Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ich will nicht lügen: die Wirklichkeit hat in diesen sechs Monaten auch nach mir ihre Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohnedies vergessen. Auch zu Hause, das heißt ›in der Familie‹, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte, zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal, vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie keinen Lärm machten und mich dadurch störten, denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie sie mich jetzt dafür lieben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt habe, werde ich wohl auch gehörig gequält haben. In der letzten Zeit hat auch er mich gepeinigt: das alles war ganz natürlich, die Menschen sind eben dazu geschaffen, einander zu peinigen. Aber ich merkte, daß er mein reizbares Wesen so ertrug, als hätte er sich von vornherein vorgenommen, mich als einen Kranken zu schonen. Natürlich reizte mich das noch mehr; aber wie es schien, beabsichtigte er, dem Fürsten in ›christlicher Sanftmut‹ nachzueifern, was ziemlich lächerlich wirkte. Er ist ein junger, heißblütiger Mensch und macht natürlich alles nach; aber es wollte mir manchmal scheinen, daß es für ihn an der Zeit sei, seinen eigenen Verstand zur Richtschnur zu nehmen. Ich habe ihn sehr gern. Ich habe auch Surikow gequält, der über uns wohnt und vom Morgen bis zum Abend herumläuft, um allerlei Aufträge auszuführen; ich suchte ihm fortwährend zu beweisen, daß er an seiner Armut selbst schuld sei, so daß er endlich ängstlich wurde und aufhörte, zu mir zu kommen. Er ist ein sehr sanftmütiger Mensch, das sanftmütigste Wesen, das man sich nur denken kann. (NB. Ich habe die Behauptung gehört, die Sanftmut sei eine gewaltige Kraft; ich muß den Fürsten danach fragen, es ist das sein eigener Ausdruck.) Aber als ich im März zu ihm nach oben ging, um zu sehen, wie sie dort das kleine Kind nach seinen Worten ›hatten erfrieren lassen‹, und über der Leiche des Kindes wie zufällig lächelte, weil ich diesem Surikow wieder zu beweisen anfing, daß er ›selbst schuld‹ sei, da begannen diesem Jammermenschen auf einmal die Lippen zu beben; er faßte mich mit der einen Hand an der Schulter, wies mit der andern nach der Tür und sagte leise, beinah flüsternd, zu mir: ›Gehen Sie weg!‹ Ich ging hinaus, und sein Benehmen gefiel mir sehr, gefiel mir gleich damals, gleich in dem Augenblick, als er mich hinauswies; aber seine Worte riefen nachher, wenn ich mich an sie erinnerte, lange Zeit bei mir das peinliche Gefühl eines seltsamen; geringschätzigen Mitleids mit ihm hervor, das ich eigentlich gar nicht empfinden wollte. Sogar im Augenblick einer solchen Kränkung (ich fühle ja, daß ich ihn gekränkt habe, obgleich das nicht in meiner Absicht lag), sogar in einem solchen Augenblick brachte dieser Mensch es nicht fertig, böse zu werden! Ich kann beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sagte, da war er gar nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, recht komisch wirkte), aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er plötzlich, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte, aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete demütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen.
Zur gleichen Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden, und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr, ich konnte ihn nicht genauer erkennen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er an einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben, – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er ihn mir nicht streitig, warf nur einen eiligen Blick danach hin und schlüpfte vorbei. Der Gegenstand war eine große lederne, altmodische, ganz vollgestopfte Brieftasche, aber ich vermutete, ich weiß nicht woher, gleich auf den ersten Blick, daß alles mögliche darin sei, nur kein Geld. Der Passant, der die Brieftasche verloren hatte, ging bereits etwa vierzig Schritte vor mir, und ich verlor ihn in der Menge bald aus den Augen. Ich fing an zu laufen und ihm nachzurufen, aber da ich nichts weiter rufen konnte als ›He!‹ so drehte er sich nicht um. Auf einmal bog er nach links in den Torweg eines Hauses ein. Als ich in den Torweg hineinlief, in dem es sehr dunkel war, war niemand mehr da. Das Haus war von gewaltiger Größe, eines jener Riesenbauwerke, wie sie mit lauter kleinen Wohnungen von Spekulanten errichtet werden; in manchen derartigen Häusern gibt es bis zu hundert Wohnungen. Als ich durch den Torweg lief, kam es mir so vor, als ob in dem hinten rechts befindlichen Winkel des riesigen Hofes ein Mensch ginge, obwohl ich es in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Ich lief nach jenem Winkel hin und sah einen Eingang mit einer Treppe. Die Treppe war eng, sehr schmutzig und ganz ohne Beleuchtung, aber ich hörte, daß oben ein Mensch noch die Stufen hinanstieg, und begann ebenfalls hinaufzusteigen, indem ich darauf rechnete, ihn einzuholen, sobald ihm irgendwo eine Tür geöffnet würde. So ähnlich kam es denn auch. Die Treppen waren zwar sehr kurz, aber sehr zahlreich, so daß ich furchtbar außer Atem kam; im fünften Stock wurde eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, das merkte ich, als ich noch drei Treppen tiefer war. Während ich hinauflief, auf dem Treppenabsatz wieder Atem schöpfte und die Klingel suchte, waren mehrere Minuten vergangen. Endlich öffnete mir eine Frau, die in einer winzigen Küche einen Samowar anblies; sie hörte schweigend meine Fragen an, verstand natürlich nichts davon und öffnete mir schweigend die Tür zu dem anstoßenden Zimmer, einem ebenfalls kleinen, furchtbar niedrigen Raum; hier standen nur die notwendigsten Möbel, und zwar von sehr schlechter Art, und ein gewaltiges, breites, mit Vorhängen versehenes Bett, auf welchem ein ›Terentjitsch‹ (so rief ihn die Frau) lag, wie mir schien, in betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter, auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach der folgenden Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das nächste Zimmer.
Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; an sonstigen Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bette quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind zu ›wechseln‹, das heißt mit trockenen Windeln zu versehen, aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, er lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.
Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stande, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.
Als ich eintrat, war der Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebensmittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen, denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war düster, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.
Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Der Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunderding, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, stürzte der Herr mit einer wahren Wut auf mich los; namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.
›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.
›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)
Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹
Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trocknerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.
›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet, ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente, hier ist alles ... oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹
Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen, aber ich bekam selbst keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr hin und her lief, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl hinstellte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.
›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, indem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin... Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendeinem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, als protestiere er gegen seine jetzige Lage. ›Ich sehe, daß Sie...‹
›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.
Er sprang ebenfalls auf.
›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und... bei Anwendung geeigneter Mittel...‹
Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.
›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke, ›in der vorigen Woche hat mich B-n untersucht (ich brachte also wieder B-n hinein), und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie...‹
Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen, aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, freundliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb, nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält, das sah ich.
›Wenn ich...‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen... ich... Sie sehen...‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage...‹
›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei, das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹
›Woher... woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.
›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹
Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm widerfahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet, aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn gewühlt und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war mit seinen letzten Mitteln nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör geschenkt, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen, – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und... und... ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten, und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich... ich...‹
Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke, das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an.
›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow, sein Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Pjotr Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor...‹
›Pjotr Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹
Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich durch Zufall mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten auf mich möglichst keinerlei Hoffnungen setzen, ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast), es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben, aber ich würde mich sofort nach der Wassilij-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechtes sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen...‹
›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten. So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen. Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wassilij-Insel.
Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns als Aristokrat, wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren, indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad, war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, wiewohl er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir in jenen Jahren zu nähern versucht, aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr offiziell zugegangen, indem man mich erst angemeldet hatte), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich, dann aber wurde er sofort heiter und lachte, als er mich ansah, auf einmal laut auf.
›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel und um derentwillen ich ihn so haßte. ›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja ganz krank aus!‹
Der Husten quälte mich wieder, ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen.
›Beunruhigen Sie sich nicht, ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹
Erstaunt setzte er sich hin, ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas erwirken.
›Das werde ich tun, das werde ich unbedingt tun, gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen, ich freue mich sogar sehr, Sie haben das alles so hübsch erzählt... Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹
›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.
›Gerade wie Napoleon sich an England gewandt hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand.
Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man ihn sich besser gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement, er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, recht trocken empfing), – daß Bachmutow, wie ich vermute, den Arzt sogar überredete, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Haus zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai, es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Haus; wir gingen über die Nikolai-Brücke, der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen.
