Dabei ist es einfach aus Schwäche geschehen. Er wird keine Woche mehr leben. Doktor Herzenstube besucht ihn. Sie sind jetzt wieder reich, sie haben viel Geld.«
»Schwindler sind sie.«
»Wen meinst du?«
»Die Ärzte und das ganze medizinische Gesindel. Ich bin gegen die Medizin. Sie ist eine nutzlose Einrichtung. Ich werde das übrigens alles noch näher untersuchen. Was ist denn jetzt für ein gefühlvolles Treiben bei euch? Ich glaube, eure ganze Klasse geht da immer hin?«
»Die ganze Klasse nicht, sondern etwa zehn von uns gehen hin. Immer, jeden Tag. Weiter nichts.«
»Ich wundere mich nur über die Rolle, die Alexej Karamasow dabei spielt. Morgen oder übermorgen findet die Gerichtsverhandlung gegen seinen Bruder wegen dieses großen Verbrechens statt, und er hat noch Zeit zu rührenden Szenen mit Jungen?«
»Rührende Szenen gibt es da überhaupt nicht. Du gehst ja jetzt selber hin, um dich mit Iljuscha zu versöhnen.«
»Um mich mit ihm zu versöhnen? Lächerlich! Ich erlaube übrigens niemandem, meine Handlungen zu kritisieren.«
»Aber wie sich Iljuscha freuen wird! Er hat keine Ahnung, daß du kommst. Warum hast du denn so lange nicht kommen wollen? Warum nicht?« rief Smurow.
»Lieber Junge, das ist meine Sache und nicht deine. Ich gehe aus eigenem Antrieb hin, weil das so mein Wille ist. Aber euch hat alle Alexej Karamasow hingeschleppt, das ist der Unterschied. Und woher weißt du das? Vielleicht gehe ich überhaupt nicht hin, um mich mit ihm zu versöhnen? Ein dummer Ausdruck!«
»Karamasow hat uns überhaupt nicht hingeschleppt, ganz und gar nicht. Die von uns gingen einfach von selbst hin, allerdings zuerst mit Karamasow. Erst ging einer hin, dann ein anderer. Der Vater freute sich schrecklich darüber. Weißt du, er wird glattweg den Verstand verlieren, wenn Iljuscha stirbt. Aber wie er sich freut, daß wir uns mit Iljuscha versöhnt haben! Iljuscha hat nach dir gefragt, aber dann kein Wort weiter gesagt. Er fragte nur und schwieg dann. Aber sein Vater wird den Verstand verlieren oder sich aufhängen. Er hat sich ja auch früher schon wie ein Geistesgestörter benommen. Weißt du, er ist ein anständiger Mensch, und das damals war ein Fehler. An allem ist dieser Vatermörder schuld, der ihn damals geschlagen hat.«
»Trotzdem ist Karamasow für mich ein Rätsel. Ich hätte schon längst mit ihm bekannt sein können, aber ich bin in manchen Fällen gern stolz. Außerdem habe ich mir über ihn eine gewisse Meinung gebildet, die ich erst noch überprüfen und klären muß.«
Kolja schwieg würdevoll, Smurow ebenfalls. Smurow empfand Kolja Krassotkin gegenüber die größte Ehrfurcht und wagte nicht im entferntesten sich mit ihm zu vergleichen. Jetzt aber war sein Interesse lebhaft geworden, weil Kolja erklärt hatte, er gehe aus eigenem Antrieb hin, es steckte gewissermaßen ein Rätsel darin, daß Kolja gerade heute auf den Gedanken gekommen war hinzugeben. Sie gingen über den Marktplatz, wo diesmal viele Fuhren von auswärts standen und viel Geflügel angeboten wurde. Die Marktweiber handelten unter ihren Zeltdächern mit Kringeln, Zwirn und so weiter. Solche Sonntagsmärkte wurden bei uns naiverweise Jahrmärkte genannt, und solche »Jahrmärkte« gab es viele im Jahr. Pereswon lief in der vergnügtesten Stimmung mit, bog jedoch unaufhörlich nach rechts und links ab, um irgendwo an etwas zu riechen. Begegnete er anderen Hunden, beschnüffelte er sich mit ihnen nach allen Regeln der Hunde-Etikette.
»Ich beobachte gern das wirkliche Leben, Smurow«, begann Kolja plötzlich. »Hast du bemerkt, wie die Hunde sich beriechen, wenn sie einander begegnen? Dem liegt ein allgemeines Naturgesetz zugrunde.«
»Ja, ein lächerliches.«
»Lächerlich ist es eigentlich nicht, da hast du unrecht. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, wenn es dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch so scheinen mag. Könnten die Hunde philosophieren und kritisieren, dann würden sie in den gegenseitigen sozialen Beziehungen ihrer Gebieter, der Menschen, sicher ebensoviel finden, was ihnen lächerlich erscheint, wenn nicht weit mehr. Wenn nicht weit mehr, ich wiederhole das, weil ich fest überzeugt bin, daß die Dummheiten bei uns weit zahlreicher sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin, ein beachtenswerter Gedanke. Ich bin Sozialist, Smurow.«
»Was ist das, Sozialist;« fragte Smurow.
»Das ist, wenn alle gleich sind und alle dieselbe Meinung haben, wenn es keine Ehre gibt und die Religion und alle Gesetze so sind, wie es jedem beliebt – na und anderes mehr. Du bist noch nicht alt genug, für dich ist das noch zu früh ... Oh, es ist aber kalt!«
»Ja, zwölf Grad. Mein Vater hat vorhin nach dem Thermometer gesehen.«
»Hast du schon bemerkt, Smurow, daß es einem mitten im Winter, bei fünfzehn oder gar achtzehn Grad, nicht so kalt vorkommt wie zum Beispiel jetzt zu Anfang des Winters, wenn plötzlich die Kälte einsetzt wie jetzt mit zwölf Grad und wenn noch wenig Schnee gefallen ist? Das kommt daher, daß sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt haben. Bei den Menschen ist alles Gewohnheitssache, in jeder Hinsicht, sogar in ihren staatlichen und politischen Beziehungen. Die Gewohnheit ist die wichtigste Triebkraft ... Was ist denn das für ein komischer Bauer?«
Kolja zeigte auf einen hochgewachsenen Bauern mit gutmütigem Gesicht, der in einem Schafpelz neben seiner Fuhre stand und seine in Fausthandschuhen steckenden Hände aneinanderschlug, um sich zu erwärmen. Sein langer blonder Bart war von der Kälte ganz bereift.
»Dem Bauern ist der Bart gefroren!« sagte Kolja tiefsinnig mit lauter Stimme, als sie an ihm vorbeigingen.
»Das ist heute vielen passiert«, antwortete der Bauer ruhig und bedächtig.
»Zieh ihn bloß nicht auf!« bemerkte Smurow.
»Das tut nichts, er wird es nicht übelnehmen, er ist ein guter Mensch. Lebe wohl, Matwej!«
»Lebe wohl!«
»Heißt du denn Matwej?«
»Ja. Hast du das nicht gewußt?«
»Nein, ich hab es aufs Geratewohl gesagt.«
»Na, sieh mal an! Du bist wohl Schüler?«
»Ja.«
»Kriegst du auch Prügel?«
»Nicht allzuviel, nur manchmal.«
»Tut das weh?«
»Ohne das geht es nicht!«
»Ja, ja, so ist es im Leben!« seufzte der Bauer aus tiefstem Herzen.
»Lebe wohl, Matwej!«
»Lebe wohl! Du bist ein liebes Kerlchen, jawohl.« Die Jungen gingen weiter.
»Der war freundlich«, sagte Kolja zu Smurow. »Ich rede gern mit einfachen Leuten, und es macht mir immer Freude, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Warum hast du ihm vorgelogen, daß bei uns geschlagen wird?« fragte Smurow.
»Ich mußte ihm doch ein Vergnügen machen.«
»Inwiefern denn?«
»Siehst du, Smurow, ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nicht gleich versteht und Fragen stellt. Manches kann man einfach nicht klarmachen. Nach Meinung des Bauern bekommt ein Schüler Schläge und muß Schläge bekommen. Was wäre das für ein Schüler, der keine Schläge bekommt, denkt er. Und wenn ich ihm nun auf einmal sage, daß bei uns nicht geschlagen wird, würde ihn das betrüben. Aber du hast dafür kein Verständnis. Man muß es verstehen, mit den einfachen Leuten zu reden.«
»Fang bloß keinen Streit an, sonst kommt am Ende wieder so eine Geschichte heraus wie damals mit der Gans.«
»Hast du Angst?«
»Lach mich nicht aus, Kolja, aber ich habe wirklich Angst. Mein Vater wäre furchtbar böse. Er hat mir streng verboten, mit dir zu gehen.«
»Keine Sorge, diesmal wird nichts passieren ... Guten Tag, Natascha«, rief er einer Händlerin zu, die unter ihrer Markise saß.
»Wie kannst du mich denn Natascha nennen? Ich heiße Marja! schrie die Händlerin, eine ziemlich junge Frau, ärgerlich zurück.
»Das ist schön, daß du Marja heißt. Lebe wohl!«
»Ach, du Taugenichts! So ein Dreikäsehoch, und schon so unverschämt!«
»Ich habe keine Zeit für dich. Nächsten Sonntag kannst du es mir erzählen«, sagte Kolja und winkte ab, als ob sie mit ihm angebunden hätte und nicht er mit ihr.
»Was soll ich dir denn Sonntag erzählen? Du hast selber angefangen, nicht ich, du Rotznase!« kreischte Marja. »Durchprügeln müßte man dich, daß du es weißt! Ein stadtbekannter Frechdachs bist du, daß du es weißt!«
Die anderen Händlerinnen, die mit ihren Waren neben Marja saßen, fingen an zu lachen. Doch plötzlich stürzte aus dem Bogengang, an dem die Läden lagen, ein aufgeregter Mensch mit einem langschößigen, blauen Kaftan und Schirmmütze, jung, mit blondem, lockigem Haar und einem langen, blassen, pockennarbigen Gesicht, wohl eine Art Ladendiener, aber kein einheimischer, sondern einer von auswärts. Er schien ebenso dumm wie aufgeregt zu sein und drohte Kolja sofort mit der Faust.
»Ich kenne dich!« schrie er wütend. »Ich kenne dich!«
Kolja musterte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er mit diesem Menschen Streit gehabt haben sollte. Er hatte freilich unzählige Streitereien auf der Straße gehabt; die alle im Gedächtnis zu behalten war unmöglich.
»Du kennst mich?« fragte er ihn ironisch.
»Ja, ich kenne dich! Ich kenne dich!« wiederholte der Ladendiener wie ein Verrückter.
»Na, dann kannst du dich freuen. Aber ich habe keine Zeit, lebe wohl!«
»Was treibst du für Unfug?« rief der Ladendiener. »Willst du wieder Unfug treiben? Ich kenne dich! Willst du wieder Unfug treiben?«
»Das geht dich gar nichts an, lieber Freund, ob ich Unfug treibe«, erwiderte Kolja, blieb stehen und musterte ihn wieder.
»Wieso soll mich das nichts angehen?«
»Ganz einfach, es geht dich nichts an.«
»Aber wen geht es denn an? Wen geht es an? Na, wen geht es an?«
»Das geht Trifon Nikititsch etwas an, aber nicht dich.«
»Was für einen Trifon Nikititsch?« fragte der Bursche und glotzte Kolja mit dummer Verwunderung und immer noch wütend an. Kolja maß ihn mit seinem würdevollen Blick.
»Bist du zur Himmelfahrt gegangen?« fragte er ihn auf einmal in strengem, nachdrücklichem Ton.
»Zu was für einer Himmelfahrt? Warum? Nein, dahin bin ich nicht gegangen«, erwiderte der Bursche etwas verdutzt.
»Kennst du Trifon Nikititsch Sabanejew?« fuhr Kolja noch nachdrücklicher und strenger fort.
»Was für einen Sabanejew? Nein, den kenne ich nicht.«
»Na, dann hol' dich der Teufel!« schnitt Kolja das Gespräch ab, drehte sich kurz um und ging davon, als wäre es unter seiner Würde, mit so einem Tölpel, der nicht einmal Sabanejew kannte, auch nur zu reden.
»Halt mal, he! Was für einen Sabanejew?« rief der Bursche, als ob er zu sich käme; er war wieder ganz aufgeregt. »Wen hat er eigentlich gemeint?« wandte er sich an die Händlerinnen und sah sie dumm an.
Die Weiber lachten.
»Ein pfiffiger Patron!« sagte eine.
»Von was für einem Sabanejew hat er denn bloß gesprochen?« wiederholte der Bursche; er war immer noch wütend und fuchtelte mit dem rechten Arm.
»Das ist sicher der Sabanejew, der bei Kusmitschews im Dienst stand, der muß wohl gemeint sein«, vermutete eine Frau.
Der Bursche sah sie verblüfft an.
»Bei Kus-mi-tschews?« mischte sich eine andere Frau ein. »Was soll da für ein Trifon gewesen sein? Der da im Dienst stand, hieß Kusma und nicht Trifon, und der Bengel redete von einem Trifon Nikititsch. Also ist der nicht gemeint.«
»Nun seht mal an, der hieß nicht Trifon und nicht Sabanejew; der hieß Tschishow«, fiel auf einmal eine dritte Frau ein, die bisher geschwiegen und mit ernster Miene zugehört hatte. »Der hieß Alexej Iwanowitsch, mit seinem vollen Namen Alexej Iwanowitsch Tschishow.«
»Das ist richtig, er hieß Tschishow«, bestätigte eine vierte energisch.
Der verdutzte Bursche blickte von einer zur anderen.
»Aber warum hat er denn gefragt, liebe Leute: ›Kennst du Sabanejew?‹?« rief er beinahe schon verzweifelt. »Weiß der Teufel, was das für ein Sabanejew ist!«
»Du bist ein Dummkopf! Du hörst, daß es nicht Sabanejew ist, sondern Tschishow. Alexej Iwanowitsch Tschishow, nun weißt du es!« schrie ihm eine Händlerin belehrend zu.
»Was denn für ein Tschishow? Na, was für einer? Sprich, wenn du es weißt!«
»So ein langer, rotznasiger Bursche. Er hat im Sommer hier auf dem Markt gesessen.«
»Was geht mich euer Tschishow an, ihr lieben Leute?«
»Woher soll ich wissen, was dich Tschishow angeht?«
»Wer kann denn wissen, was er dich angeht!«, fiel eine andere ein. »Das mußt du selber wissen, was er dich angeht, wenn du hier so ein Geschrei machst. Er hat es doch zu dir gesagt und nicht zu uns, du dummer Mensch! Oder kennst du ihn wirklich nicht?«
»Wen?«
»Den Tschishow.«
»Der Teufel hole deinen Tschishow und dich dazu! Verprügeln werde ich ihn, nun weißt du es! Er hat sich über mich lustig gemacht!«
»Du willst Tschishow verprügeln? Oder er dich! Ein Dummkopf bist du, nun weißt du es!«
»Nicht Tschishow will ich verprügeln, du boshaftes Weib, sondern den Bengel, nun weißt du es! Gebt ihn nur her! Er hat sich über mich lustig gemacht!«
Die Frauen lachten. Kolja aber lief schon in weiter Entfernung mit der Miene des Siegers. Smurow ging neben ihm und sah sich mehrmals nach der schreienden Gruppe um. Auch er war sehr fröhlich, obwohl er noch immer fürchtete, mit Kolja in irgendeinen Skandal hineinzugeraten.
»Was ist denn das für ein Sabanejew, nach dem du ihn gefragt hast?« fragte er Kolja, dessen Antwort er im voraus ahnte.
»Woher soll ich wissen, was das für einer ist? Jetzt werden sie sich bis zum Abend anschreien. Ich bringe die Dummköpfe in allen Schichten der Gesellschaft in Bewegung. Da steht noch so ein Tölpel, dieser Bauer da. Ach übrigens, man sagt: ›Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen.‹ Aber auch die russische Physiognomie ist ein Spiegel der Seele. Na, steht es diesem Kerl nicht im Gesicht geschrieben, daß er ein Dummkopf ist?«
»Laß ihn in Ruhe, Kolja! Wir wollen weitergehen.«
»Auf keinen Fall werde ich ihn in Ruhe lassen, ich bin jetzt in Fahrt gekommen. Heda! Guten Tag, Bauer!«
Der kräftige Bauer, der langsam an ihnen vorbeiging und wohl schon etwas getrunken hatte, mit rundem, schlichtem Gesicht und graumeliertem Bart, hob den Kopf und blickte das Bürschchen an.
»Na, guten Tag, wenn du nicht bloß Spaß, machst«, antwortete er langsam.
»Und wenn ich nun bloß Spaß mache?« erwiderte Kolja lachend.
»Na, wenn du bloß Spaß machst, auch gut, in Gottes Namen. Da ist nichts dabei, das darf man. Ein Späßchen darf man schon mal machen.«
»Entschuldige, lieber Freund, ich habe wirklich bloß Spaß gemacht.«
»Nun, Gott wird es dir verzeihen.«
»Und du selber, verzeihst du mir?«
»Von Herzen! Geh nur weiter!«
»Sieh mal an, du bist ja am Ende ein ganz verständiger Bauer.«
»Verständiger als du«, lautete die überraschende Antwort, die wie alle bisherigen mit ruhigem Ernst gegeben wurde.
»Das doch wohl kaum«, versetzte Kolja etwas betroffen.
»Es ist bestimmt so, wie ich sage.«
»Na, am Ende ist es wirklich so.«
»Gewiß, mein Lieber!«
»Lebe wohl, Bauer!«
»Lebe wohl!«
»Die Bauern sind doch recht verschieden«, bemerkte Kolja nach einigem Schweigen. »Woher sollte ich aber auch wissen, daß ich da auf einen klugen Menschen stoße? Ich bin immer gern bereit, Klugheit beim einfachen Volk anzuerkennen.«
In der Ferne schlug die Domuhr halb zwölf. Die Jungen beeilten sich und legten den noch ziemlich langen Rest des Weges zur Wohnung des Stabskapitäns Snegirjow schnell und fast schweigend zurück. Zwanzig Schritte vor dem Haus blieb Kolja stehen und forderte Smurow auf, vorauszugehen und Karamasow herauszuschicken.
»Wir müssen uns erst einmal beriechen«, bemerkte er.
»Wozu willst du ihn erst herausrufen lassen?« wandte Smurow ein. »Komm doch einfach mit hinein, sie werden sich sehr freuen. Warum willst du seine Bekanntschaft hier in der Kälte machen?«
»Ich weiß, warum ich ihn hier in der Kälte sprechen will«, schnitt Kolja despotisch jede Widerrede ab (diesem »Kleinen« gegenüber tat er das außerordentlich gern), und Smurow ging hinein, den Auftrag zu erfüllen.
Kolja lehnte sich mit würdevoller Miene an einen Zaun und wartete auf Aljoscha. Er hatte schon seit längerer Zeit gewünscht, mit ihm zusammenzukommen. Von den anderen hatte er viel über ihn gehört, sich jedoch bisher immer geringschätzig und gleichgültig gegeben, wenn die Rede auf Aljoscha kam; ja, er hatte ihn sogar oft »kritisiert«, sobald von ihm berichtet wurde. Aber im stillen trug er ein großes Verlangen, seine Bekanntschaft zu machen: In allen Erzählungen über Aljoscha war etwas gewesen, was ihn sympathisch berührt und angezogen hatte. So war denn der jetzige Augenblick für ihn von großer Bedeutung. Vor allem durfte er sich nicht blamieren, sondern mußte seine geistige Selbständigkeit an den Tag legen. ›Sonst sagt er sich, daß ich erst dreizehn Jahre alt bin, und behandelt mich als kleinen Jungen wie die anderen. Was hat er an diesen kleinen Jungen? Danach will ich ihn fragen, wenn ich mit ihm in Kontakt treten sollte. Unangenehm ist nur, daß ich so klein gewachsen bin. Tusikow ist jünger als ich, aber einen halben Kopf größer. Dafür habe ich ein kluges Gesicht. Ich bin nicht hübsch, ich weiß, daß ich ein häßliches Gesicht habe, aber das Gesicht ist klug. Ich darf mich bloß nicht zu sehr aufknöpfen, sonst kommen gleich Umarmungen, und er könnte denken ... Pfui Teufel, das wäre ja schrecklich, wenn er so etwas denkt ...‹
So regte sich Kolja auf, während er sich nach Kräften bemühte, eine recht selbstbewußte Miene zu machen. Am meisten ärgerte ihn seine kleine Statur, weniger sein »häßliches« Gesicht als vielmehr seine Größe. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahr in einer Ecke an der Wand einen Bleistiftstrich gemacht, der seine Größe angab, und seitdem war er alle zwei Monate in großer Erregung herangetreten, um wieder zu messen, wieviel er gewachsen war. Doch leider wuchs er nur sehr wenig, und das brachte ihn manchmal geradezu zur Verzweiflung. Und sein Gesicht war überhaupt nicht »häßlich«, sondern ziemlich hübsch, weiß, etwas blaß, sommersprossig. Die kleinen, aber lebhaften grauen Augen blickten keck in die Welt und spiegelten oft klar und leuchtend seine innersten Gefühle. Seine Backenknochen waren etwas breit, die Lippen klein, nicht dick, aber sehr rot, die Nase klein und erheblich nach oben gebogen. »Die reinste Stupsnase, die reinste Stupsnase!« murmelte Kolja vor sich hin, wenn er in den Spiegel sah, und ging immer mit einem Gefühl der Entrüstung vom Spiegel weg. ›Ist denn mein Gesicht auch wirklich klug?‹ dachte er manchmal sogar zweifelnd. Man braucht jedoch nicht zu glauben, daß die Sorge um sein Gesicht und um seine Größe ihn ganz ausgefüllt hätte. Nein, so peinlich auch die Augenblicke vor dem Spiegel waren, er vergaß sie schnell wieder, und dann sogar für lange Zeit, da er sich ganz »den Ideen und dem wirklichen Leben« hingab, wie er selbst seine Tätigkeit charakterisierte.
Aljoscha erschien bald und ging rasch auf Kolja zu, der schon aus einiger Entfernung sah, daß Aljoscha ein freudiges Gesicht machte. ›Freut er sich wirklich so über mein Kommen?‹ dachte Kolja froh. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß sich Aljoscha seit der Zeit, da wir ihn verließen, sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte abgelegt und trug jetzt einen gutgearbeiteten Rock, einen weichen, runden Hut und kurzgeschnittenes Haar. Alles dies stand ihm sehr gut, und er sah jetzt geradezu hübsch aus. Sein freundliches Gesicht hatte immer einen heiteren Ausdruck; es war eine stille, ruhige Heiterkeit. Zu Koljas Erstaunen kam Aljoscha zu ihm heraus, wie er im Zimmer gesessen hatte, ohne Überzieher; er hatte sich offensichtlich beeilt. Er reichte Kolja ohne Umstände die Hand.
»Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie alle schon sehnsüchtig erwartet.«
»Mein Ausbleiben hatte seine Gründe, die Sie gleich erfahren werden. Jedenfalls freue ich mich, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe schon längst auf eine Gelegenheit gewartet und viel von ihnen gehört«, murmelte Kolja etwas mühsam.
»Wir hätten uns ja ohnedies kennengelernt. Ich habe auch viel von ihnen gehört. Aber hierher hätten Sie viel früher kommen sollen.«
»Sagen Sie, wie steht es hier?«
»Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird bestimmt sterben.«
»Was sagen Sie! Da müssen Sie doch zugeben, Karamasow, daß dir ärztliche Wissenschaft ein Humbug ist!« rief Kolja erregt.
»Iljuscha hat Sie oft, sehr oft erwähnt, wissen Sie, sogar im Schlaf, beim Phantasieren. Offenbar hat er Sie früher sehr, sehr gemocht ... Vor dieser Geschichte mit dem Messer. Aber da ist auch noch ein anderer Grund ... Sagen Sie, ist das ihr Hund?«
»Ja, er heißt Pereswon.«
»Nicht Shutschka?« Aljoscha sah Kolja bedauernd an. »Der ist wohl ganz und gar verschwunden?«
»Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederhaben möchten, ich habe alles gehört«, erwiderte Kolja mit rätselhaftem Lächeln.
»Hören Sie, Karamasow, ich werde ihnen die ganze Sache auseinandersetzen. Ich bin hauptsächlich zu diesem Zweck gekommen und habe Sie deswegen herausrufen lassen, um ihnen die ganze Geschichte zu erklären, bevor wir hineingehen«, begann er lebhaft. »Sehen Sie, Karamasow, im Frühjahr trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Na, man weiß ja, wie unsere Vorbereitungsklasse beschaffen ist – da sitzen kleine Jungen drin, Kindervolk. Sie fingen sofort an, Iljuscha zu necken. Ich sitze zwei Klassen höher und erlebte das alles nur so aus der Ferne mit, wie etwas, das mich nichts anging. Ich sah, er war ein kleiner, schwächlicher Junge; aber er ließ sich nichts gefallen und prügelte sich sogar mit ihnen, er hatte seinen Stolz, die Augen funkelten ihm nur so. Ich liebe solche Charaktere. Sie trieben es immer schlimmer. Der Hauptgrund war, er trug damals so schlechte Sachen, seine Hosen waren zu klein und die Stiefel zerrissen. Deswegen hänselten sie ihn, es war geradezu entwürdigend. Nein, so etwas kann ich nicht leiden! Ich griff also ein und verabreichte ihnen das Nötige. Ich verprügele sie, und sie vergöttern mich trotzdem, wissen Sie das, Karamasow?« prahlte Kolja mitteilsam. »Und ich mag Kindervolk eigentlich gern leiden. Bei mir zu Hause habe ich jetzt auch zwei solche Knirpse auf dem Hals, die haben mich sogar heute aufgehalten ... Sie hörten also endlich auf, Iljuscha zu schlagen, und ich nahm ihn unter meinen Schutz. Ich sah, daß er stolz war, ich kann ihnen sagen: wie stolz! Schließlich aber unterwarf er sich mir sklavisch, erfüllte alle meine Befehle, gehorchte mir, als ob ich sein Gott wäre, und bemühte sich, mir alles nachzutun. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden kam er immer sofort zu mir, und wir gingen dann zusammen. Ebenso sonntags. Bei uns auf dem Gymnasium spotten sie, wenn ein älterer Schüler so mit einem jüngeren verkehrt, aber das sind veraltete Anschauungen. Ich will es eben so – und damit basta, nicht wahr? Ich belehrte und bildete ihn – sagen Sie selbst, warum soll ich ihn nicht bilden, wenn es mir gefällt? Sie selber, Karamasow, sind ja auch mit diesen Knirpsen in Kontakt getreten, offenbar weil auch Sie auf die junge Generation einwirken, sie bilden und ihr nutzen möchten. Und ich muß gestehen, gerade dieser Zug ihres Charakters, von dem ich erfahren habe, interessiert mich am allermeisten. Zur Sache: ich bemerkte, daß der Junge empfindsam und sentimental wurde – doch ich bin ein Feind aller kalbrigen Zärtlichkeiten, wissen Sie, schon von meiner Geburt an. Und dann diese Widersprüche! Er war stolz und mir trotzdem sklavisch ergeben. Er war mir sklavisch ergeben, und trotzdem funkelten manchmal plötzlich seine Augen, und er wollte mir nicht zustimmen und stritt hartnäckig. Wenn ich ihm manchmal irgendwelche Ideen auseinandersetzte, so sah ich, daß er nicht eigentlich die Ideen bekämpfte, sondern sich geradezu gegen mich persönlich auflehnte, weil ich auf seine Zärtlichkeiten nur kühl antwortete. Um ihn nun zu erziehen, benahm ich mich um so kühler, je zärtlicher er wurde. Ich tat das absichtlich, nach meiner Überzeugung war das richtig. Ich wollte seinen Charakter bilden und festigen, einen Menschen aus ihm machen ... Na, Sie verstehen mich ja auch in Andeutungen. Da bemerkte ich, daß er an einem Tag und auch am folgenden und am dritten ganz verstört war und sich grämte, aber nicht wegen der Zärtlichkeiten, sondern aus irgendeinem anderen, stärkeren Grund. Ich dachte: ›Na, was für eine Tragödie steckt da wohl dahinter?‹ Ich drang in ihn und erfuhr dann auch die Geschichte. Er war irgendwie mit Smerdjakow, dem Diener ihres verstorbenen Vaters, zusammengekommen, und der hatte dem dummen kleinen Kerl einen dummen Streich beigebracht, das heißt einen bestialischen Streich, einen gemeinen Streich: ein Stück Brot zu nehmen, eine Stecknadel hineinzustecken und diesen Bissen einem Hofhund hinzuwerfen, einem jener Hunde, die vor Hunger alles verschlingen, was ihnen hingeworfen wird, und dann aufzupassen, was daraus wird. Sie fabrizierten also einen solchen Bissen und warfen ihn dem struppigen Shutschka hin, um den jetzt so viel Wesens gemacht wird, einem Hofhund, der auf seinem Hof nicht das geringste zu fressen bekam und den ganzen Tag bellte ... Mögen Sie dieses dumme Gebell leiden, Karamasow? Ich kann es nicht ausstehen. Der Hund stürzte sich gierig auf den Bissen, verschlang ihn, winselte, drehte sich ein paarmal um sich selbst und rannte dann davon, er lief und lief und verschwand – so hat es mir Iljuscha selbst geschildert. Er gestand mir die Sache, weinte, umarmte mich und war tief erschüttert. ›Er lief und winselte, er lief und winselte‹, wiederholte er immer wieder. Dieses Bild hatte einen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht! Na, ich sah, daß er Gewissensbisse hatte. Ich nahm die Sache ernst. Hauptsächlich wollte ich ihn auch für das Frühere bestrafen, und daher verstellte ich mich, wie ich gestehen muß, und heuchelte so eine starke Entrüstung, wie ich sie vielleicht gar nicht empfand. ›Du hast eine unwürdige Handlung begangen!‹ sagte ich. ›Du bist ein Schuft, ich werde es natürlich nicht weitersagen, aber bis auf weiteres breche ich den Verkehr mit dir ab. Ich werde über die Sache nachdenken und dich durch Smurow wissen lassen, ob ich in Zukunft die Beziehungen zu dir beibehalte oder dich als Schuft für immer links liegenlasse!‹ Das machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Ich fühlt es gleich damals, daß ich vielleicht zu streng war; zugegeben – doch was sollte ich machen? Mein damaliger Plan verlangte das eben. Am nächsten Tag schickte ich Smurow zu ihm und ließ ihm sagen, daß es zwischen uns ›gespannt‹ sei – so drücken wir uns nämlich aus, wenn zwei Kameraden den Verkehr miteinander abbrechen. Meine geheime Absicht war, ihn nur ein paar Tage lang in dieser peinlichen Lage zu lassen und ihm wieder die Hand zu reichen, wenn ich seine Reue sah. Das war mein fester Vorsatz. Aber was meinen Sie: Als er diese Botschaft vernommen hatte, begannen seine Augen auf einmal zu funkeln: ›Bestell Krassotkin von mir‹, rief er, ›daß ich jetzt allen Hunden Bissen mit Stecknadeln hinwerfen werde, allen!