›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des gesellschaftlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen einander nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird allezeit bestehenbleiben, denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein »General«, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß »der alte General« ihm auf den Sperlingsbergen einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei jedem nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle »Täubchen«. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand, auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten, jedoch hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich, er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern, sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod, es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen Verbrechern. Jemand, der in Sibirien gewesen ist, hat mir erzählt, er sei selbst Zeuge gewesen, wie die verstocktesten Verbrecher sich des Generals erinnerten, und dabei konnte der General, wenn er einen Trupp besuchte, jedem einzelnen Verschickten selten mehr als zwanzig Kopeken geben. Allerdings gedachten sie seiner nicht eigentlich mit warmer, tiefer Empfindung. Der eine oder andere dieser »Unglücklichen«, der vielleicht zwölf Menschen ermordet und ein halbes Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt), seufzte plötzlich mir nichts dir nichts und vielleicht nur einmal im Laufe seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht, das war alles. Aber woher wollen Sie wissen, was für ein Samenkorn in die Seele dieses Verbrechers von dem alten General gestreut war, den derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie, Bachmutow, welche Bedeutung diese Hingabe einer Persönlichkeit an die andere für die Schicksale dieser anderen Persönlichkeit haben wird?... Hierbei handelt es sich ja um das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge uns unbekannter Verzweigungen. Der beste Schachspieler, auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte, wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wie viele Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben? Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr »Almosen«, Ihre gute Tat in irgendeiner Form ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen einen Teil einer andern in sich auf; Sie gehen einer in den andern ein, es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit, und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, Gestalt gewinnen und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter, ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.
›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.
In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter.
›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer beugte.
›Doch nicht ins Wasser zu springen?‹ rief Bachmutow beinah entsetzt. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.
›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in diesem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹
Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt, er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben, ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.
Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken, eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese ständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Entscheidung drängen würde. Aber zu dieser Entscheidung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.
Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein, aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Oben habe ich soeben die Bemerkung hingeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoshin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoshin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg, und da er nur um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grad mein Interesse erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen Besuch zu erwidern. Rogoshin war über mein Kommen offenbar nicht erfreut und deutete sogar ›taktvoll‹ an, wir hätten eigentlich keinen Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich eine sehr interessante Stunde und wahrscheinlich auch er. Es war zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die restlichen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen, unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne alle Sorge um ›letzte‹ Schlüsse, um zeitliche Daten oder um irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner... seiner... nun meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoshin diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten, der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von Verstand sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹, aber ich hatte aus einem nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, während er mir zuhörte. Er schwieg meist, er ist furchtbar schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeugung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Hause hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Friedhof, ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist schon für sich zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.
Dieser Besuch bei Rogoshin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett, und zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fornitsch vor Augen, von dem ich träumte, er wäre in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zwecke das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoshin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes, aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.
Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoshins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in vollem Maße der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von Seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (so lange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Es ist wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen, das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, als empfände er ihn noch jetzt (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte wahrhaftig der Leichnam eines Menschen, wer er auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die Augen stehen weit offen, die Pupillen schielen, die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuze gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.
Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als führe mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und als lache er über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer zur Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, jedoch kann man alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoshin trat herein.
Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoshin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar, aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen, aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war derart, daß Rogoshin wegen desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick den gleichen Spott, und das war es eben, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoshin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf.
Unterdessen saß er noch immer da und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grunde wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoshin ist, sondern eine Erscheinung?
Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gehabt; aber ich hatte immer, schon seit meiner Kinderzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben, und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoshin, sondern nur eine Erscheinung sei, erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoshin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie es wohl natürlich gewesen wäre; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoshin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie mir der Gedanke gekommen war, daß ich mich fürchtete, kam es mir vor, als führe man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper, ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoshin, als hätte er erraten, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich auf und öffnete den Mund, als wollte er loslachen; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte, aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, als ich mir immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoshin selbst wäre oder nicht.
Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung, ob ich manchmal auf Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoshin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte, weiß Gott, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, solle Matrjona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoshin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden.
Dieses eigenartige Erlebnis, das ich so ausführlich erzählt habe, war nun auch die Ursache, weshalb ich endgültig meinen ›Entschluß‹ faßte. Diesen endgültigen Entschluß führte also nicht die Logik, nicht eine logische Überzeugung herbei, sondern der Ekel. Es war mir unmöglich, in einem Leben zu verharren, das so seltsame, für mich beleidigende Formen annahm. Diese Gespenstererscheinung hatte mich erniedrigt. Ich konnte mich nicht einer dunklen Macht unterordnen, die die Gestalt einer Tarantel annahm. Und erst dann, als ich, schon in der Dämmerung, zum festen, endgültigen Entschluß gelangt war, erst da wurde mir leichter ums Herz. Dies war nur das erste Moment; um das zweite Moment zu erleben, fuhr ich nach Pawlowsk, aber das ist bereits hinreichend klargestellt.«