‹ Aha, dachte ich, er ist eigensinnig geworden, den Eigensinn müssen wir ihm austreiben! Und ich fing an, ihm meine vollständige Verachtung zu zeigen; bei jeder Begegnung wandte ich mich von ihm ab oder lächelte ironisch. Und da passierte auf einmal die Sache mit seinem Vater, Sie erinnern sich, die Geschichte mit dem Bastwisch. Sie können sich denken, daß er schon vorher furchtbar nervös geworden war. Als die Kameraden sahen, daß ich mich von ihm abgewandt hatte, fielen sie über ihn her und verhöhnten ihn: ›Bastwisch! Bastwisch!‹ Und dann begannen zwischen ihnen die Kämpfe, die ich schrecklich bedaure, weil sie ihn wohl sehr schmerzhaft verprügelt haben. Einmal stürzte er sich auf dem Hof auf sie, als sie aus den Klassen kamen; ich stand zufällig zehn Schritte entfernt und beobachtete ihn. Und ich schwöre, ich kann mich nicht erinnern, daß ich damals gelacht hätte! Im Gegenteil, er tat mir damals sehr, sehr leid; noch eine Sekunde, und ich wäre hingestürzt, um ihn zu schützen. Doch plötzlich trafen sich unsere Blicke. Was er in meinem zu sehen glaubte, weiß ich nicht – jedenfalls nahm er sein Federmesser heraus, warf sich auf mich und stieß es mir in die Hüfte, hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht; ich bin nämlich manchmal tapfer, Karamasow. Ich sah ihn nur verächtlich an, als wollte ich sagen: Wenn du das zum Dank für meine Freundschaft noch einmal tun willst, stehe ich zu deinen Diensten! Aber er stach nicht zum zweitenmal zu, er konnte es wohl nicht. Er hatte selbst einen Schreck bekommen, warf das Messer hin, fing laut an zu heulen und lief weg. Ich habe selbstverständlich nicht gepetzt und befahl auch allen anderen, darüber zu schweigen, damit es den Lehrern nicht zu Ohren kam; sogar meiner Mutter habe ich es erst gesagt, als alles wieder geheilt war. Außerdem war die Wunde unbedeutend, eine Schramme. Noch am selben Tag hat er dann, wie ich hörte, mit anderen Schülern ein Steinbombardement gehabt und Sie in den Finger gebissen – aber Sie können sich ja selber denken, in welchem Gemütszustand er sich befand! Na, was ist da zu machen? Ich habe mich dumm benommen! Als er krank wurde, ging ich nicht zu ihm, um ihm zu verzeihen, ich wollte sagen, um mich mit ihm zu versöhnen – jetzt bereue ich das. Und inzwischen hatte ich auch schon ganz bestimmte Absichten. So, das ist also die ganze Geschichte ... Ich glaube, ich habe mich wirklich dumm benommen!«
»Wie schade«, rief Aljoscha erregt, »daß ich von ihren Beziehungen zu ihm nicht schon früher gewußt habe! Sonst wäre ich schon längst von selbst zu ihnen gekommen und hätte Sie gebeten, mit mir zusammen zu ihm zu gehen. Ob Sie es glauben oder nicht: in seiner Krankheit, im Fieber, hat er von ihnen phantasiert! Ich wußte nicht, wieviel Sie ihm bedeuten! Und Sie haben diesen Shutschka wirklich nicht gefunden? Sein Vater und alle Kameraden haben in der ganzen Stadt nach ihm gesucht. Wissen Sie, daß er auf seinem Krankenbett in meiner Gegenwart schon dreimal unter Tränen gesagt hat: ›Meine Krankheit kommt daher, Papa, daß ich damals Shutschka getötet habe! Dafür hat Gott mich gestraft.‹ Von diesem Gedanken läßt er sich einfach nicht abbringen! Wenn man jetzt nur diesen Shutschka auftreiben und ihm zeigen könnte, daß er nicht tot ist – so würde er, ich glaube, er würde vor Freude wie neubelebt sein! Wir haben alle auf Sie gehofft!«
»Sagen Sie, warum haben Sie eigentlich gehofft, daß ich Shutschka finden würde? Ich meine, daß gerade ich ihn finden würde?« fragte Kolja neugierig. »Warum haben Sie gerade auf mich gerechnet und nicht auf einen anderen?«
»Es gab ein Gerücht, daß Sie ihn suchen und, sollten Sie ihn finden, zu ihm bringen. Smurow hat so etwas gesagt. Wir geben uns alle Mühe, den Kranken zu überzeugen, daß Shutschka lebt und irgendwo gesehen worden ist. Die Jungen hatten schon ein lebendiges Häschen beschafft; er aber lächelte nur matt und bat, sie möchten es wieder aufs Feld bringen. Das haben wir denn auch getan. Eben ist sein Vater nach Hause gekommen und hat ihm einen jungen Bullenbeißer mitgebracht, den er ebenfalls irgendwo beschafft hat. Er dachte, ihn damit zu trösten, aber sein seelischer Zustand scheint dadurch nur noch schlimmer geworden zu sein.«
»Noch eins, Karamasow. Was für ein Mensch ist sein Vater? Ich kenne ihn, aber was ist er nach ihrem Urteil: ein Possenreißer, ein Hanswurst?«
»O nein. Es gibt tiefempfindende Menschen, die jedoch vom Schicksal niedergedrückt worden sind. Ihre Possenreißerei ist eine Art boshafter Ironie denen gegenüber, denen sie aus einer langjährigen, erniedrigenden Furcht die Wahrheit nicht ins Gesicht zu sagen wagen. Glauben Sie, Krassotkin, so eine Possenreißerei ist manchmal höchst tragisch. Für ihn konzentrieren sich jetzt alle Interessen, die er auf der Welt hat, in der Person Iljuschas, und wenn Iljuscha stirbt, wird er entweder den Verstand verlieren oder sich das Leben nehmen. Davon bin ich beinahe überzeugt, wenn ich ihn mir jetzt ansehe!«
»Ich verstehe Sie, Karamasow. Ich sehe, Sie sind ein Menschenkenner«, sagte Kolja nicht ohne Ergriffenheit.
»Als ich Sie eben mit dem Hund sah, dachte ich, Sie bringen diesen Shutschka.
»Warten Sie nur, Karamasow, vielleicht werden wir ihn noch finden. Das hier ist Pereswon. Ich werde ihn jetzt ins Zimmer lassen und Iljuscha durch ihn vielleicht mehr erfreuen als durch den kleinen Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasow, Sie sollen gleich noch etwas erfahren ... Ach, mein Gott, wie kann ich Sie nur so aufhalten!« rief Kolja plötzlich eifrig. »Sie sind ja nur im Rock bei dieser Kälte, und ich halte Sie auf! Da sehen Sie, was ich für ein Egoist bin! Oh, wir alle sind Egoisten, Karamasow!«
»Beunruhigen Sie sich nicht. Allerdings ist es kalt, doch ich erkälte mich nicht so leicht. Aber wollen wir nicht hineingehen. Übrigens, wie ist ihr Name? Ich weiß, daß Sie Kolja heißen, aber wie weiter?«
»Nikolai lwanowitsch Krassotkin oder wie es offiziell auf dem Gymnasium lautet: Schüler Krassotkin«, erwiderte Kolja lachend, und dann fügte er plötzlich hinzu: »Ich hasse den Namen Nikolai.«
»Warum denn?«
»Er ist so trivial, so allgemein üblich,«
»Sie sind dreizehn Jahre alt?« fragte Aljoscha.
»Das heißt vierzehn, in zwei Wochen werde ich vierzehn, also sehr bald. Ich will ihnen gleich von vornherein eine Schwäche gestehen, Karamasow – das soll der Anfang unserer Bekanntschaft sein, damit Sie gleich mit einemmal mein ganzes Wesen kennenlernen. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nach meinem Alter fragt; und der Ausdruck ›nicht leiden können‹ ist dabei eigentlich noch viel zu schwach ... Und ferner ... Da wird zum Beispiel über mich die Verleumdung verbreitet, ich hätte in der vorigen Woche mit den Vorschülern ›Räuber‹ gespielt. Daß ich gespielt habe, ist eine Tatsache; doch daß ich um meinetwillen gespielt hätte, um mir selbst dadurch ein Vergnügen zu bereiten, ist eine Verleumdung. Ich habe Grund zu glauben, daß dies auch ihnen zu Ohren gekommen ist. Ich habe aber nicht um meinetwillen gespielt, sondern um der Kinder willen, weil sie ohne meine Hilfe keine Einfälle hatten. Bei uns werden immer solche albernen Gerüchte ausgesprengt. Unsere Stadt ist ein richtiges Klatschnest, glauben Sie mir.«
»Und selbst wenn Sie zu ihrem eigenen Vergnügen gespielt hätten – was wäre denn dabei?«
»Na, zu meinem eigenen Vergnügen ... Sie werden doch nicht Pferdchen spielen wollen?«
»Betrachten Sie doch die Sache einmal so«, erwiderte Aljoscha lächelnd. »Die Erwachsenen gehen ins Theater. Im Theater werden ebenfalls die Abenteuer aller möglichen Helden dargestellt, und manchmal kommen dabei auch Räuber und Krieg vor, ist das in seiner Art nicht dasselbe? Und wenn die jungen Leute in den Unterrichtspausen Krieg oder Räuber spielen, dann ist das auch in der Entwicklung begriffene Kunst, ein erwachendes Kunstbedürfnis. Und diese Spiele sind manchmal sogar besser arrangiert als die Vorstellung im Theater. Der Unterschied besteht nur darin, daß man ins Theater geht, um Schauspieler zu sehen, während hier die jungen Leute selbst die Schauspieler sind. Aber das macht die Sache erst recht natürlich.«
»Denken Sie so darüber? Ist das ihre Überzeugung?« sagte Kolja und sah ihn unverwandt an. »Wissen Sie, Sie haben da einen sehr interessanten Gedanken ausgesprochen. Wenn ich jetzt nach Hause komme, werde ich ihn durchdenken. Ich muß gestehen, ich hatte auch erwartet, daß ich von ihnen manches lernen kann ... Ich bin gekommen, um von ihnen zu lernen, Karamasow«, schloß Kolja aufrichtig und offenherzig.
»Und ich von ihnen«, erwiderte Aljoscha lächelnd und drückte ihm die Hand.
Kolja war mit Aljoscha höchst zufrieden. Es gefiel ihm sehr, daß dieser mit ihm auf gleichem Fuß verkehrte und mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach.
»Ich werde ihnen gleich ein Kunststück zeigen, Karamasow! Auch eine Theatervorstellung«, sagte er nervös lachend. »Zu diesem Zweck bin ich hergekommen.«
»Wir wollen zuerst zu den Wirtsleuten gehen, dort haben ihre Kameraden ihre Mäntel gelassen, weil es in der anderen Stube eng und heiß ist.«
»Oh, ich bin nur für einen Augenblick gekommen, ich werde den Mantel anbehalten und so dasitzen. Pereswon wird hier auf dem Flur bleiben und sterben. Ici, Pereswon, leg dich und stirb! – Sehen Sie, nun ist er gestorben ... Ich will erst einmal hineingehen und mir die Situation ansehen, und dann, wenn der richtige Moment da ist, werde ich pfeifen, und Sie werden sehen, Pereswon wird sofort wie toll hereingestürmt kommen. Nur darf Smurow nicht vergessen, rechtzeitig die Tür aufzumachen. Nun, ich werde schon alles arrangieren, und Sie werden ein famoses Kunststück sehen ...«
In der uns bereits bekannten Stube, in der die Familie des Stabskapitäns a. D. Snegirjow wohnte, war es in diesem Augenblick infolge des zahlreichen Besuchs schwül und eng. Eine ganze Anzahl Jungen saßen diesmal bei Iljuscha, und obgleich sie alle sowie Smurow bestritten hätten, daß Aljoscha sie hergebracht und mit Iljuscha versöhnt habe, war es doch so. Seine ganze Kunst hatte in diesem Fall darin bestanden, daß er sie nacheinander zu Iljuscha geführt hatte, ohne »kalbrige Zärtlichkeiten« und anscheinend ganz unabsichtlich und zufällig. Dem Kranken hatte dies eine große Erleichterung gebracht. Er war gerührt, als er die beinahe zärtliche Teilnahme und Freundschaft aller dieser seiner früheren »Feinde« sah. Nur Krassotkin fehlte noch, und das lag ihm wie eine schwere Last auf dem Herzen. Wenn in Iljuschetschkas Erinnerungen etwas besonders Bitteres war, so dieser Vorfall mit Krassotkin, seinem früheren einzigen Freund und Beschützer, auf den er sich mit dem Messer gestürzt hatte. So dachte auch der kluge Knabe Smurow; er war als erster zu Iljuscha gekommen, um sich mit ihm zu versöhnen. Krassotkin selbst hatte allerdings, als Smurow ihm andeutete, Aljoscha wolle »in einer gewissen Angelegenheit« zu ihm kommen, sogleich kurz abgebrochen und den Plan zunichte gemacht, indem er Karamasow bestellen ließ, er, Krassotkin, wisse selber, was er zu tun habe; er bitte niemanden um Rat und werde schon selber den richtigen Zeitpunkt wählen, wenn er zu dem Kranken gehen wolle: er habe »seinen eigenen Plan«. Das war etwa zwei Wochen vor diesem Sonntag. Hierin war auch der Grund zu suchen, weshalb Aljoscha nicht selbst zu ihm gegangen war, wie er anfänglich beabsichtigt hatte. Statt dessen hatte er den kleinen Smurow noch einmal und dann noch einmal zu Krassotkin geschickt. Aber diese beiden Male hatte Krassotkin schon mit einer sehr schroffen Absage geantwortet und Aljoscha bestellen lassen, sollte er ihn persönlich abholen kommen, würde das bewirken, daß er dann überhaupt nie zu Iljuscha gehen würde; man möge ihn also nicht weiter belästigen. Sogar kurz vorher hatte Smurow noch nicht gewußt, daß Kolja sich entschlossen hatte, an diesem Vormittag zu Iljuscha zu gehen. Erst am Abend zuvor hatte Kolja, als er sich von Smurow verabschiedete, auf einmal in barschem Ton gesagt, er solle am nächsten Vormittag zu Hause auf ihn warten, da er mit ihm zusammen zu Snegirjows gehen wolle; er solle sich aber nicht unterstehen, jemand von seinem bevorstehenden Besuch zu benachrichtigen; denn er wolle überraschend kommen. Smurow hatte gehorcht. Die Hoffnung, daß Kolja den verschollenen Shutschka mitbringen würde, hegte Smurow auf Grund einiger flüchtig hingeworfener Bemerkungen Koljas: »Sie sind sämtlich Esel, wenn sie einen Hund nicht auffinden können, falls er überhaupt noch am Leben ist!« Als jedoch Smurow bei einer passenden Gelegenheit seine Vermutung wegen des Hundes Krassotkin gegenüber schüchtern angedeutet hätte, war dieser plötzlich furchtbar ärgerlich geworden: »Wie werde ich denn so ein Esel sein, fremde Hunde in der ganzen Stadt zu suchen, wenn ich meinen Pereswon habe? Kann man denn überhaupt glauben, daß ein Hund, der eine Stecknadel verschluckt hat, am Leben geblieben ist? Eine rührselige Idee, weiter nichts!«
Iljuscha hatte inzwischen sein Bett in der Ecke bei den Heiligenbildern schon zwei Wochen fast nicht mehr verlassen. Zur Schule war er seit jenem Tag nicht mehr gegangen, da er Aljoscha in den Finger gebissen hatte. Von da an hatte er gekränkelt, wenn er auch noch etwa einen Monat lang ab und zu aufstehen und ein wenig in der Stube und auf dem Flur umhergehen konnte. Zuletzt war er ganz kraftlos geworden, so daß er sich ohne Hilfe des Vaters nicht mehr bewegen konnte. Der Vater zitterte um ihn, hatte sogar aufgehört zu trinken und war beinahe wahnsinnig vor Angst, daß sein Sohn sterben könnte. Wenn er ihn manchmal am Arm in der Stube umhergeführt und dann wieder aufs Bett gelegt hatte, lief er plötzlich auf den Flur hinaus, stellte sich in eine dunkle Ecke, lehnte sich mit der Stirn gegen die Wand, weinte und schluchzte in eigentümlich hohen Tönen, wobei er sich jedoch Mühe gab, seine Stimme zu unterdrücken, damit Iljuschetschka sein Schluchzen nicht hörte.
Wenn er dann in die Stube zurückkehrte, versuchte er gewöhnlich, seinen lieben Jungen irgendwie zu zerstreuen und zu trösten, er erzählte ihm Märchen und komische Anekdoten oder stellte allerlei lächerliche Menschen dar, mit denen er einmal zusammengetroffen war, ja er ahmte sogar Tiere nach, wie sie heulten oder schrien. Aber Iljuscha hatte es nicht gern, wenn sein Vater Grimassen schnitt und sich zum Hanswurst machte. Der Junge suchte zwar zu verbergen, daß ihm das unangenehm war; aber er war sich schmerzlich dessen bewußt, daß sein Vater in der Gesellschaft degradiert war, und mußte immer unwillkürlich an den »Bastwisch« und jenen schrecklichen Tag denken. Ninotschka, Iljuschetschkas gelähmte, sanfte Schwester, mochte es ebenfalls nicht, wenn der Vater Possen trieb; Warwara NikoIajewna war schon längst wieder nach Petersburg zurückgekehrt, um weiterzustudieren; die schwachsinnige Mama dagegen amüsierte sich sehr und lachte von ganzem Herzen, wenn ihr Mann anfing, irgend etwas vorzuspielen oder irgendwelche komischen Gebärden zu machen. Das war das einzige, wodurch sie sich aufheitern ließ; die ganze übrige Zeit weinte und klagte sie, alle Menschen hätten sie jetzt vergessen, niemand achte sie, man beleidige sie, und so weiter und so fort. Doch in den allerletzten Tagen schien auch mit ihr plötzlich eine Veränderung vorgegangen zu sein. Sie schaute häufig in die Ecke nach Iljuscha und war nachdenklich geworden. Sie war jetzt viel stiller, und wenn sie weinte, dann leise, um nicht gehört zu werden. Der Stabskapitän hatte traurig und verwundert diese Veränderung wahrgenommen. Die Besuche der Kameraden hatten ihr anfangs mißfallen und sie nur geärgert; aber dann zerstreuten sie das lustige Geschrei und die Erzählungen der Kinder und gefielen ihr jetzt so sehr, daß sie sich schrecklich gegrämt hätte, wären die Jungen nicht mehr gekommen. Wenn die Kinder etwas erzählten oder spielten, lachte sie und klatschte in die Hände. Manche von ihnen rief sie zu sich heran und küßte sie. Den kleinen Smurow hatte sie besonders liebgewonnen. Den Stabskapitän hatten die Besuche der Kinder gleich von Anfang an froh und glücklich gestimmt, er hatte sogar Hoffnung geschöpft, Iljuscha könnte nun aufhören, traurig zu sein, und infolgedessen vielleicht schneller wieder gesund werden. Trotz aller Angst um Iljuscha hatte er bis zuletzt keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sein Sohn plötzlich genesen würde. Er empfing die kleinen Besucher ehrerbietig, war ihnen gegenüber betulich und diensteifrig und ließ sie auf seinem Rücken reiten; Iljuscha gefielen diese Spiele jedoch nicht, und so wurden sie wieder aufgegeben. Er kaufte für sie allerlei Leckereien wie Pfefferkuchen und Nüsse, bewirtete sie mit Tee und strich ihnen Butterbrote. Er litt in dieser Zeit übrigens keinen Mangel an Geld. Die zweihundert Rubel von Katerina Iwanowna hatte er angenommen, wie es Aljoscha vorausgesagt hatte. Und als Katerina Iwanowna schließlich Näheres über die Lage der Familie und über Iljuschas Krankheit erfahren hatte, war sie selbst zu einem Besuch in die Wohnung gekommen, hatte sich mit der ganzen Familie bekannt gemacht und sogar die schwachsinnige Mutter zu bezaubern vermocht. Seitdem hatte sie mit Unterstützungen nicht gegeizt, und der Stabskapitän selbst, bedrückt durch den schrecklichen Gedanken, sein Sohn könnte sterben, hatte seine früheren Bedenken über eine mögliche Verletzung seiner Ehre vergessen und nahm die Gaben willig an. Die ganze Zeit hatte Doktor Herzenstube auf Katerina Iwanownas Veranlassung den Kranken ständig besucht, und zwar pünktlich jeden Tag. Nutzen brachten seine Besuche allerdings nur wenig, obgleich er den Patienten mit Arzneien vollstopfte. Dafür wurde an diesem Sonntagvormittag beim Stabskapitän ein neuer Arzt erwartet, der aus Moskau gekommen war, wo er als Kapazität galt. Katerina Iwanowna hatte ihn für eine große Summe extra aus Moskau kommen lassen – nicht um Iljuschas willen, sondern zu einem anderen Zweck, von dem später noch die Rede sein wird; da er aber nun einmal da war, hatte sie ihn gebeten, auch Iljuschetschka zu besuchen, und den Stabskapitän im voraus davon benachrichtigt. Von Kolja Krassotkins Kommen hingegen hatte der Stabskapitän nicht die geringste Ahnung, obgleich er schon lange wünschte, daß dieser Junge, der eine Ursache für Iljuschetschkas Kummer war, endlich kam. In dem Augenblick, als Krassotkin die Tür öffnete und in der Stube erschien, standen alle dicht gedrängt um das Bett des Kranken und betrachteten einen winzig kleinen jungen Bullenbeißer, den der Vater soeben mitgebracht hatte; er war erst am vorigen Tag geboren, doch der Stabskapitän hatte ihn schon vor einer Woche bestellt, um Iljuschetschka zu zerstreuen und zu trösten, der dauernd dem verschwundenen und sicherlich schon toten Shutschka nachtrauerte. Iljuscha, der schon vor drei Tagen gehört hatte, daß er ein kleines Hündchen geschenkt bekommen würde, und zwar kein gewöhnliches, sondern einen echten Bullenbeißer, zeigte zwar aus Zartgefühl, daß er sich über das Geschenk freute, aber alle spürten deutlich, daß das neue Hündchen vielleicht nur noch stärker die Erinnerung an den unglücklichen Shutschka wachrief. Das Hündchen lag neben ihm auf dem Bett und krabbelte herum, und er streichelte es, schmerzlich lächelnd, mit seinen blassen, abgemagerten Händchen; man konnte sogar sehen, daß ihm das Hündchen gefiel, aber ... Shutschka war es doch nicht, es war doch nicht Shutschka! Ja, wenn Shutschka und das Hündchen zusammen ... Dann wäre das Glück vollkommen gewesen.«
»Krassotkin!« rief plötzlich einer, der den eintretenden Kolja zuerst erblickt hatte. Es entstand eine merkliche Erregung; die Jungen traten auseinander und stellten sich an beide Seiten des Bettes, so daß Iljuschetschka auf einmal frei zu sehen war.
Der Stabskapitän stürzte dem Ankömmling eifrig entgegen.
»Treten Sie näher, treten Sie näher ... teurer Gast!« stammelte er. »Iljuschetschka, Herr Krassotkin ist zu dir gekommen ...«
Doch Krassotkin bewies, nachdem er dem Stabskapitän rasch die Hand gegeben hatte, unverzüglich seine Kenntnis der Umgangsformen. Er wandte sich mit einer korrekten Verbeugung zuerst an die Gattin des Stabskapitäns, die auf ihrem Lehnstuhl saß und gerade in diesem Augenblick sehr unzufrieden war und darüber murrte, daß die Jungen Iljuschas Bett umlagerten und sie hinderten, das neue Hündchen zu sehen. Dann verbeugte er sich auch vor Ninotschka wie vor einer Dame. Dieses höfliche Benehmen machte auf die kranke Dame einen außerordentlich angenehmen Eindruck.
»Da sieht man doch gleich, daß es ein gut erzogener junger Mann ist«, sagte sie laut. »Aber unsere übrigen Gäste, die kommen einer auf dem anderen herein.«
»Wieso denn einer auf dem anderen, Mamachen, wie meinst du das?« fragte der Stabskapitän zwar freundlich, aber doch ein bißchen besorgt um »Mamachen«.
»Ja, so kommen sie hereingeritten. Auf dem Flur setzt sich einer dem anderen auf die Schulter und reitet so zu einer anständigen Familie herein. Wie kann ein Gast sich so benehmen?«
»Wer ist denn so hereingeritten, Mamachen?«
»Dieser hier ist heute auf diesem hereingeritten und jener auf jenem ...«
Aber Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Der Kranke war sichtlich blaß geworden. Er richtete sich auf und blickte starr und unverwandt Kolja an. Dieser hatte seinen früheren kleinen Freund etwa zwei Monate nicht gesehen und stand nun ganz bestürzt vor ihm; er hatte nicht geahnt, daß er so ein abgemagertes, gelb gewordenes Gesicht, so fieberhaft brennende und schrecklich groß scheinende Augen, so ausgemergelte Hände zu sehen bekommen würde. Mit traurigem Staunen bemerkte er, daß Iljuscha tief und hastig atmete und ganz trockene Lippen hatte. Er reichte ihm die Hand und sagte beinahe fassungslos: »Nun, Alter ... Wie geht es dir?«
Die Stimme versagte ihm, er vermochte den ungezwungenen Ton nicht beizubehalten, sein Gesicht verzog sich plötzlich, und um seine Lippen zuckte es. Iljuscha lächelte ihm schmerzlich zu; er war noch immer nicht imstande, ein Wort zu sagen. Kolja hob plötzlich die Hand und strich mit der Handfläche über Iljuschas Haar.
»Na, das ... macht ... nichts!« flüsterte er ihm zu, teils, um ihn zu ermutigen, teils, ohne selbst recht zu wissen, warum er das sagte. Ein Weilchen schwiegen beide.
»Was ist denn das? Du hast ja einen neuen kleinen Hund?« fragte Kolja plötzlich in völlig teilnahmslosem Ton.
»Ja-a-a!« antwortete Iljuscha gedehnt und flüsternd; er konnte kaum atmen.
»Er hat eine schwarze Nase, also gehört er zu den bösen Hunden, zu den Kettenhunden«, bemerkte Kolja wichtig mit fester Stimme, als ging es jetzt um nichts anderes als um den kleinen Hund und seine schwarze Nase. Aber die Hauptsache war, daß er sich immer noch bemühte, seine Rührung zu unterdrücken, um nicht wie ein »kleiner Junge« loszuweinen, ihrer aber immer noch nicht Herr werden konnte. »Wenn er heranwächst, wird er an die Kette müssen, ich verstehe mich darauf.«
»Er wird riesengroß!« rief einer aus dem Schwarm.
»Das ist bekannt. Ein Bullenbeißer, das ist ein riesiges Tier, so groß wie ein Kalb!« riefen mehrere durcheinander.
»So groß wie ein Kalb, wie ein richtiges Kalb!« fiel der Stabskapitän ein, der schnell hinzugesprungen war. »Ich habe absichtlich so einen ausgesucht, einen recht bösen, und auch seine Eltern sind riesige, böse Tiere, so hoch vom Fußboden ... Aber setzen Sie sich doch bitte. Hier, auf das Bett zu Iljuscha oder auch hier auf die Bank! Bitte schön, Sie teurer, lang erwarteter Gast ... Sind Sie mit Alexej Fjodorowitsch zusammen gekommen?«
Krassotkin setzte sich auf Iljuschas Bett, an das Fußende. Obgleich er sich unterwegs gewiß überlegt hatte, wie er das Gespräch ungezwungen beginnen könnte, hatte er jetzt gänzlich den Faden verloren.
»Nein ... Ich bin mit Pereswon gekommen ... Ich habe jetzt so einen Hund, Pereswon. Das ist ein altslawischer Name. Er wartet draußen ... Wenn ich pfeife, kommt er hereingelaufen ... Ich bin auch mit einem Hund gekommen«, wandte er sich auf einmal an Iljuscha, »denkst du noch an Shutschka, Alter?« Die Frage wirkte auf Iljuscha wie ein Schlag auf den Kopf. Sein Gesicht verzerrte sich; er blickte mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes Kolja an. Aljoscha, der an der Tür stand, machte ein finsteres Gesicht und winkte Kolja verstohlen, er möchte nicht von Shutschka reden, doch der bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.
»Wo ist denn ... Shutschka?« fragte Iljuscha mit versagender Stimme.
»Na, Bruder, dein Shutschka ist flötengegangen! Dein Shutschka ist krepiert!«
Iljuscha schwieg, sah aber Kolja noch einmal eindringlich an.
Aljoscha fing einen Blick Koljas auf und winkte ihm wieder aus Leibeskräften, der aber tat, als ob er es nicht bemerkt hätte.
»Der ist weggelaufen und krepiert. Wie sollte er auch nach so einem Bissen nicht krepieren«, fuhr Kolja erbarmungslos fort, atmete jedoch dabei selbst aus irgendeinem Grund mühsam. »Ich habe dafür Pereswon ... Das ist ein altslawischer Name ... Ich habe ihn dir mitgebracht ...«
»Ich möchte ihn nicht sehen«, sagte Iljuschetschka plötzlich.
»Doch, doch, du sollst ihn sehen, du mußt ihn unbedingt sehen ... Er wird dir Freude machen. Ich habe ihn absichtlich mitgebracht ... Er ist genauso struppig wie der andere ... Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich meinen Hund rufe?« wandte er sich an Frau Snegirjowa; er befand sich jetzt in unbegreiflicher Erregung.
»Ich möchte ihn nicht sehen, ich möchte ihn nicht sehen!« rief Iljuscha schmerzerfüllt. Seine brennenden Augen blickten, vorwurfsvoll.
»Möchten Sie nicht ...«, rief plötzlich der Stabskapitän und sprang auf, »möchten Sie nicht ... zu anderer Zeit ...«
Aber Kolja bestand hartnäckig auf seinem Willen, rief eilig Smurow zu: »Smurow, mach die Tür auf!« und pfiff dann laut auf seiner Pfeife. Pereswon stürmte hastig herein.
»Spring, Pereswon! Steh!« schrie Kolja, und der Hund stellte sich auf die Hinterfüße und machte vor Iljuschas Bett Männchen. Da geschah etwas, was niemand erwartet hatte; Iljuscha fuhr zusammen, beugte plötzlich heftig den ganzen Oberkörper nach vorn zu Pereswon und blickte ihn, starr vor Staunen, an.
»Das ... ist Shutschka« schrie er auf einmal; und die Stimme zitterte ihm vor Schmerz und Glückseligkeit.
»Wer soll es denn sonst sein?«schrie Krassotkin aus voller Kehle mit heller Stimme; dann bückte er sich zu dem Hund hinunter, packte ihn und hob ihn zu Iljuscha hinauf.
»Sieh nur, Alter, sieh her! Das eine Auge ist ausgelaufen, und das linke Ohr ist eingerissen! Genau die Merkmale, die du mir angegeben hast. Nach diesen Merkmalen habe ich ihn auch gefunden. Ich habe ihn gleich damals gefunden, sehr bald. Er gehörte ja niemandem!« fügte er zur Erläuterung hinzu, wobei er sich schnell zu dem Stabskapitän, zu dessen Gattin, zu Aljoscha und dann wieder zu Iljuscha wandte. »Er lebte bei Fedotows auf dem Hinterhof, wollte sich da heimisch machen. Aber die gaben ihm nichts zu fressen, er war ja aus irgendeinem Dorf weggelaufen ... So machte ich ihn also ausfindig... Siehst du, Alter, er hat deinen Bissen damals offenbar gar nicht hintergeschlungen. Hätte er ihn hintergeschlungen, wäre er natürlich gestorben, das ist sicher. Da er jetzt noch lebt, hat er ihn offenbar noch rechtzeitig ausgespuckt. Du hast es bloß nicht bemerkt, daß er ihn ausgespuckt hat. Er hat ihn ausgespuckt und sich dabei in die Zunge gestochen, darum hat er damals gewinselt. Er lief davon und winselte, und du dachtest, er hätte den Bissen verschluckt. Er mußte so sehr winseln, denn ein Hund hat eine zarte Haut im Mund ... zarter als der Mensch, viel zarter!« rief Kolja in höchster Erregung, und sein Gesicht glühte und strahlte nur so.
Iljuscha konnte gar nicht reden. Mit großen Augen und offenem Mund sah er Kolja an; er war bleich wie Leinen. Wenn der ahnungslose Krassotkin gewußt hätte, welche Qual dieser Augenblick dem kranken Kameraden bereitete, ja daß er ihm tödlich werden konnte, hätte er sich um keinen Preis entschlossen, ein Stückchen wie dieses auszuführen. Doch von den Anwesenden war Aljoscha vielleicht der einzige, der das begriff. Der Stabskapitän schien sich förmlich in einen kleinen Jungen verwandelt zu haben.
»Shutschka! Also das ist Shutschka!« schrie er ganz selig. »Iljuschetschka, das ist Shutschka, dein Shutschka! Mamachen, das ist Shutschka!«
Er fing beinahe zu weinen an.
»Und ich bin nicht darauf gekommen!« rief Smurow betrübt. »Nein, dieser Krassotkin! Ich habe es gleich gesagt, daß er Shutschka findet – und er hat ihn auch wirklich gefunden!«
»Er hat ihn wirklich gefunden!« wiederholte einer der Jungen fröhlich.
»Ein Prachtkerl, der Krassotkin!« rief ein dritter.
»Ein Prachtkerl, ein Prachtkerl! »riefen alle und klatschten Beifall.
»Wartet mal, wartet mal!« bemühte sich Krassotkin alle zu überschreien. »Ich will euch erzählen, wie es zugegangen ist – nur darin liegt ja der Witz, wie es zugegangen ist! Also als ich ihn gefunden hatte, schleppte ich ihn zu mir nach Hause, versteckte ihn hinter Schloß und Riegel und zeigte ihn bis zum letzten Tag niemandem. Nur Smurow erfuhr vor zwei Wochen von ihm; aber ich redete ihm ein, es sei Pereswon, und er erriet die Wahrheit nicht. Und in der Zwischenzeit hatte ich dem Hund allerlei Kunststücke beigebracht, seht nur, was er alles kann! Meine Absicht war, Alter, ihn dir wohldressiert und gut genährt zu bringen und zu sagen: ›Sieh mal, Alter, wie sich dein Shutschka jetzt macht!‹ Habt ihr hier nicht ein Stückchen Fleisch? Dann wird er euch gleich ein Kunststück vormachen, daß ihr vor Lachen umfallt ... Ein Stückchen Fleisch! Na, ist denn keins da?«
Der Stabskapitän lief eilfertig über den Flur in die Stube der Wirtsleute, wo auch für seine Familie das Essen gekocht wurde. Kolja aber rief, um keine kostbare Zeit zu verlieren, inzwischen dem Hund in aller Eile zu: »Stirb!« Und dieser drehte sich plötzlich um, legte sich auf den Rücken und lag wie tot da, alle vier Pfoten nach oben. Die Jungen lachten; Iljuscha sah mit seinem schmerzlichen Lächeln zu, und am meisten amüsierte sich »Mamachen«, daß Pereswon gestorben war. Sie lachte laut und rief: »Pereswon, Pereswon!«
»Um keinen Preis wird er aufstehen, um keinen Preis!« rief Kolja triumphierend. »Die ganze Welt könnte ihn rufen! Nur wenn ich ihn rufe, springt er auf! Ici, Pereswon!«
Der Hund sprang auf und vollführte, vor Freude winselnd, die tollsten Sprünge. Der Stabskapitän kam mit einem Stück Fleisch herein.
»Ist es auch nicht zu heiß?« fragte Kolja, als er den gekochten Bissen in Empfang nahm. »Nein, es ist nicht zu heiß. Die Hunde mögen nämlich nichts Heißes. Jetzt seht alle her! Iljuschetschka, so sieh doch her, sieh her, Alter! Warum siehst du denn nicht her? Nun habe ich ihm den Hund mitgebracht, und er sieht nicht her!«
Das neue Kunststück bestand darin, daß dem Hund das appetitliche Stückchen Fleisch auf die Nase gelegt wurde. Der unglückliche Köter mußte so lange bewegungslos mit dem Bissen auf der Nase dastehen, wie sein Herr befahl; er durfte sich nicht rühren, selbst wenn es eine halbe Stunde dauerte. Aber Pereswon brauchte diesmal nur eine knappe Minute auszuhalten.
»Faß!« rief Kolja, und sofort flog der Bissen von der Nase in Pereswons Schnauze.
Das Publikum drückte selbstverständlich sein begeistertes Staunen aus.
»Und Sie sind wirklich die ganze Zeit nicht hergekommen, nur um den Hund abzurichten?« rief Aljoscha mit unwillkürlichem Vorwurf.
»Genau deswegen!« rief Kolja harmlos. »Ich wollte ihn in seinem ganzen Glanz präsentieren.«
»Pereswon! Pereswon!« lockte Iljuscha und schnipste dabei mit seinen mageren Fingern.
»Du brauchst ihn nicht erst zu locken. Er soll von selbst zu dir aufs Bett springen. Ici, Pereswon!« rief Kolja und klopfte mit der flachen Hand auf das Bett.
Und Pereswon flog wie ein Pfeil zu Iljuscha hinauf. Dieser umschlang hastig seinen Kopf, und Pereswon leckte ihm zum Dank die Backe. Iljuschetschka schmiegte sich an ihn, streckte sich wieder auf seinem Bett aus und verbarg sein Gesicht in dem struppigen Fell des Tieres.
»O Gott, o Gott!« rief der Stabskapitän.
Kolja setzte sich wieder zu Iljuscha aufs Bett.
»Iljuscha, ich kann dir noch ein Kunststück zeigen. Ich habe dir eine kleine Kanone mitgebracht. Erinnerst du dich, ich habe dir schon damals von ihr erzählt, und du hast gesagt: ›Ach, die möchte ich gern mal sehen!‹ Na, da habe ich sie eben mitgebracht!«
Und Kolja holte die kleine Bronzekanone aus seiner Büchertasche. Er beeilte sich, weil er selbst schon sehr glücklich war; zu anderer Zeit hätte er gewartet, bis der erste Eindruck über Pereswon vorüber war, doch jetzt verschmähte er jeden Aufschub und sagte sich: ›Wenn ihr schon durch das Bisherige so glücklich seid, sollt ihr noch glücklicher werden!‹ Er selbst war schon geradezu berauscht.
»Ich hatte dieses Ding schon vor längerer Zeit bei dem Beamten Morosow gesehen und für dich in Aussicht genommen, Alter. Bei ihm stand es nutzlos herum, er hatte es von seinem Bruder geerbt. Ich erwarb es durch Tausch, indem ich ihm dafür ein Buch aus Papas Bücherschrank gab: ›Der Verwandte Mahomeds‹ oder ›Die heilsame Dummheit‹. Die Schwarte ist hundert Jahre alt und taugt nichts, sie ist in Moskau erschienen, als es noch keine Zensur gab, Morosow ist ein Liebhaber solcher Dinge. Er bedankte sich noch dafür ...«
Kolja hielt die kleine Kanone so in der Hand, daß alle sie sehen und sich daran erfreuen konnten. Iljuscha, den rechten Arm noch immer um Pereswon, richtete sich auf und betrachtete voll Entzücken das kleine Spielzeug. Der Effekt erreichte den Höhepunkt, als Kolja erklärte, er habe auch Pulver und man könne sogleich aus der Kanone einen Schuß abfeuern, »falls das die Damen nicht beunruhigt«. »Mamachen« bat sogleich, ihr das Spielzeug aus der Nähe zu zeigen, was ihr auch sofort erfüllt wurde. Die kleine Kanone mit ihren Rädern gefiel ihr ausnehmend, und sie begann sie auf ihren Knien hin und her zu rollen. Der Bitte, damit schießen zu dürfen, stimmte sie bereitwilligst zu, allerdings ohne zu verstehen, um was sie gebeten worden war. Kolja zeigte das Pulver und das Schrot. Der Stabskapitän übernahm selbst das Laden, indem er eine ganze kleine Portion Pulver hineinschüttete; das Schießen mit Schrot bat er auf ein andermal zu verschieben. Die Kanone wurde auf den Fußboden gestellt, mit der Mündung nach einer Seite, wo niemand stand; in das Zündloch wurden drei Pulverkörnchen gesteckt und mit einem Streichholz angezündet. Es erfolgte ein glänzender Schuß. »Mamachen« fuhr zwar zusammen lachte jedoch sogleich vor Freude auf. Die Jungen hatten mit schweigsamem Triumphgefühl zugesehen, am glücklichsten war – mit Blick auf Iljuscha – der Stabskapitän. Kolja hob die kleine Kanone auf ... und schenkte sie Iljuscha mitsamt Schrot und Pulver.
»Die ist für dich! Das hatte ich mir schon lange vorgenommen!« wiederholte er noch einmal ganz glückselig.
»Ach, schenkt sie mir! Nein, schenkt die kleine Kanone lieber mir!« begann »Mamachen« auf einmal wie ein kleines Kind zu bitten. Auf ihrem Gesicht malte sich die ängstliche Besorgnis, man könnte ihr das Geschenk verweigern; Kolja wurde verlegen. Der Stabskapitän geriet in Unruhe und sprang zu ihr hin.
»Mamachen, Mamachen«, rief er, »die Kanone gehört dir. Erlaube jedoch, daß sie bei Iljuscha bleibt, weil er sie geschenkt bekommen hat. Aber sie gehört trotzdem dir, Iljuschetschka wird sie dir immer zum Spielen geben; ihr sollt sie beide gemeinsam besitzen, gemeinsam ...«
»Nein, ich will nicht, daß wir sie gemeinsam besitzen! Nein, sie soll ganz mir gehören und nicht Iljuscha«, fuhr »Mamachen« fort und machte Anstalten loszuweinen.
»Mama, nimm sie für dich, da, nimm sie für dich«, rief Iljuscha. »Krassotkin, darf ich sie meiner Mama schenken?« wandte er sich bittend an Krassotkin, als fürchtete er, dieser könnte sich gekränkt fühlen, wenn er sein Geschenk einem anderen gab.
»Natürlich darfst du das«, erwiderte Krassotkin sogleich. Er nahm die kleine Kanone aus Iljuschas Händen und überreichte sie mit einer höflichen Verbeugung dem »Mamachen«.
Diese brach vor Rührung in Tränen aus.
»Lieber Iljuschetschka, da sieht man, wer sein Mamachen liebhat!« rief sie gerührt und rollte die kleine Kanone sofort wieder auf ihren Knien hin und her.
»Mamachen, erlaube, daß ich dir die Hand küsse«, sagte ihr Gatte, eilte zu ihr und führte seine Absicht sogleich aus.
»Und auch noch der liebenswürdigste junge Mensch ist dieser nette Junge hier!« sagte die dankbare Frau, auf Krassotkin deutend.
»Und Pulver werde ich dir bringen, Iljuscha, soviel wie du nur haben willst. Wir fabrizieren jetzt selber welches. Borowikow hat die Zusammensetzung erfahren: vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle. Das muß man alles zusammenreiben, dann Wasser zugießen, es zu einem Brei mischen und ihn durch ein Trommelfell reiben – dann ist das Pulver fertig.«
»Mir hat schon Smurow von eurem Pulver erzählt. Nur sagt Papa, daß das kein richtiges Pulver ist«, versetzte Iljuscha.
»Wieso kein richtiges Pulver?« erwiderte Kolja; er war ganz rot geworden. »Es brennt bei uns. Ich weiß übrigens nicht ...«
»Nein, ich sage nichts dagegen«, fiel der Stabskapitän mit einem entschuldigenden Gesicht ein. »Ich habe allerdings gesagt, daß das richtige Pulver anders hergestellt wird. Aber das widerspricht dem nicht, man kann es auch so machen.«
»Ich verstehe davon nichts, Sie wissen das besser. Wir haben es in einer Steingutkruke angezündet, und es hat prächtig gebrannt, ganz verbrannt ist es, nur ein ganz klein wenig Ruß ist übriggeblieben. Aber das war nur der Pulverbrei, und wenn man den noch durch ein Fell reibt ... Aber Sie wissen das besser, ich verstehe davon ja nichts ... Bulkin hat jedenfalls von seinem Vater wegen unseres Pulvers Prügel bekommen, hast du das gehört?« wandte er sich auf einmal an Iljuscha.
»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Iljuscha. Er hörte seinem Freund mit grenzenlosem Interesse und Genuß zu.
»Wir hatten eine ganze Flasche Pulver hergestellt, und er bewahrte sie unter seinem Bett auf. Der Vater bekam sie zu sehen. Er sagte, das könnte explodieren. Und dann hat er ihn auch gleich durchgehauen. Er wollte sich im Gymnasium über mich beschweren. Seinem Sohn hat er den Umgang mit mir verboten; und das haben jetzt alle Eltern mit ihren Söhnen gemacht ... Auch dem kleinen Smurow haben es die Eltern verboten. Sie sagen, ich sei allgemein als tollkühner Bursche berüchtigt«, fügte Kolja mit einem verächtlichen Lächeln hinzu. »Das kommt alles von der Geschichte mit der Eisenbahn.«
»Ja, wir haben auch von diesem Abenteuer gehört!« rief der Stabskapitän. »Wie haben Sie es nur fertiggebracht, so still zu liegen? Haben Sie sich wirklich gar nicht gefürchtet, als Sie unter dem Zug lagen? War ihnen nicht bange?«
»Nicht sonderlich!« erwiderte Kolja lässig. »Am meisten hat meinen Ruf die Geschichte mit der verfluchten Gans verdorben«, sagte er, wieder an Iljuscha gewandt. Und obgleich er sich beim Erzählen Mühe gab, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, hatte er sich doch nicht in der Gewalt und fiel fortwährend aus dem Ton.
»Ach ja, von der Gans habe ich auch gehört!« sagte Iljuscha, über das ganze Gesicht strahlend. »Die Geschichte ist mir erzählt worden, aber ich habe sie nicht ganz verstanden. Hast du wirklich vor den Friedensrichter gemußt?«
»Es ist eine ganz sinnlose Geschichte, eine Bagatelle! Man hat wie gewöhnlich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht«, begann Kolja ungezwungen. »Ich ging einmal über den Marktplatz, als gerade Gänse aufgetrieben wurden. Ich blieb stehen und besah mir die Gänse. Plötzlich musterte mich ein Kerl aus unserer Stadt, Wischnjakow, ein Laufbursche im Laden von Plotnikow, und sagte zu mir: ›Was siehst du dir die Gänse an?‹ ich blickte ihn an: eine dumme, runde Fratze, ein Bursche von zwanzig Jahren. Wissen Sie, ich verschmähe eigentlich nie den Verkehr mit dem einfachen Volk, ich mag den Umgang mit ihm ... Wir sind nämlich in einen Abstand vom Volk geraten, das ist eine Tatsache ... Sie lachen, Karamasow?«
»Nicht doch, Gott bewahre! Ich höre ihnen aufmerksam zu«, antwortete Aljoscha mit der harmlosesten Miene, und der mißtrauische Kolja beruhigte sich sofort wieder.
»Meine Theorie, Karamasow, ist klar und einfach«, beeilte er sich fortzufahren. »Ich glaube an das einfache Volk und freue mich immer, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber ich verwöhne es nicht, das ist die Conditio sine qua non ... Ach so, ich wollte ja von der Gans erzählen. Ich drehte mich also zu diesem Dummkopf um und antwortete ihm: ›Ich denke eben darüber nach, woran wohl so eine Gans denkt.‹ Er sah mich blöde an. ›Woran denkt denn so eine Gans?‹ fragte er. ›Siehst du‹, sagte ich, ›da steht ein Wagen mit Hafer. Aus dem einen Sack läuft Hafer heraus, und eine Gans hat den Hals direkt unterm Rad vorgestreckt und pickt die Körner auf, siehst du das?‹ – ›Das sehe ich sehr gut‹, antwortete er. ›Na also‹, sagte ich, ›wenn man diesen Wagen jetzt ein bißchen nach vorn schiebt, wird er dann der Gans mit dem Rad den Hals durchschneiden oder nicht?‹ – ›Ganz sicher‹, sagte er und schmunzelte schon breit und war ganz entzückt. ›Na, dann komm, Bursche‹, sagte ich. ›Los!‹ – ›Los‹, sagte er. Wir brauchten uns nicht lange zu bemühen. Er trat unauffällig an den Zaum des Pferdes, und ich stellte mich seitwärts, um die Gans zu dirigieren. Der Bauer hielt gerade Maulaffen feil und redete mit jemandem, so daß ich überhaupt nichts zu arrangieren hatte. Die Gans streckte ganz von selbst den Hals nach dem Hafer unter dem Wagen aus. Ich blinzelte dem Burschen zu, er zog am Zaum, und k-krach! schnitt das Rad der Gans den Hals quer durch! Und ausgerechnet in diesem Augenblick mußten alle Bauern zu uns herübersehen, und nun brüllten sie alle: ›Das hast du mit Absicht getan.‹ – ›Nein, nicht mit Absicht!‹ – ›Doch, mit Absicht! Zum Friedensrichter!‹ Auch mich packten sie. Du bist auch dabeigewesen‹, schrien sie, ›du bist ein Helfershelfer, dich kennt ja der ganze Markt!‹ Und wirklich kennt mich merkwürdigerweise der ganze Markt«, füge Kolja stolz hinzu. »Wir zogen nun alle zum Friedensrichter, auch die Gans wurde hingetragen. Ich sah, der Bursche hatte Angst bekommen und fing an zu heulen wie ein altes Weib. Und der Gänsehändler schrie: ›Auf die Art kann man ja wer weiß wie viele Gänse zu Tode bringen!‹ Selbstverständlich wurden die Zeugen vernommen. Der Friedensrichter erledigte die Sache im Handumdrehen. Für die Gans mußte der Bursche dem Gemüsehändler einen Rubel zahlen und konnte dann die Gans behalten; künftig sollte er sich solche Streiche jedoch nicht wieder erlauben. Der Bursche heulte wie ein altes Weib: ›Ich habe es nicht von selber getan!‹ sagte er. ›Der hier hat mich angestiftet!‹ Und dabei zeigte er auf mich. Ich antwortete kaltblütig, ich hätte ihn durchaus nicht angestiftet, sondern nur die Grundidee zum Ausdruck gebracht und von einem bloßen Projekt gesprochen. Der Friedensrichter Nefedow lächelte und ärgerte sich dann gleich, daß er gelächelt hatte. ›Ich werde Sie‹, sagte er, ›sogleich bei ihrem Direkter anzeigen, damit Sie sich künftig nicht auf solche Projekte einlassen, statt bei den Büchern zu sitzen und ihre Aufgaben zu lernen!‹ Na, beim Direktor hat er mich nicht angezeigt, das war nur Scherz von ihm; doch die Geschichte sprach sich tatsächlich herum und kam auch den Lehrern und dem Direktor zu Ohren – diese Herren haben ja lange Ohren! Besonders entrüstet war der Altsprachler Kolbasnikow, aber Dardanelow trat wieder für mich ein. Kolbasnikow ist sowieso auf uns alle wütend wie ein grüner Esel. Hast du das gehört, Iljuscha, er hat geheiratet! Er hat von den Michailows tausend Rubel Mitgift erhalten, und die junge Frau hat dafür einen Rüssel erster Güte, prima Qualität! Die aus seiner Klasse haben gleich ein Gedicht verfaßt:
Die Heirat des Ekels Kolbasnikow
gibt der Klasse zum Lachen Stoff ...
Na und so weiter, es ist sehr komisch, ich werde es dir später einmal mitbringen. Über Dardanelow sage ich nichts, er ist ein Mann, der Kenntnisse besitzt, gediegene Kenntnisse. Solche Männer schätze ich, und nicht etwa, weil er für mich eingetreten ist ...«
»Trotzdem hast du ihn mit der Frage, wer Troja gegründet hat, in Verlegenheit gebracht!« mischte sich Smurow ein, der in diesem Augenblick sehr stolz auf Krassotkin war. Die Geschichte von der Gans hatte ihm außerordentlich gefallen.
»Haben Sie ihn damit wirklich in Verlegenheit gebracht?« fiel der Stabskapitän schmeichlerisch ein. »Mit der Frage, wer Troja gegründet hat? Ja, davon haben wir schon gehört. Iljuschetschka hat es mir damals gleich erzählt ...«
»Er weiß alles, Papa! Er weiß bei uns alles am besten!« ergriff Iljuschetschka, hingerissen das Wort. »Er tut nur so, als ob er nichts Besonderes wäre. In Wirklichkeit ist er bei uns der beste Schüler, in allen Fächern ...«
Iljuscha blickte seinen Freund grenzenlos glücklich an.
»Na, das von Troja ist dummes Zeug, eine Lappalie. Ich selbst halte diese Frage für ganz unerheblich«, erwiderte Kolja mit stolzer Bescheidenheit.
Es war ihm jetzt gelungen, in den beabsichtigten Tonfall hineinzukommen. Dennoch befand er sich in einer gewissen Unruhe: Er fühlte, daß er sehr erregt war und zum Beispiel die Geschichte von der Gans zu hingerissen erzählt hatte. Aljoscha hatte während der ganzen Erzählung geschwiegen und seine ernste Miene beibehalten, und den ehrgeizigen Jungen quälte nun schon allmählich der Gedanke: ›Schweigt er etwa, weil er mich verachtet und meint, ich wäre scharf auf sein Lob? Wenn er wagen sollte, so etwas zu denken, dann würde ich ...‹
»Ich halte diese Frage entschieden für unerheblich«, bemerkte er noch einmal kurz und stolz.
»Aber ich weiß, wer Troja gegründet hat«, sagte auf einmal ganz unerwartet ein Junge, der bis dahin kaum ein Wort gesprochen hatte. Es war Kartaschow, ein schweigsames und offenbar schüchternes Bürschchen, ziemlich hübsch und etwa elf Jahre alt; er saß dicht an der Tür.
Kolja sah ihn erstaunt und würdevoll an. Die Frage: »Wer hat eigentlich Troja gegründet?« war nämlich in allen Klassen geradezu eine Preisfrage geworden, zu deren Lösung man in Smaragdows Weltgeschichte nachlesen mußte. Diese Weltgeschichte besaß aber niemand außer Kolja. Und nun hatte der kleine Kartaschow einmal, als Kolja nicht hinsah, flink und verstohlen zwischen dessen Büchern den Smaragdow aufgeschlagen und sofort die Stelle von den Gründern Trojas gefunden. Das war schon vor ziemlich langer Zeit geschehen; doch er war immer ängstlich gewesen und hatte nicht gewagt, öffentlich auszusprechen, daß auch er wisse, wer Troja gegründet hatte; er hatte gefürchtet, das könnte für ihn unangenehme Folgen haben, Kolja könnte ihn zur Strafe irgendwie in Verlegenheit bringen. Jetzt kannte er es aber auf einmal nicht mehr aushalten und sagte es: Er hatte es schon längst gewollt.
»Na, wer hat es denn gegründet?« fragte Kolja von oben herab; er hatte schon am Gesicht des anderen erkannt, daß der es tatsächlich wußte, und sich selbstverständlich sofort auf alle Folgen vorbereitet. In der allgemeinen Stimmung trat, wie man das so nennt, eine Dissonanz ein.
»Troja gründeten Teukros, Dardannos, Ilus und Tros«, sagte der Junge klar und deutlich und wurde dann plötzlich so rot, daß er einem leid tun konnte. Die anderen blickten ihn lange starr an, dann wandten sich alle zu Kolja um. Kolja maß den Kleinen noch immer mit seinem geringschätzigen Blick.
»Und wie haben sie es denn gegründet?« ließ er sich endlich herab zu fragen. »Und was bedeutet das überhaupt: eine Stadt oder einen Staat gründen? Was haben sie denn gemacht? Sind sie hingekommen und haben jeder einen Ziegelstein hingelegt, ja?«
Es erscholl Gelächter. Die Röte des Jungen steigerte sich zu dunklem Purpur; er schwieg und war nahe daran loszuweinen.
Kolja ließ ihn noch ungefähr eine Minute lang in dieser unangenehmen Situation.
»Wenn man von solchen historischen Ereignissen sprechen will, wie es die Gründung von Nationen ist, muß man vor allen Dingen verstehen, was das bedeutet«, sagte er streng und gemessen in belehrendem Ton. »Ich messe übrigens allen diesen Altweibergeschichten keinen Wert bei und schätze überhaupt die Weltgeschichte nicht sehr hoch ein«, fügte er dann, an alle gewandt, lässig hinzu.
»Die Weltgeschichte, sagten Sie?« fragte der Stabskapitän, der einen richtigen Schreck bekommen hatte.
»Jawohl, die Weltgeschichte. Sie ist die wissenschaftliche Erforschung einer Reihe menschlicher Dummheiten, weiter nichts. Ich schätze nur die Mathematik und die Naturwissenschaften«, verkündete Kolja und warf einen flüchtigen Blick auf Aljoscha; der war hier der einzige, dessen Urteil er fürchtete.
Doch Aljoscha blieb ernst und stumm wie vorher. Hätte Aljoscha jetzt gleich etwas gesagt, hätte die Sache damit ihren Abschluß finden können; aber Aljoscha schwieg, und sein Schweigen konnte geringschätzig sein. So wurde denn Kolja ganz nervös.
»Und dann diese klassischen Sprachen! Der reine Blödsinn, weiter nichts ... Sie scheinen wieder nicht meiner Meinung zu sein, Karamasow?«
»Nein, ich bin nicht ihrer Meinung«, erwiderte Aljoscha zurückhaltend und lächelte.
»Wenn Sie meine ganze Meinung über die klassischen Sprachen hören wollen, so muß ich sagen: Sie sind eine Polizeimaßregel. Das ist der einzige Zweck, zu dem sie eingeführt worden sind!« sagte Kolja, dem allmählich wieder das Atmen schwer wurde. »Sie sind eingeführt worden, weil sie langweilig sind und die Fähigkeiten abstumpfen. Es war ohnehin schon langweilig, und da überlegten die Regierenden: Was sollen wir tun, damit es noch langweiliger wird? Es war schon sinnlos, und da überlegten sie: Was sollen wir tun, damit es noch sinnloser wird? So verfielen sie auf die klassischen Sprachen. Das ist meine ganze Meinung darüber, und ich hoffe, daß ich sie nie ändern werde«, schloß Kolja scharf.
Auf seinen Backen waren rote Flecke erschienen.
»Das ist wahr«, stimmte ihm Smurow, der eifrig zugehört hatte, mit seiner hellen Stimme überzeugt zu.
»Und dabei ist er selber der beste in Latein!« rief einer aus der Gruppe.
»Ja, Papa, das sagt er so. Aber er ist in seiner Klasse der beste in Latein«, fiel auch Iljuscha ein.
»Was hat das damit zu tun?« erwiderte Kolja, der es für nötig hielt, sich zu verteidigen, obgleich ihm auch dieses Lob sehr angenehm war. »Ich ochse Latein, weil es notwendig ist und weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu absolvieren, und meiner Ansicht nach muß man das, was man sich einmal vorgenommen hat, auch gut machen. Aber im Grunde meines Herzens verachte ich das klassische Altertum und diese ganze Gemeinheit ... Sie sind nicht meiner Meinung, Karamasow?«
»Nun, warum soll das eine Gemeinheit sein?« fragte Aljoscha und lächelte wieder.
»Ich bitte Sie, die Klassiker sind sämtlich in alle Sprachen übersetzt, also brauchten die Regierenden das Latein gar nicht zum Studium der Klassiker, sondern einzig und allein als Polizeimaßregel und zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Unter diesen Umständen verdient es doch wohl eindeutig den Namen ›Gemeinheit‹?«
»Wer hat Sie das alles bloß gelehrt?« rief Aljoscha erstaunt.
»Erstens bin ich selbst imstande, das zu begreifen, ohne daß es mich jemand lehrt, und zweitens hat das, was ich eben über die übersetzten Klassiker sagte, der Lehrer Kolbasnikow selber laut vor der ganzen Klasse gesagt ...«
»Der Doktor ist gekommen!« rief auf einmal Ninotschka, welche die ganze Zeit geschwiegen hatte.
In der Tat war Frau Chochlakowas Equipage vorgefahren. Der Stabskapitän, der den ganzen Vormittag auf den Doktor gewartet hatte, lief Hals über Kopf zum Tor, um ihn zu empfangen. »Mamachen« machte sich zurecht und nahm eine würdevolle Miene an. Aljoscha trat zu Iljuscha und brachte ihm sein Kopfkissen in Ordnung. Ninotschka verfolgte es
von ihrem Lehnstuhl aus mit unruhigem Blick. Die Jungen verabschiedeten sich eilig; einige von ihnen versprachen, am Abend wiederzukommen. Kolja rief Pereswon, und der sprang vom Bett herunter.
»Ich gehe nicht weg«, sagte Kolja hastig zu Iljuscha. »Ich werde auf dem Flur warten und wieder hereinkommen, sobald der Doktor weg ist. Ich werde auch Pereswon wieder mitbringen.«
Aber schon trat der Arzt ein – eine würdevolle Gestalt in einem Bärenpelz, mit langem, dunklem Backenbart und glänzend ausrasiertem Kinn. Als er über die Schwelle getreten war, blieb er auf einmal verdutzt stehen. »Was ist das? Wo bin ich?« murmelte er, ohne den Bärenpelz von den Schultern zu werfen und ohne die Schirmmütze aus Seehundsfell vom Kopf zu nehmen. Die vielen Menschen, die Ärmlichkeit der Stube, die an einem Strick aufgehängte Wäsche verblüfften ihn. Der Stabskapitän konnte sich an tiefen Verbeugungen vor ihm gar nicht genugtun.
»Sie sind gekommen«, murmelte er in knechtischer Untertänigkeit. »Sie sind zu mir gekommen, Sie haben die Güte, zu mir ...«
»Herr Sne-gi-riow?« fragte der Doktor würdevoll. »Sind Sie das?«
»Ich bin es.«
»Ah!«
Der Doktor blickte sich noch einmal geringschätzig im Zimmer um und warf den Pelz ab. Allen blitzte der hohe Orden entgegen, den er um den Hals trug. Der Stabskapitän fing den Pelz im Fallen auf, und der Doktor nahm die Mütze ab. »Wo ist denn der Patient?« fragte er laut und energisch.
»Was meinen Sie, was wird der Doktor ihm sagen?« fragte Kolja hastig Aljoscha, als sie auf dem Flur waren. »Was hat der Mensch aber auch für eine widerwärtige Fratze, nicht wahr? Ich kann die Medizin nicht leiden!«
»Iljuscha wird sterben. Das ist, glaube ich, bereits sicher«, antwortete Aljoscha traurig.
»Diese Gauner! Die Medizin ist eine Gaunerei! Ich freue mich aber, daß ich Sie kennengelernt habe, Karamasow. Ich habe schon längst gewünscht, Sie kennenzulernen. Schade nur, daß wir uns bei so einem traurigen Anlaß begegnet sind ...«
Kolja hätte gern noch etwas Wärmeres, Herzlicheres gesagt, doch es war, als ob ihm ein Krampf die Zunge lähmte. Aljoscha bemerkte das, lächelte und drückte ihm die Hand.
»Ich habe Sie schon lange als eine seltene Persönlichkeit schätzengelernt«, murmelte Kolja wieder verlegen. »Ich habe gehört, Sie sind Mystiker und waren im Kloster, aber dadurch habe ich mich nicht abhalten lassen. Die Berührung mit dem wirklichen Leben wird Sie kurieren ... Bei Naturen wie Sie kann das nicht anders sein.«
»Was meinen Sie mit dem Ausdruck ›Mystiker‹? Und wovon soll ich kuriert werden?« fragte Aljoscha einigermaßen verwundert.
»Nun, ich meine Gott und das übrige.«
»Glauben Sie etwa nicht an Gott?«
»O doch, ich habe nichts gegen Gott. Zwar ist Gott nur eine Hypothese, aber ich gestehe, daß er notwendig ist, für die Ordnung ... Für die Weltordnung und so weiter ... Und wenn er nicht existierte, müßte man ihn erfinden«, fügte Kolja errötend hinzu. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, Aljoscha könnte glauben, er wolle nur seine Kenntnisse zur Schau stellen und zeigen, daß er schon erwachsen war. ›Ich habe durchaus nicht die Absicht, meine Kenntnisse zur Schau zu stellen!‹ dachte Kolja empört. Und er ärgerte sich auf einmal gewaltig.
»Zugegeben, es widerstrebt mir, auf alle diese Streitigkeiten einzugehen«, sagte er abbrechend. »Man kann ja, auch ohne an Gott zu glauben, die Menschheit lieben, meinen Sie nicht auch? Voltaire zum Beispiel hat nicht an Gott geglaubt und trotzdem die Menschheit geliebt!« ›Schon wieder, schon wieder‹, dachte er bei sich.
»Voltaire hat an Gott geglaubt, aber, wie es scheint, nur wenig. Und wie es scheint, hat er auch die Menschheit nur wenig geliebt«, versetzte Aljoscha leise, ruhig und in ganz natürlichem Ton, als spräche er mit einem Gleichaltrigen oder gar einem Älteren.
Kolja beeindruckte besonders Aljoschas scheinbare Unsicherheit in seinem Urteil über Voltaire und der Umstand, daß er ihm, Kolja, gewissermaßen die Entscheidung dieser Frage anheimgab.
»Haben Sie denn Voltaire gelesen?« schloß Aljoscha.
»Nein, eigentlich nicht ... Das heißt, ›Candide‹ habe ich gelesen, in einer russischen Übersetzung ... In einer alten, gräßlichen Übersetzung ...« ›Schon wieder, schon wieder!‹
»Und haben Sie alles verstanden?«
»O ja, alles ... Das heißt ... Warum sollte ich es nicht verstanden haben? Es sind zwar viele Unsauberkeiten enthalten ... Doch ich bin natürlich imstande zu begreifen, daß es ein philosophischer Roman ist, der geschrieben wurde um einer Idee willen ...« Kolja war bereits vollständig verwirrt. »Ich bin Sozialist, Karamasow! Ich bin ein unverbesserlicher Sozialist«, fügte er plötzlich ohne verständlichen Grund übergangslos hinzu.
»Sozialist?« erwiderte lachend Aljoscha. »Wann haben Sie denn das geschafft? Sie sind doch erst dreizehn, glaube ich?«
Kolja wand sich innerlich geradezu.
»Erstens nicht dreizehn, sondern vierzehn, in zwei Wochen vierzehn«, erwiderte er mit feuerrotem Kopf. »Und zweitens verstehe ich absolut nicht, was mein Alter damit zu tun hat. Es handelt sich darum, welche Ansichten ich habe – und nicht, wie alt ich bin, nicht wahr?«
»Wenn Sie älter sind, werden Sie selbst einsehen, welche Bedeutung das Alter für die Ansichten hat. Mir schien sogar, Sie gäben die Worte anderer wieder«, antwortete Aljoscha bescheiden und ruhig; doch Kolja unterbrach ihn hitzig.
»Ich bitte Sie, Sie verlangen Gehorsam und Mystizismus! Sie müssen doch selbst zugeben, daß zum Beispiel das Christentum den Reichen und Vornehmen nur dazu gedient hat, die niedere Klasse in Sklaverei zu halten, nicht wahr?«
»Ach, ich weiß, wo Sie das gelesen haben! Oder jemand hat ihnen diese Lehren vorgetragen!« rief Aljoscha.
»Ich bitte Sie, warum soll ich das unbedingt gelesen haben? Auch hat mir niemand diese Lehren vorgetragen. Ich kann doch auch selbst ... Und meinetwegen – ich bin nicht gegen Christus. Er war eine durchaus humane Persönlichkeit, und wenn er zu unserer Zeit lebte, würde er sich geradewegs den Revolutionären anschließen und vielleicht eine bedeutende Rolle spielen ... Das ist sogar sicher.«
»Na, wo haben Sie denn das aufgeschnappt? Mit welchem Dummkopf haben Sie sich denn abgegeben?« rief Aljoscha.
»Ich bitte Sie, die Wahrheit kann man nicht verbergen. Ich rede allerdings aus bestimmten Gründen häufig mit Herrn Rakitin, aber, ... Das soll auch schon Belinski gesagt haben.«
»Belinski, ich erinnere mich nicht. Das hat er nirgends geschrieben.«
»Wenn er es nicht geschrieben hat, war es vielleicht ein mündlicher Ausspruch von ihm. Ich habe es von jemandem gehört ... Ach, weiß der Teufel ...«
»Belinski haben Sie jedenfalls gelesen?«
»Sehen Sie, nein ... Ich habe ihn nicht ganz gelesen ... Aber die Stelle über Tatjana, warum sie nicht mit Onegin in intimen Verkehr trat, die habe ich gelesen.«
»Sie sagen: ›Warum sie nicht mit Onegin in intimen Verkehr trat!‹ Verstehen Sie das etwa schon?«
»Ich bitte Sie! Sie scheinen mich für den kleinen Smurow zu halten!« lächelte Kolja gereizt. »Glauben Sie übrigens bitte nicht, daß ich ein allzu schlimmer Revolutionär wäre. Ich bin sehr oft anderer Meinung als Herr Rakitin. Wenn ich das über Tatjana sage, so bin ich durchaus nicht für die Emanzipation der Frau. Ich gebe zu, daß die Frau ein untergeordnetes Wesen ist und gehorchen muß. Les femmes tricotent, wie Napoleon sagte ... Zumindest in diesem Punkt teile ich vollkommen die Anschauung dieses pseudogroßen Mannes. Ich glaube zum Beispiel auch, daß es eine Gemeinheit ist, aus dem Vaterland nach Amerika zu gehen, oder schlimmer als eine Gemeinheit, eine Dummheit. Warum nach Amerika gehen, wo man auch bei uns der Menschheit viel Nutzen bringen kann? Besonders jetzt. Es bietet sich einem doch eine Masse fruchtbringender Tätigkeit an. In diesem Sinne habe ich auch geantwortet.«
»Geantwortet? Wem? Hat Sie schon jemand aufgefordert, nach Amerika zu gehen?«
»Ich muß gestehen, daß man mich dazu veranlassen wollte, doch ich habe abgelehnt. Dies natürlich nur unter uns, Karamasow, hören Sie! Davon zu niemandem ein Wort! Das sage ich nur ihnen. Ich habe kein Verlangen, in die Klauen der Dritten Abteilung zu fallen und Lektionen an der KettenbrückeDritte Abteilung, Kettenbrücke – die zaristische Geheimpolizei, deren Gebäude an der Kettenbrücke stand zu nehmen.
Das Bauwerk an der Kettenbrücke vergißt,
wer drinnen war, nicht leicht!
Erinnern Sie sich an die Stelle? Großartig gesagt! Worüber lachen Sie? Sie denken doch wohl nicht, daß ich Ihnen das alles vorgeschwindelt habe?« ›Wie, wenn er erfährt, daß im Bücherschrank meines Vaters nur diese eine Nummer des »Kolokol« vorhanden ist und ich weiter nichts davon gelesen habe?‹ ging es Kolja flüchtig durch den Kopf; und er zuckte bei diesem Gedanken zusammen.
»O nein, ich lache nicht und glaube durchaus nicht, daß Sie mit etwas vorgeschwindelt haben. Und zwar deshalb nicht, weil das alles leider tatsächlich wahr ist! Aber sagen Sie mal, Puschkin haben Sie doch gelesen, den Onegin? Sie sprachen ja soeben von Tatjana?«
»Nein, ich habe ihn noch nicht gelesen, ich will ihn lesen. Ich bin frei von vorgefaßten Meinungen, Karamasow. Ich will die eine wie die andere Partei hören. Warum haben Sie danach gefragt?«
»Ich fragte nur so.«
»Sagen Sie, Karamasow, Sie verachten mich wohl sehr?« sagte Kolja unvermittelt und richtete sich vor Aljoscha auf, als wollte er sich in Kampfpositur stellen. »Tun Sie mir den Gefallen und antworten Sie ohne Umschweife?«
»Ich soll Sie verachten?« fragte Aljoscha verwundert. »Warum sollte ich das tun? Es tut mir nur leid, daß eine prächtige Natur wie Sie schon von diesem groben Unsinn verdorben ist, ehe sie richtig angefangen hat zu leben.«
»Wegen meiner Natur machen Sie sich bitte keine Sorgen!« unterbrach ihn Kolja nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Und daß ich mißtrauisch bin, das ist nun einmal so. Das ist eine Dummheit von mir, eine Grobheit. Sie lächelten eben, und da schien es mit, als ob Sie ...«
»Ach, ich lächelte über etwas ganz anderes. Ich will ihnen sagen, worüber. Ich las kürzlich einen Ausspruch, den ein in Rußland lebender Deutscher über unsere heutige Schuljugend getan hat. ›Zeigen Sie‹, schreibt er, ›einem russischen Schüler eine Karte des Sternenhimmels, von der er bisher nicht die geringste Kenntnis gehabt hat, und er wird ihnen morgen diese Karte korrigiert zurückgeben.‹ Keine Kenntnisse und ein grenzenloses Selbstbewußtsein – das ist es, was dieser Deutsche über den russischen Schüler aussagen wollte.
»Aber das ist ja vollkommen richtig!« rief Kolja lachend. »Bravo, Deutscher! Nur hat der Deutsche die gute Seite übersehen, meinen Sie nicht auch? Selbstbewußtsein, das mag sein, das kommt von dem jugendlichen Alter, das bessert sich, wenn eine Besserung überhaupt erforderlich ist. Aber dafür haben wir die Unabhängigkeit des Denkens gleich von Kindheit an, dafür haben wir die Kühnheit der Ideen und der Anschauungen, und nicht den deutschen Geist sklavischer Kriecherei vor Autoritäten ... Trotzdem hat der Deutsche das gut gesagt! Bravo, Deutscher! Allerdings muß man die Deutschen trotzdem erwürgen. Mögen sie auch in der Wissenschaft stark sein, erwürgen muß man sie trotzdem ...«
»Wofür muß man sie denn erwürgen?« fragte Aljoscha lächelnd.
»Na, ich habe vielleicht Unsinn geschwatzt, ich gebe es zu. Ich bin manchmal ein schrecklicher Kindskopf, und wenn ich mich über etwas freue, kann ich mich nicht beherrschen und fange an, Unsinn zu schwatzen ... Hören Sie mal, wir schwatzen hier beide dummes Zeug, aber dieser Doktor hält sich schon ziemlich lange auf. Womöglich untersucht er noch das ›Mamachen‹ und die gelähmte Ninotschka. Wissen Sie, diese Ninotschka hat mir gefallen. Als ich hereinkam, flüsterte sie mir zu: ›Warum sind Sie nicht früher gekommen?‹ Und so vorwurfsvoll! Ich glaube, sie hat ein sehr gutes Herz und verdient das größte Mitleid.«
»Ja, ja! Und wenn Sie nun öfter kommen, werden Sie sehen, was für ein herrliches Wesen sie ist! Es wird für Sie sehr nützlich sein, solche Wesen kennenzulernen, damit Sie auch vieles andere schätzenlernen, was Sie aus dem Umgang mit ihnen erfahren«, sagte Aljoscha warm. »Das wird am meisten zu ihrer Wandlung beitragen.«
»Oh, wie sehr ich es bedauere und mit mir schimpfe, daß ich nicht früher gekommen bin!« rief Kolja aufrichtig betrübt.
»Ja, das ist sehr schade. Sie haben selbst gesehen, wie sehr sich der arme Kleine über ihr Kommen freute. Wie hat er sich gequält, als er auf Sie wartete!«
»Sprechen Sie nicht weiter! Sie zerreißen mir das Herz. Aber es geschieht mir ganz recht! Ich blieb fern aus egoistischem Ehrgeiz und gemeiner Herrschsucht, von der ich mich einfach nicht frei machen kann, obgleich ich mich mein Leben lang bemühe. Ich sehe jetzt ein, daß ich in vieler Hinsicht ein Schuft bin, Karamasow!«
»Nein, Sie sind eine prächtige Natur, allerdings verdorben, und ich begreife durchaus, warum Sie einen solchen Einfluß auf diesen empfindsamen Jungen gewinnen konnten!« antwortete Aljoscha eifrig.
»Und das sagen Sie mir, Sie!« rief Kolja. »Stellen Sie sich vor, ich habe gedacht, gerade jetzt mehrere Male gedacht, Sie verachten mich! Wenn Sie wüßten, welchen großen Wert ich auf ihr Urteil lege!«
»Sind Sie wirklich so mißtrauisch? In ihrem Alter? Denken Sie: Als ich Sie dort im Zimmer ansah, habe ich gedacht, Sie müßten wohl sehr mißtrauisch sein.«
»Sie haben das schon gedacht? Was haben Sie für gute Augen, sehen Sie mal! Ich möchte wetten, daß es an der Stelle war, wo ich von der Gans erzählte. An dieser Stelle schien es mir, als ob Sie mich tief verachteten, weil ich mich als forschen Kerl hinzustellen suchte! Ich hatte sogar plötzlich einen Haß auf Sie und begann Unsinn zu reden. Später, als wir schon hier draußen waren, an der Stelle, wo ich sagte: ›Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden‹, da schien es mir, als sei ich zu sehr bemüht, meine Bildung herauszukehren, zumal ich diese Phrase in einem Buch gelesen habe! Aber ich versichere ihnen, ich versuchte nicht aus Eitelkeit meine Bildung herauszukehren, sondern nur so, ich weiß nicht weshalb, vor Freude, weiß Gott, sozusagen vor Freude ... Obgleich das auch wieder ein beschämender Charakterzug ist, wenn sich jemand allen Leuten vor Freude an den Hals wirft. Ich weiß das. Dafür bin ich nun aber überzeugt, daß Sie mich nicht verachten und ich mir das alles nur eingebildet habe ... Oh, Karamasow, ich bin sehr unglücklich! Ich stelle mir manchmal Gott weiß was vor: daß alle Leute über mich lachen, daß die ganze Welt über mich lacht, und dann möchte ich am liebsten die ganze Weltordnung vernichten!«
»Und dann quälen Sie die Menschen ihrer Umgebung«, bemerkte Aljoscha lächelnd.
»Und dann quäle ich die Menschen meiner Umgebung, besonders meine Mutter ... Sagen Sie mal, Karamasow, bin ich jetzt sehr lächerlich?«
»Denken Sie doch nicht so etwas!« rief Aljoscha. »Und was hat es denn auf sich, wenn man lächerlich ist? Als ob es so selten vorkäme, daß ein Mensch lächerlich ist oder lächerlich scheint! Heutzutage haben fast alle befähigten Menschen eine große Furcht, lächerlich zu erscheinen, und werden dadurch unglücklich. Ich wundere mich nur, daß Sie so früh dahin gekommen sind, so zu fühlen; allerdings bemerke ich das schon länger an jungen Leuten, nicht an ihnen allein. Heutzutage leiden sogar viele, die fast noch Kinder sind, unter dieser Furcht. Das ist beinahe eine Manie ... In diesem Ehrgeiz hat sich der Teufel verkörpert und in die ganze Generation eingeschlichen, jawohl der Teufel!« fügte Aljoscha hinzu, ohne das geringste Lächeln, das Kolja eigentlich erwartet hatte. »Sie sind eben wie alle«, schloß Aljoscha. »Das heißt wie sehr viele. Man muß aber nicht so sein wie alle: darum geht es!«
»Obwohl alle so sind?«
»Ja, obwohl alle so sind. Seien Sie doch der einzige, der nicht so ist! Sie sind doch in der Tat anders als alle: Sie haben sich nicht geschämt zu bekennen, daß Sie schlecht und sogar lächerlich sind. Wer gesteht denn heutzutage so etwas ein? Niemand, die Menschen fühlen nicht einmal mehr das Bedürfnis nach Selbstkritik. Seien Sie anders als alle! Und wenn Sie der einzige sind, der anders ist – seien Sie anders!«
»Großartig! Ich habe mich in ihnen nicht getäuscht! Sie sind imstande, einen zu trösten. Oh, wie es mich zu ihnen hingezogen hat, Karamasow! Wie lange habe ich mir schon eine Begegnung mit ihnen gewünscht! Hatten Sie auch schon an mich gedacht? Vorhin sagten Sie, Sie hätten auch schon an mich gedacht.«
»Ja, ich hatte von ihnen gehört und habe ebenfalls an Sie gedacht ... Wenn es auch zum Teil Ehrgeiz ist, was Sie jetzt zu dieser Frage veranlaßt, das macht nichts.«
»Wissen Sie, Karamasow, unsere Aussprache hat Ähnlichkeit mit einer Liebeserklärung«, sagte Kolja verschämt. »Ist das auch nicht lächerlich, nein?«
»Das ist ganz und gar nicht lächerlich. Und selbst wenn es lächerlich wäre, würde das nichts schaden, weil es gut ist und schön«, erwiderte Aljoscha heiter.
»Wissen Sie, Karamasow, geben Sie doch zu, daß Sie sich jetzt auch ein bißchen schämen ... Ich sehe ihnen das an den Augen an«, sagte Kolja mit einem schlauen, aber beinahe glückseligen Lächeln.
»Weswegen sollte ich mich denn schämen?«
»Warum sind Sie denn rot geworden?«
»Daran sind Sie schuld, daß ich rot geworden bin!« erwiderte Aljoscha lachend und errötete wirklich über das ganze Gesicht. »Nun ja, ein bißchen schäme ich mich, Gott weiß weswegen, ich weiß es nicht ...«, murmelte er, auch ein wenig verlegen.
»Oh, wie ich Sie in diesem Moment mag und verehre – eben dafür, daß Sie sich auch ein bißchen schämen! Denn Sie sind von derselben Art wie ich!« rief Kolja in heller Begeisterung.
Seine Backen glühten, und seine Augen leuchteten.
»Hören Sie, Kolja, Sie werden allerdings im Leben ein sehr unglücklicher Mensch sein«, sagte Aljoscha auf einmal ohne ersichtlichen Zusammenhang.
»Das weiß ich, das weiß ich. Wie Sie das alles im voraus wissen!« stimmte ihm Kolja sogleich zu.
»Aber im ganzen werden Sie das Leben doch als einen Segen empfinden.«
»Gewiß! Hurra! Sie sind ein Prophet! Oh, wir werden uns näherkommen, Karamasow. Wissen Sie, am meisten begeistert mich, daß Sie mit mir wie mit ihresgleichen verkehren. Und doch sind wir einander nicht gleich, nein, wir sind einander nicht gleich, Sie stehen über mir! Aber wir werden uns näherkommen. Wissen Sie, ich habe mir den ganzen letzten Monat gesagt: Entweder werden wir gleich Freunde fürs Leben – oder gleich von der ersten Begegnung an Feinde bis zum Grab!«
»Und als Sie sich das sagten, da mochten Sie mich natürlich schon!« sagte Aljoscha und lachte fröhlich.
»Ja, ich mochte Sie, ich mochte Sie sehr und malte mir unsere Freundschaft aus! Wie können Sie bloß alles vorher wissen? ... Ah, da ist ja der Doktor! Herrgott, was wird er sagen? Sehen Sie doch, was er für ein Gesicht macht!«
Der Doktor, bereits wieder in seinen Pelz gehüllt und mit der Mütze auf dem Kopf, trat aus der Stube. Sein Gesicht drückte einen beinahe zornigen Ekel aus, als befürchtete er immerzu, sich an etwas zu beschmutzen. Er erfaßte mit einem schnellen, flüchtigen Blick den Flur und sah dabei Aljoscha und Kolja streng an. Aljoscha gab dem Kutscher einen Wink, und die Equipage, die den Doktor hergebracht hatte, fuhr vor. Der Stabskapitän kam nach dem Arzt aus der Stube und versuchte ihn unter tiefen, entschuldigenden Verbeugungen zurückzuhalten und noch ein letztes Wort von ihm zu hören. Sein Gesicht wirkte sehr niedergeschlagen, sein Blick war voller Angst.
»Exzellenz, Exzellenz ... Ist es denn wirklich ...«, begann er; doch er sprach nicht aus, sondern rang nur verzweifelt die Hände und richtete einen letzten flehenden Blick auf den Doktor, als könnte das Todesurteil über den Sohn tatsächlich durch ein Wort des Doktors noch umgeändert werden.
»Was ist da zu machen? Ich bin nicht Gott«, antwortete der Doktor lässig und zugleich gewohnheitsgemäß energisch. »Doktor! Exzellenz! Und wird er bald, sehr bald ... ?«
»Sei-en Sie auf al-les ge-faßt!« erwiderte der Doktor bestimmt und mit überdeutlicher Aussprache und schickte sich an, zum Wagen zu gehen.
»Exzellenz, um Christi willen!« hielt ihn der Stabskapitän noch einmal in seiner Angst zurück. »Exzellenz, kann ihn denn nichts mehr retten, wirklich nichts, gar nichts? ...«
»Das hängt jetzt nicht von mir ab«, sagte der Doktor ungeduldig. »Indes, hm ...?« überlegte er plötzlich. »Wenn Sie ihren Patienten zum Beispiel sofort und ohne die geringste Verzögerung nach Sy-ra-kus bringen könnten, dann wäre es ... Infolge der neuen gün-sti-gen kli-ma-ti-schen Ver-hält-nis-se ... vielleicht möglich, daß ...« Die Worte »sofort« und »ohne die geringste Verzögerung« sprach der Doktor nicht nur streng, sondern fast zornig aus.
»Nach Syrakus!« rief der Stabskapitän, als ob er gar nichts verstanden hätte.
»Syrakus, das liegt in Sizilien«, warf Kolja erklärend dazwischen.
Der Doktor sah ihn an.
»Nach Sizilien! Väterchen, Exzellenz!« rief der Stabskapitän ganz fassungslos. »Aber Sie haben ja doch gesehen!« Und er deutete heftig gestikulierend auf alles, was ihn umgab. »Und die Mama, und die Tochter?«
»N-nein, ihre Familie gehört nicht nach Sizilien, sondern in den Kaukasus. Zu Beginn des Frühjahrs muß ihre Tochter in den Kaukasus. Ihre Gattin muß zuerst ebenfalls im Kaukasus eine Badekur gegen ihren Rheumatismus durchstehen und dann unverzüglich nach Paris in die Heilanstalt des Psychiaters Lepelletier gebracht werden. Ich könnte ihnen einen Brief an ihn mitgeben, und dann ... Möglicherweise ... »
»Doktor, Doktor! Aber Sie sehen ja doch!« rief der Stabskapitän, fuchtelte wieder mit den Armen umher und deutete auf die kahlen Balkenwände des Flurs.
»Ja, das ist nun nicht meine Sache«, versetzte der Doktor lächelnd. »Ich habe nur gesagt, was die Wis-sen-schaft auf ihre Frage nach den letzten möglichen Mitteln antworten kann. Das übrige jedoch ... Zu meinem Bedauern ...«
»Seien Sie unbesorgt, Arzt! Mein Hund wird Sie nicht beißen«, unterbrach ihn Kolja laut, da er bemerkte, wie der Doktor beunruhigt nach Pereswon schielte. Er sagte, wie er später erklärte, absichtlich »Arzt« statt »Doktor«, um »den Betreffenden zu ärgern«.
»Was soll das heißen?« fragte der Doktor, warf den Kopf zurück und sah Kolja erstaunt an. »Wer ist das?« wandte er sich dann auf einmal an Aljoscha, als wollte er diesen zur Rechenschaft ziehen.
»Das ist der Herr des Hundes Pereswon, Arzt. Beunruhigen Sie sich nicht um meine Persönlichkeit!« sagte Kolja wieder dreist. »Leben Sie wohl, Arzt! In Syrakus sehen wir uns wieder!« fügte er hinzu.
»Wer ist das? Wer ist das?« fragte der Doktor aufbrausend.
»Ein Schüler von hier, Doktor. Er ist ungezogen, beachten Sie ihn nicht weiter!« sagte Aljoscha eilig mit finsterer Miene. »Schweigen Sie, Kolja!« rief er diesem zu. »Sie sollten ihn wirklich nicht weiter beachten, Doktor!« sagte er noch einmal, in etwas heftigerem Ton.
»Durchprügeln müßte man ihn, durchprügeln!« rief der Doktor und stampfte wütend mit den Füßen.
»Wissen Sie, Arzt, mein Pereswon beißt am Ende doch!« sagte Kolja mit bebender Stimme; er war ganz blaß geworden, und seine Augen funkelten. »Ici, Pereswon!«
»Kolja, wenn Sie noch ein einziges Wort sagen, sind wir für immer geschiedene Leute!« rief Aljoscha gebieterisch.
»Arzt, es gibt nur ein Wesen auf der ganzen Welt, von dem sich Nikolai Krassotkin etwas befehlen läßt!« Kolja wies auf Aljoscha. »Dieser Mensch hier. Ihm gehorche ich. Leben Sie wohl!«
Er ging schnell zurück ins Zimmer, Pereswon stürzte ihm hinterher. Der Doktor stand noch etwa fünf Sekunden wie erstarrt da und blickte Aljoscha an; dann spuckte er aus und eilte zum Wagen, wobei er laut vor sich hin sagte: »Das, ich verstehe nicht, was das ...«
Der Stabskapitän lief ihm nach, um ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Aljoscha folgte Kolja ins Zimmer. Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Iljuscha hielt seine Hand und rief nach dem Vater. Kurz darauf kehrte auch der Stabskapitän zurück.
»Papa, Papa, komm ... Wir...«, stammelte Iljuscha in höchster Erregung; da er aber offenbar nicht imstande war fortzufahren, streckte er plötzlich seine mageren Ärmchen aus und umschlang Kolja und seinen Vater, so fest er nur konnte, und schmiegte sich an sie.
Der Stabskapitän bebte plötzlich von stummem Schluchzen, und auch Koljas Lippen und Kinn zuckten.
»Papa, Papa! Wie leid du mir tust, Papa!« stöhnte Iljuscha traurig.
»Iljuschetschka ... Täubchen... Der Doktor hat gesagt, du wirst gesund ... Wir werden glücklich sein ... Der Doktor ...
stammelte der Stabskapitän.
»Ach, Papa! Ich weiß doch, was der neue Doktor über mich gesagt hat ... Ich habe es ja gesehen!« rief Iljuscha, drückte sie wieder beide an sich und verbarg das Gesicht an der Schulter seines Vaters. »Papa, weine nicht ... Und wenn ich gestorben bin, nimm dir einen guten Jungen, einen anderen ... Such dir selbst einen aus, nenn ihn Iljuscha und hab ihn an meiner Statt lieb ...«
»Sei still, Alter! Du wirst wieder gesund!« rief Krassotkin und tat, als ob er böse würde.
»Aber du darfst mich nicht vergessen, Papa, niemals!« fuhr Iljuscha fort. »Komm an mein Grab! Weißt du was, Papa? Begrabt mich an unserem großen Stein, zu dem wir beide so oft spazierengegangen sind, und komm dann mit Krassotkin zu mir, am Abend ... Auch mit Pereswon ... Ich werde euch erwarten ... Papa, Papa!«
Die Stimme versagte ihm; alle drei hielten sich umarmt und schwiegen. Auch Ninotschka weinte still in ihrem Lehnstuhl, und auch die Mama brach plötzlich in Tränen aus, als sie alle weinen sah.
»Iljuschetschka Iljuschetschka!« rief sie.
Krassotkin machte sich auf einmal aus Iljuschas Armen los.
»Lebe wohl, Alter! Meine Mutter erwartet mich zum Mittagessen«, sagte er hastig. »Schade, daß ich sie nicht vorher benachrichtigt habe! Sie wird sich sehr beunruhigen ... Aber nach dem Mittagessen komme ich gleich wieder zu dir, den ganzen Tag! Ich werde dir so viel erzählen! Auch Pereswon werde ich mitbringen, aber jetzt muß ich ihn mitnehmen, denn er würde in meiner Abwesenheit zu heulen anfangen und dich stören! Auf Wiedersehen!«
Er lief auf den Flur hinaus. Er hatte nicht weinen wollen, aber auf dem Flur brach er doch in Tränen aus. In diesem Zustand fand ihn Aljoscha.
»Kolja, Sie müssen unbedingt Wort halten und wiederkommen, sonst wird er furchtbar traurig sein«, sagte Aljoscha eindringlich.
»Unbedingt! Oh, wie ich mich selbst verfluche, daß ich nicht früher gekommen bin!« murmelte Kolja, ohne sich seiner Tränen zu schämen.
In diesem Augenblick kam der Stabskapitän aus dem Zimmer gestürzt und machte die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht war verzerrt, die Lippen zuckten. Er blieb vor den beiden stehen und warf die Arme in die Höhe. »Ich will keinen anderen guten Jungen!« flüsterte er gepreßt. »Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ...«
Er sprach nicht zu Ende und sank kraftlos vor einer hölzernen Bank auf die Knie. Mit beiden Fäusten seinen Kopf pressend, begann er zu schluchzen und absonderlich zu kreischen, versuchte sich jedoch mit aller Gewalt zu beherrschen, damit sein Kreischen in der Stube nicht zu hören war. Kolja lief auf die Straße hinaus.
»Leben Sie wohl, Karamasow! Kommen Sie auch wieder?« rief er Aljoscha in scharfem Ton zu.
»Am Abend bin ich unter allen Umständen wieder hier.«
»Was hat er da von Jerusalem gesagt? Was bedeutet das?«
»Das ist aus der Bibel. ›Vergesse ich dein, Jerusalem‹ – das bedeutet: Wenn ich vergesse, was mir das Allerteuerste ist, es für etwas anderes hingebe, dann soll mich der Blitz treffen.«
»Ich verstehe ... Daß Sie aber auch wiederkommen! Ici, Pereswon!« schrie er dem Hund beinahe wütend zu und ging mit großen, schnellen Schritten nach Hause.